Autismus-Spektrum-Störungen - Christine M. Freitag - E-Book

Autismus-Spektrum-Störungen E-Book

Christine M. Freitag

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Beschreibung

Die Diagnostik und therapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung stellt eine besondere Herausforderung dar, da sich das Erscheinungsbild sehr heterogen manifestieren kann, oftmals schwer differenzialdiagnostisch einzuordnen ist und gleichzeitig einer komplexen Behandlung einschließlich häufig vorliegender komorbider Störungen bedarf. Der Leitfaden bietet einen Überblick über den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand und gibt wertvolle Hinweise zum konkreten diagnostischen und therapeutischen Vorgehen. Zunächst wird der Stand der Forschung hinsichtlich ätiologischer, diagnostischer und therapeutischer Aspekte dargestellt. Anschließend werden konkrete Hinweise zur Erkennung und Einordnung der Autismus-Spektrum-Störungen in Form von Leitlinien zu Frühsymptomen, Screening und Diagnostik gegeben. Darauf aufbauend werden Leitlinien zur therapeutischen Behandlung unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen (Eltern, Kind, Umfeld) sowie der unterschiedlichen kognitiven Voraussetzungen vorgestellt. Die Beschreibung verschiedener Diagnostikinstrumente und konkreter Therapiemethoden, Arbeitsmaterialien sowie Fallbeispiele erleichtern die Umsetzung der Leitlinien in die klinische Praxis.

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Christine M. Freitag

Janina Kitzerow

Juliane Medda

Sophie Soll

Hannah Cholemkery

Autismus-Spektrum-Störungen

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 24

Autismus-Spektrum-Störungen

Prof. Dr. Christine M. Freitag, Janina Kitzerow, Dr. Juliane Medda,Sophie Soll, Dr. Hannah Cholemkery

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann,Prof. Dr. Franz Petermann

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

Prof. Dr. med. Dr. med. habil. Christine M. Freitag, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Diplomtheologin. Seit 2008 Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und des Autismus-Therapie- und Forschungszentrums, Universitätsklinikum Frankfurt am Main, Goethe Universität.

Janina Kitzerow, Diplompsychologin. Seit 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Autismus-Therapie- und Forschungszentrum der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum Frankfurt am Main, Goethe Universität.

Dr. med. Juliane Medda, Ärztin. Seit 2011 Assistenzärztin an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum Frankfurt am Main, Goethe Universität.

Sophie Soll, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Diplompädagogin. Seit 2011 Mitarbeiterin am Autismus-Therapie- und Forschungszentrum der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum Frankfurt am Main, Goethe Universität.

Dr. phil. nat. Hannah Cholemkery, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Diplompsychologin. Seit 2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2014 Leiterin des klinischen Forschungsbereiches, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum Frankfurt am Main, Goethe Universität.

Wichtiger Hinweis:Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe daraufverwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Format: EPUB

Satz: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen

1. Auflage 2017

©2017Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG,Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF]978-3-8409-2704-1; E-Book-ISBN [EPUB]978-3-8444-2704-2)

ISBN978-3-8017-2704-8

http://doi.org/10.1026/02704-000

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Anmerkung:

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|V|Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Die Diagnostik und therapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung stellt eine besondere Herausforderung dar, da sich das Erscheinungsbild sehr heterogen manifestieren kann, oftmals schwer differenzialdiagnostisch einzuordnen ist und gleichzeitig einer herausfordernden Behandlung bedarf. Insbesondere die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägte Symptomvielfalt und das breite Spektrum an möglichen Schweregraden in Abhängigkeit von Diagnosealter, Sprachvermögen und kognitiven Fertigkeiten können den diagnostischen Prozess erschweren. Zudem zeigen viele Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen auch zahlreiche komorbide psychische Erkrankungen, die ebenfalls in Diagnostik und Therapie spezifisch berücksichtigt werden müssen. Da es sich bei Autismus-Spektrum-Störungen um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung mit meist lebenslangem Verlauf handelt, muss – in Abhängigkeit vom jeweiligen Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen – zwischen unterschiedlichen Fördermöglichkeiten die individuell passende ausgewählt werden.

