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Jeff VanderMeer

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Beschreibung

Seit ein mysteriöses »Ereignis« vor mehr als dreißig Jahren das Gebiet erschütterte, ist Area X von einer unsichtbaren Grenze umgeben. Niemand weiß genau, was dahinter geschieht, aber es gibt Gerüchte von einer sich verändernden und die Reste der menschlichen Zivilisation überwuchernden Natur, einer Natur, die ebenso makellos und bezaubernd wie verstörend und bedrohlich ist. Zuständig für das Gebiet ist eine geheime Regierungsorganisation, die sich Southern Reach nennt und den Auftrag hat, herauszufinden, was hinter der Grenze geschieht. Aber keine der Expeditionen, die Southern Reach in das Gebiet entsandte, um Erklärungen für das Unerklärbare zu finden, hatte bisher Erfolg. Die meisten der Expeditionen endeten in Katastrophen, bei denen letztlich alle Mitglieder ums Leben kamen, und die Zeit, um Antworten zu finden, wird knapp, denn Area X scheint sich immer schneller auszudehnen. Eine fesselnde, fantastische Romantrilogie über eine unheimliche Welt und die Fremdheit in uns. Ein Werk von der Kraft eines Mythos. Nach der katastrophalen zwölften Expedition, die in Auslöschung geschildert wurde, befindet sich Southern Reach in Auflösung. John Rodriguez, der neu ernannte Kopf der Organisation, muss sich durch eine Reihe frustrierender Verhöre, einen Berg verschlüsselter Notizen und Stunden verstörender Videoaufnahmen arbeiten, um die Geheimnisse von Area X zu lüften. Aber jede neue Entdeckung konfrontiert ihn mit bestürzenden Wahrheiten – über sich selbst und die Organisation, der er die Treue geschworen hat …

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JEFF VANDERMEER

AUTORITÄT

Band 2 derSouthern-Reach-Trilogie

Aus dem Englischen vonMichael Kellner

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Für Ann

BESCHWÖRUNGEN

 

 

 

000

In seinem Traum ist es früher Morgen, der Himmel tiefblau mit einem Anflug von Licht. Von der Klippe starrt Control in einen Abgrund, auf eine flache Bucht. Die sich ständig verändert. Er kann endlos tief in das Stillwasser hineinsehen. Er sieht die Seeungeheuer, die dort entlanggleiten, wie Unterseeboote oder glockenförmige Orchideen oder breite Schiffsrümpfe, lautlos, in ständiger Bewegung, ihre schiere Größe strahlt eine derartige Macht aus, dass er noch aus dieser großen Entfernung die Spur der Verwüstung spürt, die sie hinter sich herziehen. Er starrt stundenlang auf ihre Körper, ihre Bewegungen hinab, lauscht ihrem Raunen, das bis zu ihm hochdringt … und dann fällt er. Langsam, viel zu langsam, fällt er lautlos in das dunkle Wasser, taucht ohne Spritzer oder Wellenschlag ein. Und fällt immer weiter.

Manchmal kommt der Traum über ihn, während er wach ist, als hätte er etwas übersehen, und dann sagt er lautlos wieder und wieder seinen Namen vor sich hin, bis die reale Welt zu ihm zurückkehrt.

001: ABSTURZ

Erster Tag. Der Auftakt seiner letzten Chance.

»Das sind die Überlebenden?«

Control stand hinter dem verschmutzten Einwegspiegel neben der stellvertretenden Direktorin von Southern Reach und starrte auf die drei Personen im Verhörraum. Rückkehrer der zwölften Expedition nach Area X.

Die stellvertretende Direktorin, eine große, dünne Schwarze in den Vierzigern, gab keine Antwort, was Control nicht überraschte. Er hatte den Montag dazu genutzt, sich in seinem Haus einzurichten, und seit er an diesem Morgen hier eingetroffen war, hatte sie kein überflüssiges Wort an ihn gerichtet. Überhaupt hatte sie ihn kaum beachtet. Erst als er sie und die Belegschaft aufgefordert hatte, ihn »Control« zu nennen, und nicht »John« oder »Rodriguez«, hatte sie einen Augenblick gezögert und erwidert: »Dann sagen Sie bitte Patience zu mir, und nicht Grace.« Er fand es interessant, wie sie einen Namen mit direkter Bedeutung durch einen anderen ersetzte. »Ist mir recht, ich kann Sie einfach Grace nennen«, sagte er in der Annahme, dass ihr das nicht gefallen würde. Sie konterte, indem sie durchgängig von ihm als dem »kommissarischen« Direktor sprach. Da war durchaus etwas dran: Bis er zum richtigen Direktor aufgestiegen wäre, würde sie noch lange Herrin über die Verwaltungstätigkeiten sein, über Fristen und formgerechte Abläufe, über Entlassungen und Neueinstellungen des Personals. Bis er so weit war, mochte die Machtfrage offenbleiben.

Aber für Control war sie weder Patience noch Grace. Für ihn hatte sie nichts Duldsames oder Anmutiges an sich, sondern im Gegenteil etwas Düsteres und Unruhestiftendes. Sie hatte dafür gesorgt, dass er sich ein altes Einführungsvideo über Area X ansehen musste, von dem auch sie wusste, dass es oberflächlich und veraltet war. Sie hatte klargemacht, was sie von seiner Anwesenheit hielt, und war ihm geradezu feindselig begegnet.

