Autor des eigenen Lebens werden - Gudula Ritz-Schulte - E-Book

Autor des eigenen Lebens werden E-Book

Gudula Ritz-Schulte

4,8

Beschreibung

Den Reichtum seiner Lebensgeschichte schätzen zu lernen, dazu möchte dieses Buch ermuntern und anleiten. Es macht deutlich, welche Kraft autobiografische Aufmerksamkeit entfalten und wie sie genutzt werden kann, um den Gestaltungsspielraum des individuellen biografischen Rahmens zu erweitern. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil liefert wissenschaftliche Grundlagen. Im zweiten Teil geht es um Biografien in der Literatur und die Frage, was wir von diesen lernen können. Im dritten Teil werden konkrete Schritte zur Selbstentwicklung beschrieben. Das Buch repräsentiert einen Ansatz, der natur- und geisteswissenschaftliche Perspektiven integriert und diese um die wichtige künstlerische Dimension erweitert.

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Den Reichtum seiner Lebensgeschichte schätzen zu lernen, dazu möchte dieses Buch ermuntern und anleiten. Es macht deutlich, welche Kraft autobiografische Aufmerksamkeit entfalten und wie sie genutzt werden kann, um den Gestaltungsspielraum des individuellen biografischen Rahmens zu erweitern. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil liefert wissenschaftliche Grundlagen. Im zweiten Teil geht es um Biografien in der Literatur und die Frage, was wir von diesen lernen können. Im dritten Teil werden konkrete Schritte zur Selbstentwicklung beschrieben. Das Buch repräsentiert einen Ansatz, der natur- und geisteswissenschaftliche Perspektiven integriert und diese um die wichtige künstlerische Dimension erweitert.

Dr. Gudula Ritz-Schulte ist Geschäftsführerin des Instituts für Motivations- und Persönlichkeitsentwicklung IMPART an der Universität Osnabrück. Sie arbeitet als Autorin, Dozentin und Beraterin. Alfons Huckebrink ist Schriftsteller, Literaturkritiker und leitet Schreibwerkstätten, u. a. für Menschen in psychosozialen Berufen.

Gudula Ritz-Schulte Alfons Huckebrink

Autor des eigenen Lebens werden

Anleitung zur Selbstentwicklung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrofilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2012 Alle Rechte vorbehalten © 2012 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Umschlagabbildung: © Le Printemps des Poètes Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-022076-8

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-022715-6

epub:

978-3-17-028220-9

mobi:

978-3-17-028221-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1 Erinnerungen, Geschichten und Lebenskunst