Der vorliegende Leitfaden zu Autismus-Spektrum-Störungen bietet einen Überblick über den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand und gibt gleichzeitig wertvolle Hinweise zum konkreten diagnostischen und therapeutischen Vorgehen. Der Leitfaden basiert auf der kontinuierlichen wissenschaftlichen und praktischen Arbeit der Autorinnen im Autismus-Therapie- und Forschungszentrum der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters des Universitätsklinikums Frankfurt. Die Kapitel zur Diagnostik beruhen zudem auf den langjährigen Forschungsarbeiten und den aktuell veröffentlichten AMWF S3-Leitlinien „Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes- und Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik“. Da es für die Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen bisher keine deutschsprachigen Leitlinien gibt (der zweite Teil der AMWF S3-Leitlinie zur Therapie erscheint voraussichtlich 2018) stellt das vorliegende Werk eine wegweisende und aktuell sehr wichtige Orientierungshilfe für alle Personen dar, die mit Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen und ihren Familien professionell arbeiten. Durchgehend wurde auf eine ausreichende Evidenzbasierung (mindestens Grad 3; http://www.cebm.net/wp-content/uploads/2014/06/CEBM-Levels-of-Evidence-2.1.pdf) des vorgestellten diagnostischen und therapeutischen Vorgehens geachtet. Neben den langjährigen praktischen Erfahrungen der Autorinnen sind in die Kapitel zu den therapeutischen Grundlagen auch Inhalte der englischen und schottischen Leitlinien zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung (NICE und SIGN Guidelines) sowie neuere wissenschaftliche Erkenntnisse der autismusspezifischen Therapieforschung eingegangen.

|VI|Insgesamt unterteilt sich der Leitfaden in fünf Kapitel:

1 Zunächst wird im ersten Teil des Buches der aktuelle Stand der Forschung hinsichtlich ätiologischer, diagnostischer und therapeutischer Aspekte dargestellt.

2 Anschließend werden im zweiten Teil die Leitlinien zu folgenden Bereichen formuliert und ihre Umsetzung in der Praxis erläutert:

Es werden konkrete und praktische Hinweise zu Frühsymptomen, Screening und Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen gegeben.

Wann welcher Behandlungsansatz indiziert ist, wird in den Leitlinien zur Behandlungsindikation dargestellt.

Darauf aufbauend werden die Leitlinien zur therapeutischen Behandlung unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen (Eltern, Kind, Umfeld) sowie der unterschiedlichen kognitiven Voraussetzungen des Kindes/Jugendlichen vorgestellt.

3 Das dritte Kapitel beschreibt kurz und prägnant Verfahren, die zum Screening, zur Diagnostik oder zur Verlaufskontrolle eingesetzt werden können. Zudem werden evaluierte Therapie- und Förderansätze beschrieben.

4 Im vierten Kapitel sind ausgesuchte Therapiematerialien dargestellt.

5 Das Buch schließt mit dem fünften Kapitel mit zwei Fallbeispielen zur Veranschaulichung der Symptomatik, der Diagnostik und der Behandlung.

Dieser Leitfaden wird durch einen kompakten Ratgeber für Betroffene, Eltern und Lehrer (Cholemkery, Kitzerow, Soll & Freitag, 2017) ergänzt. Der Ratgeber informiert betroffene Familien und Fachpersonal in verständlicher und praxisnaher Sprache über alle wesentlichen Inhalte zum Thema der Autismus-Spektrum-Störungen und bietet zahlreiche Hinweise zu Unterstützungsmaßnahmen im Alltag, in der Schule und der psychotherapeutischen/psychiatrischen Behandlung, sowie zu Kostenübernahmen.