»Wo hat man sie gefunden?«, fragte er jetzt. Wobei er eigentlich fragen wollte, warum man sie nicht getrennt gehalten hatte. Weil hier seit geraumer Zeit alles aus dem Ruder lief, weil ihre Abteilung schon seit einiger Zeit vor die Hunde ging, oder besser vor die Ratten, die im Keller saßen und alles zernagten?

»Steht alles in den Akten«, sagte sie und meinte damit, dass er die schon längst hätte lesen können.

Dann ging sie aus dem Zimmer.

Control blieb allein zurück, um über die Akten vor ihm auf dem Tisch zu grübeln – und die drei Frauen hinter dem Einwegspiegel. Natürlich hatte er die Akten gelesen, aber er hatte gehofft, den Widerstand der stellvertretenden Direktorin brechen zu können und vielleicht zu erfahren, was sie persönlich davon hielt. Er hatte auch einen Teil ihrer Personalakte gelesen, doch auch das half ihm kaum dabei, sie zu verstehen, sich ein Bild von ihr zu machen, jedenfalls nicht mehr, als ihr Verhalten ihm gegenüber verriet.

Sein erster Arbeitstag war noch keine vier Stunden alt, und schon fühlte er sich von dem schäbigen, seltsamen Gebäude wie verseucht, von dem abgewetzten grünen Teppichboden und den angestaubten Ansichten des Personals, soweit er es kennengelernt hatte. Alles war von einem Gefühl des Niedergangs durchdrungen, sogar die Sonnenstrahlen, die müde durch die hochgelegenen, rechteckigen Fenster fielen. Er trug seinen üblichen schwarzen Blazer zur Anzughose, ein weißes Hemd mit hellblauer Krawatte und am Morgen polierte schwarze Schuhe. Mittlerweile fragte er sich, warum er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte. Er hätte darüberstehen sollen – was er nicht tat – und hasste solche Gedanken, aber es fiel ihm schwer, sie zu unterdrücken.

Control ließ sich Zeit, die Frauen zu betrachten, obwohl sich aus ihrem Aussehen wenig schließen ließ. Sie alle steckten in der typischen Uniform, die zu gleichen Teilen nach Armee und nach Gefängnis aussah. Man hatte ihnen die Haare geschoren, als wären sie schlicht von Läusen und nicht von etwas Unerklärlichem befallen. Ihre Gesichter zeigten alle den gleichen Ausdruck, um nicht zu sagen, sie zeigten überhaupt keinen Ausdruck. Im Flugzeug hatte Control sich noch ermahnt, ihre Namen zu ignorieren. Bemesse sie zunächst nur aufgrund ihrer Funktionen. Dann alles andere ergänzen. Aber Zurückhaltung war nie seine Stärke gewesen. Er liebte es, sich in neue Aufgaben zu stürzen, auf der Suche nach Details, die die Lage erhellten, ohne ihn dabei zu überwältigen.

Die Vermesserin hatte man in einem Lehnstuhl auf der rückwärtigen Veranda ihres Hauses gefunden.

Die Anthropologin war von ihrem Ehemann gefunden worden, als sie an den Nebeneingang seiner Arztpraxis klopfte.

Die Biologin wurde auf einem überwucherten Grundstück einige Blocks von ihrem Haus entfernt entdeckt, wo sie auf eine zerbröckelnde Backsteinmauer starrte.

Wie die Mitglieder früherer Expeditionen konnte keine von ihnen sich daran erinnern, wie sie über die unsichtbare Grenze den Weg aus Area X hinausgefunden hatte. Keine von ihnen wusste, wie sie durch die Sperren und Zäune und anderen Hindernisse gekommen war, die das Militär entlang der Grenze installiert hatte. Keine von ihnen hatte eine Ahnung, wo das vierte Expeditionsmitglied abgeblieben war – die Psychologin, die realiter Direktorin von Southern Reach war und sich gegen alle Einwände an die Spitze der zwölften Expedition gesetzt hatte, inkognito.

Keine von ihnen schien sich an überhaupt etwas erinnern zu können.

Am Morgen beim Frühstück in der Cafeteria hatte Control durch die durchgängige Fensterfront auf den Innenhof mit seiner Unzahl von Steintischen geschaut, und dann auf die langsam vorrückende Schlange vor der Essensausgabe – zu kurz, schien ihm, für so ein großes Gebäude –, ehe er Grace fragte: »Warum freut sich hier keiner so richtig, dass die Expedition zurück ist?«

Sie hatte ihn leidgeprüft angesehen, als sei er ein besonders begriffsstutziger Schüler beim Förderunterricht. »Was glauben Sie wohl, Control?« Inzwischen sprach sie seinen Namen betont ironisch aus, sodass er sich wie das Senkblei an der Fliegenrute seines Opas fühlte, das schon den Schlammboden Dutzender von Seen gesehen hatte. »Wir haben das alles schon mal mit der letzten Expedition durchgemacht. Neun Monate Verhör haben sie ertragen, aber wir haben nichts herausgefunden. Währenddessen starben sie einen langsamen Tod. Was für ein Gefühl hätten Sie da?« Lange Monate der Orientierungslosigkeit, und dann der Tod durch eine besonders bösartige Form von Krebs.

Er nickte langsam. Natürlich, sie hatte recht. Sein Vater war an Krebs gestorben. Er hatte nicht darüber nachgedacht, welche Wirkung diese Vorgänge auf die Mitarbeiter gehabt haben mochten. Für ihn waren das immer noch abstrakte Worte, ein Bericht, den er im Flugzeug auf dem Weg hierher gelesen hatte.