1.1 Erinnerungen und Geschichten als Fähren durch Raum und Zeit

1.1.1 Jeder Mensch begegnet Lebens- und Entwicklungsaufgaben

1.1.2 Fragen an die Autoren und Autorinnen

1.1.3 Leben, Kunst und Lebenskunst

1.1.4 Geschichten als Kulturgut des Menschen

1.1.5 Traditionelle Lebensentwürfe, Psychologie und Selbstbestimmung

1.1.6 Leben, Kunst und Wissenschaft

1.2 Der moderne Mensch als Chaospilot (und Höhenflieger)

1.2.1 Gehirn und Computer

1.2.2 Medien, Gehirn und Gefühle

1.2.3 Gefühle helfen, Spuren aufzunehmen

1.3 Geschichte, Lebensgeschichten und andere Geschichten

1.4 Die eigene Geschichte: das autobiografische Gedächtnis

1.4.1 Bewusstsein und Selbst-Bewusstsein

1.4.2 Bewusstsein als permanenter Prozess

1.4.3 Gibt es ein unbewusstes Bewusstsein?

1.4.4 Mentale Reisen durch Raum und Zeit

1.4.5 Hat jemand schon einmal ein Selbst gesehen?

1.4.6 Die große Bühne und die Entwicklung von Kultur

1.5 Sich erinnern: Warum die eigene Geschichte wichtig ist

1.5.1 Identität

1.5.2 Risiken eines blinden Funktionalismus

1.6 Narration und Lebenskunst: Was kann ich erzählen (Novelle, Bericht, Tragödie, Posse)?

2 Dem Autobiografischen etwas abgewinnen Von Schönfärbern und Reinwäschern

2.1 Es war einmal

2.1.1 Geschichten machen Geschichte

2.1.2 Lebensgeschichten in Krisenzeiten

2.1.3 Oral History

2.2 Vorstellungen von sich selbst

2.2.1 Autobiografie als Projektionsfläche für das Selbst

2.2.2 Autobiografie hat eine soziale Funktion

2.2.3 Autobiografien haben eine kulturelle Funktion

2.2.4 Autobiografisches Erzählen als Selbstdarstellung

2.3 Wenn sie nicht gestorben sind

2.3.1 Selbst erlebt oder erdacht – vom Schreiben

2.3.2 Exkurs: Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman

2.4 Dichtung und Wahrheit

2.4.1 Exkurs: Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit

2.5 Eine schöne Erinnerung

2.5.1 Lebensgeschichten von Frauen?

2.5.2 Autobiografie – eine männliche Gattung?

2.5.3 Autobiografik und moderne Kurzbiografie: Fakten?

2.5.4 Schönfärberei und künstlerische Gestaltung

2.6 Die zehn goldenen Regeln lebensgeschichtlichen Schreibens

2.7 Ich erinnere mich

2.7.1 Schreibgruppen

2.7.2 Metaphorische Behutsamkeit

2.8 Zehn weitere lesenswerte Autobiografien

2.8.1 Ferdinand Sauerbruch (1875–1951): Das war mein Leben

2.8.2 Jewgeni Jewtuschenko (geb. 1933): Der Wolfspass. Abenteuer eines Dichterlebens

2.8.3 André Malraux (1901–1976): Anti-Memoiren

2.8.4 Woody Guthrie (1912–1967): Dies Land ist mein Land

2.8.5 Bob Dylan (geb. 1941): Chronicles. Volume One

2.8.6 Luis Buñuel (1900-1983): Mein letzter Seufzer. Erinnerungen

2.8.7 Sergej Eisenstein (1898-1948): Yo. Ich selbst. Memoiren

2.8.8 Tilla Durieux (1880–1971): Eine Tür steht offen

2.8.9 Hans Jonas (1903–1993): Erinnerungen

2.8.10 Pablo Neruda (1904–1973): Ich bekenne, ich habe gelebt

3 Lebenskunst und Lebenspraxis

3.1 Das eigene Leben gestalten

3.1.1 Mit der Autorschaft beginnen

3.1.2 Autobiografische Aufmerksamkeit und Selbstmanagement

3.1.3 Bilanzierung und Neuorientierung

3.2 Erfüllung

3.2.1 Lebensrückschau als zentrales Bedürfnis

3.2.2 Bewältigung von schwierigen Erlebnissen

3.2.3 Wie werden aus Absichten Taten?

3.2.4 Exkurs: Psychologie der Selbststeuerung

3.3 Lebenserfahrungen

3.3.1 Lebenserfahrungen als Grundlage des Freiheitsmotivs

3.3.2 Gibt es ein „falsches Selbst“?

3.3.3 Bindung: Das Erfahrungsgedächtnis kann fördern und einschränken

3.4 Warum Affekte für Autoren so wichtig sind

3.4.1 Positiver Affekt

3.4.2 Selbstmotivierung

3.4.3 Negativer Affekt und Teufelskreis

3.4.4 Den Blick auf das Ganze richten

3.5 Selbstbestimmung als Zweitreaktion

3.6 Biografie und Krise

3.7 Autor-Deuter und Gestalter sein

3.7.1 Autorität über das eigene Leben gewinnen

3.7.2 Die eigenen Möglichkeiten erkennen und Lebensziele umsetzen

3.7.3 Sich Freiheit erarbeiten

3.8 Zusammenfassung: Was macht eine Stradivari zu einer Stradivari?

Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Was hat der persönliche Lebensrückblick mit Selbstentwicklung und Zukunftsgestaltung zu tun? Das Zurückblicken auf das eigene Leben gilt manchem lediglich als nutzlose Orientierung am Vergangenen, also als Zeitverschwendung. Dass dies nicht so ist, vielmehr der autobiografische Rückblick sogar zukunftsgestaltend wirken kann, das will dieses Buch zeigen. Selten war das Bedürfnis nach Sinn und Tiefe so stark ausgeprägt wie in der heutigen „schnelllebigen“ Zeit.

Im bereits so genannten Zeitalter der Hirnforschung laufen wir Gefahr, die Subjektivität der persönlichen Erfahrungen durch Verdinglichung zu verlieren. Subjektives Erleben, z. B. der freie Wille oder das Selbst, erscheinen somit als Illusion, während etwa die Physik die eigentliche und reale Welt erfassen soll. Diese technizistische Hybris extremer naturwissenschaftlicher Positionen birgt die Gefahr in sich, den reichen Erfahrungsschatz, also die ganzheitlichen Elemente subjektiven Erlebens, der gerade durch die Prozesse subjektiven Erfahrens im Laufe eines Lebens entsteht, zu verlieren.

Gleichzeitig leistet die permanente Beschleunigung des Lebens durch den ökonomisch bedingten Glauben an eine theoretisch unendlich intensivierte Zeitnutzung einer Entindividualisierung und Entfremdung Vorschub, unter der zunehmend mehr Menschen zu leiden beginnen. Insbesondere Jugendliche benötigen hingegen für ihr persönliches Wachstum und die Entwicklung von zukunftsfähigen Kompetenzen zweckfreie Entwicklungsbedingungen, die ihnen immer weniger geboten werden. Beschleunigung und Vergleichzeitigung wirken nicht nur antikreativ, sondern zehren das mentale Kapital auf, das Menschen für ihre Entwicklung benötigen, und das zur subjektiven Zufriedenheit und erfüllenden Lebensgestaltung wesentlich beiträgt: Erinnerung, gemeinsame Erlebnisse, tragfähige soziale Beziehungen, erfüllendes Lernen und Arbeiten, Muße und Kontemplation, kurz immaterieller Reichtum.

Dieses Buch beschäftigt sich mit dem autobiografischen Erinnern und seiner Auswirkung auf die Selbstbestimmung menschlicher Lebensgestaltung. Es beschreibt einen Weg aus zunehmender Verflachung, Entfremdung und Isolierung und versucht Lebenskunst und Lebensalltag, Natur- und Geisteswissenschaft, Ästhetik und Reflektion zu verbinden. Dabei werden aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung für die Deutungsmuster des Vergangenen und die eigenverantwortliche Gestaltung der Zukunft nutzbar gemacht. Jede Biografie ist etwas unwiederholbar Einzigartiges und deshalb aufgeladen mit subjektiver Bedeutung, die als Kraftquelle sinnvollen und kreativen Handelns erschlossen werden kann.

Dieses Buch richtet sich an alle Personen, die ihre eigene Biografie wertschätzen und Verantwortung für andere tragen wollen. Es bietet einen fundierten Hintergrund für die Selbstvergewisserung und Selbstentwicklung sowie eine Orientierung für alle, die biografisch arbeiten. Die Autoren vereinen Erkenntnisse aus Psychologie und Literaturwissenschaft und bieten bewusst gewählte unterschiedliche Perspektiven an, die sich auch stilistisch akzentuieren.

Münster, im September 2011

Gudula Ritz-Schulte

Alfons Huckebrink

Einleitung

Gudula Ritz-Schulte

„Every act of perception is to some degree an act of creation and every memory is an act of imagination.“ Gerald M. Edelman, The remembered present, 1989.

Geschichten werden auf unterschiedliche Art und Weise erzählt. Es gibt kunstvolle, poetische Erzählungen, Schmöker, Kurzgeschichten, Problemgeschichten oder Erfolgsgeschichten. Geschichten gehören zum Menschen. Nicht nur, dass sie auf unterschiedliche Art, sondern dass sie erzählt werden, ist beachtenswert. Wie kommt es, dass Menschen als einzige Lebewesen Geschichten erzählen oder aufschreiben? Sicher hat dies ganz viel mit der Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation zu tun. Mögliche Vorläufer oder alternative Darstellungsweisen von Ereignissen sind nicht-sprachliche, mimetisch dargestellte Geschichten, man denke an Pantomime, Stummfilme oder Schattentheater. Denn die Erfassung von Geschichten setzt Bewusstsein und Erinnerungsvermögen voraus, das über das unmittelbar Erlebte hinausgeht. Bewusstsein, insbesondere das Bewusstsein von der Vergangenheit und der eigenen Vergänglichkeit, ist sehr eng mit der Fähigkeit zur Sprache verbunden.

