Autorität. Auslöschung. Akzeptanz. - Jeff VanderMeer - E-Book

Autorität. Auslöschung. Akzeptanz. E-Book

Jeff VanderMeer

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Beschreibung

Teil 1 Auslöschung Seit ein mysteröses 'Ereignis' vor mehr als dreißig Jahren das Gebiet erschütterte, ist Area X von einer unsichtbaren Grenze umgeben. Niemand weiß genau, was dahinter geschieht, aber es gibt Gerüchte von einer sich verändernden und die Reste der menschlichen Zivilisation überwuchernden Natur, einer Natur, die ebenso makellos und bezaubernd wie verstörend und bedrohlich ist. Zuständig für das Gebiet ist eine geheime Regierungsorganisation, die sich 'Southern Reach' nennt und den Auftrag hat, herauszufinden, was hinter der Grenze geschieht. Aber keine der Expeditionen, die 'Southern Reach' in das Gebiet entsandte, um Erklärungen für das Unerklärbare zu finden, hatte bisher Erfolg. Die meisten der Expeditionen endeten in Katastrophen, bei denen letztlich alle Mitglieder ums Leben kamen, und die Zeit, um Antworten zu finden, wird knapp, denn Area X scheint sich immer schneller auszudehnen. "Auslöschung" ist der Bericht über die zwölfte Expedition. Sie besteht aus vier Frauen: einer Anthropologin, einer Landvermesserin, einer Psychologin und einer Biologin. Ihre Aufgabe ist es, die Geheimnisse von Area X zu entschlüsseln, das Gebiet zu kartographieren, Flora und Fauna zu katalogisieren, ihre Beobachtungen in Tagebüchern zu dokumentieren, vor allem aber sich nicht von Area X kontaminieren zu lassen. Doch es sind die Geheimnisse, die sie mit über die Grenze gebracht haben, die alles verändern werden … Ein fesselnder, fantastischer Roman über eine unheimliche Welt und die Fremdheit in uns. Ein Roman von der Kraft eines Mythos. Teil 2 Autorität Nach der katastrophalen zwölften Expedition, die in Auslöschung geschildert wurde, befindet sich Southern Reach in Auflösung. John Rodriguez, der neu ernannte Kopf der Organisation, muss sich durch eine Reihe frustrierender Verhöre, einen Berg verschlüsselter Notizen und Stunden verstörender Videoaufnahmen arbeiten, um die Geheimnisse von Area X zu lüften. Aber jede neue Entdeckung konfrontiert ihn mit bestürzenden Wahrheiten – über sich selbst und die Organisation, der er die Treue geschworen hat … Teil 3 Akzeptanz Es ist Winter, und eine weitere Expedition übertritt die Grenze zu Area X. Während sie, auf der Suche nach einem verschollenen Mitglied einer früheren Expedition, tiefer ins Unbekannte vordringt und mit neuen Herausforderungen konfrontiert wird, nimmt die Bedrohung der Außenwelt durch Area X immer beängstigendere Ausmaße an. Die Geheimnisse von Area X mögen zwar gelüftet worden sein, doch ihre Implikationen und Konsequenzen sind abgrundtief erschreckend.

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Für Ann

JEFF VANDERMEER

AUSLÖSCHUNG

Band 1 derSouthern-Reach-Trilogie

Aus dem Englischen vonMichael Kellner

Verlag Antje Kunstmann

1

 

INITIATION

 

Der Turm, der dort nicht hätte sein dürfen, bohrt sich an einer Stelle in die Erde, wo der dunkle Kiefernwald in Sumpf und Schilfrohr und die sich anschließenden Salzmarschen mit den windzerzausten Bäumen übergeht. Hinter den Salzmarschen und natürlich entstandenen Kanälen liegt das Meer, und ein bisschen weiter die Küste hinauf ein verlassener Leuchtturm. Aus Gründen, die man nicht einmal mehr erahnen kann, sind diese Landstriche schon vor Jahrzehnten aufgegeben worden. Seit zwei Jahren hatte keine Expedition mehr Area X betreten, und die Ausrüstung unserer Vorgänger rostete vor sich hin, ihre Zelte und Schuppen waren nicht mehr als leere Hülsen. Ich glaube nicht, dass irgendeine von uns beim Anblick dieser friedvollen Landschaft bereits die Bedrohung spürte.

Wir waren zu viert: Eine Biologin, eine Anthropologin, eine Landvermesserin und eine Psychologin. Ich war die Biologin. Dieses Mal hatten sie nur Frauen ausgesucht, Teil eines komplexen Musters von Variablen, nach dem die Expeditionen zusammengestellt wurden. Die Psychologin war etwas älter als wir anderen und fungierte als Leiterin der Expedition. Sie hatte uns unter Hypnose gesetzt, um die Grenze zu überqueren, damit wir ruhig blieben. Als wir die Küste erreichten, lag eine harte, fünftägige Wanderung hinter uns.

Unsere Mission war einfach: Wir sollten im Auftrag der Regierung die Erkundung der Geheimnisse von Area X fortführen und uns langsam vom Basislager aus weiter vorarbeiten.

Die Expedition konnte Tage, Monate oder sogar Jahre dauern, das hing ganz von den Umständen und Ereignissen ab. Unsere Vorräte reichten vier Monate, und im Basislager wartete Proviant für weitere zwei Jahre auf uns. Außerdem wurde uns versichert, wir könnten uns bedenkenlos von den Früchten des Landes ernähren, falls nötig. All unsere Lebensmittel waren entweder geräuchert, als Konserven oder als Notfallrationen verpackt. Das merkwürdigste Stück unserer Ausrüstung war ein Messgerät, das jede von uns erhalten hatte und das an unseren Gürteln baumelte: ein kleines Rechteck aus schwarzem Metall mit einem verglasten Loch in der Mitte. Sollte das Loch rot aufglühen, hatten wir dreißig Minuten Zeit, uns an einen »sicheren Ort« zurückzuziehen. Manhatte uns nicht gesagt, was das Gerät maß und wovor wir uns in Acht nehmen sollten, wenn es zu glühen anfing. Nach ein paar Stunden hatte ich mich so daran gewöhnt, dass ich keinen zweiten Blick mehr darauf warf. Uhr und Kompass waren uns verboten.

Nachdem wir das Lager erreicht hatten, machten wir uns daran, verfallene oder beschädigte Teile der Anlage auszutauschen und unsere eigenen Zelte aufzubauen. Die Hütten wollten wir erst später bauen, wenn wir sicher waren, dass Area X keine Auswirkungen auf uns hatte. Die Mitglieder der vorherigen Expedition hatten sich schließlich einfach davongemacht, einer nach dem anderen. Im engeren Sinne waren sie nicht verschwunden, sondern mit der Zeit zu ihren Familien zurückgekehrt. Sie waren einfach aus Area X verschwunden und auf unbekannten Wegen in die Welt auf der anderen Seite der Grenze zurückgekehrt. An Einzelheiten ihrer Reise konnten sie sich nicht erinnern. Diese Rückführung hatte sich über einen Zeitraum von achtzehn Monaten hingezogen, und früheren Expeditionen war das nicht passiert. Aber auch andere Phänomene konnten die »vorzeitige Auflösung der Expedition«, wie unsere Vorgesetzten das nannten, zur Folge haben, und wir mussten zunächst herausfinden, ob wir dem Ort gewachsen waren.

Aber zuerst mussten wir uns mit der Umwelt vertraut machen. In den Wäldern nahe des Lagers konnte man auf Bären oder Kojoten treffen. Man konnte ein überraschendes Krächzen hören, und während man einen Nachtreiher beobachtete, der von einem Ast herunterstarrte, derart abgelenkt auf eine giftige Schlange treten, von denen es hier zumindest sechs verschiedene Arten gab. In den Sümpfen und Flüssen lauerten riesige Reptilien, also passten wir auf, dass wir beim Entnehmen unserer Wasserproben nicht zu tief hineinwateten. Aber diese Aspekte des Ökosystems machten keiner von uns Sorgen. Dafür verunsicherte uns anderes. Vor langer Zeit hatte es hier Dörfer gegeben, und wir stießen auf gespenstische Anzeichen menschlicher Besiedlung: Rottende Hütten mit eingesunkenen, rotstichigen Dächern, davor verrostete Speichenräder, die bis zur Nabe im Schlamm steckten, und Ornamente auf den kiefernadelbedeckten Lehmböden, die Schemen von etwas, das wohl einmal Zäune für Viehweiden waren.

Aber viel schlimmer war dieses tiefe, mächtige Wehklagen während der Dämmerung. Der Wind vom Meer und die merkwürdige Stille des Hinterlands trübten unseren Orientierungssinn, wir wussten nicht, woher es kam, und so schien dieses Klagen in das schwarze Wasser einzusickern, das die Zypressen durchtränkte. Das Wasser war so schwarz, dass wir unsere Gesichter darin sehen konnten, und es geriet niemals in Bewegung, wie Glas, spiegelte nur das wie Bärte herabhängende spanische Moos, das die Zypressen umhüllte. Wenn man über dieses Gebiet Richtung Meer schaute, sah man nichts anderes als schwarzes Wasser und das Grau der Zypressenstämme, an denen reglos die Flechten hinabflossen. Nur das tiefe Wehklagen war zu hören. Die Wirkung versteht man nur, wenn man dort gewesen ist. Auch die Schönheit all dessen versteht man nicht, und wenn man Trostlosigkeit schließlich als schön empfindet, dann hat sich etwas in einem verändert. Dann ist die Trostlosigkeit dabei, sich im Inneren auszubreiten.