Hier in der Cafeteria war der Teppichboden in einem Dunkelgrün gehalten, von dem sich ein stilisiertes Pfeilmuster in Hellgrün abhob; alle Pfeile zeigten auf den Innenhof.

»Warum ist es hier drinnen nicht heller?«, fragte er. »Wohin verschwindet das ganze Licht?«

Aber für den Augenblick hatte Grace keine Lust mehr, seine Fragen zu beantworten.

Als eine der drei – die Biologin – den Kopf ein klein wenig wandte und in den Einwegspiegel schaute, als könne sie ihn sehen, wich Control diesem Blick mit einer Art verspäteter Beschämung aus. Diese Art der Überwachung hatte etwas Unpersönliches, Professionelles, aber möglicherweise fühlte es sich anders an, wenn man selbst unter einer solchen Beobachtung stand.

Niemand hatte ihm gesagt, dass er bereits an seinem ersten Tag die desorientierten Rückkehrer aus Area X verhören sollte, und doch musste Central es schon gewusst haben, als man ihm diese Position anbot. Die Expeditionsteilnehmer waren schon vor fast sechs Wochen aufgegriffen und vier Wochen lang in einem Musterungszentrum weiter im Norden verschiedenen Tests unterzogen worden, bis man sie nach Southern Reach gebracht hatte. Etwa zur gleichen Zeit hatte man ihn nach Central beordert, wo er zwei Wochen lang Instruktionen bekam, es aber auch viel Leerlauf gab; ganze Tage, an denen nichts passierte, die einfach nur zum Vergessen waren. Fast schien es so, als wäre dieses Timing von Anfang an geplant gewesen. Dann zog das Tempo an und alles bekam eine gewisse Dringlichkeit.

Dies und ein paar andere Dinge hatten das Gefühl von Sinnlosigkeit und Verbitterung hervorgerufen, das ihn seit seiner Ankunft auch hier immer wieder befiel. Voice, nichts als eine Stimme, sein primärer Kontakt zu den oberen Diensträngen, hatte während eines ersten Briefings angedeutet, im Lichte seiner Vorgeschichte sei dies ein einfacher Auftrag. Southern Reach war zu einer nachgeordneten Behörde in der Provinz geworden, die ein schlafendes Geheimnis hütete, das jetzt, wo sich alles um Terrorismus und den ökologischen Kollaps drehte, niemanden mehr besonders interessierte. Voice hatte, auf ihre barsche Art, seine Mission als typischen Fall bezeichnet, bei dem seine Aufgabe »zunächst einmal« darin bestand, »sich einzugewöhnen, die Lage einschätzen, zu analysieren und dann in die Tiefe zu gehen«, eine für ihn inzwischen durchaus ungewöhnliche Anweisung.

Controls zugegebenermaßen durchwachsene Karriere hatte als Agent im Außendienst begonnen: Überwachung inländischer Terrorzellen. Dann war er befördert worden, Datensynthese und Organisationsanalyse, zwei Dutzend oder mehr Fälle, und in ihrer Ähnlichkeit der eine so banal wie der andere; über keinen durfte er sprechen. Die Öffentlichkeit bekam davon nichts mit: Die geheime Geschichte von gar nichts. Aber er war immer mehr in die Rolle eines Feuerwehrmanns gerutscht, hauptsächlich deshalb, weil er bestimmte Probleme anderer rasch erfassen konnte, schneller jedenfalls als seine eigenen. Inzwischen war er achtunddreißig, und wenn er sich mit überhaupt etwas einen Namen gemacht hatte, dann damit. Das bedeutete aber auch, dass er nie den ganzen Fall begleitete, obwohl er inzwischen genau das einmal wollte: etwas von Anfang bis Ende durchziehen. Das Problem war nur, dass ein Feuerwehrmann dieser Art ausgesprochen unbeliebt war – »Hallo, ich zeig euch mal, was ihr falsch macht« –, besonders, wenn ihm der Ruf vorauseilte, selbst schon lange die Feuerwehr zu brauchen.

Es fing immer gut an, aber es endete längst nicht immer gut.

Voice hatte es auch versäumt zu erwähnen, dass Area X hinter einer Grenze lag, deren Wesen selbst nach mehr als dreißig Jahren niemand zu begreifen schien. Nein, das hatte er erst beim Durchsehen der Akten und der Wiederholung des Videos erfahren.

Auch hatte ihm keiner gesagt, dass die stellvertretende Direktorin ihn so hassen würde, weil er die verschollene Direktorin ersetzte. Obwohl er es sich hätte denken können: Den spärlichen Informationen in ihrer Personalakte zufolge stammte sie aus einem kleinbürgerlichen Umfeld, war zunächst auf eine öffentliche Schule gegangen und hatte härter als andere arbeiten müssen, um ihre jetzige Position zu erreichen. Während Control gerüchteweise zu einer Art unsichtbarer Dynastie gehörte, was naturgemäß Vorurteile schürte. An den Tatsachen war nicht zu rütteln.

»Sie sind jetzt so weit. Kommen Sie mit.«

Grace stand plötzlich wieder in der Tür. Es klang wie ein Befehl.

Er kannte zahlreiche Mittel, den Widerstand eines Mitarbeiters zu brechen. Möglicherweise musste er alle anwenden.

Control nahm zwei der drei Aktenmappen vom Tisch und zerriss sie, den Blick fest auf die Biologin geheftet; er spürte die Spannung in den Handflächen und ließ das Papier in den Abfallkorb fallen.