Nicht jede Person, die Geschichten mag, macht sich bewusst, dass sie selbst Geschichte ist und sie Autor bzw. Autorin des eigenen Lebens werden kann. Mit diesem Anspruch wird auch eine ethische Perspektive eröffnet, denn wer Autor oder Autorin ist, verfügt über Freiheit und Verantwortung. Autoren verfügen über die Freiheit der subjektiven Interpretation und über künstlerische Gestaltungsfreiheit. Ein selbstbestimmter Lebensstil wird in unserer heutigen Gesellschaft als wertvoller Bestandteil eines gelingenden Lebens betrachtet. Vor dem Hintergrund der verblassenden traditionellen Gebundenheiten und Sinn vermittelnden Gewissheiten sowie dem Wandel von Biografie- und Lebensmustern bedeutet dies sogar für den postmodernen Menschen die Notwendigkeit der eigenverantwortlichen Gestaltung und Lebensführung. Dabei muss die Freiheit des Einzelnen nicht zwangsläufig und ausschließlich dem eigenen Nutzen dienen, sie kann auch zur Hingabe an eine Idee, einen Menschen oder zur asketischen Selbstbeschränkung gebraucht werden. Nicht jedes selbstbestimmte Verhalten dient ausschließlich der privaten oder persönlichen Nutzenmaximierung. Freiheit (des Einzelnen) und Gerechtigkeit (innerhalb einer Gesellschaft) müssen sich daher nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen, wie die Beschreibung von „ethischer Intelligenz“ zeigt (Gardner, 2007, 2008). Auf der Suche nach einem gelingenden Leben – und das ist glücklicherweise einer zunehmenden Anzahl von Menschen in der heutigen Zeit bedeutsam – kann einem das Schicksal anderer Menschen nicht ganz gleichgültig sein. Hier wird die Frage der Ethik des Denkens und Handelns angesprochen, die jedoch, wie wir am Beispiel der Finanzkrise des Jahres 2008 schmerzlich erkennen mussten, nicht selbstverständlich ist. Ethik benötigt in einem ersten Schritt eine sich permanent kritisch hinterfragende und korrigierende Reflexion und einen gesellschaftlichen Minimalkonsens, der zu einem individuell handlungsleitenden Ethos führt. Erst in einem zweiten Schritt kann die Kontrolle ethischer Regeln gesellschaftlich implementiert werden. Dem Thema Freiheit ist aufgrund seiner Komplexität und zentralen Bedeutung ein abschließendes Kapitel dieses Buches gewidmet (Kap. 3.7.3). Als Autor (Autorinnen sind immer gleich gemeint) benötige ich künstlerische Freiheit, um meine Geschichte nicht nur erzählen, sondern deren Fortsetzung auch gestalten zu können. So ist ein selbstbestimmter Mensch gleichzeitig Autor und Online-Regisseur des eigenen Lebens. Wer Autor seiner eigenen Geschichte sein will, dem sollte die Selbstbestimmung am Herzen liegen.

Eine Geschichte zu haben und sich dessen bewusst zu sein, bedeutet für eine Person, dass sie ihre Erinnerungen in eine narrative Form bringt und dass sie eine Perspektive konstituiert, die einige wünschenswerte Fortsetzungsmöglichkeiten dieser Geschichte aufzeigt. Das bedeutet nicht, dass diese Person ihre Geschichte aus einem Katalog der möglichen Lebensentwürfe einfach auswählt. Freiheit bedeutet nicht Beliebigkeit. Gerade weil eine Person ihre Geschichte hat, blickt sie auf vielfältige vorherige Entscheidungen zurück. Diese Entscheidungen werden durch ein Netzwerk unterschiedlicher individueller Vorlieben, Werte, Wünsche, Motive, Bedürfnisse und durch das Selbstbild (der, der man sein will) beeinflusst. Diese immense Vielfalt von Beeinflussungsfaktoren auf Lebensentscheidungen (Philosophen sprechen von „existenziellen Entscheidungen“) ist nicht komplett in Sprache formulierbar. Wir nennen daher das den existenziellen Entscheidungen zugrunde liegende ausgedehnte und auf autobiografischen Erfahrungen basierende Netzwerk „Selbstsystem“ oder, wie bereits erwähnt, wegen seiner Ausdehnung „Extensionsgedächtnis“ (Kuhl, 2001). Dieses Netzwerk enthält eine Vielzahl von Informationen, die für eine Person subjektiv relevant sind, z. B. auch seine individuell ausgeprägten Motive und Bedürfnisse, die jedoch überwiegend sprachlich nicht ausformulierbar und benennbar (explizierbar) sind. Man kann auch von einem „überbewussten“ Selbst sprechen (Kuhl & Luckner, 2007), da dieses Selbstsystem seinen Einfluss über das sprachlich formulierbare und bewusst Wahrnehmbare hinaus ausübt. Auch Meinungen sind individuell und subjektiv (Wie stehe ich zu mir, zu anderen, zur Gesellschaft?) und enthalten Wertvorstellungen, die sich in der Auseinandersetzung der subjektiven Erfahrung mit der sozialen Realität entwickeln. Je älter eine Person ist, auf umso mehr zurückliegende Erfahrungen und Entscheidungen kann sie zurückblicken. Wie zentral diese Narration für das eigene Identitätsgefühl ist, wird in einem gesonderten Kapitel ausführlich erläutert (Kap. 5.1).

Nie war die Sehnsucht nach Vertiefung und Kohärenz so groß wie in der heutigen Zeit, in der Personen unzähligen Gefährdungen einer Lebensverflachung ausgesetzt sind, z. B. durch permanente Bombardierung mit E-Mails, Beschleunigung technischer Veränderungen, vielfältigen, aber flachen sozialen Vernetzungen. Diese Verflachung macht Menschen zunehmend manipulierbarer. Sie geraten in Gefahr, immer mehr vom Gestaltungsspielraum des Lebens zu verlieren. Gardner (2007, 2008) spricht von „synthetischer Intelligenz“ als der Fähigkeit, aus einem Meer fragwürdiger Informationen die bedeutsamen herauszufiltern und in Beziehung zueinander und zu sich selbst zu setzen. Geschichten als Kulturgut des Menschen und die Beschäftigung mit unserer eigenen Geschichte, unserer Biografie, können ein Gegengewicht zu diesen Risiken bieten und uns „back to the roots“ dabei helfen, unsere eigene Spur aufzufinden und zu verfolgen. Im mittleren Teil dieses Buches geht es um Biografien in der Literatur und die Frage, was wir von fremden Biografien und Autobiografien lernen können (Kap. 2.1). Der Leser kann so nicht nur etwas über Psychologie, Literatur und Philosophie erfahren, sondern auch über sich selbst. Die Leser können z. B. verstehen, wie trotz ungünstiger werdender Bedingungen in der Gesellschaft ein authentisches und selbstbestimmtes Leben möglich sein kann. Literatur und Geschichten können hierzu ein wichtiger Schlüssel sein, da sie einem uralten Bedürfnis des Menschen entsprechen, sich selbst zu spiegeln und an dem Übergang von Vergangenheit und Zukunft, genau dort, wo sich Freiheit und Selbstbestimmung platzieren, eine eigene, persönliche Perspektive einzunehmen.

Im dritten und letzten Teil des Buches geht es darum, wie man seine Selbstbestimmung verbessern und trainieren kann. Die verschiedenen Selbstregulations- und Selbststeuerungskompetenzen werden vorgestellt und Möglichkeiten ihrer Entwicklung beschrieben. Letztendlich ist das Training von Selbststeuerungskompetenzen kein Selbstzweck, sondern soll der sinnhaften Selbstentwicklung dienen.

1 Erinnerungen, Geschichten und Lebenskunst

Gudula Ritz-Schulte

1.1 Erinnerungen und Geschichten als Fähren durch Raum und Zeit

Unsere Identität ist unser unmittelbares Selbsterleben, verknüpft mit unserer Biografie. Je kohärenter unsere Biografie erinnert und erzählt wird, umso stärker ist das Gefühl der Identität, das Gefühl, auch über Veränderungen hinweg immer die gleiche Person zu sein. Wenn wir keine biografischen Informationen mehr haben, z. B. wenn eine erkrankungsbedingte retrograde Amnesie1 vorliegt, dann haben wir keine Identität mehr.