Wie schon vermerkt fanden wir den Turm an einer Stelle, wo der Wald zunächst in Sumpf und dann in die Salzmarschen übergeht. Dies geschah am vierten Tag nach unserer Ankunft im Basislager, und inzwischen hatten wir uns gut zurechtgefunden. Weder die beiden Karten, die wir mitgebracht hatten, noch die wasserfleckigen und mit Kieferpollen verschmutzten Unterlagen unserer Vorgänger ließen vermuten, dass wir dort etwas vorfinden würden. Aber dort war er, umsäumt von Buschgras, links des Weges, moosbedeckt und dadurch kaum zu erkennen: Ein runder Block aus unbestimmt grauem Stein, der eine Mischung aus Beton und zermahlenen Muscheln zu sein schien. Er maß wohl knapp zwanzig Meter im Durchmesser, dieser runde Block, und ragte zwanzig Zentimeter über dem Boden auf. Sein Äußeres war glatt und wies keinerlei Schrift oder andere Zeichen auf, die Rückschlüsse auf seine Erbauer oder seinen Zweck geliefert hätten. Exakt nach Norden ausgerichtet fand sich eine rechteckige Öffnung in der Oberfläche, von der aus Stufen spiralförmig ins Dunkel führten. Der Eingang war unter den Netzen der Bananenspinnen und allerlei Abfällen, die Stürme hierher geweht hatten, kaum zu erkennen, aber von unten kam ein kühler Luftzug.

Zunächst war ich die einzige, die Turm dazu sagte. Ich weiß nicht, wie mir das Wort Turm in den Sinn kam, führte doch eine Art Tunnel in den Boden. Ich hätte es genauso gut für einen Bunker oder ein verschüttetes Gebäude halten können. Aber als ich die Treppenstufen sah, fiel mir der Leuchtturm an der Küste ein und plötzlich hatte ich eine Vision der vorherigen Expedition, deren Teilnehmer einer nach dem anderen verschwanden, und irgendwann später begann sich der Boden nach irgendeinem Plan und als Ganzes zu verschieben und beließ den Leuchtturm an seinem Platz, verschob seinen unterirdischen Teil aber ein Stück weit ins Hinterland. Während wir dort standen, sah ich diesen Prozess in verwirrender und ungeheurer Detailtreue vor meinem inneren Auge ablaufen, und rückblickend war das der erste jener wirren Gedanken, die sich einstellten, nachdem wir unserer Ziel erreicht hatten.

»Das ist unmöglich«, sagte die Vermesserin und starrte auf ihre Karten. Die tiefen Schatten des späten Nachmittags tauchten sie in eine kühle Dunkelheit und machten die Worte eindringlicher, als sie sonst geklungen hätten. Der Sonnenstand verriet uns, dass wir demnächst unsere Taschenlampen einsetzen mussten, wollten wir das Unmögliche untersuchen, obwohl ich auch nichts dagegen gehabt hätte, das im Dunklen zu tun.

»Und trotzdem ist es da«, sagte ich. »Falls wir nicht eine Massenhalluzination haben.«

»Die Architektur gibt nicht viel her«, meinte die Anthropologin. »Das Baumaterial ist nicht zu bestimmen, hat vermutlich lokale Ursprünge, was aber nicht heißt, dass auch die Bauweise von hier stammt. Ohne hineinzugehen erfahren wir nicht, ob es aus früherer Zeit oder modern oder irgendwas dazwischen ist. So oder so würde ich mich auf keine Schätzung einlassen, wie alt es ist.«

Wir hatten keine Möglichkeit, unsere Vorgesetzten von dieser Entdeckung zu informieren. Eine der Vorschriften für Expeditionen in Area X lautete, dass den Teilnehmern jeglicher Kontakt nach außen untersagt war, wohl aus Angst vor einer irreversiblen Kontamination. Wir hatten auch wenig dabei, was unserem aktuellen technologischen Stand entsprach. Keine Handys oder Satellitentelefone, keine Computer, keine Camcorder, keine komplizierten Messinstrumente, abgesehen von diesen merkwürdigen schwarzen Kästchen, die an unseren Gürteln baumelten. Zum Entwickeln unserer Fotos brauchten wir eine provisorische Dunkelkammer. Für die anderen rückte gerade das Fehlen der Handys die wirkliche Welt in weite Ferne, während ich es immer vorgezogen hatte, ohne eines auszukommen. An Waffen hatten wir Messer, eine verschlossene Kiste mit antiquierten Pistolen und als zögernd gewährtes Zugeständnis zum Schutz unserer Sicherheit ein einziges Sturmgewehr.

Von uns wurde lediglich erwartet, dass wir Aufzeichnungen machten, wie diese hier, eine Art Tagebuch führten, wie dieses hier: leichtgewichtig, aber fast unzerstörbar, mit wasserfestem Papier, einem flexiblen schwarzweißen Einband und blauen horizontalen Linien zum Schreiben und einer roten Linie, die den linken Rand markierte. Diese Tagebücher sollten wir entweder mit zurückbringen, oder sie würden von der folgenden Expedition gefunden werden. Man hatte uns ermahnt, möglichst alles zu kontextualisieren, so dass auch jemand, der mit Area X nicht vertraut war, unsere Berichte verstehen konnte. Außerdem wurden wir angewiesen, unsere Einträge niemand anderem zu zeigen. Unsere Vorgesetzten glaubten, dass ein intensiver Austausch an Informationen unsere Beobachtungen verzerren würde. Aber ich wusste aus Erfahrung, wie aussichtslos der Versuch war, Voreingenommenheiten auszumerzen. Nichts Lebendes unter der Sonne kann wahrhaft objektiv sein – nicht mal in einer völligen Leere, nicht mal, wenn das Gehirn eine geradezu selbstzerstörerische Sehnsucht nach Wahrheit gehabt hätte.

»Das ist ja eine aufregende Entdeckung«, warf die Psychologin ein, bevor auch nur eine von uns ein Wort zu dem Turm gesagt hatte. »Findet ihr nicht auch?« So eine Frage hatte sie uns zuvor noch nie gestellt. Während unserer Ausbildung klangen ihre Fragen eher wie: »Was glaubst du, wie ruhig du in einem Notfall bleiben kannst?« Damals klang sie für mich wie eine schlechte Schauspielerin, die eine Rolle spielt. Dieser Eindruck verstärkte sich jetzt noch, als würde es sie nervös machen, dass sie die Leiterin unserer Gruppe war.

»Es ist absolut aufregend … und so unerwartet«, sagte ich, und es klang spöttischer, als beabsichtigt. Ich war von meiner wachsenden Unruhe überrascht, denn im Vergleich zu dem, was ich mir vorgestellt und in meinen Träumen gesehen hatte, war das hier banal. Bevor wir die Grenze überschritten hatten, gab es so vieles, was vor meinem inneren Auge aufgetaucht war: riesige Städte, eigenartige Tiere und während einer Krankheit tauchte einmal ein riesiges Monster aus den Wellen auf und stürzte sich auf unser Lager.

Die Vermesserin zuckte einfach nur mit den Schultern und ignorierte die Frage der Psychologin. Die Anthropologin nickte, als würde sie mir zustimmen. Der nach unten führende Eingang zum Turm hatte eine ganz eigene Ausstrahlung, eine Art leere Fläche, die wir mit allem möglichem beschreiben konnten. Es fühlte sich an wie ein leichtes Fieber, das uns alle gepackt hatte.

Ich würde die drei anderen auch beim Namen nennen, aber das hat keine Bedeutung, denn nur die Vermesserin sollten die nächsten zwei Tage überleben. Darüber hinaus war uns dringend davon abgeraten worden, Namen zu benutzen: Wir sollten uns auf unsere Aufgabe konzentrieren, und »alles Persönliche sollte zurückgelassen werden«. Namen gehörten in die Welt, aus der wir gekommen waren; in Area X hatten wir alle nur eine Funktion.

Ursprünglich sollte unsere Expedition fünf Mitglieder haben, auch eine Linguistin gehörte dazu. Auf dem Weg zur Grenze wurde jede von uns in ein helles, weißes Zimmer gebracht, mit einer Tür am anderen Ende und einem Metallstuhl in einer Ecke. Der Stuhl hatte an den Seiten Löcher für Riemen; die Implikationen lösten einen kurzen Angstschauer bei mir aus, aber ich war fest entschlossen, Area X zu erreichen. Das Gebäude, in dem sich die Zimmer befanden, unterstand »Southern Reach«, einer geheimen Regierungsbehörde, die sämtliche Belange von Area X kontrollierte.

Während wir dort warteten, fanden endlose Einweisungen statt, und aus Lüftungsrohren in der Decke wurden wir mal mit warmer, mal mit kalter Luft unter Druck gesetzt. Irgendwann kam die Psychologin zu jeder von uns, obwohl ich mich nicht mehr daran erinnern kann, worüber wir gesprochen haben. Dann verließen wir den Raum durch die andere Tür und kamen zum zentralen Sammelpunkt, von dem ein langer Gang auf die Türen einer Luftschleuse zuführte. Dort wurden wir von der Psychologin erwartet, aber die Linguistin tauchte nicht wieder auf.

»Sie hat es sich anders überlegt«, sagte die Psychologin und ging über unsere Fragen mit einem starren Blick hinweg. »Sie will hierbleiben.« Das war ein kleiner Schock, aber wir waren auch erleichtert, dass es keine andere von uns war. Von all unserer Fähigkeiten schienen zu diesem Zeitpunkt die einer Linguistin am ehesten zu entbehren zu sein.

Nach einem Augenblick sagte die Psychologin: »Jetzt bekommt euren Kopf frei.« Was hieß, dass sie anfangen wollte, uns zu hypnotisieren, damit über die Grenze gehen konnten. Dann würde sie sich auch selbst hypnotisieren. Man hatte uns erklärt, dass wir die Grenze nur mit dieser Vorsichtsmaßnahme überqueren könnten, andernfalls würde unser Verstand aus dem Ruder laufen. Allem Anschein nach waren Halluzinationen beim Grenzübergang nichts ungewöhnliches. Zumindest wurde uns das gesagt. Ich weiß inzwischen nicht mehr, ob es wahr ist. Die eigentliche Natur der Grenze hat man uns aus Sicherheitsgründen vorenthalten; wir wussten nur, dass man sie mit bloßem Augen nicht erkennen konnte.