In seinem Rücken erklang ein ersticktes Keuchen.

Dann drehte er sich um – und sah sich dem geballten wortlosen Zorn der stellvertretenden Direktorin gegenüber. Aber ihre Augen verrieten auch, dass sie auf der Hut war. Gut.

»Warum hebt ihr diese ganzen Papiere auf, Grace?«, fragte er und ging einen Schritt auf sie zu.

»Die Direktorin hat darauf bestanden. Haben Sie das absichtlich gemacht?«

Er ignorierte sie. »Grace, warum vermeiden alle hier die Worte Alien oder Außerirdische, wenn es um Area X geht?« Auch er hatte diese Worte bisher gemieden. Seitdem er die Wahrheit kannte, hatte sich zuweilen in ihm ein gewaltiger Abgrund aufgetan, aus dem Schreie des Unglaubens und der Fassungslosigkeit drangen. Aber er hat sich nichts anmerken lassen. Er hatte ein perfektes Pokergesicht; das hatte er immer wieder gehört, von Geliebten, Verwandten und sogar völlig Fremden. Er war gut eins achtzig groß. Immer gelassen. Ein kompaktes Muskelpaket von einem Sportler. Er konnte ohne Anstrengung meilenweit laufen und hielt sich etwas auf seine gesunde Ernährung und sein regelmäßiges Training zugute, obwohl er dem Whiskey nicht abgeneigt war.

Sie hielt dagegen. »Niemand weiß Genaues. Man sollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen.«

»Selbst nach so vielen Jahren nicht? Ich brauche nur eine von ihnen zu interviewen.«

»Wie bitte?«

Die Anspannung in seinen Händen übertrug sich auf das Gespräch.

»Ich brauche die anderen Unterlagen nicht, weil ich nur eine von ihnen verhöre.«

»Sie müssen alle drei verhören.« Als ob sie es einfach nicht begriffen hätte.

Er drehte sich um, um die verbliebene Mappe zu nehmen. »Nein. Nur die Biologin.«

»Das ist ein Fehler.«

»Siebenhundertdreiundfünfzig ist kein Fehler«, sagte er. »Siebenhundertzweiundzwanzig ist auch kein Fehler.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Irgendetwas stimmt mit Ihnen nicht.«

»Lassen Sie die Biologin hier«, sagte er und ahmte ihren Tonfall nach, ohne weiter auf sie einzugehen. Ich weiß etwas, das du nicht weißt. »Schicken Sie die anderen zurück in ihr Quartier.«

Grace starrte ihn an, als sei er irgendein Nagetier, von dem sie nicht wusste, ob sie es verabscheuen oder bemitleiden sollte. Aber einen Augenblick später nickte sie steif und ging.

Er entspannte sich, atmete tief aus. Obwohl sie seinen Anweisungen Folge leisten musste, hatte sie für die nächsten ein oder zwei Wochen bei den Mitarbeitern immer noch das Sagen, konnte ihm auf tausenderlei Arten dazwischenfunken, solange er hier nicht vollständig integriert war.

War es Alchemie oder echte Magie? Täuschte er sich? Und spielte das überhaupt eine Rolle, denn wenn er sich täuschte, war dann nicht das eine wie das andere?

Ja, es spielte eine Rolle.

Es war seine letzte Chance.

Seine Mutter hatte es ihm gesagt, bevor er hierhergekommen war.

Dachte er an seine Mutter, hatte Control häufig einen Blitz vor Augen, der in weiter Entfernung über den nächtlichen Himmel zuckte. Nur kurz da, und gleich wieder fort, aber immer einprägsam. Vielleicht fragte man sich, woher der Blitz kam. Aber sicher wissen konnte man es nicht.

Jackie Severance war ein Einzelkind, trat wie ihr Vater in den Dienst ein und überflügelte ihn bald. Inzwischen arbeitete sie auf einer Hierarchieebene weit oberhalb dessen, was ihr Vater erreicht hatte, und schon Jack Severance war ein hochdekorierter Agent gewesen. Er hatte sie streng auf eine Führungsposition hin erzogen. Soweit Control wusste, hetzte er sie als Kind über Geländeparcours und ließ sie mit einem Bajonett auf Mehlsäcke losgehen. Fotoalben der Familie, durch die man das hätte verifizieren können, gab es praktisch nicht. Was immer er auch mit ihr machte, er hatte ihr eine Art beiläufiger Grausamkeit eingeimpft, den Anspruch, immer Höchstleistungen zu vollbringen, und wohl absichtlich eine Eigenschaft, die sich als Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer zeigte.

Als fernen Blitz am Himmel hatte Control sie glühend bewundert, hatte ihr sogar nachgeeifert, wenn auch auf einem ganz anderen Level … aber als Elternteil war sie ausgesprochen unzuverlässig, sogar, wenn sie da war; sie holte ihn nicht pünktlich von der Schule ab, vergaß sein Pausenbrot oder ihm bei den Hausaufgaben zu helfen – selten beständig, was den Alltag in der hiesigen Welt betraf. Jedoch unterstützte sie ihn jederzeit, nachdem er sich Hals über Kopf in den Dienst gestürzt hatte.

