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Jeff VanderMeer

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Beschreibung

Seit ein mysteröses 'Ereignis' vor mehr als dreißig Jahren das Gebiet erschütterte, ist Area X von einer unsichtbaren Grenze umgeben. Niemand weiß genau, was dahinter geschieht, aber es gibt Gerüchte von einer sich verändernden und die Reste der menschlichen Zivilisation überwuchernden Natur, einer Natur, die ebenso makellos und bezaubernd wie verstörend und bedrohlich ist. Zuständig für das Gebiet ist eine geheime Regierungsorganisation, die sich 'Southern Reach' nennt und den Auftrag hat, herauszufinden, was hinter der Grenze geschieht. Aber keine der Expeditionen, die 'Southern Reach' in das Gebiet entsandte, um Erklärungen für das Unerklärbare zu finden, hatte bisher Erfolg. Die meisten der Expeditionen endeten in Katastrophen, bei denen letztlich alle Mitglieder ums Leben kamen, und die Zeit, um Antworten zu finden, wird knapp, denn Area X scheint sich immer schneller auszudehnen. Es ist Winter, und eine weitere Expedition übertritt die Grenze zu Area X. Während sie, auf der Suche nach einem verschollenen Mitglied einer früheren Expedition, tiefer ins Unbekannte vordringt und mit neuen Herausforderungen konfrontiert wird, nimmt die Bedrohung der Außenwelt durch Area X immer beängstigendere Ausmaße an. Die Geheimnisse von Area X mögen zwar gelüftet worden sein, doch ihre Implikationen und Konsequenzen sind abgrundtief erschreckend.

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Seitenzahl: 445

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JEFF VANDERMEER

AKZEPTANZ

Band 3 derSouthern-Reach-Trilogie

Aus dem Englischen vonMichael Kellner

Verlag Antje Kunstmann

Für Ann

000X – DIE DIREKTORIN

Gleich hinter dir, aber doch außer Reichweite: das Rauschen und Schäumen der Brandung, der scharfe Atem der See, das Hin und Her der Möwen, ihr jähes, schrilles Kreischen. Ein gewöhnlicher Tag in Area X, ein außergewöhnlicher Tag – der Tag, an dem du stirbst –, und du liegst einfach da, halb aufgerichtet auf einem Haufen Sand, im Schutz eines bröckelnden Walls. Die warme Sonne auf deinem Gesicht, und der schwindelerregende Blick auf den Leuchtturm, der in seinem eigenen Schatten hoch über dir aufragt. Der Himmel ein überwältigendes blaues Gefängnis, sonst nichts. Auf der Wunde an deiner Stirn klebt glitzernder Sand; aus deinem Mund tropft ein kehliges, streng riechendes Irgendwas.

Du bist wie betäubt und fühlst dich zerstört, aber in das Bedauern mischt sich eine merkwürdige Erleichterung: So weit musstest du gehen, um jetzt hier zu enden, ohne zu wissen, wie es ausgehen wird, und trotzdem … zu ruhen. Zur Ruhe zu kommen. Endgültig. All deine Pläne in Southern Reach, die quälende und ständige Angst vor dem Scheitern oder Schlimmerem, dem Preis, den man zahlt … all das sickert jetzt in grieseligen roten Perlen aus dir heraus in den Sand.

Die Landschaft bricht in Wellen über dich herein, schwappt von hinten über dich, um dich anzustarren; hier und da lodert sie auf, wabert oder zieht sich auf Stecknadelkopfgröße zusammen, um dann wieder ins Blickfeld zu rücken. Auch dein Gehör ist nicht mehr das, was es mal war – hat wie dein Gleichgewichtssinn nachgelassen. Und dennoch bemerkst du nun etwas völlig Unmögliches: Aus der Landschaft erheben sich wie von Zauberhand eine Stimme und ein paar Augen, die dich anschauen. Das Flüstern klingt vertraut: Hast du dein Haus bestellt? Aber wer immer das sein mag, denkst du, es kann nur ein Fremder sein, und ignorierst es, denn was immer da bei dir anklopft, du magst es nicht.

Viel schlimmer ist das Pochen in deiner Schulter von der Begegnung im Turm. Die Wunde hat dich getäuscht, betrogen, führte dazu, dass du hinaus in die lodernde blaue Weite gesprungen bist, obwohl du es gar nicht wolltest. Irgendeine Verbindung zwischen der Wunde und der Flamme, die durch das Röhricht Richtung Leuchtturm tanzte, hat das ausgelöst und deine Souveränität untergraben. Dein Haus war niemals weniger bestellt, und doch bist du sicher, dass irgendetwas anderes zurückbleibt, wenn in ein paar Minuten Was-auch-immer dich verlassen wird. In Himmel, Erde, Wasser aufzugehen ist hier keine Garantie dafür, tot zu sein.

Ein Schatten schiebt sich unter den Schatten des Leuchtturms.

Gleich darauf ein Knirschen von Stiefeln, und völlig von Sinnen schreist du: »Auslöschung! Auslöschung!«, versuchst dich aufzurichten, bis du begreifst, dass dieses Gespenst, das da vor dir kniet, die einzige Person ist, die immun gegen Hypnosebefehle ist.

»Ich bin’s bloß, die Biologin.«

Bloß du. Bloß die Biologin. Bloß deine aufsässige Geheimwaffe, mit der du die Wälle von Area X attackieren wolltest.

Sie stützt dich, presst eine Wasserflasche an deinen Mund, wischt Blut weg, das du ausgehustet hast.

»Wo ist die Vermesserin?«, fragst du.

»Im Basislager«, antwortet sie.

»Wollte nicht mir dir kommen?« Angst vor der Biologin, Angst vor der weiter um sich greifenden Flamme, wie bei dir. »Eine Flamme, die über die Salzmarschen waberte und durch das zerstörte Dorf. Eine lodernde Flamme, ein Irrlicht, das durch die Marschen und über die Dünen treibt, weiter und weiter, etwas Nicht-menschliches, aber frei und dahintreibend.« Ein Hypnosebefehl, der sie beruhigen soll, auch wenn er nicht mehr Wirkung auf sie hat als ein Kinderreim.

Das Gespräch geht weiter und du merkst, wie du schwächer wirst, den Überblick verlierst. Du sagst Dinge, die du so nicht meinst, versuchst, du selbst zu bleiben – jedenfalls die Person, die die Biologin kennt, das Konstrukt, das du für sie aufgebaut hast. Vielleicht solltest du dir keine Gedanken mehr darum machen, aber eine Rolle gibt es immer noch zu spielen.

Sie macht dir Vorwürfe, doch das kannst du ihr nicht verdenken. »Es war ein Desaster, das du selbst mit angerichtet hast. Du bist in Panik verfallen und hast aufgegeben.« Stimmt nicht – ich habe nie aufgegeben –, aber du nickst trotzdem, angesichts so vieler Fehler. »Habe ich. Habe ich. Ich hätte früher bemerken sollen, dass du dich verändert hattest.« Stimmt. »Ich hätte dich zurück zur Grenze schicken sollen.« Stimmt nicht. »Ich hätte nicht mit der Anthropologin da hinuntergehen sollen.« Stimmt nicht, eigentlich. Aber du hattest keine Wahl, nachdem sie sich aus dem Basislager gestohlen hatte, fest entschlossen, sich selbst Gewissheit zu verschaffen.

Du hustest mehr Blut aus, aber inzwischen spielt das keine Rolle mehr.

»Wie sieht die Grenze aus?« Eine kindische Frage. Eine Frage, deren Antwort bedeutungslos ist. Es gibt überhaupt nur Grenze. Es gibt keine Grenze.

Ich werd’s dir sagen, wenn ich dort bin.

»Was passiert wirklich, wenn wir sie überqueren?«

Nicht das, was du dir vielleicht vorstellst.

»Was hast du uns über Area X verschwiegen?«

Nichts, was dir wirklich weitergeholfen hätte. Nicht wirklich.