Als ich mit den anderen wieder »aufwachte«, waren wir alle in voller Montur, trugen schwere Wanderstiefel und zwanzig Kilo schwere Rücksäcke sowie eine Vielzahl von Zubehör, das an unseren Gürteln baumelte. Wir drei taumelten, und die Anthropologin ging sogar in die Knie, während die Psychologin geduldig wartete, dass wir uns wieder erholten. »Tut mir leid«, sagte sie, »das war die sanfteste Art, euch zurückzuholen.«

Die Vermesserin fluchte und starrte sie wütend an. Sie war ein Hitzkopf, was offenbar als Aktivposten gesehen wurde. Die Anthropologin, typisch für sie, kam auf die Beine, ohne sich zu beschweren. Und ich, typisch für mich, war zu beschäftigt, alles zu beobachten, um dieses grobe Aufwecken persönlich zu nehmen. Zum Beispiel bemerkte ich, wie grausam das unmerkliche Lächeln wirkte, das auf den Lippen der Psychologin spielte, während sie beobachtete, wie wir versuchten, uns wieder einzukriegen und die Anthropologin taumelte und sich dafür entschuldigte. Später fiel mir auf, dass ich ihren Ausdruck vielleicht falsch interpretiert hatte; er hätte auch Schmerz oder Selbstmitleid bedeuten können.

Wir standen auf einem matschigen Weg, der mit Kieseln, abgestorbenen Blättern und Kiefernnadeln übersät war. Überall krabbelten Ameisenwespen und glitzernde kleine Käfer herum. Rechts und links ragten Kiefern empor, die zerfurchte Rinde wie Schuppen, und die Schatten hoch fliegender Vögel zauberten Striche zwischen sie. Die Luft war so frisch, dass sie in den Lungen schmerzte, und ein paar Sekunden lang war das Atmen anstrengend, größtenteils aus Überraschung. Dann markierten wir unsere Position mit einem roten Stofftuch an einem Baum und marschierten los, ins Unbekannte. Falls irgendetwas die Psychologin außer Gefecht setzte, so dass sie uns nicht bis ans Ende unserer Mission begleiten konnte, waren wir angewiesen, hierher zurückzukehren und darauf zu warten, dass man uns »evakuieren« würde. Niemand hatte uns erklärt, wie dieses »Evakuierung« aussehen würde, aber es schien klar, dass unsere Vorgesetzten auch aus großer Entfernung den Evakuierungspunkt beobachten konnten, obwohl dieser sich hinter der Grenze befand.

Man hatte uns eingeschärft, nach unserer Ankunft nicht zurückzuschauen, aber als die Psychologin gerade mit etwas anderem beschäftigt war riskierte ich einen Blick. Ich weiß nicht genau, was ich sah. Es war undeutlich, verschwommen, und lag schon weit hinter uns – vielleicht ein Tor, vielleicht eine Täuschung. Nur der abrupte Eindruck eines perlenden Lichtquaders, der rasch verblasste.

Die Gründe, warum ich mich beworben hatte, waren von meiner Qualifikation völlig unabhängig. Ich glaube, ich bekam den Zuschlag, weil ich mich auf Habitate im Umbruch spezialisiert hatte, und an diesem speziellen Ort gab es eine Reihe vom Umbrüchen, will sagen, eine spezielle Komplexität verschiedener Ökosysteme. Es gab kaum einen anderen Ort, an dem man nur sechs oder sieben Meilen zurücklegen musste und dabei vom Wald in den Sumpf und durch Salzmarschen zu einem Strand kam. Man hatte mir berichtet, in Area X würde ich auf Meereslebewesen stoßen, die sich an brackiges Süßwasser angepasst hatten und bei Ebbe weit die natürlich entstandenen Kanäle hinaufschwammen, die sich im Schilf gebildet hatten, und so den Lebensraum mit Ottern und Rotwild teilten. Und wenn man am Strand entlangging, der von der Winkerkrabbe durchlöchert war, konnten man gelegentlich im Meer gewaltige Süßwasserreptilien sehen, die sich diesem Habitat angepasst hatten.

Ich verstand, warum niemand mehr in Area X lebte, dass die Gegend aus diesem Grund so makellos war, weigerte mich aber beharrlich, das zur Kenntnis zu nehmen. Ich zog es statt dessen vor zu glauben, Area X sei ein Naturschutzgebiet und wir seien Wanderer, die zufällig auch Wissenschaftler waren. Auf einer anderen Ebene machte das sogar Sinn: Wir hatten weiterhin keine Ahnung, was hier passiert war und noch immer passierte, und meine vorab formulierten Theorien beeinflussten meine Analyse der von uns gefundenen Indizien. Davon abgesehen spielte es in meinem Fall kaum eine Rolle, welche Lügen ich mir selbst auftischte, denn mein Leben in der Welt, aus der wir gekommen waren, war mindestens so leer wie Area X. Ich hatte nichts mehr, was mich dort hielt, also konnte ich gar nicht anders als hier zu sein. Was die anderen betrifft, wusste ich nicht, was sie sich selbst erzählt hatten, ich wollte es auch nicht wissen, vermutete aber, dass es in gewisser Weise mit Neugier zusammenhing. Neugier kann ein mächtiges Ablenkungsmanöver sein.

An diesem Abend sprachen wir über den Turm, obwohl die anderen auf die Bezeichnung Tunnel bestanden. Jede von uns war selbst dafür verantwortlich, mit welchem Elan sie ihre Forschungen vorantreiben wollte; die Psychologin sollte unsere jeweiligen Entscheidungen in einen größeren Zusammenhang stellen und beurteilen. Teil der aktuellen Prinzipien bei der Entsendung der Expeditionen war, jedem Mitglied einen größeren Entscheidungsspielraum einzuräumen, um eine Vielzahl von »aussagekräftigen Abweichungen« zu erhalten.

Diese diffuse Planung musste man im Kontext unserer verschiedenen Fähigkeiten sehen. Zum Beispiel hatten wir zwar alle eine Grundausbildung an der Waffe und ein Überlebenstraining erhalten, aber die Vermesserin hatte viel mehr Erfahrungen in medizinischen Dingen und mit Schusswaffen als wir anderen. Die Anthropologin war früher Architektin gewesen; sie hatte sogar vor Jahren ein Feuer in einem von ihr entworfenen Gebäude überlebt – das einzig Persönliche, was ich über sie herausgefunden hatte. Über die Psychologin wussten wir alle am wenigsten, ich glaube aber, dass sie auf irgendeine Weise aus dem Management kam.

Die Diskussion über den Turm war in gewisser Weise die erste Möglichkeit, unsere Grenzen zu testen, wenn es um unterschiedliche Meinungen und Kompromisse ging.

»Ich glaube nicht, das wir uns auf den Tunnel konzentrieren sollten«, sagte die Anthropologin. »Wir sollten zunächst die umliegenden Gebiete erkunden und mit allen Daten zurückkommen, die wir bei unseren anderen Untersuchungen gewonnen haben – inklusive die des Leuchtturms.«

Es war vorhersehbar und vielleicht sogar von einer Vorahnung geprägt, dass die Anthropologin eine sichere und behutsame Option favorisierte. Der Vorschlag, sich zunächst der Kartierung zu widmen, klang mir zwar sehr nach Routine und Monotonie, aber ich konnte nicht ignorieren, dass es mit dem Turm etwas gab, das auf keiner Karte vermerkt war.

Dann ergriff die Vermesserin das Wort. »In diesem Fall sollten wir uns davon überzeugen, dass von dem Tunnel keine Gefahr ausgeht oder ein Angriff droht. Bevor wir Weiteres erkunden. Andernfalls haben wir einen Gegner im Rücken, sobald wir weiter vordringen.« Sie war uns vom Militär überstellt worden und mir war jetzt schon klar, wie wertvoll ihre Erfahrungen für uns waren. Ich hatte erwartet, dass eine Vermesserin sich immer für weitere Erkundungen einsetzen würde, und insofern besaß ihre Einschätzung besonderes Gewicht.

»Ich kann es auch nicht erwarten, die Biotope hier zu erkunden«, sagte ich. »Aber in gewisser Hinsicht, wenn man bedenkt, dass der ›Tunnel‹ … oder Turm … nicht auf der Karte verzeichnet ist … scheint er wichtig zu sein. Entweder wurde er mit voller Absicht weggelassen und ist damit bekannt … und auch das ist eine Art Botschaft … oder er ist etwas Neues, das es hier noch nicht gab, als die letzte Expedition eintraf.«

Die Vermesserin warf mir einen dankbaren Blick zu, aber mein Standpunkt hatte nichts mit ihr zu tun. Irgendetwas an der der Vorstellung eines Turms, der direkt in die Tiefe führte, spielte mit den verschwisterten Gefühlen von Höhenangst und einer Faszination an der Konstruktion. Ich hätte nicht sagen können, was ich herbeisehnte und was mir Angst machte, und so gingen mir weiterhin Bilder vom Inneren der Nautilusmuschel und andere natürliche Formen durch den Kopf, denen das Gefühl gegenüberstand, von einer Klippe plötzlich ins Unbekannte zu stürzen.

Die Psychologin nickte, schien diese Optionen zu erwägen und fragte: »Hat irgendjemand auch nur den Anflug des Gefühls, hier weg zu wollen?« Es war eine berechtigte Frage, aber trotzdem ein Misston.

Wir drei schüttelten die Köpfe.