Opa Jack hingegen war nie besonders begeistert von dieser Idee gewesen; eines Tages hatte er ihn gemustert und gesagt: »Ich glaube, er hat nicht den richtigen Charakter dafür.« Diese Feststellung hatte einen sechzehnjährigen Jungen am Boden zerstört, der schon nichts anderes als den Dienst im Kopf hatte, aber es hatte auch dazu geführt, dass er noch zielstrebiger wurde, noch konzentrierter, noch stärker dem Himmel und dem Blitz zuneigte. Später glaubte er, dass Opa genau dies beabsichtigt hatte. Opa konnte unberechenbar wie ein Buschfeuer sein, während seine Mutter mehr eine eisblaue Flamme war.

Er war acht oder neun, als sie zum ersten Mal zusammen in das Sommerhaus am See fuhren – »unser eigener kleiner Agentenklub«, wie seine Mutter es genannt hatte. Nur er, seine Mutter und Opa. In der Ecke gegenüber der ramponierten Couch stand ein alter Fernseher. Opa ließ ihn die Antenne hin und her drehen, um den Empfang zu verbessern. »Noch ein bisschen nach links, Control«, sagte er. »Nur noch ein bisschen.« Seine Mutter war derweil im Nebenzimmer und sah ein paar Berichte durch, die sie aus dem Büro mitgebracht hatte und die der Geheimhaltung unterlagen. So kam er zu seinem Spitznamen, ohne zu wissen, dass Opa sich bloß des Agentenjargons bedient hatte. Er war ein Kind und stolz auf diesen coolen Spitznamen, den sein Opa ihm aus Zuneigung gegeben hatte. Aber er war clever genug, jahrelang mit niemandem über die Herkunft des Namens sprechen, der nicht zur Familie gehörte, nicht mal mit seinen Freundinnen. Er ließ sie glauben, er hätte ihn auf der Highschool als Ersatz-Quarterback bekommen. »Ein bisschen weiter nach rechts, Control.« Wirf den Ball wie ein Star. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den Fängern, zu sehen, wo sie waren, und sie über den Haufen zu rennen. Selbst wenn das nur im Training gut klappte, so empfand er doch eine ganz besondere Befriedigung durch die Präzision, die aus Vorahnung und Geometrie entstand.

Mit zunehmendem Alter wurde er zu »Control«. Schon damals spürte er die Herablassung, die in dem Wort mitschwang, aber er fragte Opa nie, wie er es genau gemeint und ob er ihn irgendwie gegen sich aufgebracht hatte, weil er damals genauso viel Zeit mit Lesen im Haus wie beim Angeln auf dem See verbrachte.

Er hatte also diesen Namen angenommen, hatte ihn adaptiert und war dabei geblieben. Aber noch nie hatte er Arbeitskollegen aufgefordert, ihn mit »Control« anzureden – bis heute. Er konnte nicht einmal sagen, warum. Es war ihm einfach so eingefallen, als könne er noch einmal ganz von vorne anfangen.

Ein bisschen nach links, Control, und vielleicht bekommst du dann diesen Lichtblitz zu fassen.

Warum ein leeres Grundstück? Das fragte er sich, seit er am Vormittag das Überwachungsvideo gesehen hatte. Warum war die Biologin bei ihrer Rückkehr zu einem leeren Grundstück gegangen und nicht in ihr Haus? Die beiden anderen waren an einen Ort zurückgekehrt, an den sie eine persönliche, eine emotionale Bindung hatten. Aber die Biologin hatte stundenlang auf diesem verwilderten Grundstück gestanden, ohne irgendeine Reaktion auf ihre Umwelt zu zeigen. Control hatte unzählige Videos von Verdächtigen gesehen und dadurch eine besondere Aufmerksamkeit selbst für die kleinsten Eigenarten oder nervösen Ticks entwickelt, die eine Botschaft enthalten konnten … aber auf diesem Band war nichts dergleichen zu sehen.

Erst als verspätete Reaktion auf den Fund der anderen beiden begann Southern Reach nach ihr zu suchen und wurde schließlich durch einen Einsatzbericht der örtlichen Polizei fündig, die sie wegen Landstreicherei festgenommen hatte.

Und dann war da die Sache mit der Kürze. Vorher und nachher.

753.722.

Eine schwache Spur, aber Control spürte inzwischen, dass es bei diesem Einsatz auf die Details ankam, auf detektivischen Spürsinn. Nichts würde einfach sein. Sein Pech, dass er es nicht mit einem Idioten von Amateurbombenbastler zu tun hatte, bewaffnet mit einer Dose Unkraut-Ex und der Light-Version irgendeiner Ideologie, der nach zwanzig Minuten im Verhörraum zusammenbrach.

Während der Befragungen im Vorfeld der zwölften Expedition, die Entscheidungsgrundlage für die Teilnahme war, hatte die Biologin – der Abschrift in ihrer Akte zufolge – es fertiggebracht, mit nur 753 Wörtern auszukommen. Control hatte sie gezählt. Auch das Wort Frühstück war dabei, als vollständige Antwort auf eine Frage. Control bewunderte diese Antwort.

Er hatte die Worte wieder und wieder während der langen Stunden gezählt, in denen sie seinen Computer installiert hatten, seine Security Card ausstellten, ihn mit Passwörtern und Key Codes versorgten und er all die anderen Rituale durchlief, die ihm auf seinem Weg durch verschiedene Behörden und Ressorts immer wieder begegnet waren.

Grace hatte zwar versucht, ihn in einer Art Besenkammer weitab vom Geschehen unterzubringen, aber er bestand darauf, das Büro der bisherigen Direktorin zu beziehen. Er bestand auch darauf, dass alles in diesem Büro verblieb, selbst persönliche Dinge. Grace missfiel offensichtlich die Vorstellung, dass er in den Sachen der Direktorin herumstöberte.

