Autismus beziehungsorientiert behandeln - Sibylle Janert - E-Book

Autismus beziehungsorientiert behandeln E-Book

Sibylle Janert

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Beschreibung

Wie kann man Kinder mit autistischen oder autistisch-ähnlichen Verhaltensweisen in ihrer Entwicklung fördern? Der Antwort auf diese Frage hat sich der sog. DIRFloortime-Ansatz verschrieben, eine Spieltherapie, die mit positiver Emotionalität und einfachen interaktiven Spieleinheiten arbeitet. Im Spiel folgt die erwachsene Person den natürlichen emotionalen Interessen des Kindes und fordert es dabei heraus, mit ihr in Beziehung zu treten. Dabei lernt das Kind, zunehmend seine sozialen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten zu nutzen und sich vom sensomotorischen hin zum symbolischen Denken zu entwickeln. Das Buch führt in die Entwicklungskonzepte des Ansatzes und Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit ein. Für die praktische und passgenaue Umsetzung werden viele Spielideen und Kniffe für jegliche Entwicklungskapazitäten des Kindes vorgestellt.

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Sibylle Janert • André Zirnsak •Ilaria Acerbi • Stephanie Hohndorf

Autismus beziehungsorientiert behandeln

Handbuch zur DIRFloortime-Methode

2., durchgesehene Auflage

Mit 32 Abbildungen und 10 Tabellen

Ernst Reinhardt Verlag München

Sibylle Janert, Ruhpolding, Psychologin mit Fortbildung an der Tavistock Clinic, London und DIRFloortime-Expert Trainerin, ist in eigener Praxis als Coach mit autistisch-ähnlichen Verhaltensweisen und ihren Familien tätig, sowie in der Fortbildung im deutsch- und englischsprachigen Raum.

André Zirnsak, Dipl.-Heilpäd. (FH), ist in eigener Praxis in Berlin als Spieltherapeut, Supervisor und Coach mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit autistischen Kindern und ihren Familien sowie in der Fortbildung tätig. Darüber hinaus ist er Kinderliedermacher und ein Teil des Duos TAGESSTERNE.

Ilaria Acerbi, Heilpädagogin M. A., Berlin, arbeitet mit Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum

Stephanie Hohndorf, Dipl.-Psych., Systemische (Kinder- und Jugendlichen-)Therapeutin (SG), ist am Autismus Institut Lübeck tätig.

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03183-2 (Print)

ISBN 978-3-497-61722-7 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61723-4 (EPUB)

2., durchgesehene Auflage

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44 b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Covermotiv: © iStock / evgenyatamanenko

Innenteil: Abbildungen 3.1, 3.8, 3.12, 4.1, 10.1 von Cristina Pareschi

Satz: Katharina Ehle

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 MünchenNet: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Danksagung

1Individuelle Entwicklungswege Autistisch-ähnliche und autistische Verhaltensweisen beziehungsorientiert sehen

1.1Autismus oder autistisch-ähnlich? Oder was ist los?

1.2Autismus-Diagnose. Wirklich?

1.3Autismus. Und wie man sich entwickeln kann!

2Hier wird SPIELEN groß geschrieben Spielen als Essenz der menschlichen Existenz

2.1Eine spielerische Haltung entwickeln

2.2Unser spielerisches Sein befreien

2.3Dem Druck spielerisch begegnen und ihn auflösen

2.4Die Vermittlung einer spielerischen Haltung

3Auf Schatzsuche gehen Das D in DIR: Die funktionalen emotionalen Entwicklungsebenen

3.1Eine Schatzkarte zur Entdeckung vielfältiger Entwicklungsaspekte von Kindern

3.2Das Kind ist da und lernt die Welt kennen: FEDL 1–3

3.3Dem Kind eröffnet sich eine neue fantastische Welt: FEDL 4–6

3.4Das Kind reift zu einer komplexen Persönlichkeit heran: FEDL 7–9

4Detektiv sein Das I in DIR: Das individuelle sensomotorische Profil

4.1Die Detektivhaltung: Zugeschnittene Interaktionen gestalten

4.2Die Detektivhaltung begreifen: Die Bedürfnisse des Kindes verstehen

4.3Die Detektivhaltung erklären: Individuelle Unterschiede und Emotionen

4.4Die Detektivhaltung schärfen: Einschätzung des sensomotorischen Profils

4.5Die Detektivhaltung umsetzen: Erstellung eines sensomotorischen Profils in der Praxis

4.6Die Detektivhaltung nutzen: Individuelle Unterschiede in der Interaktion berücksichtigen

5Mensch werden Das R in DIR: Emotionale Beziehungen

5.1Die Bedeutung emotionaler Beziehungen für die Entwicklung

5.2Menschliche Beziehungen begreifen

5.3Bewegung und Beziehungen gehören zum Lebendigsein

5.4Menschliche Beziehungen in Gefahr

5.5Gesunde Beziehungsentwicklung fördern

5.6Sprache entwickelt sich aus emotionalen Beziehungen

5.7Die Anfänge menschlicher Beziehungen

5.8Beziehung ist ein Geben und Nehmen

6Die Welt entdecken Das Kinderspiel als Grundlage für gesunde Entwicklung

6.1Vom Erkunden zur eigenen Ideenfindung: Zentrale Merkmale der Spielentwicklung

6.2Bedeutungen entstehen aus Bewegungen: Die zentralen Erkenntnisse von Geoffrey Waldon

6.3Die Auseinandersetzung mit sich selbst: Merkmale früher Kinderspiele

7Entwicklung unter die Lupe nehmen Der Beobachtungsbogen zu DIRFloortime

7.1Die Idee, die zu der Entwicklung eines diagnostischen Instrumentes führte

7.2Der Beobachtungsbogen zum Entwicklungsprofil nach dem DIRFloortime-Ansatz

7.3Ein möglicher Platz unseres Beobachtungsbogens in den allgemeinen Diagnostikstandards

7.4Das Potenzial beziehungsorientierter Diagnostik

7.5Fallbeispiel: Wie Sascha mit den Bussen das Sprechen lernte

7.6Die Zukunft des Beobachtungsbogens

8Pfiffig gedacht, griffig gemacht Von der DIR-Theorie zur Floortime-Praxis

8.1Zentrale Kniffe und Griffe: Was wir immer berücksichtigen sollten

8.2Spezifische Kniffe und Griffe für FEDL 1: Selbstregulation und Interesse an der Welt

8.3Spezifische Kniffe und Griffe für FEDL 2: Liebevolle Bezogenheit und Interesse an anderen Menschen

8.4Spezifische Kniffe und Griffe für FEDL 3: Intentionalität und wechselseitige Kommunikation

8.5Spezifische Kniffe und Griffe für FEDL 4: Gemeinsames Problemlösen und komplexe Kommunikation

8.6Spezifische Kniffe und Griffe für FEDL 5: Entwicklung eigener Ideen auf Symbolebene

8.7Spezifische Kniffe und Griffe für FEDL 6: Emotionales und logisches Brückenbauen zwischen Gedanken

8.8Spezifische Kniffe und Griffe für FEDL 7–9: Höhere Entwicklungsebenen zur Differenzierung komplexer Aspekte der emotionalen Entwicklung und Identität

9Spielen verändert Verhalten und Gehirn Forschung und evidenzbasierte Praxis

9.1Wie verändert Spielen unser Verhalten, Denken und Gehirn?

9.2Therapeutische und pädagogische Ansätze zu Autismus

9.3Von Eltern implementierte Methoden

9.4Autismus-Diagnose und der ADOS-Test

10Die grundlegende Annahme für das DIRFloortime-Modell Affekt-Diathese-Theorie

Literatur

Weitere Internetquellen / Videos

Sachregister

Verzeichnis „Kniffe und Griffe“

Vorwort

Sibylle Janert

Haben Sie manchmal das Gefühl, wie ein Detektiv nach ungeahnten Entwicklungspotenzialen mit und in diesem einzigartigen Kind zu suchen?

Denken Sie manchmal darüber nach, was das wirklich Wesentliche und Menschliche ist, das wir in jedem Kind und Mitmenschen suchen, schätzen und gedeihen lassen wollen?

Erleben Sie sich als Fachperson in Ihrer Arbeit oder als Eltern im Familienleben mit Ihrem Kind wie auf einer Entdeckungsreise in Ihnen bisher unbekannte Gefilde menschlicher Entwicklung und Möglichkeiten?

In diesem Buch finden Sie eine Schatzkarte zur Orientierung auf solch einer Entdeckungsreise sowie eine Einladung, auf individuellen Entwicklungswegen miteinander auf Schatzsuche zu gehen, um anhand von interaktiven und spielerischen Beziehungen das menschliche emotionale Entwicklungspotenzial in jedem Kind zu entdecken und zu fördern. Denn Menschsein ist ein lebenslanger Prozess, den jedes Kind und jeder Mensch nur auf individuellen und gewundenen Pfaden zur eigenen Individualität und Persönlichkeitsentwicklung zurücklegen kann. Es gibt hierzu keine Vorlage. Denn jedes Kind und jeder Mensch ist einzigartig. Was wir allerdings aus menschlicher Erfahrung und evidenzbasierter Forschung wissen, ist, dass ein Kind einfühlsame Beziehungen zu verlässlichen Bezugspersonen braucht, damit sich Körper und Geist, Gehirn und Seele, Verhalten und Lernen optimal entwickeln können.

Als erstes DIRFloortime-Handbuch im deutschsprachigen Raum präsentieren wir unseren Leserinnen und Lesern eine umfassende Einführung in Theorie und Praxis des ganzheitlichen DIRFloortime-Modells und seine vielseitige Anwendung. Es ist an ein breites Publikum von Fachleuten, Eltern und allen gerichtet, die das individuell Menschliche vor Diagnosen stellen wollen. Es gilt, nach Alternativen zu verhaltensorientierten Ansätzen wie Verhaltenstherapie und Applied Behaviour Analysis zu suchen, um Autismus, autistisch-ähnliche und herausfordernde Verhaltensweisen sowie eine Vielzahl von Entwicklungsverzögerungen beziehungsorientiert verstehen, behandeln und fördern zu können. Hierbei stehen Eltern als wichtigste Ressource und treibende Kraft für Veränderungen in Entwicklung und Verhalten ihres Kindes in DIRFloortime immer im Vordergrund.