»Und du?«, fragte die Vermesserin. »Was meinst du?«

Die Psychologin grinste, was merkwürdig schien. Sie muss aber gewusst haben, dass irgendeine von uns den Auftrag hatte, ihre Reaktionen zu beobachten. Vielleicht erheiterte sie die Vorstellung, dass man dafür nicht eine Biologin oder eine Anthropologin, sondern eine Vermesserin ausgesucht hatte, eine Expertin, was die Oberfläche der Dinge betrifft. »Ich muss zugeben, dass ich gerade ein großes Unbehagen spüre. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das ganz allgemein auf dieses Umfeld zurückzuführen ist oder auf den Tunnel. Persönlich würde ich den Tunnel gerne ausschließen.«

Turm.

»Dann also drei zu eins«, sagte die Anthropologin und war offensichtlich froh, dass ihr jemand die Entscheidung abgenommen hatte.

Die Vermesserin zuckte nur mit den Schultern.

Vielleicht hatte ich mich in Bezug auf die Neugier getäuscht. Die Vermesserin schien auf nichts neugierig zu sein.

»Gelangweilt?«, fragte ich.

»Ich will einfach weitermachen«, sagte sie in die Runde, als hätte ich die Frage an uns alle gestellt.

Zum Reden hatten wir uns im Gemeinschaftszelt getroffen. Inzwischen war es dunkel geworden, und kurz darauf hörten wir ihn zum ersten Mal, diesen klagenden Ruf in der Nacht, von dem wir wussten, dass er eine natürliche Ursache haben musste, der uns aber trotzdem ein kurzes Schaudern verursachte. Als wäre dies das Zeichen zum Aufbruch gewesen, gingen wir zurück in unsere eigenen Zelte, wo jede mit ihren Gedanken allein war. Ich lag noch eine ganze Weile wach und versuchte, mir den Turm als Tunnel vorzustellen, sogar als Schacht, aber ohne Erfolg. Stattdessen kam ich von einer Frage nicht los: Was versteckt sich an seinem Fuß?

Während unseres Marschs von der Grenze zum Basislager nahe der Küste hatten wir nichts Ungewöhnliches erlebt. Die Vögel zwitscherten, wie sie sollten; Rotwild stob davon und das Weiß ihrer Spiegel leuchtete wie Ausrufezeichen im grünbraunen Unterholz; die krummbeinigen Waschbären gingen wackelnd ihren Geschäften nach und ignorierten uns. Die ganze Gruppe fühlte, glaube ich, einen leichten Schwindel der Freiheit nach so vielen Tagen, die wir mit Training und Vorbereitung verbracht hatten. Während wir uns in diesem Korridor, diesem Übergangsraum befanden, konnte uns nichts etwas anhaben. Wir waren weder das, was wir vorher waren, noch das, was wir sein würden, wenn wir unser Ziel erreicht hatten.

Am Tag bevor wir das Lager erreichten, wurde diese Stimmung kurz durch das Auftauchen eines riesigen Keilers erschüttert, der in einiger Entfernung vor uns auf dem Weg stand. Er war so weit entfernt, dass wir ihn zunächst auch mit Ferngläsern nicht eindeutig erkennen konnten. Wildschweine können zwar nicht gut sehen, aber ihr Geruchssinn ist außerordentlich empfindlich und der Keiler, noch gute hundert Meter entfernt, fing an, auf uns loszustürmen. Er donnerte den Weg hinunter auf uns zu – doch wir hatten noch Zeit zu überlegen, was wir tun sollten, wir hatten unsere langen Messer gezogen und die Vermesserin hatte das Sturmgewehr angelegt. Vielleicht würden Kugeln ein dreihundert Kilo Schwein stoppen, vielleicht auch nicht. Wir fühlten uns nicht sicher genug, unsere Aufmerksamkeit vom Keiler weg auf die Kiste mit den Handfeuerwaffen in unserer Ausrüstung zu richten, die mit einem dreifachen Schloss gesichert war.

Der Psychologin blieb keine Zeit für eine Anweisung per Hypnose, die uns gleichermaßen konzentriert und unter Kontrolle gehalten hätte. Sie hatte tatsächlich nicht mehr als ein »Lasst ihn nicht an euch ran! Er darf euch nicht berühren!« zu bieten, während der Keiler immer näher kam. Die Anthropologin kicherte, aus Nervosität und der absurden Langsamkeit, mit der sich diese gefährliche Situation entwickelte. Nur die Vermesserin handelte kurzentschlossen: Um besser schießen zu können hatte sie sich hingekniet. Eine der sinnvollen Direktiven unserer Ausbildung lautete: »Tötet nur, wenn ihr in der Gefahr seid, getötet zu werden.«

Ich beobachtete den Keiler weiter durch das Fernglas, und je näher er kam, um so fremder muteten seine Züge an. Sie wirkten verzerrt, als würde das Tier von extremen inneren Schmerzen gequält. Nichts an seiner Schnauze oder dem derben, langgezogenen Schädel wirkte außergewöhnlich, und doch hatte ich den bestürzenden Eindruck, dass sich in der Art, wie sein starrer Blick nach innen gerichtet schien und der Kopf absichtlich nach links gewendet war, ein Etwas zeigte, das unsichtbare Zügel führte. In den Augen funkelte ein Feuer, das mir unwirklich vorkam. Ich glaubte stattdessen, es wäre ein Nebeneffekt meiner inzwischen leicht zitternden Hände, die das Fernglas hielten.

Was auch immer den Keiler verzehrte, nahm ihm gleich darauf die Lust an der Attacke. Er brach abrupt nach links ins Unterholz aus und gab dabei etwas von sich, das ich nur als Aufschrei größter Pein bezeichnen kann. Als wir diese Stelle erreicht hatten, war der Keiler verschwunden und hatte nichts als einen völlig zertrampelten Weg hinterlassen.

In den nächsten Stunden war ich in Gedanken völlig damit beschäftigt, Erklärungen für das zu finden, was ich gesehen hatte: Parasiten oder andere Mitreisende auf neurologischen Bahnen. Ich suchte nach einer völlig rationalen, biologischen Erklärung. Dann verschmolz der Keiler mit der Kulisse all dessen, was wir auf dem Weg von der Grenze gesehen hatten, und ich wandte mich wieder der Zukunft zu.

Am Morgen nach der Entdeckung des Turms standen wir früh auf, frühstückten und löschten das Feuer. Der Jahreszeit entsprechend lag eine schneidende Kälte in der Luft. Die Vermesserin öffnete die Kiste mit den Waffen und gab jeder von uns eine Pistole. Sie selbst behielt das Sturmgewehr; es hatte den Vorteil, dass unter dem Lauf eine Lampe montiert war. Keine von uns hatte damit gerechnet, dass wir gerade diesen Kasten so schnell öffnen würden, und obwohl niemand protestierte, spürte ich eine neue Spannung, die sich zwischen uns aufbaute. Wir wussten, dass sich die Mitglieder der zweiten Expedition in Area X selbst, und die der dritten gegenseitig erschossen hatten. Unsere Vorgesetzten hatten erst dann wieder Waffen zugelassen, nachdem die meisten der folgenden Expeditionen keinerlei derartige Verluste beklagen mussten. Unsere Expedition war die zwölfte.

Zu viert gingen wir zurück zum Turm. Sonnenstrahlen fielen durch Blätter und Moos und zeichneten Archipele aus Licht auf die glatte Fläche um den Einstieg. Er wirkte weiterhin unscheinbar, inaktiv, in keiner Weise verhängnisvoll … und doch bedurfte es einer Willensanstrengung, um den Turm herumzustehen und auf den Einstieg zu starren. Ich bemerkte, wie die Anthropologin ihr schwarzes Kästchen kontrollierte und erleichtert war, dass kein rotes Licht aufleuchtete. Im anderen Fall hätten wir unsere Untersuchung abbrechen und uns anderen Dingen zuwenden müssen. Und das wollte ich nicht, trotz eines Anflugs von Angst.

»Was glaubt ihr, wie tief es da hinuntergeht?«, fragte die Anthropologin.

»Denkt daran, dass wir uns nur auf unsere Messungen verlassen sollten«, antwortete die Psychologin mit einem leichten Stirnrunzeln. »Zahlen lügen nicht. Dieses Gebäude hat, der Anthropologin zufolge, einen Durchmesser von 18,71 Meter und ragt 20 Zentimeter über dem Boden auf. Der Treppenschacht ist genau nach Norden ausgerichtet, was uns vielleicht etwas über seine Entstehung verrät, irgendwann mal. Es besteht aus Stein und Muschelkalk, nicht aus Metall oder Ziegeln. Das sind Tatsachen. Dass es nicht auf den Karten verzeichnet ist, heißt nur, dass vielleicht ein Sturm den Eingang freigelegt hat.«

Ich fand das Vertrauen der Psychologin in Zahlen und ihre Erklärung, warum der Turm auf den Karten fehlte, merkwürdig … zärtlich? Vielleicht wollte sie uns nur beschwichtigen, aber ich würde gerne glauben, sie versuchte auch, sich selbst zu beruhigen. Sie war in einer schwierigen Lage, sollte uns führen und wusste vielleicht mehr als wir, und das macht einsam.

»Ich hoffe, es geht nur bis knapp unter die Radieschen, und dann können wir mit dem Kartieren weitermachen«, sagte die Vermesserin und versuchte dabei fröhlich zu klingen, aber auch sie merkte gleich, wie die »Radieschen von unten ansehen« durch ihre Syntax geisterte und sich ein betretenes Schweigen breitmachte.

»Wisst ihr, ich glaube immer noch, dass wir es mit einem Turm zu tun haben«, gestand ich schließlich. »Ich kann da einfach keinen Tunnel sehen.« Mir schien es wichtig, diese Unterscheidung zu machen, bevor wir hinabstiegen, auch wenn sie deshalb vielleicht an meinem geistigen Zustand zweifelten. Für mich war das ein Turm, der in die Erde führte. Der Gedanke, dass wir hier auf seiner Spitze standen, machte mich leicht schwindelig.