»Sie stehen ein bisschen neben sich«, sagte Grace, als alle anderen gegangen waren. »Sie sind gar nicht richtig anwesend.«

Er nickte nur, denn es war sinnlos, abzustreiten, dass alles ein wenig seltsam war. Aber da er nun einmal hier war, um einen Lagebericht zu liefern und die Dinge ins Lot zu bringen, brauchte er schon eine genauere Vorstellung davon, wie weit alles den Bach hinunter war – oder wie irgendein Soziopath auf einem anderen Posten mal gesagt hatte: »Der Fisch stinkt vom Kopf her.« Fisch verweste gleichmäßig, Zellen zerfielen nicht nach Rangordnung oder Kaste, aber er hatte verstanden.

Control hatte sich sofort an den massiven Schreibtisch gesetzt, mitten hinein in das Wirrwarr von Stapeln von Aktenordnern, endlosen handgeschriebenen Notizen und Post-its. Der Drehstuhl eröffnete ihm einen großartigen Panoramablick auf die Bücherregale an den Wänden, zwischen denen Pinnbretter unter den Sedimenten von an- und umgesteckten Zetteln jeglicher Art verschwanden, und die wie merkwürdig fragile, aber doch planlose Kunstinstallationen wirkten. Die Luft war abgestanden, mit einem leichten Nachgeschmack von lange verglühten Zigaretten.

Schon Größe und Gewicht des Monitors auf dem Schreibtisch der Direktorin sprachen Bände, zeugten ebenso von seiner Überalterung wie die dicke Staubschicht auf der Oberseite. Er war halbherzig ein Stück zur Seite geschoben worden, wovon zwei ausgebleichte Muster auf der darunterliegenden Schreibunterlage samt Kalender zeugten, die sowohl seine alte Position als auch die des Laptops anzeigten, der den Monitor offenbar ersetzt hatte – wobei der Laptop nicht mehr aufzufinden war. Er nahm sich vor zu fragen, ob sie bei ihr zu Hause danach gesucht hatten.

Der Kalender war aus den späten Neunzigern; hatte die Direktorin zu der Zeit den Faden verloren? Er hatte eine plötzliche Vision von ihr während der zwölften Expedition in Area X, wie sie ziellos die Wildnis durchstreifte: eine kräftige, groß gewachsene Frau von vierzig Jahren, die jedoch älter wirkte. Schweigsam, mit sich selbst uneins, zerrissen. Von ihrer Verantwortung so ausgezehrt, dass sie sich sogar zu glauben erlaubte, sie wäre es den Menschen, die sie hinausschickte, schuldig, sie zu begleiten. Warum hatte sie niemand aufgehalten? Hatte sich niemand um sie gekümmert? War sie so überzeugend gewesen? Voice hatte sich dazu nicht geäußert. Ihre aufreizend lückenhafte Akte hatte Control nichts verraten.

Alles, was er sehen konnte, deutete darauf hin, dass sie sich gekümmert hatte, wenn auch wohl zuletzt darum, dass die Behörde funktionierte.

Sein linkes Knie stieß unter dem Schreibtisch an etwas Hartes: der Computer zum Monitor. Er fragte sich, ob er wohl auch in den Neunzigern den Dienst quittiert hatte. Control beschlich ein Gefühl, die Räume der IT-Abteilung nicht sehen zu wollen, die erbärmlichen, ausgelaugten Computer vergangener Dekaden, ein chaotisches, unfreiwilliges Museum aus Kunststoff und Kabeln und Platinen. Aber vielleicht stank der Fisch wirklich vom Kopf her und die Direktorin war vollständig zersetzt.

Derart computerlos – sein eigener Laptop entsprach noch nicht den Sicherheitsbestimmungen – hatte Control sich in die Abschriften der Einsatzgespräche mit den Teilnehmern der zwölften Expedition eingelesen. Die frühere Direktorin hatte diese in ihrer Funktion als Psychologin persönlich geführt.

In Controls Augen waren die anderen Rekruten wie ewig sprudelnde, überbordende Geysire gewesen: große, kichernde, rasende, Klischees verspritzende Schwätzer. Menschen, die im Vergleich zur Biologin den Mund nicht halten konnten … 4.623 Wörter … 7.154 Wörter … und als einsame Spitze die Linguistin, die in letzter Sekunde abgesprungen war: Sie hatte es in ihren Antworten auf 12.743 Wörter gebracht, darunter eine heroisch ausgeschmückte Kindheitserinnerung, »ungefähr so unterhaltsam wie ein Nierenstein, der sich durch den Schwanz nach draußen arbeitet«, wie jemand an den Rand gekritzelt hatte. Blieb nur noch die Biologin mit ihren 753 Wörter. Diese Art von Selbstkontrolle hatte ihn nicht nur auf die Worte achten lassen, sondern auf die Leerstellen zwischen ihnen. Zum Beispiel: »Ich habe alle meinen Außendienstjobs geliebt.« Allerdings war sie bei den meisten gefeuert worden. Sie glaubte, dass sie nichts über sich verraten hatte, aber jedes Wort – sogar Frühstück – war wie eine offene Tür. Frühstück gehörte nicht zu den glücklichen Kindheitserinnerungen der Biologin.