„Autismus beziehungsorientiert behandeln“ reiht sich ein in eine immer größer werdende Zahl von (bisher meist englischsprachigen) Publikationen und Büchern zu beziehungsorientierten Entwicklungsansätzen wie DIRFloortime, unter anderem „Engaging Autism“ (Greenspan / Wieder 2006), „Floortime Strategies“ (Davis et al. 2014), “Autism the Potential Within” (Solomon 2016) und “The Autism Casebook” (Levin Fox 2021).

DIRFloortime ist bekannt geworden vor allem als Alternative zu verhaltensorientierten Therapieansätzen zu Autismus wie Verhaltenstherapie (VT) und Applied Behaviour Analysis (ABA), ist aber tatsächlich ein ganzheitlicher beziehungsorientierter Entwicklungsansatz und ein universales diagnoseübergreifendes Behandlungskonzept für eine Vielzahl von Entwicklungs- und Verhaltensbesonderheiten. Während Floortime die praktische Anwendung beschreibt, steht DIR mit „Developmental Individual-difference Relationship-based“ für die zugrunde liegende Theorie und wird D – I – R ausgesprochen (und nicht wie das deutsche Wort „dir“). Indem DIRFloortime die Stärken, Ressourcen und individuellen Besonderheiten in den Fokus stellt, verlagert sich unsere Aufmerksamkeit vom Sammeln von Symptomen oder messbaren Fertigkeiten des Kindes auf die Entwicklung seiner menschlichen emotionalen Kapazitäten und läutet hiermit einen fundamentalen Paradigmenwechsel ein. Im Zentrum einer solchen entwicklungs- und beziehungsorientierten Haltung steht immer „unser alter Freund Affekt“, wie Stanley Greenspan, der Gründer von DIRFloortime, immer wieder humorvoll betonte.

„Die tradtionelle pessimistische Prognose für tiefgreifende Entwicklungsverzögerungen basiert auf der Erfahrung mit Kindern, deren Behandlungsprogramme meist mechanistisch und strukturiert sind, anstatt sich an den individuellen Unterschieden, Beziehungen, Affekt und emotionalem Austausch zu orientieren. Ansätze, die das Kind nicht in spontane freudige Beziehungsmuster einbeziehen, können dazu führen, die Schwierigkeiten zu intensivieren, statt sie zu beheben.“ (Greenspan / Wieder 1998, 8; übers. S. J.)

Unsere Fähigkeit, uns emotional berühren zu lassen und Partner im gemeinsamen Menschsein und der menschlichen Unzulänglichkeit zu sein, ermöglicht neues emotionales Wachstum und führt zu einer emotionalen Nähe, die uns menschlich oft zutiefst berührt, und zu einem anderen Verständnis von Professionalität führt, das von emotionaler Wärme geprägt ist.

Autismus ist zu einer immer häufigeren Diagnose geworden und gehört heutzutage zum Alltagswortschatz. Was genau Autismus oder autistisch aber wirklich bedeutet, ist keineswegs klar oder eindeutig. Als diagnostische Kategorie ist Autismus im Wandel der Zeit zu einer vergleichsweise unspezifischen Diagnose mit zunehmend elastischen Kriterien geworden, was zur Folge hat, dass alle möglichen Verhaltensweisen unter eine Autismus-Diagnose platziert werden können. Die Auswirkungen auf Eltern, Kind und Umwelt werden hierbei selten beachtet. Zu oft wird eine Autismus-Diagnose vor allem von Eltern als gleichbedeutend mit vermeintlich unveränderlichem schwierigem Verhalten gesehen und als eine Art Definition, dass dieses Kind sich nicht entwickeln und nicht erzogen werden könnte. Aber das stimmt nicht.

Die DIRFloortime Perspektive lässt uns Autismus beziehungsorientiert verstehen, und nicht als statische oder lebenslange Diagnose. Wenn wir uns nicht von dieser übermächtigen Diagnose einschüchtern und den Mut nehmen lassen, dann ermöglicht uns das ganzheitliche Menschenbild von DIRFloortime unabhängig von Diagnose oder Diagnoseverdacht die unerschlossenen Entwicklungspotenziale eines jeden Kindes mithilfe unserer Detektivarbeit zu erschließen, zu entfalten und mit passender Unterstützung zu entwickeln. Die Gesamtsumme der Symptome berücksichtigt nicht das Ausmaß ihrer erfahrungsabhängigen Veränderbarkeit. Menschen können sich ändern, über die ursprünglichen Erwartungen hinweg. Und Kinder schon allemal.

Wenn wir uns, anstatt zu suchen, was am Kind fehlt oder „defekt“ ist und das als Diagnose festzurren, aktiv dafür interessieren und darauf einlassen, wie das Kind die Welt erlebt, können wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, unzureichend entwickelte sensorische und mental-emotionale Kapazitäten zu fördern. Denn in Wirklichkeit stehen uns als Menschen zu jeder Zeit viele ungenutzte, meist unbewusste, Möglichkeiten zur Verfügung, um unser potenzielles Entwicklungspotenzial viel mehr zu verwirklichen als wir es gerade tun.

Die Voraussage, was genau sich entwickeln kann oder entwickeln wird, steht nicht in unserer menschlichen Macht. Aber wenn das Umfeld realistische Veränderungen „in die richtige Richtung“ für möglich hält, die Hoffnung aufrecht erhält, Vertrauen in das Kind setzt und seine aktive Teilhabe an seiner eigenen Entwicklung erwartet und aktiv und einfühlsam fördert, dann können wir als Begleiter oft Überraschungen auf unserer Entwicklungsreise mit dem Kind erleben. Denn jedes autistische Kind hat auch nichtautistische Persönlichkeitsanteile, die einer möglichen Entwicklung zugänglich sein oder sich ihr widersetzen können.

Deshalb sprechen wir in diesem Buch nicht von Autisten oder von Kindern mit Autismus, als ob Autismus so etwas wäre wie ein Defekt oder materielles „Ding“, das das Kind „hat“, oder ein autistisches Spektrum, und damit ein anderes „Ding“, auf dem das Kind angeblich lokalisiert ist. In diesem Buch benutzen wir das Wort „autistisch“, nicht als pathologisierende oder diagnostische Bezeichnung, sondern als nichtwertendes beschreibendes Adjektiv, das nur eine von vielen Eigenschaften, Besonderheiten, Merkmalen, Aspekten, Eigenarten und individuellen Unterschieden beschreibt, aber nicht das Kind in seinem Menschsein darstellt. Beschreibungen sind keine Definitionen oder Diagnosen (auch wenn sie als solche benutzt werden können).

Autistisch-ähnliche Verhaltensweisen kommt uns als Formulierung in unserem Bemühen entgegen, Charakteristika eines Kindes adjektivisch zu beschreiben, ohne zu werten oder mit medizinischen Diagnosen oder vorgefassten Meinungen in Konflikt zu kommen. Dies hilft mir, länger im Zustand des Nichtwissens auszuharren, und damit offener für neue Entwicklungsmöglichkeiten sein zu können. Der erste Schritt ist immer, das Potenzial hinter der Diagnose zu suchen und dann den Prozess der Veränderbarkeit hinter den Symptomen und Behinderungen zu sehen und auf dieses Ziel hinzuarbeiten, um es zu erreichen. Denn auch Kinder mit autistisch-ähnlichen Verhaltensweisen und / oder einer Autismus-Diagnose haben das Potenzial sich zu entwickeln, denn auch sie haben ein Gehirn, das genau dazu da ist, sich durch neue Erfahrungen und einfühlsame Beziehungen zu verändern, neu zu vernetzen und zu wachsen. Auch sie müssen nicht, nur weil sie eine Diagnose haben, darin gefangen bleiben. Es besteht häufig die Möglichkeit, dass sich ein Kind aus den Autismuskriterien herausentwickeln kann.

Es gibt viele Spielereien mit Sprache, und Spielen mit Sprache macht Spaß. Sprache als menschliches Konstrukt entwickelt und verändert sich auf verschiedene Weise, zum Beispiel was man wie sagen darf oder nicht, was politisch korrekt, was „in“ oder aus der Mode ist. Aber auch wenn Spielen in diesem Buch groß geschrieben wird, liegt unser Fokus in diesem Buch auf Sprache als funktionales Kommunikationsinstrument, um neue Inhalte und Sichtweisen zu übermitteln. Denn in diesem Buch geht es um Menschen und Kinder, nicht um politische oder Genderkorrektheit. Es geht um menschliche Entwicklungspotenziale, nicht um Diagnosen. Unser Fokus ist nicht auf Symptome oder Beeinträchtigungen gerichtet, sondern auf Stärken und Ressourcen, auf Beziehungen und Gefühlen.

Wir bitten unsere Leser um Nachsicht und darum, unsere Inhalte nicht mit der „politischen Korrektheitslupe“ zu lesen, sondern mit einem wohlwollenden Auge, um DIRFloortime zu verstehen.

Der Einfachheit und besseren Verständlichkeit wegen verzichten wir in diesem Buch meist auf die parallele Verwendung der weiblichen oder männlichen Formen. Da es nicht um eine Auseinandersetzung mit patriarchalischen Normen geht, sondern um das Verstehen fundamentaler menschlicher Prozesse und die deutsche Sprache historisch gegendert ist, wie „der Mensch“ und „das Kind“, benutzen wir häufig „der andere“ und „seine“ und beziehen hierin alle Menschen mit ein.