Die Sonne ist nur noch ein schwacher Lichthof ohne Zentrum, und die Stimme der Biologin wird schrill und dann leise, der Sand in deiner geballten Faust ist kalt und heiß zugleich. Die Schmerzen kommen jetzt stoßweise alle paar Sekunden und sind so überwältigend, dass sie schon fast verschwunden zu sein scheinen.

Schließlich merkst du, dass du nicht mehr sprechen kannst. Aber du bist immer noch da, schwach und abwesend, als wärst du ein Kind auf einer Decke an diesem Strand, das einen Hut über die Augen gezogen hat. Das ständige Rollen der Brandung und der Wind von See, der über dich streicht und die Hitze erträglich macht, lassen dich schläfrig werden. Das Gefühl des Windes in deinem Haar ist so fern, als zerzauste er die Gräser auf einem kopfförmigen Felsbrocken.

»Es tut mir leid, aber ich muss das tun«, stellt die Biologin fest, so als würde sie wissen, dass du sie noch immer hören kannst. »Ich habe keine andere Wahl.«

Du fühlst, wie etwas über deine Haut gezogen wird, den kurzen Schnitt, mit dem die Biologin eine Probe der infizierten Schulter nimmt. Wie aus riesiger und unüberbrückbarer Entfernung spürst du ihre Hände, die deine Jackentaschen durchsuchen und vorsichtig den Körper abtasten. Sie findet die versteckte Pistole an der Wade. Sie findet dein Tagebuch. Sie findet den gefühlsduseligen Brief. Was wird sie damit anfangen? Vielleicht wirft sie den Brief ins Meer und die Pistole hinterher. Vielleicht verschwendet sie den Rest ihres Lebens damit, dein Journal zu lesen.

Sie redet immer noch.

»Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Ich bin wütend. Du hast uns hierhergebracht, und du hattest die Möglichkeit mir zu sagen, was du weißt, und hast nichts erzählt. Du wolltest nicht. Ich sollte wohl sagen, ruhe in Frieden, aber das wirst du kaum.«

Und dann ist sie weg, und du vermisst sie, die Präsenz eines menschlichen Körpers an deiner Seite, die perverse Wohltat ihrer Worte, aber du vermisst sie nicht lange, weil du immer schwächer wirst, widerwillig in dieser Landschaft aufgehst wie ein Geist, und aus weiter Ferne hörst du undeutlich eine zarte Musik, und dann ist das Flüstern von vorhin wieder da, und dann löst du dich in den Wind hinein auf. Etwas sehr Fremdartiges hat sich deiner bemächtigt, das man leicht mit den Molekülen der Luft verwechseln könnte, wenn es nicht doch irgendwie handfester wäre, entschlossener. Fröhlicher.

Nach oben über die Seen gezogen, hoch über den Marschen aufsteigend, ein grün glänzendes flackerndes Spiegelbild, das vor dem Meer und dem Strand in der Spätnachmittagssonne leuchtet … nur um gleich landeinwärts zu den Zypressen und den schwarzen Gewässern zu kreiseln und zu drehen. Dann wieder scharf hoch hinauf in den Himmel trudelnd und taumelnd Richtung Sonne, bevor der freie Fall einsetzt, jetzt der Erde zugewandt, die rasend schnell näher kommt, mit weiten Schwingen über dem kurzen Aufblitzen sanft wogenden Röhrichts. Fast erwartest du, Lowry dort zu sehen, versehrter Überlebender der weit zurückliegenden ersten Expedition, wie er der Sicherheit der Grenze entgegenkriecht. Aber da ist nur die Biologin, die in zunehmender Dunkelheit auf dem Pfad zurückläuft … und vor ihr wartet, wimmernd vor Pein, der mutierte Psychologe der letzten elften Expedition. Dein Fehler ebenso wie eines jeden anderen, dein Fehler, und unabänderlich. Unentschuldbar.

Der Leuchtturm nähert sich rasch, während du eine weite Kurve beschreibst. Die Luft bebt, während sie an den Flanken des Turms entweicht und sich dann neu sammelt, fragend, drängend, sich hoch aufschwingt, nur um wieder herabzustürzen, und schließlich wie ein Fragezeichen kreiselt und du Zeuge deiner eigenen rituellen Opferung wirst: ein zusammengesunkener Schatten, der Licht verströmt. Was für eine traurige Gestalt, die dort schläft, vergeht. Eine grüne Flamme, ein Zeichen der Pein, eine Chance. Immer noch auf dem Höhenflug? Noch im Sterben oder schon tot? Du kannst es nicht mehr sagen.

Aber das Flüstern ist noch nicht fertig mit dir.

Du bist nicht dort unten.

Du bist hier oben.

Und das Verhör geht immer weiter.

Ein Verhör, das so lange geführt wird, bis du jede Antwort gegeben hast.

TEIL I

RICHTFEUER

0001: DER LEUCHTTURMWÄRTER

Den Linsenapparat überholt und die Linsen geputzt. Die Wasserpumpe im Garten repariert. Kleine Reparatur am Tor. Werkzeuge und Schaufeln etc. im Schuppen geordnet. Besuch vom SSB. Muss Farbe für die Bake anfordern – das Schwarz ist seeseitig erodiert. Brauche auch Nägel und muss die westliche Sirene überprüfen. Gesichtet: Pelikane, Sumpfhühner, eine Art Grasmücke, zahllose Stärlinge, Sanderlinge, eine Königsseeschwalbe, Fischadler, Spechte, Kormorane, Drosseln, Zwergklapperschlange (am Zaun – nicht vergessen), ein oder zwei Kaninchen, Weißwedelhirsch und kurz vor Morgengrauen auf dem Weg das ein oder andere Gürteltier.

An diesem Wintermorgen zerrte ein kalter Wind am Kragen von Saul Evans’ Mantel, während er den Pfad zum Leuchtturm entlangstapfte. In der letzten Nacht hatte es gestürmt, und vor ihm und zur Linken sah er durch raschelndes und knisterndes Plattährengras das aufgewühlte und graue Meer unter einem mattblauen Himmel. Treibholz und Flaschen, verwaschene weiße Bojen und einen toten Hammerhai hatte es im Nachhinein an den Strand gespült, eingewickelt in Seegrasknoten; aber weder hier noch im Dorf waren echte Schäden entstanden.

Seine Füße streiften Brombeerranken und die dicken grauen Disteln, die im Frühjahr und Sommer purpurn erblühten. Schwärme von Stärlingen drückten die dünnen Zweige der Bäume zur Erde, flogen panisch auf, wenn er näher kam, und versammelten sich erneut zu schwatzhaften Gemeinschaften, sobald er vorüber war. In der frischen Salzluft schwang ein Hauch Feuer mit: entweder aus einem der nahegelegenen Häuser oder von einem noch glimmenden Lagerfeuer.

Saul hatte schon vier Jahre im Leuchtturm gewohnt, als er Charlie kennenlernte. Er wohnte noch immer dort, aber letzte Nacht war er im Dorf geblieben, das nicht weit entfernt lag, in Charlies Häuschen. Das war etwas Neues gewesen, das hatten sie so nicht vereinbart, aber als er gerade seine Sachen wieder anziehen und gehen wollte, hatte Charlie ihn zurück ins Bett gezogen. Saul hatte nichts dagegen gehabt, nur etwas unbeholfen gelächelt.

Charlie rührte sich kaum, als Saul aufstand, sich anzog und Eier zum Frühstück machte. Er hinterließ für Charlie eine großzügige Portion samt Orangenschnitz, stellte eine Schüssel darüber, um sie warm zu halten, und legte einen Zettel neben den Toaster; das Brot steckte bereits drin. Beim Gehen warf er noch einmal einen Blick zurück auf den Mann, der dort auf dem Rücken lag und von den Laken nur halb bedeckt wurde. Charlie war schon fast vierzig, hatte aber den durchtrainierten, muskulösen Oberkörper, die breiten Schultern und stämmigen Beine eines Mannes, der einen großen Teil seines Erwachsenenlebens auf Booten verbracht und Netze eingeholt hatte; sein flacher Bauch war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er nicht zu viele Nächte durchzechte.