In den Abschriften, die nach ihrer Rückkehr entstanden waren, war der Geist spürbar. In den Leerstellen hatten sich Dinge gezeigt, die Control zögern ließen, die Worte laut auszusprechen, aus Angst, dass er den Unterton und die versteckten Bezüge doch nicht völlig verstanden hatte. Die distanzierte Beschreibung einer Distel … die Erwähnung eines Leuchtturms. Ein Satz oder zwei zu den Eigenarten des Lichts über den Marschen in Area X. Nichts davon hätte ihm so an die Nieren gehen sollen, aber er spürte ihre Anwesenheit, irgendwie, als würde sie hinter ihm stehen und ihm über die Schulter schauen. In den Interviews mit den anderen Expeditionsteilnehmern hatte er nichts dergleichen gespürt.

Dabei behauptete die Biologin, sich an ebenso wenig zu erinnern wie die anderen. Control war sich sicher, dass sich das als Lüge erweisen würde, wenn er ihr auf den Zahn fühlte. Aber wollte er ihr auf den Zahn fühlen? War sie so verschlossen, weil sich irgendetwas in Area X zugetragen hatte, oder entsprach das einfach ihrer Art? Plötzlich schien es ihm, als wäre ein Schatten über dem Schreibtisch aufgezogen. Er hatte das Gefühl, schon mal hier gewesen zu sein, oder ganz in der Nähe, und eben diese Überlegungen angestellt zu haben, an denen er fast zerbrochen wäre, oder sie waren durch ihn gebrochen? So oder so, es blieb ihm keine Wahl, als weiterzumachen.

Gut siebenhundert Wörter, nachdem sie zurückgekehrt war. Wie die beiden anderen. Aber bei ihr entsprach das in etwa ihrer Wortkargheit vor dem Aufbruch. Und dann gab es diese Auffälligkeiten, die bei den anderen fehlten. Wo die Anthropologin sagen mochte, »Die Wildnis war leer und unberührt«, hieß es bei der Biologin: »Überall gab es diese leuchtend rosafarbenen Disteln, sogar dort, wo das Süßwasser salzig geworden war … Das Licht der Abenddämmerung war eine schwache Glut, ein Leuchten.«

Dies und die Merkwürdigkeit des leeren Grundstücks ließen Control glauben, dass sich die Biologin tatsächlich an mehr erinnerte als die anderen. Dass sie vielleicht präsenter war als die anderen, es aber aus irgendwelchen Gründen verbergen wollte. Diese Situation war völlig neu für ihn, aber er erinnerte sich an einen Kollegen, der einmal einen Terroristen mit einer Kopfwunde verhört hatte. Dieser lag während der Verhöre im Krankenhaus und hoffte inständig, dass seine Erinnerung zurückkehren würde. Was sie auch tat. Aber er erinnerte sich nur noch an die Tatsachen, und nicht mehr an die selbstgerechten Beweggründe, die ihn zu seinen Aktionen getrieben hatten. Er konnte seine Taten nicht einschätzen, wusste nicht mehr weiter und wurde zur leichten Beute für die Fragesteller.

Control hatte mit der stellvertretenden Direktorin nicht über seine Überlegungen gesprochen, denn sollte er sich täuschen, dann würde das nur ihren negativen Eindruck von ihm verstärken – aber auch, um das Überraschungsmoment so lange wie möglich auf seiner Seite zu haben. »Tu niemals etwas nur aus einem einzigen Grund«, hatte Opa ihm mehr als einmal eingeschärft, und zumindest das hatte sich Control zu Herzen genommen.

Vor der Rasur war das Haar der Biologin lang und dunkelbraun, ja fast schwarz gewesen. Sie hatte dunkle, volle Augenbrauen, grüne Augen, eine Nase, die leicht, nur ganz wenig aus der Symmetrieachse gerutscht war (mal gebrochen, beim Sturz von einem Felsbrocken), und hohe Wangenknochen, die von dem asiatischen Erbe der einen Seite der Familie zeugten. Ihre rissigen Lippen waren überraschend voll für diesen leichten Ausdruck von Missbilligung. Er traute ihren Augen nicht und hatte überprüft, ob sie vor der Expedition nicht doch eine andere Farbe gehabt hatten.

Selbst als sie sich an den Tisch setzte, erweckte sie mit den kräftigen Nackenmuskeln den Anschein körperlicher Stärke. Bisher hatten die Tests keine Hinweise auf Krebs oder andere Anomalien gegeben. Er konnte sich nicht mehr erinnern, was in ihrer Akte stand, aber Control schien sie ungefähr so groß wie er selbst zu sein. Seit zwei Wochen war sie im Ostflügel untergebracht und hatte wenig mehr Ablenkung, als zu essen und zu trainieren.

Bevor die Expedition aufbrach, hatte die Biologin ein intensives Training in Überlebenstechniken und Schusswaffengebrauch an einer Einrichtung absolviert, die von Central eigens dafür eingerichtet worden war. Man hatte sie zudem mit allerhand Halbwahrheiten versorgt, die zu wissen der Kommandoebene von Southern Reach angemessen erschienen und die auf Kriterien beruhten, die Control undurchsichtig, ja geradezu finster erschienen. Außerdem hatte man dafür gesorgt, dass sie empfänglich für hypnotische Anordnungen wurde.

Der Psychologin/Direktorin standen jede Menge Stichwörter zur Verfügung, um die Expeditionsmitglieder unter Hypnose zu setzen – Worte, die in bestimmten Kombinationen bestimmte Wirkungen auslösten. Während er die Tür hinter sich zuzog, ging ihm noch durch den Kopf: Hatte die Direktorin auf irgendeine Weise ihre Erinnerungen beeinflusst, noch während sie alle in Area X waren?