Frankfurt am Main, Juli 2017

Christine M. Freitag, Janina Kitzerow,

Juliane Medda, Sophie Soll

und Hannah Cholemkery

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

1 Stand der Forschung

1.1 Symptomatik und Klassifikation

Einleitung und Überblick zur Entwicklung der Begrifflichkeiten

Symptomatik

Klassifikation

1.2 Differenzialdiagnosen

1.3 Komorbiditäten

Komorbide psychische Störungen

Komorbide Verhaltensauffälligkeiten

Komorbide internistisch-neurologische Erkrankungen

1.4 Epidemiologie

1.5 Verlauf und prognostische Faktoren

Symptomstabilität

Sprachliche Entwicklung

Kognitive Entwicklung

Soziale Entwicklung und Unabhängigkeit

Prognostische Faktoren

1.6 Pathogenese

Risikofaktoren

Störungsmodelle

1.7 Screening und Diagnostik

1.7.1 Frühsymptome

1.7.2 Screening und orientierende klinische Evaluation

1.7.3 Diagnostik

1.8 Therapie

1.8.1 Psychoedukative Elterntrainings

1.8.2 Interventionen im Kleinkind- und Vorschulalter

1.8.3 Förderung von Kindern mit fehlender Sprache im Vor- und Grundschulalter

1.8.4 Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung

1.8.5 Autismusspezifische Gruppentherapie zur Förderung sozialer Kompetenzen

1.8.6 Weitere Förderansätze

1.8.7 Pharmakotherapie

1.8.8 Unwirksame oder schädliche Therapieangebote

2 Leitlinien

2.1 Leitlinien zu (Früh-)Symptomen, Screening und Diagnostik

2.1.1 (Früh-)Symptome und Screening

2.1.2 Diagnostik

2.2 Leitlinien zur Behandlungsindikation

2.3 Leitlinien zur Therapie

2.3.1 Ethische und methodische Grundlagen

2.3.2 Psychoedukation, Elterntrainings und familienunterstützende Maßnahmen

2.3.3 Autismusspezifische Therapie im Vorschulalter und Förderung der Sprache

2.3.4 Psychotherapie ab dem Grundschulalter bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung

2.3.5 Behandlung von Kindern und Jugendlichen ohne Intelligenzminderung

2.3.6 Pharmakotherapie

2.3.7 Schulische und berufliche Förderung

3 Verfahren zur Diagnostik und Therapie

3.1 Screening- und Diagnostikinstrumente

3.1.1 Screeninginstrumente

3.1.2 Diagnostikinstrumente

3.2 Elterntrainings

3.2.1 Elterntraining zur Anbahnung sozialer Kommunikation bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung (T-ASK)

3.2.2 Freiburger Elterntraining für Eltern von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen (FETASS)

3.2.3 Frankfurter Autismus-Elterntraining (FAUT-E)

3.3 Programme zur autismusspezifischen Frühintervention

3.3.1 Das Early Start Denver Model

3.3.2 Das Frankfurter Frühinterventionsprogramm für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (A-FFIP)

3.4 Soziale Kompetenztrainings

3.4.1 Auswahl sozialer Kompetenztrainings mit deutschem Manual

3.4.2 Soziales Kompetenztraining für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen (SOSTA-FRA)

4 Materialien

5 Fallbeispiele

5.1 Fallbeispiel Frühkindlicher Autismus: Eric

Angaben zur spontan berichteten und erfragten Symptomatik

Lebensgeschichtliche Entwicklung und Krankheitsanamnese

Psychopathologischer Befund

Testpsychologischer Befund

Somatischer Befund und weitere organische Diagnostik

Verhaltens-(Mikro-) und Makroanalyse

Therapieziele und Prognose

Behandlungsplan

Behandlungsverlauf

Evaluation

5.2 Fallbeispiel Asperger-Syndrom: Simon

Vorstellungsanlass sowie Angaben zur spontan berichteten und erfragten Symptomatik