Die Tür fiel leise ins Schloss, und sobald er ein paar Schritte gemacht hatte, fing er an, wie ein Idiot gegen den Wind zu pfeifen – dankte dem Gott, der ihn schlussendlich doch glücklich gemacht hatte, wenn auch verspätet und auf so unerwartete Art. Manche Dinge widerfuhren einem erst spät, aber besser spät als nie.

Nicht lange, und der Leuchtturm ragte massig und hoch über ihm auf. Tagsüber fungierte er als Bake, als Navigationshilfe für die Boote in den Untiefen, aber die Hälfte der Woche leuchtete er die Nacht hindurch, entsprechend den Fahrplänen der Handelsschiffe weiter draußen auf See. Er kannte jede Treppenstufe, jeden Raum im Inneren der Natur- und Backsteinmauern, jeden Riss in den Wänden.

Das atemberaubende Leuchtfeuer auf der Spitze war einzigartig, und er hatte Hunderte von Möglichkeiten, das Licht zu justieren. Eine Fresnellinse erster Kategorie, über ein Jahrhundert alt.

Als er noch Priester war, glaubte er seinen Frieden gefunden zu haben, seine Berufung, aber erst nachdem er das alles aufgab und ins Exil ging, hatte Saul wirklich das gefunden, wonach er suchte. Er hatte ein gutes Jahr gebraucht, um das zu verstehen: Beim Predigen hatte er etwas nach außen projiziert, hatte sich der Welt aufgedrängt, und die Welt hatte auf ihn zurückprojiziert. Aber sich um den Leuchtturm zu kümmern bedeutete, nach Innen zu schauen, und das fühlte sich weniger anmaßend an. Hier ging es nur um das Praktische, das, was er von seinem Vorgänger gelernt hatte: die Pflege der Linse, das akkurate Funktionieren von Ventilator und Linsen-Verschlussklappe, wie man die Anlage in Ordnung hält, wie man all das repariert, was kaputtgeht – die alltäglichen Arbeiten. Jeder Teil dieser Routine war ihm willkommen, er genoss es, keine Zeit zu haben, über die Vergangenheit nachdenken zu müssen, und deshalb machten ihm die gelegentlichen Überstunden auch nichts aus – besonders jetzt, wo er immer noch Charlies Umarmungen spürte.

Aber dieses Gefühl schwand schnell, als er sah, wer ihn auf dem Schotterparkplatz erwartete, der wie das ganze Gelände von einem makellosen weißen Zaun eingefasst wurde. Der ramponierte Kombi war ihm, wie auch die beiden Adepten der Séance-&-Science-Brigade, nur allzu bekannt. Sie hatten sich wieder herangeschlichen, um seine gute Stimmung zu ruinieren, und sogar schon ihre Ausrüstung neben dem Wagen gestapelt – sie konnten es offenbar kaum erwarten, loszulegen. Er winkte ihnen von Weitem halbherzig zu.

Inzwischen waren sie ständig hier, führten Messungen durch und fotografierten, fütterten ihre sperrigen Tonbandgeräte mit Berichten, drehten ihre dilettantischen Filme. Auf der Suche nach … was? Er kannte die Geschichte der hiesigen Küste, wusste, wie durch Abgeschiedenheit und Stille das Profane überhöht wurde. Wie durch diese Orte und den Nebel und die leeren Strände die Gedanken sich dem Unheimlichen zuwandten und anfingen, aus nichts eine Geschichte zu machen.

Saul ließ sich Zeit, weil sie ihn langweilten und inzwischen ziemlich berechenbar waren. Sie waren zu zweit unterwegs, der eine für die Séance, der andere für die Wissenschaft zuständig, und er fragte sich manchmal, was sie wohl wie miteinander besprachen – voller innerer Widersprüche, genau wie er zum Ende seiner Predigerzeit, als die Diskussionen in seinem Kopf nicht verstummen wollten. Zuletzt waren immer dieselben gekommen: ein Mann und eine Frau, beide Mitte zwanzig, obwohl sie ihm manchmal wie Teenager vorkamen, ein Junge und ein Mädchen, die von zu Hause mit einem Chemiebaukasten und einem Ouija-Board unterm Arm ausgerissen waren.

Henry und Suzanne. Saul hatte angenommen, dass die Frau für den Aberglauben zuständig war, aber sie stellte sich als die Wissenschaftlerin heraus – welches Fach wohl? –, während er sich der Erforschung des Unheimlichen widmete. Henry sprach mit einem leichten Akzent, den Saul nicht zuordnen konnte, der aber alles, was er sagte, mit Bedeutsamkeit und Autorität auflud. Er war untersetzt und so glatt rasiert, wie Saul bärtig war; er hatte dunkle Schatten unter den blassblauen Augen und trug das schwarze Haar in einem Topfschnitt, der die ungewöhnlich hohe und zumeist bleiche Stirn verdeckte. Weltliche Dinge wie die winterliche Jahreszeit schienen Henry nicht zu interessieren, denn er trug immer die gleiche Kombination von zartblauem Button-down-Hemd und Anzughose. Die glänzenden schwarzen Stiefeletten mit Reißverschluss waren mehr für die Straßen der Stadt als fürs Gelände gemacht.

Suzanne schien mehr ein »Hippie« zu sein, wie die Leute das heutzutage nannten, aber zu Sauls Jugendzeiten hätten sie wohl eher von Kommunisten oder Zigeunern gesprochen. Sie hatte blonde Haare und trug eine bestickte, weiße Bauernbluse sowie einen braunen Wildlederrock, der ihr über die Knie und fast bis zu den wadenhohen braunen Stiefel reichte. Frauen wie sie waren ab und zu mal bei seinen Predigten aufgetaucht – verlorene Gestalten, die nur in ihrem eigenen Kopf lebten und auf etwas warteten, das sie erleuchtete. Sie wirkte zerbrechlich, was sie wie eine Art Schwester von Henry erscheinen ließ.

Keiner von beiden hatten ihm einen Nachnamen verraten, obwohl einer von ihnen mal etwas von »Serum-Liste« gesagt hatte, was aber keinen Sinn ergab. Wenn Saul ehrlich war, wollte er sie auch nicht näher kennenlernen und nannte sie hinter ihrem Rücken »die Fliegen-Brigade«, wie von »Fliegengewicht«.

Als Saul schließlich vor ihnen stand, begrüßte er sie mit einem knurrigen ›Hallo‹, und wie häufig benahmen sich die beiden, als sei er ein Angestellter im Lebensmittelladen des Dorfes und der Leuchtturm eine öffentliche Einrichtung, die Dienstleistungen anbot. Ohne die Genehmigung der Parkverwaltung hätte er ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen.

»Saul, warum sehen Sie so unglücklich drein, wo doch ein so schöner Tag ist«, sagte Henry.

»Saul, es ist wirklich ein so schöner Tag«, ergänzte Suzanne.

Er rang sich ein Nicken und ein mürrisches Lächeln ab, was beide in Lachkrämpfe verfallen ließ, die er ignorierte.

Aber sie redeten weiter auf ihn ein, während er die Tür aufschloss. Sie wollten immer reden, obwohl er es lieber gesehen hätte, wenn sie sich einfach um ihre Sachen gekümmert hätten. Dieses Mal ging es um etwas, das sie »nekromantische Dopplung« nannten, um den Bau eines dunklen Raums voller Spiegel, soweit er verstand. Es war ein merkwürdiger Begriff und er hörte über ihre Erklärungen hinweg, konnte keine Verbindung mit dem Leuchtfeuer oder seinem Leben im Leuchtturm erkennen.