Die mögliche Fortsetzungsgeschichte, d. h. die Aneignung eines Lebensentwurfs, ist eine Perspektive, die aus dem gelassenen Überblick gelingt, einem Blick von erhöhter Position auf das Panorama der Erinnerungslandschaften und das Meer eigener Möglichkeiten. Diese Perspektive macht ein Poster eines französischen Dichterverbandes deutlich, ein Ausschnitt daraus ist auf dem Cover dieses Buches zu sehen. Das Poster zeigt eine Person, die beides kann: Sie schaut sowohl in die Vergangenheit als auch in das „Meer der Möglichkeiten“. Man erkennt eine Person, die auf ein Meer oder eine Landschaft von Erfahrungen und Erinnerungen blickt. Die Person auf dem Bild kann jede Person sein, so können hier insbesondere Poeten gemeint sein, die durch ihre Dichtkunst andere Personen anregen, eine besondere Perspektive einzunehmen.

Literatur besteht aus aufgeschriebenen Geschichten, die von vielen gehört oder gelesen werden können. Gedichte sind verdichtete persönliche Erfahrungen, kunstvoll zusammengestellte Wörter. Wir haben dieses Poster des Poetenverbandes auch deshalb gewählt, weil in diesem Buch die Literatur bzw. das Verfassen von Literatur als Metapher für Selbstentwicklung und Selbstbestimmung dient. Was können wir von den Poeten, den Dichtern, für die Gestaltung unseres Lebens, für unsere Selbstentwicklung lernen? Die Vorstellung von einem „Meer der Möglichkeiten“ soll eben nicht einen zusammenhanglosen und beliebigen Katalog der Lebensentwürfe anbieten, sondern aus der Perspektive des Subjekts den Möglichkeitsraum für Zukünftiges erweitern. Dieser Möglichkeitsraum, das Meer meiner Möglichkeiten, ist gerade deshalb nicht beliebig, weil ich selbst den Ausblick auf dieses Meer habe, von meinem jeweiligen Standpunkt aus, der nicht unabhängig von meiner Vergangenheit, meiner persönlichen Geschichte ist. Der berühmte Neurologe und Psychiater Oliver Sacks (1985, 2006, 2009) beschreibt einen Patienten mit schwerer Amnesie „He is a man without a past (or future), stuck in a constantly changing, meaningless moment“2. Sacks zeigt eindrücklich, wie sehr dieser Patient unter der Unfähigkeit leidet, sich selbst irgendeine Form von Kontinuität, eine narrative Kontinuität zu geben, weil die Erinnerung an subjektive Erfahrungen – und damit auch das Selbstgefühl, die Identität – in jedem Moment neu verschwindet. Sein Weltwissen (sein semantisches Gedächtnis) ist weniger von der Amnesie betroffen, er weiß z. B. viel über Musik oder Naturwissenschaften.

Abb. 1: Poster „Passeurs de Mémoire“

Das Poster des französischen Poetenverbandes zeigt eine Person auf einem Landschaftsmeer, einer Erfahrungslandschaft, einer Bedürfnislandschaft, einem Meer von Erinnerungen. Das französische Wort „Passeurs“ heißt auf Deutsch „Fährmänner“. Es geht um „Fährmänner“ (oder „Fährfrauen“) der Erinnerungen (frz. de mémoire). In der Bildsprache führen die Erinnerungen von einer Welt in eine andere Welt, sie verkörpern ein geistiges Prinzip, welches sich sowohl in die Vergangenheit richten als auch auf die Zukunft ausrichten kann. Es geht um die Fähigkeit von Personen, die Grenzen von „Raum und Zeit“ zu überwinden. Dieses geistige Prinzip findet in der Literatur eine prototypische Verwendung: als Narration, als Drama oder als Gedicht. Aus psychologischer Sicht ist es in vielen Lebenssituationen und angesichts zahlreicher Entwicklungsaufgaben für eine Person wichtig, Erinnerungen und auch Zukunftsorientierungen aus einer Perspektive des integrierenden Überblicks heraus wahrzunehmen. Dieser Überblick ermöglicht eine ganzheitliche und simultane Verarbeitung unzähliger und doch subjektiv bedeutsamer Einzelinformationen wie konkret erlebte Episoden, Bewertungen, Bezug zur aktuellen Situation, aktuelle Wünsche und Zielvorstellungen, identitätsbildende Lebensziele, ganze Lebensentwürfe usw. Dabei stehen die Einzelinformationen nicht mehr im Vordergrund, die Erfahrung verschmilzt zu einem „Ganzen“, durch diese Perspektive können sogar Lücken und Fehler „überbrückt“ werden. Dem Überblick entspricht eher ein Blick über eine dynamisch sich wandelnde Landschaft, wie das in dem Poster bildlich ausgedrückt wird, und dies gelingt nur in einer gelassenen, entspannten Atmosphäre, was neuropsychologisch bestätigt ist (Kuhl, 2001). In einer gelassenen Stimmung stehen nicht die Einzelheiten und Einzelwahrnehmungen im Vordergrund, sondern das Gesamtbild einer und mehrerer Erfahrungen inklusive ihrer Kontexte und auch kontextübergreifend, d. h. als „roter Faden“ der Erinnerung, wie Acimen (2004) in seinem Roman „Hauptstädte der Erinnerung“ beschreibt, in dem seine Suche nach Heimat und Selbstvergewisserung sich durch die verschiedenen Städten seines Lebens und seines Exils zieht. Die Kontexte können Anker des Wiedererinnerns und Wiedererlebens sein. Sobald wir uns in einer bedrohlichen Situation befinden, rücken einzelne Wahrnehmungen stärker in den Vordergrund und werden von den Kontexten gelöst. Wir beginnen, mit dem Unerwarteten zu rechnen, mit einzelnen Wahrnehmungen, die anders sind als erwartet, die nicht in das Gesamtbild passen. Diese Prozessdynamik der stimmungsabhängigen Veränderung kognitiver Prozesse wird in einem späteren Kapitel noch eingehend erklärt werden (Kap. 3.8).

Das Bild vom „Meer der Erinnerungen“ zeigt aber gleichzeitig, dass es auch ein „Meer des Vergessens“ gibt. Erinnern hängt sehr stark mit dem Vergessen zusammen (Markowitsch & Welzer, 2005; Draaisma, 2009). Das Verhältnis von Erinnern und Vergessen ist komplizierter als die Annahme, dass es sich bloß um Gegensätze handelt, es ist dasselbe „Meer“. Manchmal wissen wir, dass wir etwas wissen, aber wir kommen nicht mehr drauf: Es ist der Name einer Person, der uns auf der Zunge liegt, ein Wort in einer Fremdsprache, die wir gelernt haben. Das ist so ähnlich, als sei ein Bild von der Wand abgenommen worden und nur der dunkle Rand um die Stelle, an der das Bild ursprünglich hing, ist noch erkennbar. „Manchmal haben wir alles gewußt, dann haben wir es wieder vergessen, manche Einsichten haben es an sich, in unvorhersehbarem Rhythmus aufzutauchen und wieder zu versinken, im ‚Meer des Vergessens‘, das ist doch ein schönes Bild“, schreibt Christa Wolf in ihrem Buch Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010, S. 61). Erinnern und Vergessen werden auch von Motiven gesteuert – wir neigen dazu, persönlich Bedeutsames eher zu behalten. Das sind die Höhen, die aus dem Meer herausragen, Bedrohliches lassen wir eher im „Meer des Vergessens“ versinken.