Eigenanamnese

Untersuchungsbefunde

Problemanalyse, Therapieziele und Behandlungsplanung

Therapieverlauf

6 Literatur

|1|1 Stand der Forschung

1.1 Symptomatik und Klassifikation

Einleitung und Überblick zur Entwicklung der Begrifflichkeiten

Autismus-Spektrum-Störungen sind im letzten Jahrzehnt zunehmend sowohl in der klinischen Praxis, der Wissenschaft und der Öffentlichkeit diskutiert worden. Erstmals wurde der Begriff „Autismus“ 1911 von dem Schweizer Psychiater Bleuler verwendet. Die linguistische Zusammensetzung des Wortes beruht auf den Begrifflichkeiten „autos“ (selbst) und „ismos“ (Zustand) welche in der Kombination eine Orientierung auf das eigene Selbst beschreiben. Bleuler beschrieb mit dem Terminus allerdings nicht die heute unter „Autismus-Spektrum“ bekannten Symptomkonstellationen, sondern ein Grundsymptom der Schizophrenie: Die Zurückgezogenheit in die eigene Gedankenwelt als Ausdruck einer Kontaktstörung und eine daraus folgende Unmöglichkeit, das eigene Verhalten an die Umwelt anzupassen. Über 30 Jahre später erfolgten die ersten systematischen klinischen Beschreibungen. Der Terminus „Autismus“ wurde beinahe gleichzeitig und dennoch unabhängig voneinander von Leo Kanner (1943) und Hans Asperger (1944) im Sinne des heutigen Verständnisses verwendet. In seinen ersten Fallbeispielen beschreibt Kanner symptomatisch eine geringe soziale Reaktivität, Veränderungssensitivitäten, sprachliche Besonderheiten, intensives Interesse an unbelebten Objekten und das Fehlen des Bedürfnisses nach emotionalem Austausch. Ätiologisch nahm Kanner bereits eine angeborene Ursache an. Asperger beschrieb in seiner Habilitationsschrift ebenfalls eine angeborene Symptomatik mit Auffälligkeiten in der Kommunikation, des interaktiven Kontaktverhaltens, einer reduzierten Gestik und Mimik sowie zahlreichen sprachlichen Besonderheiten (u. a. Monologisieren und die Verwendung von Neologismen). Die Begrifflichkeit des Autismus wurde jedoch erst sehr viel später, im Jahr 1968, in das amerikanische Klassifikationssystem psychischer Störungen (DSM-II) unter den „Typischen Psychosen im Kindesalter“ aufgenommen. Die Abgrenzung von den psychotischen Störungen bezüglich Ätiologie, Beginn, Verlauf und Symptomatik erfolgte schließlich durch empirische Studien (u. a. Folstein & Rutter, 1977). Seit 1980 wurden Autismus-Spektrum-Störungen als eigenständige Erkrankungen unter dem Namen „Tiefgreifende Entwicklungsstörungen“ klassifiziert (DSM-III). Im DSM-IV wurde erstmals auch das Asperger-Syndrom als eigenständige Diagnose in den Klassifikationskatalog aufgenommen. In den vergangenen 10 Jahren wurden zahlreiche Studien zur Frage diskutiert, ob die von Kanner und Asperger beschriebenen Störungen tatsächlich qualitativ oder quantitativ verschieden sind. Das Konzept „Autismus-Spektrum“ löst zunehmend die einzelnen Dia|2|gnosekategorien ab und wurde 2013 auch offiziell im amerikanischen Diagnosesystem (DSM-5; American Psychiatric Association, 2015) eingeführt.

Symptomatik

Die autistische Symptomatologie lässt sich durch die Symptomtrias aus Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion, der Kommunikation und der eingeschränkten, stereotypen und repetitiven Interessen und Verhaltensmuster definieren. Diese qualitativen Beeinträchtigungen sind situationsübergreifend, können jedoch in ihrem Ausprägungsgrad variieren. In den meisten Fällen bestehen Entwicklungsauffälligkeiten seit der frühesten Kindheit. Eine kognitive Beeinträchtigung (Intelligenzminderung) besteht ebenfalls bei etwa der Hälfte der Betroffenen (Baird et al., 2006). Zahlreiche somatische komorbide Erkrankungen können vorkommen (z. B. genetisches Syndrom oder Epilepsie). Die Störung muss jedoch unabhängig von der möglicherweise zugrunde liegenden somatischen Erkrankung oder einer möglichen Intelligenzminderung diagnostiziert werden. Die charakteristische Symptomatik der qualitativen Beeinträchtigungen stellt sich wie folgt dar.

Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen Interaktion. Auffälligkeiten in der Interaktion zeigen sich durch unangemessene Einschätzungen sozialer und emotionaler Signale. Dies kann sich beispielsweise in einem Ausbleiben einer Reaktion auf die Gefühle des Gegenübers ausdrücken oder auch dem Fehlen von Verhaltensmodulationen an verschiedene Situationskontexte. Soziale Signale wie Blickkontakt, Mimik und Gestik werden nur reduziert oder gar nicht zur Initiierung, Aufrechterhaltung oder Beendigung sozialer Kontakte eingesetzt. Interessen, Hobbys oder Gefühle werden nicht mit Gleichaltrigen geteilt. Es entsteht keine sozial-emotionale Wechselseitigkeit. Die Aufnahme von Beziehungen zu Gleichaltrigen ist aufgrund dessen sehr erschwert.

Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation. Beeinträchtigungen der Kommunikation betreffen den fehlenden sozialen und pragmatischen Gebrauch der oftmals reduziert vorhandenen sprachlichen Fertigkeiten. Die Sprachentwicklung ist häufig verzögert. Dabei wird nicht versucht, die Beeinträchtigung in der sprachlichen Entwicklung durch Gestik oder Mimik zu kompensieren. Qualitative Auffälligkeiten im Bereich der Kommunikation zeigen sich jedoch auch in einer fehlenden oder mangelhaften Gegenseitigkeit im Gesprächsaustausch. Die Sprachmelodie wird beispielsweise häufig nicht zur Modulation von Kommunikation verwendet (z. B. durch Stimmabsenkung und -hebung). Gestik, welche den sprachlichen Austausch betont (z. B. mit dem Finger auf etwas zeigen), fehlt häufig. Die Betroffenen sind nur eingeschränkt in der Lage, einen wechselseitigen sprachlichen Austausch zu beginnen oder aufrecht|3|zuerhalten. Sprache wird oft stereotyp, repetitiv und idiosynkratisch angewendet. Beim Frühkindlichen Autismus finden sich in diesem Bereich der Beeinträchtigungen oft die Symptome der Echolalie und das Vertauschen von Personalpronomina. Beim Asperger-Syndrom sehen wir häufig einen sehr pedantischen, elaborierten sprachlichen Ausdruck und Schwierigkeiten beim Verständnis von Metaphern und Ironie bzw. Sarkasmus. Eine weitere Symptomatik in diesem Bereich drückt sich durch einen Mangel im spontanen sozial imitierenden und „So-tun-als-ob-Spiel“ aus. Kreativität und Fantasie fehlen im Denkprozess oder sind nur geringfügig ausgeprägt.

Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten. Symptomatisch ist das umfassende Beschäftigen der Betroffenen mit häufig mehreren stereotypen und begrenzten Interessen und Aktivitäten. So finden sich häufig stereotype Beschäftigungen mit ungewöhnlichen Interessen (z. B. Fahrpläne, geografische Details), aber auch intensives Ausüben von alterstypischen Interessen, wie z. B. die Beschäftigung mit bestimmten filmischen Figuren (z. B. aus Star Wars oder Pokémon), Computern oder Dinosauriern. Der Alltag wird oft sehr starr, routiniert und zwanghaft ritualisiert ausgeführt. Werden die gewohnten Abläufe unterbrochen, zeigt sich oft Widerstand, reaktives auto- oder fremdaggressives Verhalten bei Veränderungen sind möglich. Besonders in der frühen Kindheit finden sich spezifische Bindungen an ungewöhnliche Objekte (z. B. Legoteile), dies sind typischerweise keine weichen, kuscheligen Materialien. Symptomatisch sind auch wiederkehrende, ungewöhnliche, motorische Bewegungen (z. B. Hand- und Fingermanierismen, Flattern, Jaktieren) und ein auffälliges Interesse an nicht funktionalen Teilelementen eines Objekts (z. B. Geruch, Geschmack, Vibration, Oberflächenbeschaffenheit).

Klassifikation

Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es einige Diskrepanzen zwischen der Einordnung der Symptomatik in das von der American Psychiatric Association (APA) 2013 publizierte DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und das von der Weltgesundheitsorganisation 1992 veröffentlichte Klassifikationssystem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Wir gehen im Folgenden getrennt auf beide Klassifikationssysteme ein.

ICD-10-Klassifikationskriterien

In der ICD-10 (WHO, 1992) werden die Autismus-Spektrum-Störungen Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus unter den Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen getrennt aufgeführt. |4|Mit der Begrifflichkeit der Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen sollte deutlich gemacht werden, dass es sich um eine überdauernde, schwere, vielfältige Bereiche umfassende und somit den gesamten Entwicklungsverlauf betreffende Erkrankung handelt. Die Einteilung der Subtypen entspricht einer unterschiedlich angenommenen Symptomkonstellation und Schwere (vgl. Abbildung 1). Alle Betroffenen zeigen jedoch phänotypische Überschneidungen mit der Kategorie „Autismus“. Die Grundlage der diagnostischen Einteilung bildet die oben beschriebene Symptomtrias.