Die Leute hier waren nicht dumm, aber sie waren abergläubisch, und angesichts des zuweilen menschenfressenden Meers konnte man ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Ein Glücksbringer an einer Halskette konnte ebenso wenig Schaden anrichten wie ein paar Gebete für die Sicherheit eines geliebten Menschen. Jeder, der von außen kam und nach Erklärungen suchte, die Dinge »analysieren und untersuchen« wollte, wie Suzanne es ausgedrückt hatte, stieß die Leute ab, denn er trivialisierte alle zukünftigen Tragödien. Aber so wie man sich an diese nervigen Ratten der Lüfte gewöhnte, die Möwen, so gewöhnte man sich nach einer Weile auch an die »Brigade«. An besonders eintönigen Tagen freute er sich beinahe über ihre Anwesenheit. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?

»Henry glaubt, dass das Leuchtfeuer so ziemlich wie ein nekromantischer Raum funktionieren könnte«, sagte Suzanne, als wäre das eine bedeutende und verblüffende Erkenntnis. Ihr Enthusiasmus schien ihm sowohl ernst gemeint und authentisch als auch leichtfertig und amateurhaft. Manchmal erinnerten ihn die beiden an reisende Prediger, die ihre Zelte an den Rändern kleiner Städte aufbauten und nicht viel mehr als ihren religiösen Eifer zu bieten hatten. Manchmal hielt er sie für Scharlatane. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte Saul Henry so verstanden, dass sie die Lichtbrechung in einem geschlossenen System untersuchen wollten.

»Kennen Sie diese Theorien?«, fragte Suzanne, während sie die Treppen hinaufstiegen; sie trug einen Koffer, und die Kamera um den Hals wie Schmuck. Henry versuchte, nicht allzu angestrengt auszusehen, und schwieg. Er war schwer mit der Ausrüstung bepackt, die zum Teil in einer Kiste verstaut war: Mikrofone, Kopfhörer, UV-Messgeräte, 8mm-Kameras und einen Haufen Geräte mit Skalen, Drehknöpfen und anderen Anzeigen.

»Nein«, sagte Saul – hauptsächlich, um ihr zu widersprechen, denn Suzanne behandelte ihn häufig wie einen Kulturbanausen, hielt seine schroffen Umgangsformen für Unwissenheit und seine legere Kleidung für die eines Simpels. Und davon abgesehen waren sie in seiner Gegenwart umso entspannter, je weniger er sagte. Es war fast so wie mit potenziellen Spendern während seiner Zeit als Prediger. Außerdem wusste er wirklich nicht, wovon sie sprachen, und genauso wenig hatte er verstanden, was Henry meinte, als er erzählte, sie würden das »Trottoir« oder den »Terror« der Gegend untersuchen, auch wenn er das Wort T-e-r-r-o-i-r buchstabiert hatte.

»Präbiotische Partikel«, quetschte Henry fröhlich, aber keuchend hervor. »Kinetische Energien.«

Suzanne stieg darauf mit einem längeren Vortrag über Spiegel ein und Dinge, die aus Spiegeln heraussehen können, und wie man mehr über die wahre Natur von Sachen erfuhr, wenn man sie nicht direkt, sondern von der Seite her ansah, und während sie so redete, überlegte Saul, ob die beiden wohl ein Liebespaar waren. Ihr plötzlicher Enthusiasmus für den übersinnlichen Teil der Brigade hatte vielleicht ganz prosaische Gründe. Das würde auch ihre Lachkrämpfe bei der Begrüßung erklären. Aber er hatte erst mal genug. Auch wenn es kleinlich war, er wollte sich noch der Stimmung hingeben, die die Nacht mit Charlie bei ihm ausgelöst hatte.

»Wir sehen uns oben«, sagte er deshalb und sprang die Stufen hoch, nahm immer zwei auf einmal, während sich Suzanne und Henry hinter ihm abmühten und schnell außer Sicht waren. Er wollte so viel Zeit wie möglich alleine oben in der Spitze verbringen. Die Verwaltung würde ihn mit fünfzig in den Ruhestand schicken, so war es vorgeschrieben, aber bis dahin wollte er seine Form halten. Trotz des Stechens in den Gelenken.

Oben angekommen und keineswegs außer Atem war Saul glücklich, dass im Laternenraum noch alles so war, wie er es zurückgelassen hatte, die Schutzhülle über das Leuchtfeuer gestülpt, um sowohl Kratzer als auch Einfärbungen durch Sonnenstrahlen zu vermeiden. Er musste nur die Vorhänge vor dem umlaufenden Geländer zurückziehen, um Licht hereinzulassen. Nur für ein paar Stunden am Tag, sein Zugeständnis an Henry.

Einmal hatte er von seinem Aussichtspunkt aus etwas Riesiges durch die Gewässer jenseits der Sandbänke gleiten sehen, eine Art Schatten von düsterem und tiefem Grau, der sich wie eine mächtige, geschmeidige Kontur im Blau des Wassers abzeichnete. Selbst mit Fernglas hatte er nicht erkennen können, um welche Kreatur es sich handelte, oder was daraus werden mochte, wenn er nur lange genug darauf starrte. Wusste nicht, ob es schließlich in Tausende von Schatten zerspringen würde, sich als Fischschwarm entpuppte oder als Illusion, die bei Änderung der Farbe des Wassers oder Intensität des Lichts einfach verschwand. In diesem Spannungsfeld zwischen Wissen und Nichtwissen um das Alltägliche fühlte er sich auf eine Art wohl, die er vor fünf Jahren noch nicht gekannt hatte. Er brauchte keine größeren Mysterien als diese Augenblicke, in denen sich die Welt so wunderbar zeigte wie in seinen früheren Predigten. Außerdem war das eine gute Geschichte für die Bar unten im Dorf, genau die Art Geschichte, die man von einem Leuchtturmwärter erwartete – wenn man überhaupt etwas von einem Leuchtturmwärter erwartete.

»Und deshalb ist das für uns so interessant, wie die Linse hierhergekommen ist, und wie das mit der ganzen Geschichte der beiden Leuchttürme zusammenhängt«, sagte Suzanne in seinem Rücken. Sie hatte offensichtlich einfach weitergeredet, auch als Saul schon längst weg war, und schien jetzt zu glauben, er hätte irgendetwas geantwortet. Hinter ihr brach Henry fast zusammen, obwohl dieser Aufstieg für beide inzwischen zur Routine gehörte.

Als er die Ausrüstung abgestellt hatte und wieder zu Atem gekommen war, sagte Henry: »Sie haben wirklich einen tollen Blick von hier oben.« Er sagte das jedes Mal, und Saul hatte aufgehört, darauf zu antworten oder gar etwas Nettes zu erwidern.

»Wie lange wollt ihr eigentlich bleiben?«, fragte Saul. Die beiden waren jetzt schon zwei Wochen zugange, und bisher war er dieser Frage immer ausgewichen, weil er die Antwort fürchtete.

Henrys umwölkter Blick verengte sich. »Unsere aktuelle Genehmigung läuft bis zum Ende des Jahres.« Irgendeine alte Verletzung oder ein Geburtsfehler brachte es mit sich, dass sein Kopf nach rechts geneigt war, und besonders wenn er sprach, berührte sein rechtes Ohr beinahe die hochgezogene Schulter. Es gab ihm etwas Roboterhaftes.

»Nur zur Erinnerung: Ihr dürft das Leuchtfeuer berühren, aber nichts tun, was seine Funktion stören könnte.« Saul hatte diese Warnung jedes Mal, seit sie aufgetaucht waren, wiederholt, denn manchmal hatten sie merkwürdige Vorstellungen davon, was sie tun durften und was nicht.

»Keine Panik, Saul«, sagte Suzanne, und er biss die Zähne zusammen, als sie ihn mit seinem Vornamen anredete. Am Anfang hatten sie noch Mr. Evans zu ihm gesagt, und das war ihm weitaus lieber gewesen.

Es machte ihm mehr als die übliche kindische Freude, ihnen den Platz auf dem Teppich zuzuweisen, unter dem sich die Falltür zu einem umgebauten Wachraum befand, in dem früher, bevor alles automatisiert wurde, all das untergebracht war, was man zum kontinuierlichen Unterhalt des Lichts brauchte. Diesen Raum vor ihnen geheim zu halten gab ihm das Gefühl, einen Teil seines Kopfes ihren Experimenten zu entziehen. Doch wären die beiden die aufmerksamen Beobachter gewesen, für die sie sich hielten, dann wäre ihnen sicher aufgefallen, dass die Stufen kurz vor der Spitze schmaler wurden.