Vergessen ist auch ökonomisch, der Erste, der dies ausgedrückt hat, war der Psychologe William James (1890) „Wenn wir uns an alles erinnerten, wären wir meistens genauso übel dran, wie wenn wir uns an gar nichts erinnern“ (zitiert nach Myers, 2008, S. 409). Wir vergessen eine Menge unnötiger und überholter Informationen, von denen wir sonst überflutet würden, können diese aber z. T. willentlich wieder rekonstruieren, wenn dies nötig ist, z. B. für eine Zeugenaussage. Je nach Stimmung verändert sich die „Meereslandschaft“, in guter Stimmung erinnern wir uns eher an positive Ereignisse, in negativer Stimmung eher an negative, ein Phänomen, das in der Psychologie „Stimmungskongruenzeffekt“ genannt wird (Bower, 1983). Stimmungen aktivieren bestimmte Erinnerungen. So beschreiben Jugendliche in negativer Stimmung ihre Eltern negativer als in positiver Stimmung (Bornstein et al., 1991).

Unmittelbares Selbst-Bewusstsein ist ohne Erinnern nicht möglich, wie Edelman (1989), der eingangs zitiert wird, in seinem Buch The remembered present beschreibt. Es gibt keine Wahrnehmung, kein Verstehen ohne den Rückgriff oder Rückbezug auf Erinnerungen. Nelson (2002) beschreibt, wie Kinder mit dem Ende des Vorschulalters die Stufe des narrativen Selbstverstehens erreichen, welches eng mit der Fähigkeit einer stabilen Selbstrepräsentation zusammenhängt. Das Kind erfährt sich als ein Selbst, das eine Geschichte hat, die sich von der Geschichte anderer Menschen unterscheidet, also eine eigene Vergangenheit und Zukunft hat, die erzählbar ist. Jede Wahrnehmung ist bis zu einem gewissen Grad gleichzeitig sowohl ein Akt des Erinnerns als auch ein kreativer Akt, und jede Erinnerung ist zu einem bestimmten Grad ein Akt der Imagination. Wenn das so ist, dann beruhen Geschichten, d. h. Narrationen oder Fiktionen ebenso wie Autobiografien und Zukunftsvisionen, immer zu einem bestimmten Teil sowohl auf Erinnerungen im Sinne von gespeicherten Erfahrungen als auch auf konstruktiven Kreationen. Die Idee der Verschmelzung von alten mit neuen Erfahrungen beim Lernen und der kognitiven Entwicklung hat z. B. auch Piaget (1969, 1995) aufgrund von empirischer Beobachtung beschrieben. Bereits Aristoteles hat Ähnliches in seiner Vorstellung formuliert, dass der Wandel nur vor dem Hintergrund des Unwandelbaren erkennbar sein kann. Das ist vielleicht ein Grund für die Motivation zum Reisen3 (was nach Goethe die beste Bildung ist), denn hier sind die Reisenden von den vertrauten Kontexten losgelöst und treffen ganz systematisch auf „Fremdes“ – so dass Eigenes vor dem Hintergrund des Fremden oft besser erkannt und erlebt werden kann als in der vertrauten Umgebung und Kultur (Schmitz, 2011). Hier wird Bildung als Erfahrungsbildung eng mit (Selbst-) Entwicklung verbunden. Reisen hat als biografisches Thema eine besondere Bedeutung, wie es in manchen biografischen Romanen sichtbar wird. Reisen macht die Dialektik zwischen Selbstkontinuität und Selbstentwicklung besonders deutlich, weil die Person eine Bewegung durch den Raum vornimmt, die zugleich eine Bewegung durch die Zeit ist. Man kann die eigene Biografie, das eigene Leben als Reise beschreiben. Räumliche Wahrnehmungen sind für das menschliche Gedächtnis und die menschliche Vorstellungskraft offenbar besonders gut geeignet, besser als die Wahrnehmungen der Zeit, weshalb räumliche Metaphern für komplexe Modelle in der Wissenschaft besonders beliebt sind.

Wir benötigen für Geschichten, seien es fiktionale oder autobiografische Erzählungen, immer diese „Fährmänner der Erinnerungen“, die uns von einer in eine andere Welt geleiten, z. B. in eine Welt erweiterter Möglichkeiten. Da auch „Fährfrauen“ gemeint sein müssen, habe ich das Wort „Fähren“ für die Überschrift gewählt. Geschichten, insbesondere autobiografische Geschichten, sind „Fähren“ durch Raum und Zeit. Wir können zwar an die gleichen Orte der Vergangenheit zurückkehren, nicht aber in die gleiche Zeit; dies können wir nur mittels Narrationen.

Die Landschaft, auf die die Person auf dem Poster blickt, ist eine dynamisch sich verändernde Landschaft, eben wie eine Meereslandschaft. Die Erinnerungen eines Menschen und seine Möglichkeiten verändern sich kontinuierlich, je nach zeitlicher und räumlicher Perspektive und sich wandelnden Kontexten, die Person in ihrer Selbstheit bleibt die gleiche. Diese verschiedenen Perspektiven werden ganz wunderbar durch die Existenz verschiedener Genres in der Literatur deutlich, die durch die sich wechselnde Gestalt der Landschaft symbolisiert werden könnten.

Ich möchte den Lesern an dieser Stelle einige Fragen stellen, mit denen eine Auseinandersetzung lohnt, bevor sie sich in dieses Buch vertiefen.

1.1.1 Jeder Mensch begegnet Lebens- und Entwicklungsaufgaben

Geschichten zeichnen Gesamtbilder menschlichen Lebens, sie sprechen von zentralen Themen menschlichen Lebens: Liebe, Sexualität, Tod, Selbsterkenntnis, Willensfreiheit usw. Wenn Sie die Autorin oder der Autor der eigenen Geschichte wären, wie würde deren Handlung aussehen, welchen Charakter würde sie haben? Wäre sie eine Heldengeschichte oder eine Geschichte der Hilflosigkeit, eine Geschichte der Lebensfreude, schicksalhafter Erfahrungen, heroischer Bewältigungsversuche, eine Geschichte der Hoffnung oder der Angst? Wird eher eine retrospektive (rückwärtsblickende) oder eine prospektive (in die Zukunft blickende) Perspektive eingenommen. Diese Fragen zielen auf die Bewältigung von Lebens- und Entwicklungsaufgaben ab, die das Leben für jeden Menschen bereithält. Biografische Themen wie die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben werden vor allem in den Entwicklungsromanen behandelt (Hillmann & Hühn, 2001). Ein bekannter Psychologe, der die Bedeutung von Entwicklungsaufgaben in den verschiedenen Lebensphasen besonders betont hat, war E. H. Erikson (1973). Das Leben an sich erscheint ungerecht: Manch einer erhält extrem schwierige Entwicklungsaufgaben, ein anderer erhält Herausforderungen, die er mühelos bewältigen kann. Deshalb ist die Freiheit einer Person immer relativ zu seinen Möglichkeiten zu betrachten und nie etwas Absolutes. Es gibt unterschiedliche Spielräume von Freiheit, die Freiheitsgrade, die stark von inneren und äußeren Bedingungen bestimmt werden, z. B. von dem Ausmaß, in dem unsere Grundbedürfnisse erfüllt werden. Die Entwicklungsaufgaben resultieren aus den Begrenzungen dieser inneren und äußeren Bedingungen und haben den Sinn, unsere Freiheitsgrade zu vergrößern, unsere Selbstbestimmung zu fördern und zu entwickeln.