Wir haben den Text bewusst so geschrieben, dass er leicht lesbar ist und mit vielen Beispielen, einem ausführlichen Praxiskapitel und praktischen Inhalten versehen, die jeder verstehen und im alltäglichen Leben mit Kindern mit Entwicklungsbesonderheiten direkt nutzen und anwenden kann.

Unsere Fallbeispiele sind natürlich alle anonymisiert, unter anderem durch weitreichende Änderungen biografischer Daten wie Namen und persönlichen Details.

Danksagung

Als Autorinnen und Autor danken wir allen Familien, Kindern und Eltern sowie Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir arbeiten und von denen wir lernen durften.

Mein persönlicher Dank geht an Dr. Rick Solomon und The PLAY-Project für seine „griffigen“ Formulierungen, an Jeff Guenzel und Katya Sidor von ICDL (Interdisciplinary Council for Development and Learning) für ihre hilfsbereite Unterstützung der DIRFloortime-Trainingskurse und an Jackie Bartell als leidenschaftliche DIRFloortime-Kollegin und Co-Trainerin.

Mein ganz besonderer Dank geht an Ilaria Acerbi, Stephanie Hohndorf und André Zirnsak für die kooperative Zusammenarbeit, um dieses Buch zu schreiben und DIRFloortime mit all seinen Facetten auch im deutschsprachigen Raum lebendig werden zu lassen.

1 Individuelle Entwicklungswege Autistisch-ähnliche und autistische Verhaltensweisen beziehungsorientiert sehen

Sibylle Janert

Wenn ein Kind sich nicht wie erwartet entwickelt, entsteht manchmal der Eindruck, als gäbe es nur einen einzigen „richtigen“ Weg, von dem man unter keinen Umständen abkommen darf. Ein Kind, dessen Entwicklung mit ungewöhnlichem oder auffälligem Verhalten von diesem vorgegebenen Weg abweicht, ruft besonders bei den Eltern große Besorgnis und viele Ängste hervor. Die Suche nach einer Diagnose für die beobachtete Verhaltensauffälligkeit entspringt immer auch der Hoffnung, wieder einen klar vorgegebenen Weg zu finden. Aber autistisch-ähnlich muss nicht unbedingt Autismus bedeuten und in Wirklichkeit führen bekanntlich viele Wege nach Rom, beziehungsweise zu einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung.

Es gibt nicht nur DEN Entwicklungsweg. In Wirklichkeit gibt es unzählige individuelle Entwicklungswege. Und so stellt sich uns die Frage, wie wir ein Kind auf seinem eigenen individuellen Entwicklungsweg bestmöglich unterstützen können. Ich erlebe immer wieder, wenn sich Eltern wegen autistisch-ähnlicher Verhaltensweisen an mich wenden, wie leicht es in unserer heutigen elektronischen Welt manchmal ist, aus dem Auge zu verlieren, dass die Entwicklung eines Kindes nicht ein automatischer Prozess ist, der sich wie ein Computerprogramm bei der Geburt einfach herunterlädt und von da an selbsttätig abläuft, ohne dass man sich viel darum kümmern oder darüber nachdenken müsste.

„Er schaut mich nicht an und kommt nicht, wenn ich ihn rufe: hat er Autismus?“ ist eine angstvolle Frage, die ich zunehmend häufig von Eltern von Babys und Kleinkindern höre. Einzelne Aspekte oder Verhaltensweisen eines Kindes mögen eine Mutter oder Kindergärtnerin an Listen autistischer Verhaltensweisen denken lassen. Aber nicht jedes Kind, das gerne seine Autos aneinanderreiht, manchmal mit den Händen flattert, ungern kommt, wenn gerufen, ist wirklich autistisch oder „hat Autismus“. Die meisten Menschen reihen ihre Schuhe und Bücher nebeneinander auf, und bei Autos ist das Hintereinanderparken auf der Straße gesetzlich vorgeschrieben. Solche Verhaltensweisen eines Kindes können alle möglichen Gründe haben. Deshalb bevorzuge ich das Wort „autistisch-ähnlich“ und benutze es als nichtwertende Beschreibung wie ein Adjektiv, und ohne es in Anführungszeichen zu setzen. Denn wenn wir autistisch-ähnliche Verhaltensweisen beziehungsorientiert betrachten, und sozusagen hinter die Kulissen schauen, dann werden wir gewahr, wie viel mehr sich dahinter verbirgt, unserer interessierten Aufmerksamkeit bedarf und sich mit einfühlsamer Unterstützung ändern und entwickeln kann. Denn menschliche Entwicklung und Beziehung beeinflussen und bedingen einander (Kap. 5).

1.1Autismus oder autistisch-ähnlich? Oder was ist los?

Rahuls Mutter kontaktierte mich besorgt, weil Rahul mit 3 ½ Jahren immer noch nicht sprach, im Kindergarten lieber alleine spielte und keinen Blickkontakt aufnahm. Als der Kindergarten ihr eine Diagnoseabklärung in Bezug auf Autismus vorschlug, war sie verunsichert.

1.1.1Worte sagen oder miteinander sprechen?

Das erste Mal traf ich Rahul auf einem kleinen Spielplatz. Er war 3 ½ und schien die Welt mit großen Augen zu beobachten, während er schweigend um die Rutsche lief, um wieder hinaufzuklettern und dann herunterzurutschen. Seine Mutter folgte ihm auf dem Fuß, zählte laut die Stufen 1 – 2 – 3 – 4 …, benannte Farben, gab Anweisungen, stellte Fragen, sagte „Auf die Plätze – fertig – los!“ Rahul hörte es entweder nicht. Oder er ignorierte es. Sie versuchte ihn in ein Spiel einzuladen, indem sie einen großen bunten Ball die Rutsche herunterrollen ließ, den er fangen sollte. Rahul nahm den Ball und lief damit weg ohne sich umzusehen. Seine Mutter lief ihm nach und machte mit aufgeregter Stimme neue Vorschläge. Er solle ihr den Ball zuwerfen, ihn die Rutsche runterrollen lassen, zur Schaukel oder zum Klettergerüst kommen. Sie gab sich solche Mühe. Aber sie bekam keine Reaktion.

Später saßen wir am Tisch und spielten mit Duplo. Rahul war ganz bei der Sache und setzte konzentriert Duplosteine aufeinander, hängte die Wagen ein, gab nicht auf, wenn etwas nicht gleich funktionierte. Schweigend. Seine Mutter redete ununterbrochen auf ihn ein und stellte eine Frage nach der anderen, die meistens mit seinem Namen begannen. „Rahul, welche Farbe ist das?“ – „Rahul, was ist das?“ – „Rahul, was baust du / was suchst du / was brauchst du …?“ Hin und wieder antwortete Rahul „Rot“ oder „Ein Stern!“ und fing dann an die Melodie von „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“ zu singen. Ich war beeindruckt. Er wusste also, was ein Stern ist, kannte nicht nur die Farben, sondern er konnte ganz offensichtlich auch hören, und sprechen, sich Melodien merken und singen. Aber eigentlich schien es, als sei er alleine mit seinem Bauvorhaben beschäftigt, unbeirrt von der ständigen Beschallung durch die eindringliche Stimme seiner Mutter.

Schließlich sagte ich zur Mutter „Mir fällt auf, dass Sie ununterbrochen reden.“ Es war, als versuche sie Rahul mit ihren Worten zu füllen, während Rahul anderweitig und alleine mit seinem Projekt beschäftigt war, – fast wie in einer Art Parallelspiel. Mir schien, als sähe sie Rahul nicht als den einzigartigen kleinen Menschen voller Potenzial, sondern als sei sie gefangen in ihrer Idee „Ich muss Worte kriegen! Koste es, was es wolle! Wenn ich keine Worte aus ihm herausbekomme, dann habe ich es mit Autismus zu tun.“ Aber mit ihrer Idee von Autismus als Schreckgespenst vor Augen verschwand sie in ihrer Angst, verlor Rahul emotional aus dem Blick, und er fühlte sich allein und verlassen und zog sich zurück. Auch sie fühlte sich hilflos und alleine, und bemühte sich deshalb um so mehr. Ein Teufelskreis.

„Ja“ sagte sie „alle haben mir gesagt, ich solle so viel wie möglich mit ihm sprechen. Der Kindergarten. Der Kinderarzt. Die Arzthelferin. Meine Freundin. Chatgruppen im Internet.“ – „Ah“, meinte ich verwundert. „Aber mit Sprechen meinen Sie doch eigentlich ein Gespräch? Sie wollen doch eigentlich MIT ihm sprechen. Er ist ja kein Computer, den man mit Wörtern programmieren kann. Und ein Gespräch ist nur möglich, wenn man Pausen macht, um zuzuhören und den anderen sprechen, antworten oder reagieren zu lassen. Ich kann Ihnen meine Beobachtungen und Gedanken jetzt gerade doch nur sagen, weil Sie im Moment nicht selbst reden, sondern zuhören und Platz in Ihrem Inneren für mich und meine Ideen gemacht haben. Wirkliches sprechen können beinhaltet, dass man dem anderen mit Interesse zuhört und in sich aufnimmt, was er meint oder meinen könnte. Nicht nur, was er mit Worten sagt.“ Rahuls Mutter sah mich nachdenklich an. Ihr Gesicht und Körper schienen sich zu entspannen.