Als er damit zufrieden war, wie sie alles aufgebaut hatten, und es unwahrscheinlich schien, dass sie etwas beschädigen konnten, nickte er ihnen zu und ging. Auf halbem Weg nach unten vermeinte er ein Geräusch zu hören, als würde etwas zerbrechen. Aber dabei blieb es. Er zögerte, tat es dann aber mit einem Schulterzucken ab und ging weiter nach unten.

Draußen werkelte Saul auf dem Gelände herum und räumte den Geräteschuppen auf, der ein einziges Chaos war. Schon mehr als ein Küstenwanderer hatte sich von einem Leuchtturmwärter überrascht gezeigt, der auf dem Gelände seines Turms herumfuhrwerkte wie ein Einsiedlerkrebs, der aus seinem Haus gekrochen war. Es gab allerdings wirklich viel instand zu halten, denn der Verschleiß durch Stürme und die salzige Luft war hoch. Im Sommer war diese Arbeit wegen der Hitze und den Stechfliegen deutlich mühsamer.

Während er das Boot hinter dem Schuppen inspizierte, hatte sich unbemerkt das Mädchen genähert. Der Schuppen grenzte an einen Grat aus Erde und Muschelkalk, der parallel zum Strand verlief; zum Meer hin erstreckte sich eine Reihe Felsen. Bei Flut schäumte das Wasser hoch genug, um kleine Gezeitenbecken voller Seeanemonen, Seesternen, Blaukrabben, Schnecken und Seegurken zurückzulassen.

Gloria war für ihre neun Jahre – »Neuneinhalb!« – kräftig und groß gebaut, und obwohl sie manchmal auf diesen Felsen ins Schwanken geriet, waren ihre Gedanken klar und präzise, was Saul bewunderte. Wohingegen sein eigenes Gehirn im fortgeschrittenen Alter schon mal ein oder zwei Gänge zurückschaltete.

Da war sie also wieder, eine stämmige Erscheinung auf den Felsen, in ihrer Winterkleidung – Jeans, Kapuzenjacke über dem Pullover, dicke Stiefel an den großen Füßen; er beendete die Arbeit am Boot und schob eine Schubkarre mit Abfällen auf die andere Seite des Turms. Sie redete mit ihm. Sie redete immer mit ihm, seit sie vor etwa einem Jahr angefangen hatte, ihn zu besuchen.

»Weißt du, meine Vorfahren haben hier gewohnt«, sagte sie. »Mama hat gesagt, genau hier, wo der Leuchtturm steht.« Für ihr Alter war ihre Stimme tief und voll, was ihn manchmal erschreckte.

»Meine auch, mein Kind«, verriet ihr Saul und kippte die Schubkarre auf dem Komposthaufen aus. Allerdings bestand die andere Hälfte seiner Familie aus einer merkwürdigen Mischung von Rum-Schmugglern und Fanatikern, die – wie er in der Bar gerne erzählte – »in dieses Land auf der Flucht vor der Religionsfreiheit« gekommen waren.

Gloria ließ sich diese Aussage einen Augenblick lang durch den Kopf gehen und sagte dann: »Aber nicht vor meinen.«

»Macht das was?« Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, ein paar Stellen des Bootes zu kalfatern.

Das Kind runzelte die Stirn; es war ein sehr kräftiges Stirnrunzeln, und er spürte, wie sich sein Nacken zusammenzog. »Ich weiß nicht.« Er schaute ihr zu, wie sie aufhörte, von Stein zu Stein zu hüpfen, und offenbar beschlossen hatte, auf einem der scharfkantigen Felsblöcke hin und her zu wippen. Bei diesem Anblick krampfte sich sein Magen zusammen, aber er wusste, dass sie niemals abrutschte, obwohl sie immer mal kurz davor schien; und jedes Mal, wenn er sie darauf ansprach, ignorierte sie ihn.

»Ich glaube schon«, sagte sie, um das Gespräch fortzusetzen. »Ich glaube, es macht was.«

»Ich bin zu einem Achtel Indianer«, sagte er. »Ich war auch hier. Ein Teil jedenfalls.« Wozu auch immer das gut gewesen sein mochte. Ein entfernter Verwandter hatte ihm von diesem Leuchtturmwärter-Job erzählt, das stimmte schon, aber keiner hatte sich darum gerissen.

»Was soll’s«, sagte sie, sprang zum nächsten scharfkantigen Brocken und balancierte armschwingend darüber hinweg, während Saul aus Sorge um sie ein paar Schritte auf sie zu machte.

Den größten Teil der Zeit nervte sie ihn einfach, aber er hatte es noch nicht geschafft, sie loszuwerden. Ihr Vater lebte irgendwo im Landesinneren; die Mutter hatte zwei Jobs und wohnte in einem Bungalow ein Stück die Küste hinauf. Die Mutter musste mindestens einmal pro Woche in das weit entfernte Bleakersville fahren und war wohl der Meinung, ihr Kind könne ab und an auch mal alleine klarkommen. Besonders, wenn der Leuchtturmwärter auf es aufpasste. Und der Leuchtturm strahlte eine Faszination für Gloria aus, die er auch mit seinen langweiligen Wartungsarbeiten am Schuppen und den Schubkarrentouren zum Komposthaufen nicht hatte brechen können.

Auch im Winter war sie die meiste Zeit alleine – draußen im Watt, das sich nach Westen erstreckte –, stocherte in den Löchern der Winterkrabben herum, jagte einem halb zahmen Hasen hinterher oder starrte Kojoten- oder Bärenkot an, als ob der ihr ein Geheimnis verraten würde. Was gerade so im Angebot war.

»Was sind das für merkwürdige Leute, die sich hier rumtreiben?«, fragte sie jetzt.

Das brachte ihn fast zum Lachen. Es gab eine Menge merkwürdige Leute, die hier an der vergessenen Küste Unterschlupf gefunden hatten, inklusive ihm selbst. Ein paar versteckten sich vor der Regierung, einige vor sich selbst und andere vor ihren Ehepartnern. Ein paar wähnten sich dabei, einen souveränen Staat zu gründen. Manche waren wahrscheinlich illegal hier. Die Leute hier draußen stellten Fragen, aber sie erwarteten keine ehrliche Antwort. Nur eine fantasievolle.

»Wen genau meinst du?«

»Die mit den Pfeifen.«

Saul brauchte einen Augenblick, und so lange hielt sich ein Bild vor seinen Augen, auf dem Henry und Suzanne am Strand herumsprangen und wie verrückt an ihren Pfeifen sogen.

»Pfeifen. Nein, das waren keine Pfeifen. Das war etwas anderes.« Eher so wie große Moskitospiralen. Er hatte der Fliegen-Brigade im letzten Sommer erlaubt, die Spiralen für ein paar Monate im Hinterzimmer des Erdgeschosses unterzustellen. Doch wie zum Kuckuck hatte sie das überhaupt mitbekommen?

»Aber wer ist das?«, bohrte sie nach und balancierte wieder auf zwei Felsblöcken; was hieß, dass Saul durchatmen konnte.

»Sie kommen von der Insel weiter oben an der Küste.« Was stimmte – sie hatten ihre Basis auf Failure Island; dort gab es Dutzende von ihnen, ein richtiger Karnickelstall. »Ein Testgelände«, wie in der Gerüchteküche der Bar im Dorf gemunkelt wurde, und dort wusste man eine gute Geschichte wirklich zu schätzen. Privatforscher, die mit Billigung der Regierung Messungen vornahmen. Aber Teil der Gerüchte war auch, dass die S&S-Brigade noch andere Aufgaben hatte, düsterere. Waren es Ordnungsliebe und Präzision einiger ihrer Mitglieder, oder die Desorganisation anderer, die zu diesen Gerüchten führten? Oder war das nur ein Haufen gelangweilter, betrunkener Rentner, die aus ihren Wohnwagen krochen und Geschichten spannen?