Unabhängig von den Lebensaufgaben, die sich durch Bedingungen und Ereignisse stellen, die wir nicht beeinflussen können, z. B. wie liebevoll unsere ersten Bezugspersonen mit uns umgehen, gibt es Ziele, die wir uns selbst setzen, Wünsche, die wir uns selbst erfüllen möchten. Hier ist die menschliche Fähigkeit zur Antizipation, zum vorausschauenden Denken, oder besser zu vorausschauenden Visionen wichtig. Denn nur, wer vorausschauen kann, hat überhaupt eine Wahl. Und wer die Wahl hat, verfügt über (relative) Wahlfreiheit. Die Wahl eines Zukunftsentwurfs kann mehr oder weniger gut mit den eigenen Möglichkeiten und Kompetenzen abgestimmt werden; in der Alltagssprache spricht man dann von „realistischen“ und „unrealistischen“ Zielen. Diese Zukunfts-Visionen haben naturgemäß einen fiktionalen Charakter, es sind Geschichten von eigenen Zukunftsmöglichkeiten oder Zukunftsträumen. Diese Geschichten haben, wie noch gezeigt wird, aufgrund ihrer ganzheitlichen und erfahrungsbasierten Qualität eine stärker motivierende Durchschlagkraft als sprachlich formulierte Vorsätze (z. B.: „Ich will gesünder leben.“). Es gibt konkrete Ziele wie den Abschluss einer Berufsausbildung und umfassendere, identitätsbildende Lebensziele (z. B. „Ich will etwas dazu beitragen, dass die Welt humaner wird.“). Die sich eröffnende ethische Dimension hat etwas mit der Ernsthaftigkeit zu tun, mit der wir unser endliches Leben gestalten möchten. Geschichten, die uns begegnen, können in diesen Fragen Orientierung bieten oder Ideen für die eigene Zukunftsgestaltung liefern. In Geschichten anderer können wir uns selbst spiegeln, manchmal spiegeln sich zentrale Lebensthemen in ihnen. Wir merken das daran, dass sie uns besonders berühren. Das Bedürfnis, „gespiegelt“ zu werden, ist, wie der Psychoanalytiker Fonagy (2008) gezeigt hat, ein soziales Basisbedürfnis des Menschen, das wichtig für seine Persönlichkeitsentwicklung ist, z. B. für die Entwicklung der Empathiefähigkeit. Gerade das spielerische Umgehen mit „Als-ob“-Zuständen durch Rollenspiele oder Geschichten hilft die „Mentalisierungsfähigkeit“ zu fördern, die die Basis des Erlernens eines reflektierenden Umgangs mit der Realität darstellt. Auch aus diesem Grunde sind Geschichten für die kindliche Entwicklung zentral. Aber auch uns Erwachsene können Geschichten bei unserer eigenen Orientierung helfen, z. B. wenn wir vor schwierigen existenziellen Entscheidungen stehen. Auch in diesen Situationen ist es äußerst wichtig, die Perspektive des integrierenden Überblicks über die Landschaften der erfahrenen und wünschbaren Wirklichkeit einzunehmen, damit wir uns nicht in Details verstricken, damit wir fremde Ziele nicht mit eigenen verwechseln, damit wir erkennen, welche Aufgaben wir uns selbst gern stellen wollen und welche nicht. Diese Perspektive des Überblicks vermittelt uns beispielhaft für die Lebensfäden anderer der (auktoriale) Erzähler von Geschichten, z. B. ein Biograf oder Romanautor (vgl. Kap. 2). Wir können schon deshalb von den Geschichten anderer etwas lernen, weil wir beim Hören oder Lesen einer Geschichte notwendigerweise die Perspektive des Überblicks einnehmen (vgl. Kap. 3.8), die dann für die Betrachtung unserer eigenen Geschichte und die Entwicklung des Selbstgespürs außerordentlich hilfreich ist.

Unabhängig von den eingeschätzten (mehr oder weniger „realistischen“) Umsetzungschancen unserer „Lebensträume“ ist es wichtig, dass die Lebensträume zu dem eigenen Lebensentwurf passen. Dieser Lebensentwurf liegt – verwoben mit unseren frühen Erfahrungen und unserer Motiv- und Bedürfnisgeschichte und dem (unbewussten) Wissen um unsere Ressourcen – schon als Möglichkeit in unserem Erfahrungsgedächtnis, auch wenn wir ihn nicht bewusst kennen. Durch diesen impliziten Lebensentwurf wurde schon viel früher eine Wahl getroffen, lange bevor wir zu einer bewussten Entscheidung kommen, die natürlich noch viele andere Aspekte zu berücksichtigen hat. Wer die Willensfreiheit des Menschen grundsätzlich leugnet (vgl. Geyer, 2004), verwechselt Willens- mit Handlungsfreiheit und ignoriert implizite Muster, die zu einem Lebensentwurf beitragen, oder implizite Motive als Vorläufer bewusster Entscheidungsprozesse. Der eigene Lebensentwurf orientiert sich an ganz individuellen (und veränderbaren) Kriterien für das eigene Handeln: Effizienz, Menschlichkeit, Güte, Unverwechselbarkeit, Unvergesslichkeit, Verantwortung, Verlässlichkeit usw. Es geht um die Frage: „Welche Art von Mensch will ich sein?“ Diese Frage wird oft gar nicht bewusst und explizit gestellt, jedoch implizit beantwortet. Die Suche nach dem eigenen Weg und den eigenen Zielen hat viel mit individueller Sinnsuche und Selbstbestimmung zu tun. Viele Menschen haben das Bedürfnis, ihr Leben selbst zu gestalten, es nicht nur zu „erdulden“ oder zu fristen. In der Persönlichkeitspsychologie sprechen wir von einem wichtigen Motivationsbereich, der Freiheitsmotivation (Kuhl, 2001; Alsleben, 2007) oder dem Bedürfnis nach Selbstentwicklung. Es wird noch deutlich werden, dass Selbstentwicklung sehr viel mit Freiheit zu tun hat. Viele Menschen wollen ihre Freiheit dazu nutzen, ihr Leben in einen übergeordneten Zusammenhang einzuordnen und in ihrem Leben einen Sinn zu finden. Die „künstlerische“ Freiheit kann u. a. darin bestehen, dass wir unsere eigene Lebensgeschichte einmal in dem einen, ein andermal in einem anderen Genre ansiedeln.