Die drei starrten mich an, als wäre dieses merkwürdige Wehklagen in der Dämmerung von mir gekommen, und nach ein paar Augenblicken sagte die Psychologin widerwillig, »Wenn du dich damit besser fühlst, sollte das kein Problem sein.«

Wieder machte sich unter den Baumkronen Schweigen breit. Ein Käfer drehte seine Runden nach oben Richtung Äste und hinterließ eine Spur aus Staub. Ich glaube, in diesem Moment verstanden wir alle, dass wir erst jetzt wirklich in Area X angekommen waren.

»Ich gehe als Erste und schau mal, was es da unten gibt«, sagte die Vermesserin schließlich, und wir waren glücklich, uns ihr zu fügen.

Der Einstieg zum Treppenschacht fiel in einer Krümmung steil nach unten ab, und die Stufen waren so schmal, dass die Vermesserin rückwärts hineinging. Mit Stöcken befreiten wir den Eingang von den Spinnennetzen, während sie sich vor den Einstieg hockte. Sie wippte vor und zurück, die Waffe quer über den Rücken, und schaute uns an. Die Haare hatte sie sich zu einem Pferdeschwanz gebunden, was ihre Gesichtszüge streng und verhärmt wirken ließ. War das der Moment, in dem wir sie hätten aufhalten sollen? Einen anderen Plan entwickeln? Wenn ja, dann traute sich keine uns.

Mit einem schrägen Grinsen sah sie uns prüfend an, dann tauchte die Vermesserin hinab ins Dunkel, das schließlich nur noch ihr fahles Gesicht umrahmte und dann auch das nicht mehr. Die plötzliche Leerstelle schockierte mich so, als hätte sich eben das genau Gegenteil ereignet: als wäre plötzlich ein Gesicht im Dunkel sichtbar geworden. Ich schnappte nach Luft, was mir einen scharfen Blick der Psychologin einbrachte. Die Anthropologin bekam von all dem nichts mit, weil sie immer noch auf den Einstieg starrte.

»Ist alles in Ordnung?«, rief die Psychologin der Vermesserin hinterher. Vor ein paar Sekunden war noch alles in Ordnung gewesen. Warum sollte es jetzt anders sein?

Die Vermesserin antwortete mit einem scharfen Grunzen, als würde sie mir zustimmen. Noch ein paar Sekunden lang konnten wir hören, wie sie mit den schmalen Stufen kämpfte. Dann herrschte Stille, und dann andere Bewegungen, ein anderer Rhythmus, der sich einen schrecklichen Augenblick lang anhörte, als gäbe es eine zweite Geräuschquelle.

Aber schließlich drang die Stimme der Vermesserin zu uns hoch. »Bis zu diesem Stockwerk alles in Ordnung.« Dieses Stockwerk. Etwas in mir jubilierte, dass meine Vision eines Turms noch nicht widerlegt war.

Das war das Signal für die Anthropologin und mich, hinabzusteigen, während die Psychologin Wache hielt. »Dann los«, sagte die Psychologin mechanisch, als wären wir in der Schule und die Klasse würde hinausgeschickt.

Ein Gefühl durchfuhr mich, das ich nicht richtig deuten konnte, und einen Augenblick lang hatte ich schwarze Flecken vor den Augen. Ich folgte der Anthropologin so ungeduldig durch die Reste der Spinnweben und mumifizierten Insektenhüllen hinunter in die leicht salzige Kühle, dass ich fast über sie stolperte. Mein letztes Bild der Welt oben: Die Psychologin starrte leicht stirnrunzelnd auf mich hinab, und hinter ihr die Bäume, das strahlende Blau des Himmels fast blendend gegen die Dunkelheit des Treppenhauses.

Unter mir tanzten Schatten über die Wände. Es wurde deutlich kühler, und alle Geräusche schienen gedämpft, die weichen Stufen absorbierten unsere Schritte. Sie endeten etwa sechs Meter unter der Oberfläche, und es öffnete sich ein unteres Stockwerk. Die Deckenhöhe betrug etwa zweieinhalb Meter, das heißt, wir hatten gute drei Meter Stein über uns. Die Lampe des Sturmgewehrs der Vermesserin gab dem Raum Licht, aber sie stand von uns abgewandt und untersuchte die Wände, die grauweiß und bar jeglicher Verzierung waren. Ein paar Risse zeugten entweder von verstrichener Zeit oder plötzlichen Belastungen. Das Stockwerk hatte den gleichen Durchmesser wie die oberirdische Spitze, was noch einmal die Vorstellung eines massiven Gebäudes unterstützte, das im Boden vergraben war.

»Es geht weiter hinunter«, sagte die Vermesserin und deutete mit dem Gewehr auf das Stück Wand, das genau gegenüber der Stelle lag, an der wir dieses Stockwerk betreten hatten. Wir sahen einen runden Torbogen, dessen Schwärze weitere Treppenstufen erwarten ließ. Ein Turm, wodurch dieses Stockwerk eher zu einem Treppenabsatz oder zum Teil des Rondells wurde. Die Vermesserin ging auf den Torbogen zu, während ich weiterhin mit meiner Taschenlampe die Wände untersuchte. Ihre völlige Leere faszinierte mich. Ich versuchte, mir die Erbauer vorzustellen, aber ohne Erfolg.

Wieder fiel mir die Silhouette des Leuchtturms ein, so wie ich sie am späten Nachmittag unseres Tages im Basislager gesehen hatte. Wir nahmen an, dass das fragliche Gebäude ein Leuchtturm war, weil die Karten dort einen Leuchtturm verzeichneten, und weil jede von uns vor Augen hatte, wie ein Leuchtturm aussehen sollte. Die Vermesserin und die Anthropologin hatten sich sogar erleichtert gezeigt, als sie den Leuchtturm entdeckten. Dass er sowohl auf der Karte als auch ganz real auftauchte beruhigte sie, gab ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Und dass sie wussten, wofür er da war, beruhigte sie noch mehr.

Mit dem Turm war es das genaue Gegenteil. Wir konnten seine Konturen nicht mal erahnen. Wir hatten keine Vorstellung, welchem Zweck er diente. Und selbst jetzt, während wir dabei waren, in ihn hinabzusteigen, gab er uns immer noch keinen Fingerzeig. Die Psychologin mochte die Abmessungen der »Spitze« des Turms vortragen, aber die bedeuteten überhaupt nichts, hatten keinerlei Bezug. Und sich ohne Bezug an Zahlen zu klammern, war eine Art von Wahnsinn.

»Der Kreis ist völlig regelmäßig, auch hier innerhalb der Mauern, das Gebäude ist wohl mit großer Präzision errichtet worden«, sagte die Anthropologin. Das Gebäude. Sie hatte sich offenbar schon vor der Vorstellung eines Tunnels verabschiedet.

Die Gedanken kamen jetzt nur so aus mir herausgesprudelt, wie eine Entladung des Zustands, in dem ich mich an der Oberfläche befunden hatte. »Aber welchen Zweck hat es? Und ist es glaubwürdig, dass es auf der Karte fehlt? Kann es eine der früheren Expeditionen gebaut und dann versteckt haben?« Das alles fragte ich und noch mehr und erwartete keine Antwort. Obwohl sich bisher nichts Bedrohliches gezeigt hatte, schien es mir wichtig, erst gar kein Schweigen aufkommen zu lassen. Als würde die Leere der Wände die Stille irgendwie nähren und als könnte sich etwas in den Räumen zwischen unseren Worten breitmachen, wenn wir nicht aufpassten. Hätte ich meine Bedenken der Psychologin gegenüber geäußert, sie hätten ihr Angst gemacht, ich weiß. Aber ich war diejenige von uns, die die größte Erfahrung mit der Einöde hatte, und an dem Ort, an dem wir uns jetzt befanden, war Wachsamkeit geboten.

Ein Keuchen der Vermesserin unterbrach mich mitten im Satz, zweifellos zur Erleichterung der Anthropologin.

»Schaut mal!« Die Vermesserin leuchtete mit der Lampe in den Torbogen. Wir eilten zu ihr und griffen zu unseren Taschenlampen.

Das Treppenhaus führte tatsächlich nach unten, jetzt in einer sanften Kurve mit deutlich breiteren Stufen und noch immer alles aus dem gleichen Material. Etwa in ein Meter fünfzig Höhe, sah ich etwas an der Innenwand des Turms, das auf den ersten Blick wie glitzernde, grüne Ranken aussah, die sich nach unten in der Dunkelheit verloren. Mich überkam eine absurde Erinnerung an die Streifen Blumentapete im Badezimmer des Hauses, in dem ich mit meinem Ehemann gewohnt hatte. Aber als ich länger hinschaute fingen die »Ranken« an, aus der Wand herauszutreten und ich sah, dass sie Worte bildete, deren kursive Buchstaben etwa sechs Zentimeter hoch waren.

»Leuchtet weiter«, sagte ich und ging zwischen den beiden anderen die ersten Treppenstufen hinab. Wieder rauschte das Blut so in meinem Kopf, dass es in meinen Ohren dröhnte. Für diese paar Schritte bedurfte es höchster Konzentration. Ich weiß nicht, welcher Impuls mich vorwärtstrieb, aber schließlich war ich die Biologin und das hier sah mir merkwürdig organisch aus. Wäre die Linguistin bei uns gewesen, vielleicht hätte ich ihr den Vortritt gelassen.

»Fass es nicht an, was immer es auch ist«, warnte die Anthropologin.