Er wusste einfach nicht, was sie da draußen auf der Insel trieben, oder was sie mit der Ausrüstung im Erdgeschoss vorhatten, ja nicht einmal, was Henry und Suzanne jetzt gerade auf der Spitze des Leuchtturms trieben.

»Sie mögen mich nicht«, sagte Gloria. »Und ich mag sie nicht.«

Er musste schmunzeln, und besonders darüber, wie sie das sagte – so unverfroren und mit verschränkten Armen, als hätte sie gerade beschlossen, dass die beiden ihr unsterblicher Feind seien.

»Lachst du über mich?«

»Nein«, sagte er. »Nein, tu ich nicht. Aber du bist eine neugierige Person. Du stellst Fragen. Darum können sie dich nicht leiden. Das ist alles.« Leute, die Fragen stellen, waren nicht zwangsläufig davon begeistert, wenn andere ihnen Fragen stellten.

»Was ist falsch daran, Fragen zu stellen?«

»Nichts.« Alles. War die Frage erst einmal gestellt, wurde aus Gewissheit Zweifel. Fragen öffneten das Tor für Unsicherheit. Sein Vater hatte ihm das verraten: »Lass sie keine Fragen stellen. Du hast ihnen doch schon die Antworten gegeben, auch wenn sie es nicht wissen.«

»Aber du bist doch auch neugierig«, sagte sie.

»Wie kommst du darauf?«

»Du bist der Hüter des Lichts. Und Licht sieht alles.«

Vielleicht sah das Licht alles, aber er hatte vergessen, ein paar Dinge zu erledigen, Dinge, die ihn länger vom Leuchtturm fernhalten würden, als ihm lieb war. Er schob die Schubkarre über den Schotter und stellte sie neben den Kombi. Er hatte ein vages, aber dringendes Gefühl, nachschauen zu sollen, was Henry und Suzanne machten. Was, wenn sie die Falltür gefunden und etwas Dummes angestellt hatten, zum Beispiel hinunterfallen und sich ihre merkwürdigen kleinen Hälse brechen? In diesem Augenblick sah er nach oben und sah Henry von dem Geländer hoch über ihm herunterschauen, woraufhin er sich albern vorkam. Als wäre er paranoid. Henry winkte, oder war das eine andere Geste? Benommen vom Gleißen der Sonne und orientierungslos wandte Saul sich ab und senkte den Kopf.

Und da sah er es. Etwas glitzerte ihm vom Rasen entgegen – halb verdeckt von einer Pflanze, die zwischen ein paar Grasbüscheln wuchs, da, wo er vor ein paar Tagen ein totes Eichhörnchen gefunden hatte. Glas? Ein Schlüssel? Die dunkelgrünen Blätter bildeten annähernd einen Kreis, der das, was darunter lag, verbarg. Er kniete nieder, schirmte die Augen mit der Hand ab, aber das glitzernde Ding blieb unter den Blättern verborgen, oder war es Teil eines Blatts? Was immer das sein mochte, es war unermesslich zart, obwohl es ihn widersinnigerweise an die vier Tonnen schwere Linse hoch über seinem Kopf erinnerte.

Die Sonne war eine flüsternde Scheibe in seinem Rücken. Es war wärmer geworden, aber es ging eine leichte Brise, die die Wedel der kleinen Palmen rasseln ließ. Irgendwo hinter ihm war das Mädchen und sang ein albernes Lied; es war schneller von den Felsen heruntergekommen, als er erwartet hatte.

In diesem Augenblick existierte für ihn nichts anderes als die Pflanze und dieses Glitzern, das er nicht genauer bestimmen konnte.

Er trug immer noch die Handschuhe und streckte die Hand nach dem Glitzerding aus, strich über die Blätter. War das eine kleine Lichtspirale, die sich bewegte? Es erinnerte ihn an den Blick in ein Kaleidoskop, mal abgesehen von diesem intensiven Weiß. Aber was auch immer da waberte und glitzerte, es wich seinem Zugriff aus, und er schien kurz davor, ohnmächtig zu werden.

Erschrocken zuckte er zurück.

Aber es war zu spät. Er spürte, wie eine Art Splitter in seinen Daumen eindrang. Es tat nicht weh, nur ein kurzer Druck und dann Taubheit, aber trotzdem sprang er überrascht auf, jaulte und wedelte mit der Hand hin und her. Fieberhaft riss er sich den Handschuh herunter und untersuchte seinen Daumen. Wohl wissend, dass Gloria ihn beobachtete, unsicher, was sie davon halten sollte.

Jetzt glitzerte nichts mehr auf dem Boden vor ihm. Kein Licht am Fuß der Pflanze. Kein schmerzender Daumen.

Langsam beruhigte sich Saul. Kein klopfender Schmerz im Daumen. Kein Einstich, keine Wunde. Er hob den Handschuh auf, untersuchte ihn, fand keine Spuren.

»Stimmt was nicht?«, fragte Gloria. »Bist du gestochen worden?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er.

Dann spürte er ein weiteres Augenpaar auf sich ruhen, drehte sich um, und da stand Henry. Wie war der bloß so schnell die Treppe heruntergekommen? War mehr Zeit vergangen, als er glaubte?

»Ja – was Schlimmes passiert, Saul?«, fragte Henry, aber Saul sah sich außerstande, die geäußerte Besorgnis im Tonfall der Frage wiederzufinden. Sie klang völlig nüchtern. Von einem merkwürdigen Eifer abgesehen.

»Nichts Schlimmes passiert«, sagte er beklommen, obwohl er keinen Grund für seine Unruhe sah. »Hab mich nur in den Daumen gestochen.«

»Durch den Handschuh? Das muss aber ein Dorn gewesen sein.« Henry suchte den Boden mit den Augen ab wie jemand, der seine Lieblingsuhr oder ein Portemonnaie voller Geld verloren hatte.

»Mir geht’s gut, Henry. Mach dir um mich keine Sorgen.« Ärgerlich, weil er sich wegen nichts albern aufzuführen schien, aber er wollte auch, dass Henry ihm glaubte. »Vielleicht war es ein elektrischer Schlag.«

»Vielleicht …« Der Schimmer in den Augen des Mannes war wie ein kaltes Leuchtfeuer, das Saul von sehr weit anstrahlte, als würde Henry eine komplett andere Botschaft übermitteln.

»Nichts Schlimmes passiert«, sagte er wieder.

Nichts Schlimmes.

Tatsächlich?

0002: GHOSTBIRD

In Begleitung des mürrischen Controls stieß Ghostbird am dritten Tag in Area X auf das Skelett im Röhricht. Inzwischen war es Winter in Area X, und je weiter sie sich auf dem mäandernden Pfad von der Küste, wo sie angekommen waren, entfernten, umso spürbarer wurde das. Der Wind war kalt und wehte ihnen ins Gesicht, zerrte an ihren Jacken, und der Himmel schien ein graublaues Auge auf sie zu haben, hinter dem sich irgendwelche lebenswichtigen Geheimnisse verbargen. Die Alligatoren, Otter und Bisamratten hatten sich in den Schlamm zurückgezogen, Geister irgendwo im Glucksen und Gurgeln des trüben Wassers.

Hoch oben, wo der Himmel von einem tieferen Blau war, sah sie etwas aufblitzen und erkannte einen Schwarm Störche, der seine Kreise zog; die Sonne glitzerte silbern auf ihren weißen und grauen Federn, während sie sich weit weg immer höher in den Himmel schraubten und mit unerschütterlichem Nachdruck … ja wohin eigentlich unterwegs waren? Sie konnte nicht sagen, ob sie die Grenzen ihres Gefängnisses auszumessen versuchten, ob sie fähig waren, die unsichtbare Grenze zu spüren, bevor sie darauf stießen, oder einfach ihren immer noch funktionierenden Instinkten folgten.