1.1.2 Fragen an die Autoren und Autorinnen

Unabhängig von der Bewältigungs- und Sinnperspektive ist noch eine weitere Autoren-Entscheidung interessant: In welches Genre würde die eigene Geschichte fallen: Drama, Tragödie, Komödie, Entwicklungsroman, Schauspiel oder gar eine Kriminalgeschichte? Wäre sie ein Heldenepos oder eher eine Liebesgeschichte? Die Entscheidung wird sehr schwerfallen, denn das eigene Leben stellen wir uns gern umfassend vor und wir lieben die Beschränkungen eines Genres nicht. Wahrscheinlich kann man das eigene Leben einmal mehr als Komödie, ein anderes Mal als Drama und dann wieder als Liebesgeschichte verstehen, je nach der „Brille“, die man aufsetzt, um bestimmte Akzente zu erkennen oder zu betonen. So kann zu unterschiedlichen Zeiten ein anderes Genre bevorzugt werden, je nach Motivlage und Anforderungen der Lebenssituation. Das Genre kann als eine jeweils andere „Fähre“ durch Raum und Zeit betrachtet werden und so das Prozesshafte des Erinnerns und Erzählens betonen. Die Genres der Literatur bieten nicht nur eine unterschiedliche subjektive Perspektive, sondern ermöglichen die Betrachtung verschiedener Prozesse, die manchmal wichtiger sind als bestimmte eng umgrenzte Ereignisse. So löste die Entdeckung der Atomphysik in dem damalig vorherrschenden Mainstream der wissenschaftlichen Physik einen Schock aus, als deutlich wurde, dass die Prozesse zwischen den Elementen bedeutsamer waren als die Elemente selbst. Bei der Betrachtung eines Genres wird demnach etwas Besonders hervorgehoben: ein ganz bestimmter Entwicklungsprozess, ganz bestimme Themen oder Prozessziele. Die „Fähre“ eines jeweiligen Genres kann verschiedene Prozesseigenschaften verkörpern: Sie kann langsam und schnell, sicher oder unsicher sein. So kann bei der Betrachtung einer Tragödie (oder der eigenen Lebensgeschichte als Tragödie) ein Worst-Case-Szenario entworfen werden, das geradezu dazu dienen kann, durch Prävention oder andere Schutzmaßnahmen diesen Worst-Case, die schlimmsten aller möglichen Folgen, zu verhindern, denn Worst-Case-Szenarien gehören auch zum vorausschauenden Denken. Sie können nützlich sein, wenn sie die beschriebene präventive Funktion haben, sie können aber auch, wie bei Angststörungen, extrem handlungseinschränkend sein.

Die intuitive Ablehnung einer Festlegung der eigenen Lebensgeschichte auf ein Genre scheint begründet zu sein, denn je nach Kontext und Ziel ist der flexible Wechsel zwischen den verschiedenen Genres bzw. subjektiven Perspektiven adaptiv, nicht aber die einseitige Fixierung auf eine Betrachtungsweise des eigenen Lebens. Hier ist der dynamische und flexible Wechsel zwischen verschiedenen Prozessen sinnvoll, um sich an die verschiedenartigen Anforderungen in unterschiedlichen Lebenskontexten und zu unterschiedlichen Prozesszeitpunkten anzupassen. Flexibilität in der Wahl der Genres erhöht somit den Gestaltungsspielraum der eigenen Geschichte, insbesondere hinsichtlich ihres zukünftigen Verlaufs.

Besitzt die Freiheit im Umgang mit den verschiedenen Genres im Zusammenhang mit unserer eigenen Geschichte auch etwas Spielerisches, dann setzt die Freiheit bei der Umsetzung von Zielen dagegen Kompetenzen wie Handlungsenergie, Willensstärke und Selbstkontrolle voraus. Freiheit bei der Auswahl von Zielen vergleiche ich mit innerer Demokratie. Freiheit bei der Umsetzung von schwierigen Zielen dagegen bedeutet „Einsicht in die Notwendigkeit“, das bedeutet auch Abschirmung von konkurrierenden attraktiven Alternativen, Anstrengung, Verzicht und Belohnungsaufschub. Letzteres könnte man Zielorientierung, Disziplin, auch „innere Diktatur“ oder Selbstkontrolle nennen. Wie können wir den Spielraum unserer Möglichkeiten, wenn wir ihn einmal erkannt haben, nutzen, um unsere Ziele nicht nur zu träumen, sondern auch zu erreichen, um unsere Träume zu verwirklichen. Es geht also nicht nur um die Frage nach dem Verständnis der unterschiedlichen Prozesse, sondern um die Effizienz, diese Prozesse selbst zu beeinflussen. Wie schwierig das ist, weiß jeder, der sich schon einmal etwas Schwieriges vorgenommen hat oder der bestimmte Dinge in seinem Leben verändern wollte. Mit zu den schwierigsten Vorsätzen gehört sicherlich die Veränderung von Gewohnheiten (vgl. dazu Kap. 3.7.3).

Neben den Fragen nach verschiedenen Perspektiven und Prozessen ist die Frage der Urheberschaft von zentraler Bedeutung. Können wir den Spielraum, der sich jedem von uns in unterschiedlicher Qualität und Weite bietet, erweitern und nutzen, um in möglichst hohem Maße Urheber (und somit Autor) der eigenen Geschichte zu sein? Wir sind sozusagen gleichzeitig Zuhörer, Protagonist unserer Geschichte und deren Gestalter, Online-Regisseur oder eine Online-Regisseurin. Die positive Beantwortung der Frage nach Handlungsurheberschaft ist wichtig, um nicht nur ein anonymes Schicksal zu erleiden, sondern uns selbst an unserer Geschichte mitschreiben und mitgestalten zu lassen. Bei dem Gefühl für Handlungsurheberschaft gibt es persönliche Unterschiede. Das Gefühl für Handlungsurheberschaft entsteht nach Daniel Stern (1993) schon sehr früh in der Kindheit, wenn das Körper-Selbstgefühl heranreift. Das Gefühl der Selbstwirksamkeit (Bandura, 1997) ist ein wichtiger Schutzfaktor gegenüber Depressionen, die ja durch ein Gefühl der Lähmung und Hilflosigkeit gekennzeichnet sein können, Selbstwirksamkeit ist eine wichtige Voraussetzung für das Erleben von Handlungsurheberschaft. Es geht auch darum, das eigene Leben nicht nach den Erwartungen anderer zu leben. Es muss zwar keinen Widerspruch geben und ich kann vollkommen selbstbestimmt die Erwartungen anderer erfüllen, wenn ich das richtig finde. Aber ausschlaggebend ist, dass ich immer das Gefühl habe, selbst zu entscheiden, und dass ich mich Erwartungen widersetzen kann, wenn sie nicht mit meinen Werten und Zielen übereinstimmen.