„Was Sie suchen, ist doch in Wirklichkeit ein Dialog, ein gemeinsames miteinander sprechen, das hin und her geht. Deshalb stellen Sie auch so viele Fragen. Sie wollen Ihr Kind so unbedingt erreichen, und ihm helfen. Und das ist wunderbar. Aber es ist ein Irrtum zu meinen, dass Sprechen nur aus Wörtern besteht. Tatsächlich machen Wörter nur ca. 7 % unserer Kommunikation aus!“ Rahuls Mutter sah mich ungläubig an. „Ja, sogar unser Gespräch jetzt gerade, besteht hauptsächlich aus nonverbaler Kommunikation und gestischer Sprache. Natürlich sind Wörter wichtig. Sonst könnte ich Ihnen meine Gedanken und Beobachtungen gerade ja nicht mitteilen. Aber hinzu kommen meine Stimme, mein Tonfall, mein Gesichtsausdruck, meine Körperhaltung, mein Interesse, mein Zuhören und Beobachten und mich Einfühlen in das, was für Sie und für Rahul innerlich und emotional abläuft. Dies hilft mir zu verstehen, z. B. wie sehr Sie sich bemühen, Rahul zu erreichen, wie entschlossen Sie sind, ihm zu helfen und ihm Ihre Worte zu geben, – koste es, was es wolle.“ Ich fuhr fort: „Ja, und ich verstehe, was Sie meinen mit ihrer Sorge von wegen Autismus und ich stimme Ihnen zu, dass es ‚autistisch-ähnlich‘ aussieht: Er nimmt wenig Blickkontakt auf, reagiert oft nicht, nimmt selten selbst Beziehung zu Ihnen auf, macht gerne ‚sein eigenes Ding‘ und spricht nicht, außer ein paar Wörter. Das mag autistisch, beziehungsweise autistisch-ähnlich, aussehen – kann aber vieles bedeuten und alle möglichen Gründe haben.“

1.1.2Autistisch-ähnlich muss nicht unbedingt Autismus bedeuten

Autistisch-ähnliche Verhaltensweisen müssen nicht unbedingt bedeuten, dass das Kind „Autismus hat“ oder dass eine Abklärung bezüglich einer Autismus-Diagnose Erleichterung bringen würde. Wonach Eltern in dieser Situation in Wirklichkeit meist suchen, ist ein Mensch mit der entsprechenden Erfahrung, der ihre Fragen versteht und ihnen praktisch zeigen kann, was sie selbst tun und verändern können, um ihrem Kind zu helfen, seine Entwicklungsverzögerungen aufzuholen und sein Potenzial so gut wie möglich zu entfalten. Eine Diagnose tut dies meistens nicht. Sie mag wohl den Schuldgefühlen eine gewisse Erleichterung gewähren oder potenzielle Finanzierungstüren öffnen. Aber eine Autismus-Diagnose versorgt Eltern, die händeringend nach Hilfe für ihr Kind suchen, nicht mit einer klaren Orientierung, wie sie ihr Kind in seiner sozial-emotionalen Entwicklung, und insbesondere seine nonverbale Kommunikation hin zu verbaler Sprache, fördern können. Die meisten Eltern „wollen ein Programm, das ihr Kind als Individuum wahrnimmt, eine auf das Kind abgestimmte personalisierte Behandlung anbietet und das Potenzial des Kindes für sinnvolle Kommunikation und Beziehungen entfesselt. Außerdem wollen solche Eltern an dem Behandlungsplan ihres Kindes beteiligt sein. Sie wollen helfen und Hoffnung haben.“ (Greenspan / Wieder 2006, X; übers. S. J.)

Es gibt hier zwei verschiedene Überzeugungen: Die einen sind davon überzeugt, dass Autismus eine physiologische Störung ist, eine Art struktureller organischer Defekt im Körper und / oder Gehirn des Kindes, der sich kaum beeinflussen ließe und im Grunde lebenslang bedeute. „Ich nehme an, das ist es, was Ihnen solche Angst macht.“ Rahuls Mutter nickte. Dies ist die derzeitige Lehrmeinung in der Medizin und die gängige Überzeugung von Ärzten, Psychologen, Verhaltenstherapeuten und Pädagogen in den meisten Kindergärten, Schulen und Autismuszentren und anderen Einrichtungen. Dies kann dazu führen, dass Eltern und Bezugspersonen sich resigniert einer statischen Diagnose mit negativer Prognose hingeben und dieser die Hoffnung auf dynamische Entwicklungsfortschritte opfern.

Die anderen weisen darauf hin, dass Gehirn, Gene und Chromosomen nie für sich alleine existieren, sondern immer in einem Körper und in Beziehung mit ihrem Umfeld (Feuerstein et al. 2015). Zu diesem Umfeld gehören vor allem auch Beziehungen, die sich in Form von Eltern und anderen Bezugspersonen freudig und pro-aktiv um die bestmögliche Förderung des jeweiligen Kindes kümmern können, mit oft guten Erfolgen und beträchtlichen Entwicklungsfortschritten, wie Shoshana Levin Fox eindrücklich in ihren Fallbeispielen beschreibt. Auch sie bevorzugt beschreibende nichtwertende Wörter wie autistisch-ähnlich.

„Eine Entwicklungsdiagnose wie Autismus […] mag vielleicht als eine schwache Hypothese für den Zustand eines Kindes dienen, aber meistens trübte sie unser Verständnis, indem sie die komplexen Wurzeln des Problems des Kindes verdeckte und gleichzeitig die latente Energie und positiven Fähigkeiten des Kindes in den Schatten stellte, die dabei helfen könnten als unabänderlich (oder angeboren) angesehene Symptome verbleichen zu lassen.“ (Levin Fox 2021, 3)

Statt als pathologische Symptome für eine bestimmte medizinische Diagnose, wie in der nach Objektivität strebenden statischen Ein-Personen-Psychologie der Verhaltenspsychologen und Mediziner, lassen sich diese Phänomene oder Verhaltensweisen des Kindes auch aus der Perspektive einer beziehungsorientierten und dynamischen Zwei-Personen-Psychologie (Alvarez 2001) als Entwicklungsherausforderungen verstehen, die sich wie alles Lebendige entwickeln und ändern können. Hier ist unser Fokus nicht die Diagnose etwaiger Symptome, Defizite oder Defekte in der Biologie des Kindes, sondern das Kind in Beziehung im weitesten Sinne: mit sich selbst, mit seiner Umwelt und mit anderen Menschen. Wie erlebt dieses Kind seine Welt, was sind seine Stärken und wie können wir ihm einfühlsam und sehr subjektiv helfen, seine Schwierigkeiten zu überwinden und fehlende Entwicklungskapazitäten zu entwickeln? Auf diese Weise gibt man dem Kind eine Chance. Denn alles Lebendige kann wachsen und sich entwickeln. Da es sich bei Autismus, autistischen und autistisch-ähnlichen Verhaltensweisen um eine Störung in Beziehung und Kommunikation handelt, besteht immer ein großes Entwicklungspotenzial.

1.1.3Voraussetzungen für eine bestmögliche Entwicklung

Die Voraussetzung für eine bestmögliche Entwicklung ist, dass das Kind emotional verfügbare und einfühlsame Kommunikationspartner findet, die mit ihm angemessen seiner jeweiligen Entwicklungsebene kommunizieren, und es liebevoll, geduldig und mit Ausdauer in eine gemeinsame Welt locken. Dies bedeutet für die Erwachsenen fast immer, weniger verbal zu reden und weniger zu erklären mit der Erwartung, dass das Kind alles so wie man selbst versteht und die Anweisungen befolgen wird, und stattdessen mehr auf nonverbale gestische Kommunikation und Körpersprache zu achten. Denn interessanterweise besteht die Kommunikation mit einem autistischen oder autistisch-ähnlichen Kind, wenn ich die Familie kennenlerne, zu Beginn fast immer darin, dass der Erwachsene dem Kind fast ausschließlich versucht, Anweisungen zu geben oder Forderungen stellt: „Schau mal!“ – „Komm her!“ – „Sag Papa / Danke / Ball!“ – „Setz dich hin!“ – „Iss auf!“ – „Nein, das ist genug!“ – „Hör auf!“ – „Zieh deine Schuhe an!“ – „Mach, was ich dir sage!“ – und vor allem ein lautes „NEIN!“ … und irritiert reagiert, wenn das Kind diese ignoriert oder nicht, wie erwartet, befolgt. Dahinter scheint mir die unbewusste oder mechanistische Idee zu stecken, dass Anweisungen befolgen einfacher sei oder das einzige, das man von einem Kind mit Kommunikationsschwierigkeiten oder fehlendem Interesse an seiner Welt erwarten könne.

Mit Eltern, die sich wegen autistisch-ähnlicher oder autistischer Verhaltensweisen an mich wendeten, erlebe ich solche Veränderungen regelmäßig und immer in der gleichen Reihenfolge: Erst verändern die Erwachsenen ihre Kommunikationsweise, weil sie das Kind und seine Entwicklungsebene besser einzuordnen und zu verstehen lernen und beginnen mit dem Kind auf eine emotional einfühlsame Art und Weise zu sprechen. Hierbei verschiebt sich der Fokus des Erwachsenen auf den emotionalen Mitteilungswert seiner Stimme anstatt auf die faktische Bedeutung seiner Worte. Dadurch fühlt sich das Kind verstanden, – es fühlt sich gefühlt, – und zieht unwillkürlich nach, – auf seine Weise, manchmal schneller, manchmal langsamer und so gut es kann. Der Wendepunkt hier ist immer weg von einem verhaltensorientierten Fokus auf das Befolgen von Anweisungen beziehungsweise einer vermeintlichen Gehorsamkeitsverweigerung und hin zu einer beziehungsorientierten Sichtweise, die das Kind als einen fühlenden empfindsamen Menschen wahrnehmen kann: „Denn wenn wir das Kind anders sehen, dann sehen wir ein anderes Kind“ (Shanker 2019).

Von einer beziehungsorientierten Position aus sehen wir das Kind ganzheitlich und interessieren uns als erstes für seine Stärken, d. h. wofür es sich interessiert, was es motiviert, was es mag und gerne macht. Wie fühlt dieses Kind sich in der Welt, und wie nimmt es die Welt wahr? Wie kann es sich in der Welt einbringen und auf Beziehungsangebote eingehen? Wir fragen uns, wie wir dieses Kind in seinen eigenen Bemühungen unterstützen können. Uns interessiert „Wer ist dieses einzigartige Kind, das noch keiner kennt, das sich selbst noch nicht kennt, und von dem es nur dieses eine Kind gibt?“ Uns interessiert das Kind als Individuum: welche Entwicklungsmeilensteine es erreicht hat und bei welchen es unserer Unterstützung bedarf, um sie so gut wie möglich zu meistern. Denn ein Kind wird mit einem noch kaum vernetzten unfertigen Gehirn geboren, das sich nur mithilfe von einfühlsamen Beziehungen gut entwickeln kann.

Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch ein riesiges Entwicklungspotenzial mitbringt, das jedes Kind so gut wie möglich verwirklichen will, das sich aber nur unter den geeigneten Umständen entfalten kann. Da ein kleines Menschenkind noch so unfertig ist in seinem Verständnis der Welt und in seiner emotional-mentalen Entwicklung, braucht es hierzu vor allem einfühlsame Beziehungen und Erfahrungen mit seiner Umwelt. Auch braucht ein Kind geeignetes Spielmaterial, um lernen zu können, wie sein eigener Körper in Interaktion mit der Welt der Gegenstände und natürlichen Gegebenheiten der äußeren Realität funktioniert, z. B. dass man Dinge in die Hand nehmen kann, und dass diese immer runterfallen, wenn man sie loslässt, und nur in Ausnahmefällen nach oben steigen (wie Seifenblasen oder Luftballons). Kleinkinder, die viel vor elektronischen Bildschirmen wie Handy oder Fernseher verbringen, haben hier oft Mangelerscheinungen in allen Entwicklungsbereichen, was schnell autistisch-ähnlich aussieht und oft zu der Frage einer möglichen Autismus-Diagnose verleitet. Aber diese Kinder haben in Wirklichkeit einen sehr großen Nachholbedarf an aktivem sensomotorischem Hantieren und Explorieren sowie an emotionalem koregulierenden Austausch mit einem menschlich einfühlsamen Kommunikationspartner.

1.1.4Emotionaler Austausch ist der Dreh-und Angelpunkt von Kommunikation

BEISPIEL

„Gleichzeitig können wir sehen“, fuhr ich fort, „dass Rahul Ihren Bemühungen gegenüber nicht ganz abgeneigt ist. Denn er sitzt schon die ganze Zeit neben Ihnen und läuft nicht weg, d. h. er sitzt gerne neben seiner Mama und ist eigentlich interessiert an der Beziehung. Er baut mit den Duplos, versteht, wie das geht und wie man Teile aneinanderreiht. Auch beim Sprechen muss man einzelne Wörter in einer bestimmten Ordnung aneinanderreihen. Eine innere Grammatik hat er also schon entwickelt. Er hat Ausdauer, wenn es nicht sofort funktioniert, – eine Grundvoraussetzung, um Neues zu lernen. Er weiß auch, was ein Stern ist und kennt offensichtlich die Farben, d. h. er hat dieses Wissen von seiner Mama oder anderen Bezugspersonen mit Interesse in sich aufgenommen. Und hin und wieder reagiert und antwortet er ja auch, manchmal nonverbal, und manchmal mit Worten. Er hat also die Fähigkeit zu sprechen. „Wirklich? Meinen Sie, er wird sprechen lernen?“, Rahuls Mutter sah mich zweifelnd und gleichzeitig hoffnungsvoll an. „Ich sehe keinen Grund, warum er nicht sprechen lernen sollte.“, meinte ich. Aber ich habe den Eindruck, dass er sich bombardiert fühlt und das Gefühl hat, dass Sie dauernd etwas von ihm fordern oder wollen. Und das hilft ihm nicht bei seinen eigenen Bemühungen. Und deshalb schützt er sich. Und macht zu. Natürlich fühlt man sich dann ausgeschlossen und außen vor. Und ich glaube, Sie klopfen dauernd an, um Einlass zu erlangen. Darum die vielen Fragen. Aber Rahul hat sozusagen die Klingel abgestellt. Wenn es ihm zu viel ist, was von außen an ihn herankommt, dann zieht er sich zurück.“ Rahuls Mutter nickte.

Und worum geht es bei dem allen? Um Gefühle. Um emotionalen Kontakt. Wir alle suchen den emotionalen Kontakt, wenn er sich stimmig und einfühlsam anfühlt. Und wenn es sich emotional nicht gut und stimmig anfühlt, dann fühlt man sich frustriert, verletzt, beleidigt oder bekommt Angst, und macht zu, um sich zu schützen. Und wenn man außen vor gelassen wird, dann fühlt man sich verzweifelt oder traurig oder besorgt oder wütend oder alles zusammen und gefangen in einem Teufelskreis, aus dem man unbedingt raus will.

Um aus solch einem Gefühl des Gefangenseins herauszukommen, sind nicht gesprochene Worte das wichtigste oder der passende Weg. Sondern wir müssen beobachten, was das Kind macht, meint, fühlt, denkt, möchte, beabsichtigt oder im Sinn hat, – was in ihm innerlich vorgeht. Wir müssen sein Gesicht lesen, um uns mit allen unseren Sinnen in es einzufühlen, – sozusagen mit den Ohren schauen und mit den Augen zuhören. Wenn das Kind spürt, dass wir die emotionale Atmosphäre wahrnehmen, offen sind dafür, was in seinem Inneren, in seiner Seele vorgeht, dann wird es sich sicher fühlen und die metaphorische Tür aufmachen, und uns einlassen.

Denn dann fühlt es sich als ein Jemand gesehen. Und nur als ein Jemand kann es wahrnehmen, dass es innere Türen gibt, die man aufmachen kann, und dass es da draußen „einen Anderen“ gibt, den man hineinlassen kann.

1.1.5Türen öffnen zu inneren Räumen

Nach diesem kleinen Gespräch und Exkurs über Sprachentwicklung schien die Mutter innerlich an einem anderen Ort angekommen zu sein. Ihre Stimme hatte sich verändert und hatte einen weicheren offeneren Klang. Es war als hätte sich auch bei ihr eine Tür geöffnet und damit ein innerer Raum, der ihr vorher nicht bewusst gewesen war, zu dem sie keinen Zugang gehabt hatte. Dieses Bewusstsein innerer Räume ermöglichte ihr einen neuen Blickwinkel, von dem aus sie sich selbst innerlich anders erleben und ihr Kind wie mit anderen Augen sehen konnte. Denn „wenn man ein Kind anders sieht, dann sieht man ein anderes Kind.“ (Shanker 2019)

Ihr verbales Bombardement hörte auf. Mir schien als habe sich ihr Sein aus ihrem aufgeregten und bemühten Kopf irgendwie tiefer in ihren Körper verlagert, als sie sich nun emotional, wenn auch von außen gesehen fast unmerklich, Rahul zuwendete, ihren Blick von seinen Händen zu seinem Gesicht hin und her schweifen ließ und sagte „Ah, das Männchen soll auf dem Zug sitzen. Und es klappt immer nicht. Wie ärgerlich.“ Es schien so wenig. Aber er hielt momentan inne und warf ihr einen überraschten Blick zu. Aber lang genug um das entspannte Gesicht seiner Mutter wahrzunehmen, und sich etwas mehr zu ihr hinzudrehen, um ihr das Männchen zu geben. Er begann sich ihr zu öffnen. Sie nahm das Männchen, lächelte ihn an und sagte nur „Und jetzt!“ und wartete, dass er ihr zeigte, wo sie es hinsetzen sollte. Sah sie ein anderes Kind? Es war rührend, und mir kamen fast die Tränen. Denn zusammen mit Rahul sah ich auch eine andere Mama. Die ganze emotionale Atmosphäre hatte sich entspannt und beruhigt.

1.1.6Vorstellungen entwickeln mit „Spielmaterialien, die noch nichts sind“

Bei meinem vierten Hausbesuch ca. sechs Wochen später empfing Rahul mich fröhlich in der Tür und erzählte mir „Kiste – Mama. Kochen – Rahul.“ Er rannte ins Wohnzimmer, wohl um mir das Berichtete zu zeigen, kam dann aber zurück, um mir beim Schuhe-Ausziehen zuzuschauen. „Billa – Schuh.“, meinte er. „Ja, ich muss mir erst noch die Schuhe ausziehen“, stimmte ich ihm zu. „Rahul – Schuhe. Mama – Schuhe.“, berichtete er mir. „Papa – nein. Rahul – Fenta.“ „Ah“, meinte ich „Da sind Rahuls Schuhe und Mamas Schuhe. Aber Papas Schuhe sind nicht da, weil Papa bei der Arbeit ist!? Und du vermisst deinen Papa und hast ihm vorhin aus dem Fenster nachgewinkt?“ Das schien zu stimmen, wie ich seiner nonverbalen Reaktion und dem Nicken seiner Mama entnahm.

Er machte sich auf ins Wohnzimmer und sah sich um, um sich zu vergewissern, dass ich ihm auch folgte. Dort auf dem Boden stand eine große Schachtel. Sie war innen rot und schien an beiden Seiten Fenster zu haben. Rahuls Mutter war uns gefolgt und sagte lachend „Ich bin so froh, dass ich diesen Computerkarton so lange aufgehoben habe! Er ist das perfekte Haus. Oder im Moment ist er eine Küche.“ Rahul nahm einen der Flaschendeckel, die zum Spielen auf dem Boden lagen, legte eine Kastanie darauf und hielt ihn mir hin „Ah! Ist das für mich?, sagte ich. „Billa essen“, meinte Rahul und gab der Mutter auch einen „Teller mit Essen“ drauf. Ich reichte ihm meinen „Teller“ wieder zurück: „Ganz vielen Dank. Jetzt habe ich aber Durst.“ Rahul schaute auf dem Boden herum und hielt mir einen anderen etwas höheren Deckel hin, wobei er ein Geräusch von Trinken machte. Natürlich hatte seine Mutter inzwischen auch Durst … und dann der Teddy … und so plätscherte unser einfaches Symbolspiel in vielen Kommunikationskreisen (Kap. 3) über eine halbe Stunde lang wie in einem langen Dialog hin und her. Was für ein markanter Unterschied zu unserer ersten Begegnung!