Ghostbird blieb stehen, und mit ihr Control. Ein Mann mit hervortretenden Wangenknochen, großen Augen, einer breiten Nase, die einem Boxer alle Ehre gemacht hätte, und hellbrauner Haut. Er trug Jeans und ein rotes Flanellhemd, dazu eine schwarze Jacke und Stiefel, die für eine Wanderung durch die Wildnis nicht ihre erste Wahl gewesen wären. Der Direktor von Southern Reach. Der Mann, der sie verhört hatte. Vielleicht von athletischer Gestalt, aber seitdem sie in Area X unterwegs waren, ging er vornübergebeugt und murmelte vor sich hin, während er ständig in ein paar wasserfleckigen, zerknitterten Seiten blätterte, die er aus einem alten Southern-Reach-Bericht gerettet hatte. Relikte der alten Welt.

Er schien kaum wahrzunehmen, dass sie stehen geblieben waren.

»Was ist?«, fragte er.

»Vögel.«

»Vögel?« Als sei dies ein Fremdwort für ihn, ohne Bedeutung. Oder Sinn. Aber wer wusste schon, was hier Bedeutung hatte.

»Ja. Vögel.« Genauere Erklärungen waren wohl Verschwendung.

Sie hob das Fernglas und folgte dem Weg der Störche, der sich hierhin und dorthin wand, auf dem sie aber nie ihre Flugformation aufgaben: eine Art lebender, gleitender Wirbel am Himmel. Das Muster erinnerte sie an den Schwarm Fische, in dem sie bei ihrem schockierenden Eintritt in Area X vom Meeresboden aus aufgetaucht waren.

Verstanden die Störche, die von oben auf sie herabschauten, was sie sahen? Erstatteten sie irgendetwas oder irgendjemandem Bericht? Während der vergangenen zwei Nächte hatte sie gespürt, wie sich Tiere am Saum ihres Lagerfeuers sammelten, düstere und unnahbare Sensoren von Area X. Control drängte zur Eile, als ob es etwas bedeutete, ein Ziel zu haben, während sie Fakten sammeln wollte.

Es hatte bereits ein paar Missverständnisse gegeben, was sie beide betraf, seit sie am Strand an Land gekommen waren – besonders bezüglich der Frage, wer hier das Kommando hatte; in der Folge hatte er den alten Namen wieder angenommen, sie gebeten, ihn nicht John, sondern Control zu nennen, was sie respektierte. Für einige Tiere war es lebenswichtig, einen Panzer zu haben. Ohne ihn würden sie nicht lange überleben.

Er sehnte sich offenbar nach etwas Vertrautem, an das er sich klammern konnte, das ihm Schutz versprach, und so glaubte sie zu verstehen, warum er sich in etwas, das er »meine Terroir-Seiten« nannte, vertiefte, warum er nicht die Wahrheit gesagt hatte, als sie über die Suche nach Lösungen gesprochen hatten.

Irgendwann im Laufe des ersten Tages hatte sie ihn gefragt: »Was wäre ich für dich in der anderen Welt – du in einem deiner alten Jobs, und ich in meinem?« Er hatte ihr nicht geantwortet, aber sie glaubte die Antwort auch so zu kennen: Sie wäre eine Verdächtige, eine Feindin des Wahren und Richtigen. Aber was waren sie hier füreinander? Irgendwann demnächst mussten sie ein ernsthaftes Gespräch führen, musste sie ihn aus der Reserve locken.

Doch im Augenblick interessierte mehr das, was da links von ihnen im Röhricht aufgeblitzt war, etwas Oranges. Eine Fahne?

Sie musste sich wohl verkrampft haben, oder etwas anderes an ihrem Verhalten hatte sie verraten, denn Control fragte: »Was ist los? Stimmt etwas nicht?«

»Nichts Schlimmes, wahrscheinlich.«

Einen Augenblick später sah sie das Orange wieder – einen Fetzen, einen ausgefransten Lumpen, der an ein Schilfrohr gebunden war und im Wind hin und her flatterte. Etwa hundert Meter entfernt in einem Ozean von Schilfrohr, auf diesem trügerischen Marschland aus alles verschlingendem Schlick. Gleich dahinter schien ein Schatten oder eine Mulde zu liegen, das Schilfrohr war niedergedrückt und gab den Blick auf etwas frei, das sie von ihrem Standpunkt aus nicht genau erkennen konnten.

Sie reichte ihm das Fernglas. »Siehst du das?«

»Ja. Ist die … Markierung eines Vermessers«, sagte er unbeeindruckt.

»Weil das so wahrscheinlich ist«, sagte sie und bereute es sofort.

»Okay. Dann ›scheint‹ es die Markierung eines Vermessers zu sein.« Er gab ihr das Fernglas zurück. »Wir sollten auf dem Weg bleiben und zusehen, dass wir zur Insel kommen.« Ausnahmsweise sprach er das Wort Insel mal offen aus, aber sein Unwille, gemeinsam den Fetzen zu untersuchen, war nicht weniger deutlich herauszuhören.

»Du kannst hierbleiben«, sagte sie und wusste, dass er nicht bleiben würde. Wusste, dass sie ihn lieber hiergelassen hätte, um mal ein paar Augenblicke lang in Area X wirklich alleine zu sein.

Dabei: Wer war hier schon wirklich alleine?

Noch lange nachdem sie auf dem leeren Grundstück aufgewacht und dann für die Verhöre nach Southern Reach gebracht worden war, glaubte Ghostbird, tot und im Fegefeuer zu sein, obwohl sie nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte. Das Gefühl hatte auch mit der Einsicht nicht nachgelassen, dass sie auf unbekannte Weise über die Grenze zurück in die reale Welt gekommen war … ja, dass sie nicht einmal die echte Biologin der zwölften Expedition war, sondern eine Kopie.

Sie hatte das bei einem der Verhöre durch Control auch zugegeben: »Ich war still und so leer … Ich wartete da, hatte Angst zu gehen, hatte Angst, es würde einen Grund geben, dass ich genau dort sein sollte.«

Aber das war nur ein Teil ihrer Gedanken, ihrer Analyse der Situation. Es ging nicht nur um die Frage, ob sie denn tatsächlich lebte, sondern – falls sie lebte – wer sie war, die da in diesem Zimmer in Southern Reach von allem abgeschottet wurde. Sodann, dass ihre Erinnerungen nicht ihre eigenen waren; dass sie von irgendwoher kamen und sie nicht sicher sein konnte, ob ein Experiment von Southern Reach dahintersteckte oder etwas, das Area X verursacht hatte. Sogar bei ihrer Flucht auf dem Weg nach Central hatte sie das Gefühl, eine Projektion zu sein, dass dies alles jemand anderem passierte, sie nur eine Zwischenlösung war; dass diese Kluft sie vielleicht vor einer erneuten Verhaftung bewahrt hatte, ihr geholfen hatte, völlig ruhig bei allem zu bleiben, was sie tat. Als sie in Rock Bay angekommen war, das die Biologin so gut von früher her kannte, hatte sie, weit weg von allem, eine Weile Ruhe gehabt und die Landschaft auf eine andere Weise auf sich wirken lassen – sie war in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammengesetzt worden.

Aber erst als sie es geschafft hatten, sich nach Area X durchzuschlagen, hatte sie ihr Unbehagen, ihre Ziellosigkeit tatsächlich überwunden. Als das Wasser sie von allen Seiten umschloss, kam die Erinnerung an ein früheres Erleben hoch und sie war panisch geworden. Doch dann wurde irgendwo ein Schalter umgelegt, oder etwas war zurückgekommen, und ihr Aufbegehren gegen den Tod hatte zu einer hymnischen Erfahrung des Meers geführt, sie hatte den Kampf um den Weg zur Oberfläche angenommen, als eine Art Beweis, dass sie nicht die Biologin, dass sie etwas anderes war, das in seinem Überlebenskampf die Angst vor dem Ertrinken vertreiben konnte, denn es war nicht ihre eigene Angst.