Abbildung 1: Diagnostischer Pfad der Autismus-Subtypen nach ICD-10

Die diagnostischen Kriterien für den Frühkindlichen Autismus (F84.0) sind wie folgt definiert: Es liegt bereits vor dem dritten Lebensjahr eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung vor. Es besteht ein charakteristisches Muster an Funktionsbeeinträchtigungen in allen drei psychopathologischen Bereichen der sozialen Interaktion, der Kommunikation und der stereotypen, repetitiven und eingeschränkten Interessens- und Verhaltensmuster. Für die Diagnose müssen neben der beeinträchtigten Entwicklung vor dem dritten Lebensjahr insgesamt mindestens sechs Symptome aus den drei Bereichen der Symptomtrias vorliegen. In Kasten 1 sind die Diagnosekriterien nach ICD-10 im Einzelnen aufgeführt. Neben diesen spezifischen diagnostischen Merkmalen zeigt sich oft eine Vielzahl weiterer, unspezifischer Probleme, wie Angststörungen, Schlaf- und Essstörungen, aggressive und autoaggressive Verhaltensweisen. Die Störung findet sich dabei etwa drei- bis viermal häufiger bei Jungen als bei Mädchen (Fombonne, 2005).

Vor dem dritten Lebensjahr manifestiert sich eine auffällige und beeinträchtigte Entwicklung in mindestens einem der folgenden Bereiche:

Rezeptive oder expressive Sprache wie sie in der sozialen Kommunikation verwandt wird.

Entwicklung selektiver sozialer Zuwendung oder reziproker sozialer Interaktion.

Funktionales oder symbolisches Spielen.

Insgesamt müssen mindestens 6 Symptome von (1), (2) und (3) vorliegen, davon mindestens zwei von (1) und mindestens je eins von (2) und (3):

|5|Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion in mindestens drei der folgenden Bereiche:

Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen zu verwenden.

Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen, mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen (in einer für das geistige Alter angemessenen Art und Weise, trotz hinreichender Möglichkeiten).

Mangel an sozial-emotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer Beeinträchtigung oder devianten Reaktion auf die Emotionen anderer äußert; oder Mangel an Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext; oder nur labile Integration sozialen, emotionalen und kommunikativen Verhaltens.

Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen (z. B. Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder zu erklären).

Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation in mindestens einem der folgenden Bereiche:

Verspätung oder vollständige Störung der Entwicklung der gesprochenen Sprache, die nicht begleitet ist durch einen Kompensationsversuch durch Gestik oder Mimik als Alternative zur Kommunikation (vorausgehend oft fehlendes kommunikatives Geplapper).

Relative Unfähigkeit, einen sprachlichen Kontakt zu beginnen oder aufrechtzuerhalten (auf dem jeweiligen Sprachniveau), bei dem es einen gegenseitigen Kommunikationsaustausch mit anderen Personen gibt.

Stereotype und repetitive Verwendung der Sprache oder idiosynkratischer Gebrauch von Worten oder Phrasen.

Mangel an verschiedenen spontanen Als-ob-Spielen oder (bei jüngeren Betroffenen) sozialen Imitationsspielen.

Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten in mindestens einem der folgenden Bereiche:

Umfassende Beschäftigung mit gewöhnlich mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, die in Inhalte und Schwerpunkt abnorm sind; es kann sich aber auch um ein oder mehrere Interessen ungewöhnlicher Intensität und Begrenztheit handeln.

Offensichtlich zwanghafte Anhänglichkeit an spezifische, nicht funktionale Handlungen oder Rituale.

Stereotype und repetitive motorische Manierismen mit Hand- und Fingerschlagen oder Verbiegen, oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers.

Vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen des Spielmaterials (z. B. ihr Geruch, die Oberflächenbeschaffenheit oder das von ihnen hervorgebrachte Geräusch oder ihre Vibration).

Das klinische Bild kann nicht einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung zugeordnet werden, einer spezifischen Entwicklungsstörung der rezeptiven Sprache (F80.2) mit sekundären sozial-emotionalen Problemen, einer reaktiven Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.1), einer Intelligenzminderung (F70-F72) mit einer emotionalen oder Verhaltensstörung, einer Schizophrenie mit ungewöhnlich frühem Beginn oder einem Rett-Syndrom (F84.2).

Kasten 1:Diagnostische Kriterien für Autismus (F84.0) gemäß ICD-10

Die diagnostischen Kriterien des Atypischen Autismus (F84.1) entsprechen denjenigen des Frühkindlichen Autismus mit dem Unterschied, dass entweder das Manifestationsalter verspätet (nach dem dritten Lebensjahr) und/oder eines der Diagnosekriterien (wechselseitige Interaktion, Kommunikation, stereotype/repetitive Verhaltensweisen) nicht erfüllt ist. |6|Das bedeutet, der Autismus manifestiert sich entweder mit untypischem Erkrankungsalter oder mit untypischer Symptomausprägung.