Ich nickte, war aber viel zu begeistert von dieser Entdeckung. Selbst wenn ich keinen Impuls verspürt hätte, die Worte an der Wand zu berühren, wäre ich nicht in der Lage gewesen, mich zurückzuhalten.

Überraschte es mich, während ich näherkam, zu erkennen, in welcher Sprache die Worte geschrieben waren? Ja. Erfüllte es mich mit einer Mischung aus Euphorie und Grauen? Ja. Ich versuchte, die tausend Fragen, die sich tief in mir zusammenbrauten, zu unterdrücken. Mit einer Stimme, die so ruhig war, wie ich es eben hinbekam, und mir der Bedeutung des Augenblicks völlig bewusst fing ich laut an zu lesen: Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen die …

Der Rest verschwand im Dunkeln.

»Worte? Worte?«, fragte die Anthropologin.

Ja, Worte.

»Woraus bestehen sie?«, fragte die Vermesserin. Mussten sie aus irgendetwas bestehen?

Das Licht der beiden Taschenlampen zitterte und wackelte. Wo liegt die alles erstickende Frucht wurde in Licht und Schatten gebadet, als wäre eine Schlacht um ihre Bedeutung entbrannt.

»Ich brauche noch ein paar Sekunden. Ich muss näher ran.« Musste ich? Ja, ich musste.

Woraus bestehen sie?

Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, obwohl das zu meinen Aufgaben gehörte. Ich war noch immer dabei, die sprachliche Bedeutung zu analysieren, auf die Idee, eine Probe zu nehmen, war ich noch nicht gekommen. Aber die Frage war eine echte Erleichterung! Weil sie mich von dem Druck befreite, immer weiter und weiter zu lesen, tiefer und tiefer ins Dunkel einzudringen und alles zu lesen, was es dort zu lesen gab. Schon diese ersten Sätze hatten auf unerwarteten Wegen meinen Verstand unterwandert und waren auf fruchtbaren Boden gefallen.

So trat ich näher zur Wand und sah mir Wo liegt die alles erstickende Frucht genauer an. Ich erkannte, dass die Buchstaben, verbunden durch die kursive Form, für einen Laien wie aus einem kräftigen, farnartigen Moos gemacht schienen, tatsächlich aber wohl eher eine Pilzart oder andere eukaryotische Organismen waren. Die geringelten Fäden wuchsen eng nebeneinander aus der Wand. Von den Worten ging ein lehmiger Geruch aus, unter dem ein Hauch von faulendem Honig lag. Dieser winzige Wald wiegte sich fast unmerklich, wie Seegras in einer sanften Meeresströmung.

Aber in diesem Mini-Ökosystem gab es noch mehr. Die kleinen Wesen wurden von den grünen Fäden halb verdeckt, sie waren durchscheinend und hatten die Form winziger Hände, die in eine Art Handgelenk eingebettet waren. Winzig kleine Knöllchen überkronten die Finger dieser »Hände«. Wie ein Idiot beugte ich mich noch weiter vor, wie jemand, der nicht Monate mit Überlebenstraining verbracht, geschweige denn Biologie studiert hatte. Jemand, der mit einem Trick davon überzeugt worden war, dass Worte zum lesen da sind.

Hatte ich Pech – oder hatte ich Glück? Ausgelöst durch die Veränderung des Luftstroms nutzte ein Knöllchen im »W« den Moment, um aufzuplatzen und einen winzigen Strahl goldener Sporen auszustoßen. Ich zuckte zurück, hatte aber den Eindruck, dass etwas in meine Nase eingedrungen war, der Geruch nach faulendem Honig war eine Winzigkeit stärker geworden.

Nervös trat ich noch weiter zurück und fluchte mit dem umfangreichen Wortschatz der Vermesserin lautlos vor mich hin. Ich neige instinktiv dazu, Dinge zu verheimlichen. Außerdem fing ich schon an, mir die Reaktion der Psychologin auf meine Kontaminierung vorzustellen, sollte ich sie der Gruppe verraten.

»Eine Art Pilz«, sagte ich schließlich und atmete tief durch, um meine Stimme zu kontrollieren. »Die Buchstaben bestehen aus Fruchtkörpern.« Wer konnte schon wissen, ob das richtig war? Es war einfach die nächstliegende Antwort.

Meine Stimme muss ruhiger geklungen haben als meine Gedanken waren, denn ihre Reaktion ließ keine Zweifel erkennen. Kein Hinweis darauf, dass sie gesehen hatten, wie mir die Sporen ins Gesicht geflogen waren. So nah war ich dran gewesen. Die Sporen waren so winzig, so belanglos. Ich werde die Saat der Toten gebären.

»Worte? Aus Pilzen?«, kam es von der Vermesserin, ein albernes Echo meiner Annahme.

»Wir wissen von keiner menschlichen Sprache, die diese Form von Aufzeichnung pflegt«, sagte die Anthropologin. »Gibt es Tiere, die auf diese Art kommunizieren?«

Ich musste lachen. »Nein, kein Tier kommuniziert auf diese Art.« Zumindest fiel mir keines ein, weder jetzt noch später.

»Machst du Witze? Das ist ein Witz, oder?«, sagte die Vermesserin. Sie schien nahe dran zu sein, herunterzukommen und mir das Gegenteil zu beweisen, rührte sich aber nicht von der Stelle.

»Fruchtkörper«, antwortete ich, inzwischen fast wie in Trance. »Die Worte bilden.«

Ich war völlig ruhig geworden. Ein geradezu entgegengesetztes Gefühl, als könne ich nicht mehr atmen oder würde nicht atmen wollen, das eindeutig psychischer und nicht physischer Natur war. Physische Veränderungen waren mir nicht aufgefallen, und in bestimmter Hinsicht war es auch egal. Die Aussichten, dass wir im Lager ein Gegenmittel für etwas so Unbekanntes hatten, waren mehr als gering.

Mehr als alles andere setzten mich die Informationen, die ich zu verarbeiten suchte, außer Gefecht. Die Worte bestanden aus symbiotischen Fruchtkörpern einer mir unbekannten Spezies. Zweitens bedeuteten die Sporen auf den Worten, dass die Luft, je tiefer wir in den Turm vordrangen, um so stärker kontaminiert war. Gab es irgendeinen Grund, die anderen über etwas zu informieren, was sie nur ängstigen würde? Nein, entschied ich, vielleicht selbstsüchtig. Es war wichtiger, sicherzustellen, dass sie dem nicht direkt ausgesetzt wurden, nicht bevor wir mit der angemessenen Ausrüstung zurückkommen konnten. Wobei so vieles von biologischen und anderen Umweltfaktoren abhing, über die ich, da war ich mir zunehmend sicher, nur unzureichende Unterlagen hatte.

Ich ging die Treppenstufen hoch zum Absatz. Die Vermesserin und die Anthropologin schauten mich erwartungsvoll an, als ob ich ihnen noch mehr berichten könnte. Besonders die Anthropologin wirkte nervös; ihr Blick hetzte unablässig von einem zum anderen und fand nirgendwo Halt. Vielleicht hätte ich ein paar Informationen erfinden sollen, um ihre unentwegte Suche zu beenden. Aber was konnte ich ihnen schon über die Worte an der Mauer sagen, außer dass sie entweder unmöglich oder geistesgestört oder beides waren? Ich hätte Worte in einer unbekannten Sprache vorgezogen; in gewisser Weise wäre das Mysterium, das wir dann zu enträtseln hätten, kleiner gewesen.

»Wir sollten wieder hochgehen«, sagte ich. Ich hielt das nicht unbedingt für die beste Vorgehensweise, aber ich wollte vermeiden, dass sie länger den Sporen ausgesetzt waren, ohne genauer zu wissen, welche Wirkung sie möglicherweise auf mich hatten. Mir war auch klar, dass ich, sollte ich noch länger hier bleiben, vielleicht den Zwang verspüren würde, die Treppen wieder hinunterzugehen und den Worten zu folgen, und dass sie mich körperlich zurückhalten müssten und ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren würde.

Die beiden widersprachen nicht. Aber während wir nach oben stiegen, überkam mich ein kurzes Gefühl von Höhenangst, obwohl wir in einem völlig umschlossenen Raum waren, eine Art Panik für einen Augenblick, in dem die Mauern plötzlich aus Fleisch zu bestehen schienen und wir uns in der Speiseröhre eines wilden Tiers bewegten.

Als wir der Psychologin berichteten, was wir gesehen hatten und ich einige der Worte rezitierte, schien sie in einer merkwürdigen Aufmerksamkeit zu erstarren. Dann beschloss sie, hinabzusteigen und sich die Worte anzusehen. Ich war unschlüssig, ob ich sie davor warnen sollte. Schließlich sagte ich: »Schau sie dir nur vom Treppenabsatz an. Wir wissen nicht, ob es da irgendwelche Gifte gibt. Beim nächsten Mal sollten wir die Atemmasken mitbringen.« Die hatten wir immerhin von der letzten Expedition geerbt, in einer versiegelten Kiste.

»Paralyse ist keine überzeugende Analyse«, sagte sie und starrte mich fest an. Mich befiel eine Art Kribbeln, aber ich sagte nichts, tat auch nichts. Die anderen schienen nicht einmal mitbekommen zu haben, dass sie etwas gesagt hatte. Erst später wurde mit klar, dass die Psychologin versucht hatte, mich mittels einer hypnotischen Suggestion, die an niemand anderen als mich gerichtet war, ruhigzustellen.

Meine Reaktion bewegte sich offenbar innerhalb des von ihr erwarteten Musters, denn sie verschwand, während wir oben unruhig warteten. Was, wenn sie nicht zurückkommen würde? Eine Art Eifersucht überkam mich: Die Vorstellung, dass sie, wie ich, das Verlangen weiterzulesen spüren und entsprechend handeln würde, erregte mich. Und obwohl ich nicht wusste, was die Worte bedeuteten, wollte ich, dass sie einen Sinn ergaben, wollte ich mich so rasch wie möglich meiner Zweifel entledigen und all meine Beobachtungen wieder auf eine vernünftige Basis stellen. Diese Gedanken hielten mich davon ab, weiter über die Auswirkungen der Sporen auf meinen Organismus nachzudenken.