Drei Jahre später besucht Rahul eine Regelschule, wo er beliebt ist und viele Freunde hat. Er lernt leicht und gerne, und „redet wie ein Wasserfall“, berichtet seine Mutter. Sie sei so froh über seine Entwicklung, und unsere Begegnung, und mache sich überhaupt keine Sorgen mehr.

1.2Autismus-Diagnose. Wirklich?

Martins Mutter kontaktierte mich auf Empfehlung einer anderen Mutter von einem Kind mit einer Autismus-Diagnose. Sie mache sich seit einer Weile Sorgen über regressives babyartiges Verhalten ihres 4 ½-Jährigen und einen möglichen Rückfall in autistische Verhaltensweisen, wie Martin sie vor drei Jahren gezeigt hätte. Damals hatten sie im Ausland gewohnt und verschiedene Autismustherapien erhalten.

BEISPIEL

„Dann sind wir nach London gezogen, und alles war plötzlich ganz anders. Keine Autismustherapie, keine Logopädie, keine Ergotherapie. Keinerlei staatliche Förderung. Nur wir drei in einer winzigen Zweizimmerwohnung. Aber Martin fing wieder an, sich uns zuzuwenden. Er schaute uns an, begann mehr zu sprechen und zu spielen und mit uns Eltern in Beziehung zu treten. Er war sehr interessiert daran, seine neue Umwelt zu erforschen und wollte immer raus. Ich hatte das Gefühl, dass ich mein Kind wieder gefunden hatte, und war so erleichtert.

Aber seit einigen Wochen will er nicht in den Kindergarten, spielt dort lieber alleine und sagt immer ‚Nein Kindergarten!‘. Er spricht auch immer noch nicht wie die anderen Kinder seines Alters. Er haut sie und zeigt auch zuhause aggressives Verhalten. Manchmal brabbelt er vor sich hin und macht komische Geräusche mit dem Mund. Und wenn ich ihm sage, er soll damit aufhören, ignoriert er mich und macht einfach weiter. Das macht mir Angst. Ich weiß einfach nicht, was los ist. Jetzt, und auch damals. Was ist eigentlich Autismus? Hatte er damals Autismus, und dann nicht mehr? Er hat zwar eine Autismus-Diagnose. Aber ich glaube inzwischen nicht mehr, dass er wirklich autistisch ist. Ist das etwas, das kommt und geht? Ich bin völlig durcheinander. Wie kann ich verhindern, dass er sich wieder so zurückzieht? Ich will ihn nicht wieder verlieren.“

Sie war erleichtert, als ich ihr vorschlug, sie könne mir gerne ein paar Videoclips schicken. Dann könnten wir gemeinsam überlegen, was mit Martin los ist und wie sie ihm am besten helfen kann. Bei den ersten Videos, die sie mir schickte, ging es darum, dass Martin nicht anstandslos ins Bett ging oder mehr fernsehen wollte, und die Mutter sehr verunsichert schien.

1.2.1Missverständnisse und schwierige Gefühle

BEISPIEL

Martin sitzt auf dem Boden und weint. Er zupft am Ärmel seines T-Shirts und heult „Nass! Nass!“ Dabei schaut er seine Mutter jämmerlich an. Er betrachtet seinen Ärmel und brummelt „Iihh. Bah! – Alles nass!“ Aber er erntet nur eisiges Schweigen. Er bricht erneut in lautes Geheul aus und schaut zu seiner Mutter auf. Dies wiederholt sich mehrmals, und ist schmerzlich anzusehen. Er kriecht heulend auf seine Mutter zu und hält ihr seinen Ärmel hin. Sie sagt scharf: „Es ist NICHT nass!“ – „Doch! Alles nass!“, heult Martin und bricht ans Sofa gelehnt schluchzend zusammen. Immer wieder wiederholt er „Alles nass! Alles nass!“ und sieht dabei seine Mutter flehentlich an. „Ok, ok! Das sind nur ein paar Tränen. Das trocknet wieder. Und nein, der Fernseher bleibt jetzt aus. Du wirst immer so aggressiv wie jetzt gerade, wenn du Fernsehen guckst. Das tut dir nicht gut!“, schimpft sie über sein lautes Geheul hinweg. „Hör jetzt endlich auf!? Es trocknet wieder. Was nass ist, trocknet auch wieder!“, herrscht sie ihn an. Martin sitzt zusammengesunken auf dem Boden, brabbelt einen vehementen Widerspruch, dessen Worte man allerdings nicht verstehen kann, während er schluchzend an seinem Ärmel zerrt. Dann steht er auf und verlässt heulend das Wohnzimmer.

Dieses Video erstaunte mich. Ich hatte erwartet, Beispiele von autistisch-ähnlichem Verhalten zu sehen. Was ich sah, waren Frustration, Missverständnisse, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Von Mutter und Kind. Beide fühlten sich unverstanden und verunsichert, abgelehnt und in ihren individuellen Bedürfnissen ignoriert. Keiner kam emotional beim anderen an. Obwohl der Wunsch dazu bei beiden offensichtlich war. Dass Martin sich als 4½-Jähriger dann zurückzog und aufgab, konnte ich gut verstehen. Dass seine Mutter Angst vor einem Rückzug in eventuell autistisch-ähnliche Verhaltensweisen wie vor drei Jahren hatte, auch. Aber wie passte dies zu den Sorgen der Mutter und den von ihr beschriebenen Situationen?

Martin kommunizierte seine Wünsche und Gefühle eindeutig, hauptsächlich nonverbal, und suchte ganz intensiv die Aufmerksamkeit seiner Mutter. Aber sie schien darin autistisch-ähnliches Verhalten, Aggression, Rückzug und Ignorieren zu sehen. Daraus ergab sich ein mehrfacher Konflikt: Martin wollte mehr Fernsehen, ein trockenes T-Shirt und Trost. Die Mutter suchte ein Kind, das auf sie hört und mit ihr spielen und sprechen will, statt alleine fernsehen zu wollen, was sie als Rückzug empfand, und autistisch. Sie sah Autismussymptome, wo Martin versuchte, sich verständlich zu machen. Ihr Fokus war auf dem, was er nicht sagte. Sie selbst sagte nur wenig. Sein Fokus war auf emotionale nonverbale Verständigung gerichtet. Er ging aktiv auf sie zu, während sie ihn hilflos zu ignorieren schien oder ihn zu erziehen versuchte, statt ihn emotional zu verstehen und auf ihn einzugehen. Ich konnte ihre Verwirrung gut verstehen: Handelte es sich hier tatsächlich um Autismus? Oder was war los?

1.2.2Autismus durch die Autismusbrille oder beziehungsorientiert gesehen

Martins Mutter schien gefangen in angstbesetzten Vorstellungen von Autismus, wie eine undurchsichtige Wand, auf der sie Autismus wie ein Schreckgespenst abgebildet sah und durch die sie Martin selbst nicht wirklich sehen konnte. Oder als sähe sie ihn und alles, was er tut, wie durch eine „Autismusbrille“ und nicht als das 4½-jährige Kind, das er ist – und das Kind, das er noch werden kann und will und wird.

Wenn man diese Autismusbrille ablegt und genau hinschaut, dann sieht man ein kleines Kind, das „mehr!“ will und noch nicht mit frustrierenden Gefühlen umgehen kann. Und eine Mutter, die sich auf ähnliche Weise hilflos fühlt, wie sie mit schwierigen Gefühlen nicht gut umgehen kann, – weder den eigenen noch denen ihres Kindes. Und dann eskaliert es, weil keiner da ist, der sich gut um all die unerträglichen Gefühle kümmern und sie auffangen kann. Nur zwei hilflos verzweifelte verlassene Kinder, – ohne Eltern. In unserem Onlinegespräch konnte ich spüren, wie sich etwas in ihr entspannte. Dann kamen ihr die Tränen und ein Schwall über die Zeit, als Martin sich zurückgezogen hatte:

BEISPIEL

„Mit 18 Monaten zog Martin sich zurück. Er reagierte nicht, wenn ich ihn beim Namen rief, er sprach nicht und nahm kaum Blickkontakt auf. Ich hatte solche Angst, ihn zu verlieren. Er war in seiner eigenen Welt, ignorierte mich, wenn ich ihm etwas sagte, und ich konnte ihn nicht erreichen. Ich war außer mir vor Verzweiflung. Mit meinem Mann konnte ich nicht darüber sprechen. Meine Eltern bedrängten mich. Wir mussten mehrmals umziehen und ich fühlte mich so allein, und brauchte dringend Hilfe. Dann bekam Martin die Diagnose Autismus.

Bei der diagnostischen Abklärung sagte man uns, sie wären mit den schlimmsten Befürchtungen gekommen, die sich leider alle bestätigt hätten: dass Martin Autismus hat und immer haben und wahrscheinlich nie sprechen lernen würde. Die haben das einfach so gesagt, so in 5 Minuten. Dann war der Termin zu Ende. Ich hatte das Gefühl, als hätte mich gerade jemand zusammengeschlagen. Danach bin ich dann zusammengebrochen und konnte erstmal tagelang kaum sprechen. Mein Mann hat in der Zeit Martin und den Haushalt versorgt. Er ist da eher stoisch. Dann habe ich mich langsam wieder gefangen und mit Hoffnung auf die Autismustherapien gewartet. Aber das hat uns auch nicht wirklich geholfen. Martin wollte (oder konnte) die Anweisungen nicht befolgen und hat einfach nicht mitgemacht. Und er wollte da immer nicht hin. So wie jetzt im Kindergarten. Die Autismustherapeuten haben mir gezeigt, wie ich Martin sprechen beibringen sollte – einzelne Wörter betonen und mit lauter klarer Stimme immer wieder wiederholen. Aber ich fühlte mich wie ein Roboter, nicht wie die Mama von einem Kind, das noch nicht zwei Jahre alt ist. Es fühlte sich irgendwie mechanistisch und kalt und falsch an. Ich habe fürchterlich darunter gelitten. Aber ich dachte, dass man das bei Autismus so machen müsse.