Unter F84.5 klassifiziert die ICD-10 das Asperger-Syndrom. Unter dem Asperger-Syndrom wird dieselbe Form qualitativer Beeinträchtigungen der wechselseitigen, sozialen Interaktion definiert, die auch für den Frühkindlichen Autismus typisch ist. Hinzu kommen eingeschränkte, stereotype und repetitive Interessen und Verhaltensmuster. Das Asperger-Syndrom unterscheidet sich vom Frühkindlichen Autismus durch das Fehlen einer Entwicklungsverzögerung. Damit ist insbesondere gemeint, dass keine eindeutige sprachliche Entwicklungsauffälligkeit und keine kognitive Entwicklungsverzögerung in den ersten drei Lebensjahren bestehen. Trotz der normgerechten Sprachentwicklung finden sich häufig Auffälligkeiten in der Sprachmelodie, der Intonation und dem sprachlichen Ausdruck. Der Sprachstil ist oftmals sehr förmlich. Diese Symptomatik bildet jedoch kein Diagnosekriterium. Das frühkindliche adaptive Verhalten, Selbsthilfefertigkeiten und Neugierde an der Umgebung entsprechen in den ersten drei Lebensjahren einer normalen intellektuellen Entwicklung. Eine motorische Ungeschicklichkeit fällt häufig auf, ist jedoch ebenfalls kein Diagnosekriterium. Auch spezifische, isolierte Inselbegabungen, oft verbunden mit einer auffällig intensiven Beschäftigung mit dem speziellen Bereich, sind fakultative Kriterien. Üblicherweise besitzen Patienten mit Asperger-Syndrom eine unbeeinträchtigte Intelligenz. Die Symptomatik tritt wesentlich häufiger bei Jungen als bei Mädchen auf (etwa 8:1), wobei von einer Unterdiagnostizierung der Mädchen auszugehen ist. Auch die zu berücksichtigenden Differenzialdiagnosen (vgl. Kriterium D) unterscheiden sich von denen des Autismus. Die diagnostischen Kriterien sind wie folgt definiert (vgl. Kasten 2):

Es fehlt eine eindeutige, klinische allgemeine Verzögerung der gesprochenen oder rezeptiven Sprache oder des kognitiven Entwicklungsniveaus. Selbsthilfefertigkeiten, adaptives Verhalten und Neugierde an der Umgebung entsprechen während der ersten drei Lebensjahren einer normgerechten Entwicklung. Motorische Entwicklungsauffälligkeiten und isolierte Spezialfertigkeiten können auftreten, sind für die Diagnosestellung jedoch nicht notwendig.

Qualitative Beeinträchtigungen der gegenseitigen sozialen Interaktion (gemäß den Kriterien für Autismus).

Ein ungewöhnlich intensives umschriebenes Interesse oder begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten den Autismus-Kriterien entsprechend. Motorische Manierismen und die Beschäftigung mit nicht funktionalen Elementen von Teilobjekten der Spielmaterialien sind eher ungewöhnlich.

Die Störung kann nicht einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer schizotypen Störung (F21), einer Schizophrenia simplex (F20.6), einer reaktiven Bindungsstörung (F94.1) oder einer Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2), einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung (F60.5) oder einer Zwangsstörung (F42) zugeordnet werden.

Kasten 2:Diagnostische Kriterien für das Asperger-Syndrom (F84.5) gemäß ICD-10

|7|Neben den drei Diagnosen des autistischen Spektrums (Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus, vgl. Abbildung 1) werden in der ICD-10 noch die Diagnosen des Rett-Syndroms (F84.2), der sonstigen desintegrativen Störung des Kindesalters (F84.3), der überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) und die sonstigen (F84.8) bzw. nicht näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84.9) unter dem Überbegriff der Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen aufgeführt. Das Rett-Syndrom ist mittlerweile eine molekulargenetische Diagnose mit einem spezifischen genetischen Befund. Bezüglich der anderen beiden Krankheitsbilder liegen praktisch keine Studien vor. Es ist anzunehmen, dass die desintegrative Störung auf bisher unbekannte neurodegenerative Prozesse zurückzuführen ist. Die überaktive Störung kommt häufig bei schwerer Intelligenzminderung vor. Diese fünf Diagnosekategorien (F84.2, F84.3, F84.4, F84.8 und F84.9) werden in diesem Leitfaden nicht berücksichtigt, da sie weder bezüglich der Diagnostik noch bezüglich der Therapie mit den Autismus-Spektrum-Störungen Fühkindlicher Autismus (F84.0), Atypischer Autismus (F.84.1) oder Asperger-Syndrom (F84.5) vergleichbar sind.