Glücklicherweise hatten die beiden anderen während wir warteten kein Bedürfnis zu reden. Nach nur fünfzehn Minuten bahnte sich die Psychologin ungelenk den Weg aus dem Treppenloch ans Licht und blinzelte, während sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten.

»Interessant«, sagte sie unaufgeregt, während sie sich vor uns aufbaute und die Spinnweben von ihrer Kleidung strich. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Sie schien noch etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber.

Was sie gesagt hatte grenzte an Schwachsinn; offenbar war ich nicht als Einzige dieser Meinung.

»Interessant?«, sagte die Anthropologin. »So etwas hat noch nie jemand während der gesamten bekannten Weltgeschichte gesehen. Niemand. Niemals. Und du nennst das interessant?« Sie schien kurz davor, sich in einen hysterischen Anfall hineinzusteigern. Während die Vermesserin die beiden bloß anstarrte, als wären sie die fremdartigen Organismen.

»Muss ich dafür sorgen, dass du dich beruhigst?«, fragte die Psychologin. Ihre Stimme hatte einen stählernen Ton angenommen, und die Anthropologin senkte den Kopf und murmelte irgendetwas Nichtssagendes.

Ich brach das Schweigen mit einem Vorschlag: »Wir brauchen Zeit, um darüber nachzudenken. Wir brauchen Zeit, um zu entscheiden, was wir als nächstes tun wollen.« Ich meinte natürlich, dass ICH Zeit brauchte um zu sehen, ob die inhalierten Sporen mich in einer Weise beeinflussen würden, die signifikant genug wäre, dass ich davon berichten musste.

»Vielleicht reicht dafür alle Zeit der Welt nicht aus«, sagte die Vermesserin. Ich glaube, von uns allen hatte sie am besten die Implikationen dessen begriffen, was wir gesehen hatten: dass wir von jetzt an vielleicht in einer Art Albtraum leben würden. Aber die Psychologin ignorierte sie und schlug sich auf meine Seite. »Wir brauchen tatsächlich Zeit. Wir sollten uns den Rest des Tages dem widmen, wozu wir hier hergeschickt worden sind.«

Wir kehrten also zum Lunch ins Lager zurück und konzentrierten uns dann auf den »Alltag«, während ich meinen Körper im Hinblick auf irgendwelche Veränderungen unter Beobachtung hielt. War mir jetzt zu kalt oder zu warm? Dieser Schmerz im Knie, kam der von einer alten Verletzung im Gelände, oder war das etwas Neues? Ich kontrollierte sogar das schwarze Kästchen, aber es blieb stumm. Bisher hatte sich bei mir noch nichts einschneidend verändert, und während wir unsere Proben nahmen und die nähere Umgebung des Lagers erkundeten – als würde ein zu weites Entfernen davon bedeuten, dass wir unter den Einfluss des Turms gerieten –, entspannte ich mich allmählich und sagte mir, dass die Sporen keine Wirkung gezeigt hatten – obwohl mir klar war, dass die Inkubationszeit für einige Arten Monate oder Jahre betragen konnte. Vermutlich dachte ich, dass ich zumindest für die nächsten Tage auf der sicheren Seite war.

Die Vermesserin konzentrierte sich darauf, die Karten, die unsere Vorgesetzten uns mitgegeben hatten, um Details und Kleinigkeiten zu ergänzen. Die Anthropologin zog los, um die Überreste einiger Hütten, die einen knappen halben Kilometer entfernt lagen, zu untersuchen. Die Psychologin blieb in ihrem Zelt und schrieb ihr Tagebuch. Vielleicht berichtete sie, dass sie nur von Idioten umgeben war, oder schilderte detailliert, was wir am Morgen entdeckt hatten.

Was mich angeht, so verbrachte ich eine Stunde damit, einen winzigen rotgrünen Laubfrosch zu beobachten, der auf einem breiten, dicken Blatt saß, und folgte eine weitere Stunde den Bahnen einer schillernden schwarzen Kleinlibelle, die es hier auf Meereshöhe nicht hätte geben dürfen. Den Rest der Zeit saß ich in einer Kiefer und hielt das Fernglas auf die Küste und den Leuchtturm gerichtet. Ich kletterte gern. Ich mochte auch das Meer, und den Blick darauf ruhen zu lassen, hatte eine besänftigende Wirkung. Die Luft war so sauber, so frisch, während die Welt auf der anderen Seite der Grenze so war, wie schon während der ganzen Moderne: schmutzig, langweilig, unvollkommen, ein Auslaufmodell. Dort hatte ich immer das Gefühl gehabt, dass meine Arbeit der vergebliche Versuch war, uns vor etwas zu bewahren, bei dem wir schon längst angekommen waren.

Die Vielfältigkeit der Biosphäre von Area X zeigte sich in ihrem Reichtum an Vogelarten, von der Grasmücke über den Specht bis hin zu Kormoran und Warzenibis. Ich konnte auch ein Stück weit in die Salzmarschen hineinsehen, und meine Aufmerksamkeit wurde mit einem minutenlangen Blick auf ein Otterpaar belohnt. Einmal schauten beide kurz auf, und ich hatte die merkwürdige Empfindung, dass sie sehen konnten, wie ich sie beobachtete. Es war ein Gefühl, das ich häufiger hatte, wenn ich draußen in der Wildnis war: dass die Dinge nicht so waren, wie sie erschienen, und ich musste gegen diese Empfindung ankämpfen, die meine Objektivität als Wissenschaftlerin in Frage gestellt hätte. Und noch etwas anderes gab es dort, das sich schwerfällig durch das Schilf bewegte, aber näher am Leuchtturm und völlig verdeckt. Ich konnte nicht erkennen, was es war, und nach einer Weile hörte das Hin und Her der Schilfpflanzen auf, und ich verlor es aus den Augen. Ich stellte mir vor, es könnte ein weiteres Wildschwein sein, denn Schweine können gut schwimmen, sind Allesfresser und können jedes Habitat besiedeln.

Als es dämmerte, hatte die Strategie, dass jeder sich mit seinen eigenen Sachen beschäftigt, gewirkt, jedenfalls hinsichtlich der Beruhigung unserer Nerven. Die Spannung hatte sich ein Stück weit gelöst, und beim Abendessen wurde sogar gescherzt. »Ich wünschte, ich würde wissen, was du denkst«, eröffnete mir die Anthropologin, und ich antwortete: »Nein, das wünschst du dir nicht«, was mit einem Gelächter quittiert wurde, das mich überraschte. Ich hatte keine Lust zu hören, was sie von mir hielten, und ihre eigenen Geschichten und Probleme interessierten mich nicht. Warum interessierten sie meine?

Aber es störte mich auch nicht, dass sich eine Art Kameradschaft zwischen uns zu entwickeln begann, auch wenn sie sich als kurzlebig erweisen sollte. Die Psychologin erlaubte uns allen ein paar Bier aus dem Alkoholschrank, die die Stimmung so auflockerten, dass ich mich sogar umständlich zu dem Vorschlag verstieg, dass wir nach Beendigung unserer Mission doch irgendwie in Kontakt bleiben könnten. Inzwischen hatte ich es aufgegeben, mich hinsichtlich physiologischer oder psychologischer Reaktionen auf die Sporen selbst zu kontrollieren und stellte fest, dass die Vermesserin und ich uns besser verstanden, als ich erwartet hatte. Die Anthropologin mochte ich immer noch nicht besonders, aber nur im Rahmen unserer Expedition, nicht wegen irgendwelcher Äußerungen in Bezug auf mich. So wie einige Sportler gut im Training, aber nicht so gut im Wettkampf sind, hatte sie meinem Gefühl nach einen Mangel an mentaler Widerstandsfähigkeit gezeigt, nachdem wir erst mal im Feld waren. Obwohl es schon etwas bedeutete, sich für so eine Mission überhaupt zu bewerben.

Als kurz nach Einbruch der Dunkelheit, während wir rund ums Feuer saßen, das brüllende Wehklagen aus den Marschen einsetzte, brüllten wir zunächst mit betrunkenem Überschwang zurück. Im Vergleich zu dem Turm schien uns das Tier aus den Marschen inzwischen ein alter Freund zu sein. Wir waren sicher, es irgendwann fotografieren zu können, sein Verhalten zu dokumentieren, ihm einen Namen zu geben und einen Platz in der Taxonomie der Lebewesen zuzuweisen. Dann wäre es uns auf eine Art vertraut, die wir beim Turm, so fürchteten wir, nie erreichen würden. Aber als das Wehklagen lauter und wütender wurde, als wüsste das Tier, das wir es verspotten wollten, stellten wir unser Gebrüll ein. Die ganze Runde lachte nervös, und die Psychologin begriff das als ihr Stichwort, um uns auf den nächsten Tag vorzubereiten.

»Morgen gehen wir zurück zum Tunnel. Wir werden tiefer vordringen, ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen – Atemmasken tragen, wie schon vorgeschlagen. Wir werden die Schrift an den Wänden dokumentieren und hoffentlich eine Vorstellung davon entwickeln können, wie alt sie ist. Vielleicht auch eine Vorstellung, wie tief der Tunnel hinabreicht. Nachmittags setzen wir dann unsere allgemeine Erkundung des Gebiets fort. Das ist unser täglicher Fahrplan, bis wir glauben, genug über den Tunnel zu wissen, und wie er sich zu Area X verhält.«

Turm, nicht Tunnel. Sie hätte auch von einem verlassenen Shoppingcenter reden können, das wir untersuchen sollten, mit soviel Nachdruck sprach sie … und doch klang alles wie auswendig gelernt.