In der Folge war ihr sogar die erfolgreiche Wiederbelebung von Control am Strand als unwiderlegbarer Beweis ihrer Souveränität erschienen. Ebenso wie ihr Beharren darauf, die Insel anzusteuern, und nicht den Leuchtturm. »Wo auch immer die Biologin hingegangen wäre, dahin werde ich gehen.« Die Wahrhaftigkeit, die Richtigkeit dessen hatte ihr Hoffnung gegeben, trotz des Gefühls, dass alles, woran sie sich erinnerte, wie der Blick durch ein offenes Fenster auf das Leben eines anderen Menschen war. Nicht wirklich erlebt, oder noch nicht erlebt. »Du willst ein bereits geregeltes Leben haben, weil du kein eigenes hast«, hatte Control es auf eine ziemlich geschmacklose Art ausgedrückt.

Seitdem waren sie auf kaum etwas gestoßen, das zu untersuchen sich gelohnt hätte. In den fast drei Tagen, die sie jetzt zu Fuß unterwegs waren, war nichts Monströses oder Ungewöhnliches am Horizont aufgetaucht. Nichts Widernatürliches, wenn man von den hyperrealen Aspekten der Landschaft einmal absah, den Prozessen, die sich unter der Oberfläche abspielten. In der Abenddämmerung stieg auch manchmal das Bild des Seesterns der Biologin in ihr auf, leuchtete spärlich wie ein Kompass in ihrem Kopf, schien sie anzuziehen, und dann merkte sie wieder, dass sie hier Dinge spürte, die Control verschlossen blieben. Sie konnte die Gefahren orten, Gelegenheiten wahrnehmen. Das Leuchten hatte sie verlassen, aber etwas anderes war an seine Stelle getreten.

»Konterschattierung«, sagte sie, als er ihr seine Verwirrung gestand, dass Area X so normal wirkte: »Du siehst etwas, und erkennst es doch nicht. Von oben ist die Federzeichnung eines Lappentauchers nicht zu übersehen. Von unten ist er, wenn er durchs Wasser gleitet, praktisch unsichtbar.«

»Lappentaucher?«

»Ein Vogel.« Schon wieder ein Vogel.

»Und all das ist eine Tarnung?« Er sagte das mit einem Unglauben, als wäre ihm die Wirklichkeit schon sonderbar genug.

Ghostbird wurde weich, denn es war wirklich nicht sein Fehler. »Du hast noch nie ein Ökosystem erlebt, das nicht beeinträchtigt oder umgekippt ist, nicht wahr? Du glaubst das vielleicht, aber es stimmt nicht. Du kannst vielleicht gar nicht anders, als Richtig und Falsch miteinander zu verwechseln.«

Vielleicht stimmte das so nicht, aber sie wollte keine neue Diskussion über ihr Ziel führen, wollte ihre Zuständigkeit nicht infrage gestellt sehen. Indem sie darauf bestand, dass sie zur Insel unterwegs waren, schützte sie nicht nur ihr Leben, sondern auch seins – zumindest war das ihre Überzeugung. Sie hatte kein Interesse daran, noch einmal und auf den letzten Drücker den Waffen ihrer Gegner zu entkommen, und Controls Verhalten weckte den Verdacht, dass er es vielleicht auf eine solche Lösung ankommen lassen wollte. Während sie nur ein einziges Ziel vor Augen hatte – herauszufinden, wer sie war, und was Area X war.

Dem Licht hier konnte man sich nicht entziehen, so strahlend und doch unnahbar war es. Es ließ das Röhricht und den Schlick und das Wasser der Kanäle, in dem sie sich spiegelten, in einer seltenen Klarheit erscheinen. Das Licht gab ihr das Gefühl, einfach dahinzugleiten, denn es schien ihre Spuren zu verwischen. Es war das Licht, das ihr einen unerschöpflichen Vorrat an Gelassenheit zur Verfügung stellte. Das Licht hinterfragte und untersuchte alles auf eine Art, von der sie nicht sicher war, ob Control sie verstand, zog sich dann wieder von allem, was es berührt hatte, zurück, und überließ es sich selbst.

Vielleicht war es in gewisser Weise auch das Licht, das ihnen im Wege stand, denn sie kamen nur sehr mühsam voran, benutzten einen Stock, um das vor ihnen liegende Gelände auf heimtückische Stellen abzutasten; manchmal war das Röhricht zu unpassierbaren Büscheln zusammengewachsen. Einmal stieg ein graubrauner Rallenkranich, zwischen dem Schilfrohr praktisch unsichtbar, so nah und lautlos auf, dass sie sich fast mehr erschreckte als Control.

Aber schließlich erreichten sie den Stofffetzen und sahen eine vergilbte Kuppel dahinter, die im Schlamm steckte und schon halb versunken war.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte Control.

»Es ist tot«, sagte sie. »Es kann uns nicht mehr gefährlich werden.« Weil Control immer wieder auf Dinge überreagierte, die für sie die Aufregung nicht wert waren. Er war schreckhaft, vielleicht durch seine Erlebnisse traumatisiert.

Aber sie wusste ganz genau, was das war. Halb im Schlamm versunken waren die Reste eines grässlichen Schädels und die gebleichte und verhärtete Maske eines Gesichts, das sie blind anstarrte und von Moder und Flechten eingerahmt wurde.

»Das Wehklagen«, sagte sie. »Das stöhnende Monster, das wir immer in der Abenddämmerung gehört haben.« Das die Biologin durch das Röhricht gejagt hatte.

Das Fleisch hatte sich von den Knochen gelöst, war an den Seiten hinabgerutscht und im Schlick versunken. Übrig geblieben war ein Skelett, das wie eine unheimliche Mischung aus Mensch und Schwein wirkte; die Rippen verzweigten sich zu einem makabren Kronleuchter kleinerer Knochen, und die Schienbeine endeten in merkwürdigen, knorpelartigen Noppen, die Vögel und Kojoten und Ratten sauber genagt hatten.

»Das liegt schon ziemlich lange hier«, sagte Control.

»Ja, allerdings.« Zu lange. Alarmiert suchten ihre Augen den Horizont nach einem Eindringling ab, als sei das Skelett eine Falle. Vor achtzehn Monaten noch lebendig, und jetzt in einem Stadium des Zerfalls, dass nur noch die Gesichtsmaske eine Identifizierung ermöglichte. Selbst wenn dieses Wesen, diese Transformation des Psychologen der, wie Control es nannte, »letzten elften Expedition«, sofort nach dem Zusammentreffen mit der Biologin gestorben war … die Geschwindigkeit der Verwesung war alles andere als natürlich.

Aber Control hatte nichts begriffen und sie beschloss, es für sich zu behalten. Er lief weiterhin um das Skelett herum und starrte es an.

»Also das war einmal ein Mensch«, sagte er, und dann noch einmal, als sie nicht antwortete.

»Möglich. Vielleicht auch einfach der Fehlversuch eines Replikanten.« Sie hielt sich nicht für einen Fehlversuch. Sie hatte einen freien Willen, eine Aufgabe.

Vielleicht konnte eine Kopie besser als das Original sein, eine neue Wirklichkeit schaffen, die alte Fehler vermied.

»Ich kenne deine Vergangenheit in- und auswendig«, hatte er ihr gesagt, sobald sie den Strand hinter sich gelassen hatten; offenbar wollte er Informationen austauschen. »Ich kann dir deine Vergangenheit zurückgeben.« Aber das war inzwischen Schnee von gestern, und seiner und ihrer unwürdig.

Ihr Schweigen hatte ihn dazu getrieben, anzufangen, und obwohl sie immer noch glaubte, dass er ihr Dinge verschwieg, klangen seine Worte drängend und irgendwie leidenschaftlich, aber vor allem ehrlich. Manchmal allerdings schien in ihnen ein verzweifelter Subtext durch, den sie recht gut verstand, aber zu ignorieren beschlossen hatte. Sie hatte das schon einmal so gehört, damals, als er sie in ihrem Zimmer auf Southern Reach besuchte.