Dann hab ich dieses kleine Buch von Holly Bridges gelesen ‚Reframe your thinking around autism‘ [2015 auf deutsch ungefähr: „Über Autismus anders denken“, eine Zusammenfassung neuerer Theorien über Physiologie und Therapie von posttraumatischen Stressreaktionen und die Polyvagaltheorie im Zusammenhang mit Autismus]. Das war das erste Mal, dass ich mich verstanden fühlte. Aber es passte so gar nicht zu allem, was uns bisher über Autismus gesagt worden war, und ich fühlte mich weiterhin vollkommen verunsichert, allein und verzweifelt. Seitdem bin ich total ins Nachdenken gekommen, was Autismus eigentlich ist? Was dieses Wort tatsächlich bedeutet? Und ob Martin das wirklich hat?“

„Mir scheint“, meinte ich, „als ob du immer wieder von Flashbacks übermannt würdest, in denen du wie ein Schreckgespenst Symptome und Autismus siehst, wie in einer posttraumatischen Stressreaktion. Die Erfahrungen der letzten Jahre waren traumatisch für euch alle als Familie, und besonders für dich, da du niemanden hattest, mit dem oder der du deine Ängste besprechen und verarbeiten konntest. Sie werden immer wieder getriggert, was dich emotional entgleisen lässt, sodass du immer wieder aus dem emotionalen Kontakt mit Martin, und mit dir selbst, heraus und in eine Art emotionales Niemandsland gerätst.“

Unser Gespräch gab ihr endlich die Möglichkeit, einige der traumatischen Gefühle aufzuarbeiten und durch das Erzählen loszulassen, da sie sich endlich gehört, verstanden und aufgefangen fühlte.

In den letzten Jahren wird von Autismus oft gesprochen, als sei es ein „Ding, das das Kind hat“. Oder eine angeborene Krankheit oder ein physiologischer Defekt. Das führt meist dazu, dass aller Fokus sich auf den Autismus heftet, um ihn zu behandeln. Hierbei verliert man, wie Martins Mutter, das Kind als Individuum und fühlenden Menschen leicht aus den Augen. Denn im Grunde ist ein Kind wie ein noch unvollendetes Projekt mit einem in Wirklichkeit unbegrenzten Entwicklungspotenzial, das aber auf die emotionale Koregulation mit einer einfühlsamen Bezugsperson angewiesen ist, damit sich das Gehirn des Kindes dementsprechend vernetzen und entwickeln kann.

Es herrscht allgemeine Übereinstimmung darin, dass es sich bei Autismus um eine Art emotionalen Rückzugs in sich selbst handelt. Dieser kann, muss aber nicht, ein doppelter Rückzug sein, d. h. ein Rückzug in sich selbst UND weg vom anderen. Wenn wir Rahul oder Martin beobachten, hat man eher den Eindruck, dass sie sich in sich selbst zurückgezogen haben, um sich zu schützen, aber nicht ihre Beziehungsfähigkeit und leidenschaftlichen Gefühle für ihre Mutter, oder für die Welt um sie herum, aufgegeben hatten. Viele dieser Kinder, wie auch Martin, haben gewisse sensomotorische Regulationsprobleme oder Schwierigkeiten mit sensorischer Integration, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Aber das ist nicht dasselbe wie Autismus.

1.2.3Das Vertrauen in Einfühlung und Intuition wiedergewinnen

In unserem nächsten Gespräch sprachen wir über normale Kinderentwicklung und die zentrale Rolle von unseren menschlichen Gefühlen, ihren eigenen sowie Martins, insbesondere in den ersten Lebensjahren und ihre Bedeutung für die Sprachentwicklung eines Kindes. Erinnerungen an ihre eigene Kindheit kamen in ihr hoch:

BEISPIEL

„In meiner Kindheit waren Gefühle nicht willkommen. Es war schrecklich. Man durfte nur ‚gute Gefühle‘ zeigen. Alle anderen Gefühle musste man immer sofort unterdrücken. Man musste immer lieb und brav sein. Sonst wurde man bestraft und abgelehnt. Niemand hat mir je zugehört oder sich dafür interessiert, wie es mir geht oder wie ich mich fühle. Mit meinem eigenen Kind wollte ich das unbedingt anders machen“, sagt Martins Mutter mit Tränen in der Stimme. „Und jetzt mache ich es genau so, weil ich einfach nichts anderes weiß.“ – „Ja, wie es so schön heißt: ‚Parenting comes naturally, – as it was done to you‘ [auf deutsch ungefähr: „Kindererziehung fällt einem irgendwie zu], – so wie man es selbst erfahren hat“, sage ich. „Du hast über all den Ängsten im Zusammenhang mit der Diagnose und den Auffassungen von Autismus das Vertrauen in deine eigene Intuition verloren. Aber wenn wir so miteinander sprechen, habe ich keinen Zweifel, dass deine Intuition intakt ist und dass du dich darauf verlassen kannst. Du kannst dich einfühlen und mitfühlen, sowohl in dich selbst als auch in Martin. Denn worum es uns doch im Grunde geht, ist emotional gut im Kontakt miteinander zu sein. Und das ist intuitiv und kommt von Herzen, indem man auf seine eigenen Gefühle horcht, um sich einfühlen und dann stimmig auf das Kind eingehen zu können.“

Ich erzählte ihr über Floortime and beschrieb ihr die ersten sechs funktionalen emotionalen Entwicklungskapazitäten. (Kap. 3) „Mein Eindruck ist, dass Martin seine Aufmerksamkeit sowohl fokussieren als auch mit einem anderen teilen kann, er ist sozial zugewandt und interessiert an der Welt um ihn herum sowie an Beziehungen, und er versucht aktiv, dir seine Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse mitzuteilen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass er in der Lage ist, länger bei einem Thema oder Problem dabei zu bleiben, um es mit deiner Hilfe zu lösen. Er hat schon einige Wörter gelernt, die er benutzt und die sich aus dieser Fähigkeit des gemeinsamen Probleme-Lösens entwickelt haben. Allerdings scheint es ihm manchmal schwer zu fallen, sich emotional zu regulieren. Und ich weiß bisher nicht, wie es mit seinem symbolischen Spiel aussieht.“ Ich spürte die Erleichterung in ihrer Stimme, als sie sagt „Ja, das stimmt alles. Das hört sich gar nicht so autistisch an. Wenn man das so beschreibt, dann kann ich Martin ganz anders sehen. Und das mit der emotionalen Regulation … ist ja eigentlich auch mein Problem.“ Ich erzählte ihr von Stuart Shanker, dem Professor in Kanada, der über Floortime und Selbstregulation forscht und sagt: „Wenn man ein Kind anders sieht, dann sieht man ein anderes Kind“ (Shanker 2019), und empfahl ihr sein Buch „Das überreizte Kind“.

1.2.4Der Fleck und die Verwandlung

Bei den Videos, die sie mir zwei Wochen später schickte, kamen mir fast die Tränen: Martin sitzt auf der Stufe und zupft an seiner Hose. „Ah, du hast dich bekleckert.“ Die Stimme der Mutter ist ruhig und freundlich. Martin schaut zu ihr auf. Sein Gesicht ist offen und fragend. Er steht auf und nimmt das Küchenhandtuch, um an dem Fleck zu reiben. Seine Mutter klingt überrascht „Oh! Ja, super. Du machst es wieder sauber.“

Die Beziehung zwischen Mutter und Kind fühlte sich stimmig an. Und so ganz anders als im ersten Video. Die Mutter hatte offensichtlich wieder zu ihrer eigenen guten Intuition zurückgefunden, war im emotionalen Kontakt mit ihrem Kind und sie verstanden einander. Was war passiert?

BEISPIEL

„Es was so eine Erleichterung, mit jemand gemeinsam die Situation und meine Gefühle mit gesundem Menschenverstand anzuschauen. Dass jemand mir sagt, dass ich mich auf meine eigene Intuition und meine Gefühle verlassen kann. Dass ICH es alles in mir habe. Dass ich es kann. Und dass ich keine Schuldgefühle haben brauche. Und dass du es mir zutraust. Das hat bei mir wie einen Schalter umgelegt. Und ich bin mir inzwischen auch ganz sicher, dass bei Martin auch alles da ist. Manches entwickelt sich bei ihm einfach langsamer.

Das andere, das mir sehr geholfen hat, ist das mit dem weniger Reden. Wie du gesagt hattest, habe ich versucht, mit anderen Kommunikationsformen zu experimentieren, also mehr nonverbal mit Stimme, Blicken, Bewegungen, Gesten, Berühren und Körpersprache. Das macht so einen unglaublichen Unterschied! Seit unserem Gespräch letzte Woche versuche ich weniger zu reden und zu erklären, – es ihm zu zeigen, statt es ihm nur zu sagen. Mir ist bewusst geworden, dass ich mit meinem vielen Reden eigentlich die Gefühle wegmachen wollte, sowohl seine, als auch meine eigenen, weil ich sie nicht ertragen konnte. Jetzt habe ich weniger Angst davor und nehme mir mehr Zeit zu beobachten, was gerade los ist, in mich hineinzuspüren, auf meine eigenen Gefühle zu horchen, bevor ich reagiere. Das tut auch Martin unheimlich gut, und er kommuniziert und spricht seitdem viel mehr. Vorher fühlte ich mich irgendwie immer gehetzt von der Idee, ich müsste ihm dauernd etwas beibringen und ihn zum Sprechen kriegen. Aber jetzt sehe ich, wie viel er schon selbst weiß und kann und in sich hat, wenn ich ihm nur die Zeit gebe, und aufmerksam und mit Interesse abwarte. Dass es viel mehr um Fühlen, Denken und Können geht, als um Wissen oder Fakten. Er erstaunt mich jeden Tag wieder.“, berichtet Martins Mutter.