Dann stand sie abrupt auf und sagte drei Worte: »Konsolidierung der Befehlsgewalt.«

Die Vermesserin und die Anthropologin, die neben mir saßen, sackten sofort in sich zusammen, die Augen wurden leer. Ich war schockiert, aber imitierte sie in der Hoffnung, dass die Psychologin die Verzögerung nicht bemerkt hatte. Ich empfand keinen Zwang, welcher Art auch immer, aber offensichtlich waren wir programmiert worden, bei diesen Worten der Psychologin in Hypnose zu verfallen.

Mit wesentlich bestimmteren Auftreten als eben noch sagte die Psychologin: »Ihr werdet in Erinnerung behalten, dass wir verschiedene Möglichkeiten betreffs des Tunnels diskutiert haben. Ihr werdet feststellen, dass ihr mir schließlich zugestimmt habt, was die beste Vorgehensweise in Sachen Tunnel ist, und ihr seid von dieser Vorgehensweise fest überzeugt. Wann immer ihr an diese Entscheidung denkt, wird euch ein Gefühl der Ruhe überkommen, und ihr werdet auch ruhig bleiben, wenn ihr wieder zurück im Tunnel seid, werdet aber auf alle Impulse wie im Training gelernt reagieren. Ihr werdet keine unangemessenen Risiken eingehen.

Ihr werdet weiterhin ein Gebäude aus Muschelkalk und Stein sehen. Ihr werdet euren Kolleginnen vollständig vertrauen und weiterhin ein Zusammengehörigkeitsgefühl spüren. Wenn ihr aus dem Gebäude zurückkehrt, werdet ihr jedes Mal, wenn ihr einen Vogel fliegen seht, ein starkes Gefühl empfinden, dass ihr das Richtige tut, dass ihr am richtigen Ort seid. Wenn ich mit den Fingern schnipse, werdet ihr euch an dieses Gespräch nicht erinnern, aber meine Direktiven befolgen. Ihr werdet sehr müde sein und in eure Zelte gehen, um vor den Aktionen des morgigen Tages tief und fest zu schlafen. Ihr werdet nicht träumen. Ihr werdet keine Albträume haben.«

Während all dieser Worte starrte ich vor mich hin, und als sie mit den Fingern schnipste, machte ich nach, was die beiden anderen machten. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Psychologin misstrauisch wurde, und ging in mein Zelt, wie die beiden anderen in ihre Zelte gingen.

Jetzt hatte ich weitere Fakten zu verarbeiten, nicht nur den Turm. Wir wussten, dass es zu den Aufgaben der Psychologin gehörte, in einer möglichen Stresssituation für Gelassenheit und Ruhe zu sorgen, und das zu dieser Rolle Anweisungen per Hypnose gehörten. Ich konnte ihr nicht vorwerfen, dass sie ihre Rolle ausfüllte. Aber dass es so offen vor meinen Augen passierte, machte mir Angst. Es ist eine Sache, dass man damit rechnen muss, Befehle per Hypnose zu bekommen, aber eine andere, es als Beobachter zu erleben. Bis zu welchem Grad konnte sie uns so kontrollieren? Was meinte sie wohl, als sie sagte, wir sollten weiterhin glauben, der Turm würde aus Muschelkalk und Stein bestehen?

Aber am Wichtigsten war, dass ich bei mir inzwischen zumindest eine Wirkung der Sporen erahnen konnte: sie hatten mich immun gegen die hypnotischen Befehle der Psychologin gemacht. Ich war zu einer Art Verschwörerin gegen die Psychologin geworden. Auch wenn ihre Absichten gutartig waren, durchfuhr mich bei dem Gedanken, ihr meine Resistenz gegen die Hypnose zu beichten, ein Angstschauer – besonders da es bedeutete, dass jegliche unterschwellige Konditionierung, die wir während der Ausbildung erfahren hatten, bei mir weniger und weniger wirkte.

Ich hatte nun zwei Geheimnisse zu hüten, was hieß, dass ich mich stetig und unwiderruflich von der Expedition und ihrem Zweck entfremdete.

Entfremdung in jeder möglichen Form war nichts Neues bei diesen Missionen. Wenn man, wie wir, die Videos der Gespräche mit den Mitgliedern der elften Expedition nach deren Rückkehr gesehen hatte, war das unschwer zu begreifen. Nachdem man herausgefunden hatte, dass diese Menschen in ihr vorheriges Leben zurückgekehrt waren, wurden sie unter Quarantäne gestellt und nach ihren Erfahrungen befragt. In den meisten Fällen hatten vernünftigerweise Familienmitglieder die Behörden informiert, da sie die Rückkehr ihrer Angehörigen überraschend oder beängstigend fanden. Unsere Vorgesetzten hatte alle schriftlichen Unterlagen, die die Rückkehrer bei sich trugen, konfisziert und ausgewertet. Auch diese Informationen wurden uns zugänglich gemacht.

Die Befragungen gestalteten sich recht kurz, und alle acht Expeditionsteilnehmer erzählten die gleiche Geschichte: Keiner hatte in Area X ungewöhnliche Phänomene registriert, keine ungewöhnlichen Werte gemessen oder von ungewöhnlichen internen Konflikten berichtet. Aber nach einer gewissen Zeit hatte jeder ein intensives Verlangen verspürt, nach Hause zurückzukehren, und einer nach dem anderen war losgezogen. Keiner von ihnen konnte erklären, wie er zurück über die Grenze gekommen oder warum er direkt nach Hause gegangen war, ohne seinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Einer nach dem anderen hatte schlicht die Expedition abgebrochen, sein Tagebuch zurückgelassen und war nach Hause zurückgekehrt. Irgendwie.

Während der Befragungen war ihre Ausdrucksweise freundlich und ihr Blick offen. Wenn ihre Wortwahl ein wenig flach erschien, lag das wohl an einer generellen Gelassenheit, einem fast traumähnlichen Auftreten, das sie alle mit zurückgebracht hatten – sogar der gedrungene, sehnige Mann, der als Militärexperte der Expedition fungiert hatte, ein Mensch mit einer einst lebhaften und tatkräftigen Persönlichkeit. Was Gemütsregungen betrifft, hätte ich die acht nicht auseinanderhalten können. Ich hatte den Eindruck, dass sie die Welt jetzt wie durch einen Schleier betrachteten, dass sie mit ihren Befragern über einen riesigen Abgrund aus Zeit und Raum hinweg sprachen.

Die schriftlichen Unterlagen bestanden aus Zeichnungen von Area X oder kurzen Beschreibungen der Landschaft. Einige waren Tier-Cartoons oder Karikaturen der Expeditionsteilnehmer. Ein jeder von ihnen hatte wenigsten ein Mal über den Leuchtturm geschrieben oder ihn gezeichnet. In diesen Aufzeichnungen nach verborgenen Bedeutungen zu suchen, war das Gleiche, wie in der uns umgebenden Natur nach verborgenen Bedeutungen zu suchen. Falls solche existierten, dann manifestierten sie sich zunächst einmal im Auge des Betrachters.

Damals wollte ich nur noch vergessen und suchte in diesen leeren, unpersönlichen Gesichtern, sogar in einem mir nur allzu schmerzhaft vertrauten, eine Art von ungefährlichem Ausweg. Einen Tod, der bedeutete, nicht zu sterben.

2

 

INTEGRATION

 

Am Morgen erwachte ich mit derart geschärften Sinnen, dass mir sogar die grobe braune Borke der Kiefern oder das gewöhnliche Hämmern eines Spechts wie eine kleine Offenbarung vorkamen. Die lange anhaltende Mattigkeit nach dem fünftägigen Fußmarsch zum Basislager war verschwunden. War das ein Nebeneffekt der Sporen oder der tiefe Schlaf? Ich fühlte mich so erfrischt, dass es mir egal war.

Aber meine Hochstimmung wurde schnell durch eine schreckliche Neuigkeit gedämpft. Die Anthropologin war verschwunden, und mit ihr alles Persönliche aus ihrem Zelt. Das Schlimmste aber war meiner Meinung nach, dass die Psychologin aufgewühlt schien und scheinbar kaum geschlafen hatte. Sie kniff die Augen zusammen, das Haar war zerzaust. Die Sohlen ihrer Stiefel waren dreckverkrustet. Sie agierte nur mit der rechten Körperseite, als wäre sie verwundet.

»Wo ist die Anthropologin?«, wollte die Vermesserin wissen, während ich mich zurückhielt und versuchte, mir meinen eigenen Reim zu machen. Was hast du mit der Anthropologin gemacht? Das war meine unausgesprochene Frage, und ich wusste, dass sie unfair war. Die Psychologin hatte sich nicht groß verändert, sie war wie vorher; dass ich das Geheimnis ihrer Zaubertricks kannte, hieß nicht, dass sie eine Bedrohung war.

Die Psychologin trat unserer wachsenden Panik mit einer merkwürdigen Erklärung entgegen. »Ich habe gestern spät Abend mit ihr gesprochen. Was sie da in diesem … Gebäude … sah, hat sie so nervös gemacht, dass sie die Expedition nicht fortsetzen wollte. Sie hat sich auf den Rückweg gemacht. Sie hat einen vorläufigen Bericht dabei, so dass unserer Vorgesetzten wissen, wie weit wir gekommen sind.« Für ihre Angewohnheit immer im falschen Augenblick ein schmales Lächeln aufzusetzen, hätte ich sie ohrfeigen können.

»Aber sie hat ihre Ausrüstung hiergelassen – auch ihre Waffe«, sagte die Vermesserin.

»Sie hat nur mitgenommen, was sie braucht, damit wir mehr haben – auch eine weitere Waffe.«