Eine weitere wichtige Autoren-Frage ist: Gibt es einen roten Faden oder bleibt meine Geschichte fragmentarisch? Gibt es Brüche und Zäsuren? Wir kennen in der Literatur Autobiografien, die diese Ganzheitlichkeit betonen und solche, die Brüche und Zäsuren zulassen oder sogar ganz zusammenhanglos und fragmentarisch wirken, z. B. die von Andy Warhol (Muysers, 2006, S. 32). Die Darstellung von Brüchen und Zäsuren hat einen künstlerisch-edukativen Effekt auf das Publikum, da menschliche Gehirne dazu neigen, Lücken in der Informationszufuhr auszufüllen (Kuhl, 2010; Linke, 2005; Sacks, 2006, 2009) und Kohärenzen zu bilden, ähnlich den groben Pinselstrichen expressionistischer Maler, die das Auge zu ganzheitlichen Bildern und Lichtreflexen zusammenfügt. Und diese Aktivität fördert, wie noch deutlich werden wird, das Selbstgespür.

1.1.3 Leben, Kunst und Lebenskunst

„Stückwerk und Zeilen, als sei es das Ganze.“ Rainer Maria Rilke

Aus den Fragmenten der Wirklichkeit eine Ganzheit herzustellen, eine Form zu erfinden oder zu schaffen, wird gemeinhin als Aufgabe des Künstlers betrachtet. Sofern eine Person den Zugang zum eigenen Selbsterleben hat, ist sie selbst in der Lage, Ganzheiten, Kontinuität und Zusammenhänge herzustellen, und wird somit zum „Lebenskünstler“. Lebenskünstler kann somit jeder sein, er ist es in dem Moment, wo er diese überblickartige, ganzheitliche Perspektive auf sich selbst herstellen kann. Geschichten können hier eine paradigmatische (und somit modellhafte) Funktion haben, die hilft, die gleichen Prozesse und Perspektiven auf die eigene Lebensgeschichte anzuwenden. Das hat nichts mit der modernen „Philosophie der Lebenskunst“ zu tun (Schmidt, 2008), die eine freie (das heißt beliebige) Wahl von Lebensentwürfen (ähnlich einem Supermarkt-Prinzip) propagiert. Der authentische Rückgriff auf das Erfahrungsgedächtnis ist wichtig, um „authentisches Selbstsein“ zu ermöglichen, und dieses ist gerade aufgrund der individuellen Geschichte nie ganz beliebig (Luckner, 2007). Zu einem professionellen Künstler wird eine Person vielleicht dann werden, wenn sie ihr Erleben auf kreative und besonders innovative Weise ausdrücken und kommunizieren kann.

Menschen in traumatischen Situationen können sogar zu Überlebenskünstlern werden, da sie sehr gekonnt mit ihren Ressourcen umgehen. Hier hat der Begriff der „Kunst“ sehr viel mit „Können“, mit den persönlichen Kompetenzen, zu tun. In der psychologischen Fachsprache werden die Kompetenzen, die Personen in kritischen bzw. schwierigen Lebenssituationen helfen, unter dem Oberbegriff der „Resilienz“ zusammengefasst. Resilienz heißt auch Widerstandskraft. Einer der wichtigen Bedingungen für Resilienz ist das Gefühl der Kohärenz, das tiefe Gefühl von Identität und des Vertrauens in die eigenen Kompetenzen, welches eng an die Fähigkeit der ganzheitlichen, integrierenden Wahrnehmung gebunden ist. Geschichten, die Kohärenz spiegeln, können daher das eigene Kohärenzgefühl fördern und haben somit eine resilienzfördernde Wirkung (Antonovski, 1997).

Sachliche Berichte, die strukturiert und chronologisch Ereignisse festhalten, haben diese kohärenzfördernde Funktion nicht, sie sind nicht sinnstiftend, sie sind keine Kunst, sie haben noch nicht einmal Bedeutung. Ein Bespiel dafür sind die vielen Daten und Informationen, die die Geheimdienste zur Terrorabwehr vor dem versuchten Terroranschlag am 24.12. 2009 auf eine Passagiermaschine in Detroit gesammelt haben: Obwohl sehr viele Daten und Hinweise vorlagen, gab es niemanden, der die Bedeutung der Information interpretierte und Schlussfolgerungen für geeignete Handlungsoptionen daraus ziehen konnte. Geschichten haben im Gegensatz zu Berichten eine persönliche Bedeutung und Gefühle, z. B. als Unsicherheit, sind immer wichtige Spuren auf dem Weg zu persönlicher Bedeutsamkeit.

1.1.4 Geschichten als Kulturgut des Menschen

Das Erzählen und Tradieren von Geschichten setzt die Fähigkeit zur Anwendung der menschlichen Sprache voraus, über deren evolutionären Ursprung viel geschrieben und spekuliert wurde. Gemeinsam mit der Tierwelt ist den Menschen die Kommunikation über Affektlaute und ein angeborenes Gestenrepertoire. Diese wenig artikulierten Laute und der überwiegende Teil des Gestenrepertoires werden kulturübergreifend verstanden und überwiegend von der rechten Hirnhälfte verarbeitet. Der Mensch ist eine sprechende Spezies, doch über einen längeren Zeitraum in der Evolutionsgeschichte, noch bevor Sprache und konzeptuelles Denken entstanden, gab es zehn-, vielleicht hunderttausend Jahre, in denen der Mensch sich mimisch und paraverbal ausdrückte und sich hierdurch bereits von den Affen unterschied. Die Fähigkeit Gefühle auszudrücken, externale Ereignisse mitzuteilen oder nur durch Gesten, Mimik, Bewegung und Ton, jedoch nicht durch Sprache, Geschichten zu erzählen, ist das Fundament der heutigen menschlichen Kultur. Rhythmische Fähigkeiten sind ein universelles Phänomen, sie sind supramodal und haben vor allem die Funktion der Synchronisation von kollektiven Aktivitäten, die besonders in jagenden Gesellschaften, aber auch in Agrokulturen von Bedeutung sind. Rhythmische Fähigkeiten helfen der Synchronisation von Bewegungen (durch die enge Verbindung von akustischen und motorischen Zentren) und wirken vereinigend4, wie man am Beispiel von Arbeitsliedern, z. B. work songs der amerikanischen Sklaven, Kriegsgetrommel oder Begräbnismusik leicht erkennen kann. Rhythmische Skills sind daher eine Grundvoraussetzung für komplexe soziale und rituelle Verhaltensweisen, weil sie die Grundlage aller Arten nonverbaler Aktivitäten darstellen. Diesen Tatbestand beschreibt bereits für die ontogenetische Perspektive Daniel Stern im Hinblick auf die Kommunikation von Säuglingen mit ihren Bezugspersonen (Stern, 1993). Es gibt große Überlappungen, aber auch Unterschiede in der Repräsentation von Sprache und Musik im Gehirn (Sacks, 2006, 2009).