Das Multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters (MAS)

Aufgrund der Komplexität der psychischen Erkrankungen und insbesondere der Variabilität des autistischen Phänotyps ist die Klassifikation anhand des Multiaxialen Klassifikationsschemas (Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2006) unbedingt empfehlenswert. Als logische und empirisch basierte Erweiterung des ICD-10-Klassifikationsschemas werden zusätzliche Entwicklungsschwierigkeiten oder körperliche Erkrankungen kodiert. Dies ist neben der diagnostischen Einordnung der Schwere der Symptomatik insbesondere auch zur Erfassung komorbider psychischer Störungen und körperlichen Erkrankungen sowie zur Therapieplanung sinnvoll. Auf der ersten Achse werden als klinisch-psychiatrische Diagnosen der ICD-10 auch die psychiatrischen Komorbiditäten kodiert. Die zweite Achse erfasst umschriebene Entwicklungsstörungen (z. B. Dyskalkulie, Lese- und Rechtschreibstörungen), was insbesondere für die schulischen Fördermaßnahmen bedeutsam ist. Auf der dritten Achse wird das Intelligenzniveau erfasst. Auch diese Einordung ist für die Einschätzung von Unter-/Überforderungen im schulisch-beruflichen Kontext unerlässlich. Die körperliche Symptomatik (bspw. Epilepsie, genetischer Befund) wird auf der vierten Achse verschlüsselt. Das bedeutet, dass eine Autismus-Spektrum-Störung auch dann auf der ersten Achse vergeben werden kann, wenn eine möglicherweise ursächliche körperliche Erkrankung vorliegt. Die aktuellen psychosozialen Lebensumstände wie beispielsweise eine psychische Erkrankung eines Elternteils, Betreuung durch Pflegeeltern oder akute belastende Lebensereignisse werden auf |8|der fünften Achse verschlüsselt. In der Zusammenschau der psychischen, sozialen und schulischen/beruflichen Leistungsfähigkeit des Patienten wird auf der letzten Achse das psychosoziale Funktionsniveau auf einer Skala von 0 (unauffällige Funktionen in allen sozialen Bereichen) bis 8 (tiefe und durchgängige soziale Beeinträchtigung mit bspw. der ständigen Gefahr für sich selbst oder andere) klassifiziert (vgl. Kasten 3).

Die Bereiche des Multiaxialen Klassifikationsschemas:

Achse I: Klinisch-psychiatrische Diagnosen

Achse II: Umschriebene Entwicklungsstörungen

Achse III: Intelligenzniveau

Achse IV: Körperliche Symptomatik

Achse V: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände

Achse VI: Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus

Kasten 3:Das Multiaxiale Klassifikationsschema

DSM-5-Klassifikationskriterien

Nach einer vollständigen Überarbeitung des DSM-IV-TR (2000) werden die bisher als tiefgreifenden Entwicklungsstörungen klassifizierten „Autistic Disorder“, „Asperger’s Disorder“ und „Pervasive Developmental Disorder-not otherwise specified“ im DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) unter der diagnostischen Kategorie der Autismus-Spektrum-Störung („Autism Spectrum Disorder“) zusammengefasst. Die Diagnose des Rett-Syndroms wird im DSM-5 nicht mehr unter den Autismus-Spektrum-Störungen eingeordnet, sondern kann als zusätzlich bestehende genetische Erkrankung kodiert werden. Die „Sonstige desintegrative Störung des Kindesalters“ wurde ersatzlos gestrichen. Die ICD-10-Diagnose „Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien“ wird weiterhin unter der Diagnose „Stereotype Bewegungsstörung“ an anderer Stelle klassifiziert. Neu eingeführt wurde die Diagnose „Social (pragmatic) communication disorder“. Sie wird bei Beeinträchtigungen in der sozialen Kommunikation bei gleichzeitigem Fehlen von restriktiven, repetitiven Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten vergeben. Die Validität dieser Diagnose muss in zukünftigen Studien noch überprüft werden (Freitag, 2014).