1.2.5Spielen ist die Grundlage von Sprachentwicklung: Weihnachten im Mai?

BEISPIEL

Das nächste Video, drei Monate später, zeigt Martin, wie er aus der Küche kommt, – voller Enthusiasmus, einen großen roten Beutel in der Hand. Er sagt etwas zu seinem Vater. Seine Aussprache ist verwaschen und er ist schwer zu verstehen. Weihnachten? Schlitten? Erst auf dem Video kann man das Gehörte im Nachhinein besser verstehen. Auch weil es Mai ist, und nicht Dezember, wo einem Weihnachten näher liegen würde! Er zieht den Beutel hinter sich her ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa befindet sich eine Badezimmermatte. Martin erklärt etwas, ganz von seiner Idee eingenommen. Aber seine Worte sind kaum auszumachen. Er legt die Matte auf den Boden, setzt sich darauf, reicht seinem Vater die vorderen Zipfel und ist zufrieden, als der Vater ihn Richtung Küche zieht. Dort steht er auf und erklärt wieder etwas. Es handelt sich ganz offensichtlich um einen neuen Plan. Martin nimmt je einen Bademattenzipfel in eine Hand um die Matte hinter sich herzuziehen. Der Vater steht unschlüssig da. Martin dreht sich um und fordert ihn auf, sich zu setzen. Was er meint, ist für mich eindeutig, obwohl seine Worte undeutlich sind und kaum zu verstehen sind. Der Vater scheint nicht zu begreifen. Als er nicht reagiert, zieht Martin ihn an der Hand runter. Der Vater setzt sich auf die Matte. So war es gemeint! Jetzt zieht Martin vorne mit aller Kraft. Er strengt sich sehr an. Aber „der Schlitten“ bewegt sich nicht. Alle lachen. Martin auch. Dann sagt er „Papa, auf! – Rentier!“ Offensichtlich ein neuer Plan. Schließlich gelingt es Martin, dem Vater klar zu machen, dass sie tauschen sollen: Martin setzt sich auf die Matte und Papa soll ziehen. Jetzt bewegt sich der Schlitten. Wieder allgemeines freudiges Gelächter. Aber dann Protest. Martin sagt mehrmals „Stopp! Stopp!“ Dann Geschrei, als der Vater einfach weiterzieht, – beide Zipfel in einer Hand! Dann zeigt Martin, was er meint: Für einen Schlitten muss man in Martins Vorstellung je einen Zipfel in einer Hand ziehen! Das ist ihm wichtig.

Ich beschreibe den Eltern meine Begeisterung über Martins Fantasie und ihre Fähigkeit zu verstehen und darauf einzugehen, dass Martin mithilfe der Badezimmermatte im Mai den Schlitten vom Weihnachtsmann nachspielt, der an den vorderen Zipfeln von einem Rentier gezogen wird. Erst hat er selbst versucht, mit seinen beiden Händen die Zügel zu halten, um den schweren Schlitten und Papa zu ziehen. Als dies nicht funktionierte, hat er sich bemüht, sein Problem zu lösen, indem Papa das Rentier ist. Solch nonverbales Symbolspiel ist die Grundlage für alle weitere Sprachentwicklung, die sich aus den Vorstellungen des Kindes und seinem anfangs nonverbalen und symbolischen Spiel entwickelt.

BEISPIEL

„Aber mir schien, als wolltest du das nicht? Oder du hast es nicht verstanden?“, sage ich zum Vater, der sich in seiner Mittagspause von der Arbeit aus in unseren Online-Termin hat zuschalten können. „Ja, weil er nicht richtig spricht. Er soll doch einfach mal sprechen. Ich kann ja gar nicht verstehen, was er sagt!“, beklagt sich der Vater. Ich spüre Verletzung und Anklage in seiner Stimme. „Ja, ich glaube in diesem Augenblick hat dich ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überwältigt, dass dein Sohn irgendwie defekt sei, weil du seine Worte nicht verstehen kannst und weil er eine Diagnose hat. Und du warst wie gelähmt von der Angst, dass Martin nie sprechen lernen würde. Und von den traumatischen Erinnerungen der letzten Jahre. Aber wenn wir unsere Aufmerksamkeit von Worten auf nonverbale gestische Kommunikation ausweiten, dann können wir sehen, dass Martin klar kommuniziert und sich verständlich gemacht hat. Dein Sohn hatte eine Idee und klare Vorstellungen davon, diese mithilfe von seinem Papa in die Tat umzusetzen, und sie sogar anzupassen, wenn seine ursprüngliche Idee nicht mit der Realität zusammenpasste. Und er hat das recht gut rübergebracht. Das ist ziemlich komplexe Kommunikation. „Hm“, sagt Martins Vater nachdenklich, „so hatte ich das noch nicht gesehen.“

1.2.6Sprache fängt mit nonverbaler Kommunikation an, nicht mit Wörtern

Damit Kommunikation funktioniert, müssen beide Kommunikationspartner sich bemühen zu verstehen, was der andere meint, – egal ob in Worten oder nonverbal. Wenn man zu sehr auf Worte und verbale Sprache fixiert ist, besteht die Gefahr, dass man verpasst, was der andere wirklich meint. Denn der wirkliche Inhalt von menschlicher Kommunikation ist zu einem großen Teil emotional und nonverbal. Hierzu braucht Martin zur Zeit die Bestätigung, verstanden zu werden, und das macht man am besten, indem man der Führung des Kindes folgt und versucht zu verstehen, was das Kind meint oder sich vorstellt. Als Martin „Stopp!“ rief, hätte man zum Beispiel anhalten können und ihn mit Gesten und Mimik fragen können, was er denn meint oder will. Ich vermute, er hätte dir dann gezeigt, dass du mit jeder Hand einen Zipfel der Badematte nehmen solltest. Du hättest dann vielleicht gesagt „Ah, mit jeder Hand einen! Ich verstehe: wie Zügel!“ Auf diese Weise hätte sich noch mehr Teamwork und Dialog in euer gemeinsames Spiel einbringen lassen, indem Martin sich im erfolgreichen Kommunizieren geübt, und du ihm dazu die geeigneten Worte geliefert hättest. Denn Wortschatz und Sprache entwickeln sich, wenn das Kind erlebt, dass Situationen und Begebenheiten auch für jemand anderen Sinn machen und emotional von Bedeutung sind. Warum sollte man sonst sprechen?

BEISPIEL

Im Video, das mir seine Mutter drei Wochen später schickt, hält Martin eine Papierrolle in der Hand und dreht sich zu seiner Mutter um: „Mama, komm!“ – „Hey, Herr Kapitän! Wohin gehen wir? Was ist auf der Karte? Was müssen wir tun?“ – „Schau mal hier!“ Martin rollt die Schatzkarte auf und sagt „Wir Berg rauf – dann Baum rauf – dann Fluss und dann Schatzkiste“, während er mit seinen Fingern auf dem Papier erst den Berg, dann den Baum hochkrabbelt, mit seinem Finger durch den Fluss fährt und bei der Zeichnung der Schatzkiste anhält. „Mama, komm!“ – „Ok, dann mal los“, seine Mutter ist bereit, hält sich aber zurück und überlässt Martin die Führung. Martin macht sich auf, die eingerollte Karte in der einen Hand, klettert er aufs Sofa und sagt „Berg rauf!“. Im Vorübergehen angelt er nach seinem Lieblingsplüschtier und sagt „Teddy – auch“ und drückt Teddy an sich.

Drei Monate nach unserem ersten Gespräch erhalte ich eine SMS von Martins Mutter: „Heute ist etwas unglaubliches passiert. Martin und ich haben zusammen gemalt, einfach um seine Hand herum. Plötzlich dreht er sich zu mir und sagt „Ich liebe dich, Mama!“ und dann hat er mich so lieb und leidenschaftlich umarmt.“ Inzwischen ist Martin sechs Jahre alt und geht in die Regelschule. Dort ist seine anfängliche Schüchternheit einem zunehmenden Selbstbewusstsein gewichen und inzwischen sind seine Lehrer noch nicht mal mehr erstaunt, wenn Martin ruft „Hey, wer will mit mir Zug spielen?“ und dann den Kindern, die sich ihm gerne zugesellen, Anweisungen gibt und auf Vorschläge eingeht. Seine Mutter ist glücklich, als sie mir berichtet, dass Martin sich für alles interessiert, was in der Schule angeboten und verlangt wird, und gerne mitmacht. Auch zuhause hat sich die Situation entspannt. Martin hilft seiner Mutter gerne beim Kochen und in der Küche, und kann sich immer besser sprachlich ausdrücken. Auch verstehen kann man ihn inzwischen viel besser, zum Beispiel wenn er sagt „Oh Mama, nicht schimpfen. Tief durchatmen! Dann alles gut!“

1.3Autismus. Und wie man sich entwickeln kann!

1.3.1Wie kann man ihn erreichen?

Bei meinem ersten Hausbesuch saß der Kleine mit dem Rücken zum Sofa auf dem Boden und schob auf eine scheinbar absichtsvoll ziellose Art und Weise bunte Plastikklötze hin und her. Dabei summte er vor sich hin. Auf dem Sofa saßen seine Eltern und zählten entrüstet auf, was er alles nicht tat oder konnte. Er sprach nicht, er spielte nicht, nur dieses Klötze-hin-und-her-schieben. Er kam nicht, und reagierte noch nicht mal, wenn sie ihn riefen. Und er weigerte sich, selbst zu essen, und aß nur sehr wenige Speisen. Er interessierte sich für nichts und schien niemanden wahrzunehmen. Alles, was um ihn herum vorging, schien ihm egal. Er war fast drei Jahre und hatte gerade eine Autismus-Diagnose