Control rutschte auf einen Stuhl gegenüber der Biologin; er war sich bewusst, dass Grace sie durch den Einwegspiegel beobachtete. Die Biologin war bereits von Experten verhört worden, aber Control hatte auch Erfahrung, und er brauchte den unmittelbaren Kontakt. Verhöre von Angesicht zu Angesicht beinhalteten Dinge, die bei Abschriften und Videoaufzeichnungen verloren gingen.

Der Boden unter seinen Schuhen war schmierig, fast klebrig. Die Leuchtstoffröhren an der Decke flackerten unregelmäßig, und Tisch und Stühle schienen aus einer Highschool-Cafeteria zu stammen. Der penetrant metallische Geruch nach einem billigen Reinigungsmittel stieg ihm sauer in die Nase, fast wie faulender Honig. Das Zimmer stärkte nicht gerade das Vertrauen in Southern Reach. Ein Raum für eine intensive Nachbefragung – das schien wohl seine Funktion zu sein – sollte entgegen der landläufigen und weitverbreiteten Meinung komfortabler sein, gerade in Hinblick auf zu erwartende Widerstände.

Jetzt, da Control der Biologin gegenübersaß, strahlte sie eine Präsenz aus, die es ihm schwer machte, ihr in die Augen zu blicken. Aber unmittelbar vor einem Verhör war er immer nervös; hatte jedes Mal das Gefühl, der helle Blitz am Himmel wäre in seiner Bewegung erstarrt, hinabgestiegen und stünde direkt hinter ihm, wie eine Mutter aus Fleisch und Blut. Das war nicht einmal völlig aus der Luft gegriffen, seine Mutter überprüfte ihn gelegentlich tatsächlich. Sie hatte Zugang zu allen Unterlagen. Es hatte also nichts mit Paranoia oder nur einem Gefühl zu tun. Es war ein Teil seiner Realität.

Manchmal half es, offensiv mit der eigenen Nervosität umzugehen, damit das Gegenüber sich entspannte. Also räusperte er sich, nahm zaghaft einen Schluck aus dem mitgebrachten Glas Wasser, fummelte an der Aktenmappe herum, die er gemeinsam mit der Fernsteuerung für den Bildschirm zu seiner Linken zwischen sie beide auf den Tisch gelegt hatte. Um den Zustand aufrechtzuerhalten, in dem man sie aufgegriffen hatte, und um sicherzustellen, dass sie sich keine Erinnerungen ausdachte, hatte die stellvertretende Direktorin angeordnet, der Biologin keinen Zugang zu ihrer Personalakte zu gewähren. Control hielt das für grausam, aber war mit Grace einer Meinung. Er wollte die Mappe als mögliche Belohnung bei einem späteren Gespräch einsetzen können, auch wenn er noch nicht wusste, ob es dazu kommen würde.

Control stellte sich mit seinem echten Namen vor, teilte ihr mit, dass dieses »Interview« aufgezeichnet werde, und fragte sie dann für das Protokoll nach ihrem Namen.

»Nennen Sie mich Ghostbird«, sagte sie. Lag da ein Anflug von Trotz in ihrer Stimme?

Er hob den Kopf, schaute sie an, geriet sofort wieder ins Schwimmen und wandte den Blick ab. Setzte sie hypnotische Befehle gegen ihn ein? Für einen Augenblick blitzte dieser Gedanke auf.

»Ghostbird?«

»Oder gar nichts.«

Er nickte, wusste, wann er etwas auf sich beruhen lassen musste. Er würde später nachfragen. Er erinnerte sich vage an etwas aus der Akte. Möglicherweise.

»Ghostbird«, sagte er, wie zur Probe. Das Wort schmeckte kalkig, irgendwie künstlich. »Sie haben keine Erinnerungen an die Expedition?«

»Das habe ich schon erzählt. Es war eine unberührte Wildnis.« Er glaubte einen ironischen Unterton zu hören, war sich aber nicht sicher.

»Wie gut haben Sie die Linguistin kennengelernt – während der Ausbildung?«

»Nicht gut. Sie war ziemlich gesprächig. Konnte den Mund nicht halten. Sie war …« Die Biologin verstummte, während Control sich seine Begeisterung nicht anmerken ließ. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. Überhaupt nicht.

»Sie war was?«, hakte er nach. Der vorherige Fragesteller hatte die Standardtechnik benutzt: Stell ein gutes Verhältnis her, lass die Fakten sprechen, baue so eine Beziehung auf. Was zu nichts geführt hatte.

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Ich glaube, Sie können sich sehr wohl erinnern.« Und wenn du dich daran erinnerst, dann …

»Nein.«

Betont auffällig schlug er den Aktendeckel auf und blätterte durch die Aufzeichnungen, wobei er darauf achtete, dass sie einen Blick auf die zusammengehefteten Seiten mit ihren wichtigsten persönlichen Daten werfen konnte.

»Na gut. Dann erzählen Sie mir was über die Disteln.«

»Die Disteln?« Ihre hochgezogenen Augenbrauen ließen keinen Zweifel daran, was sie von der Frage hielt.

»Ja. Die Disteln haben Sie ziemlich detailliert beschrieben. Warum?« Er wunderte sich immer noch, dass sie sich vergangene Woche, kurz nach ihrer Ankunft bei Southern Reach, in dem Interview so ausgiebig über die Disteln ausgelassen hatte. Er musste wieder an die Hypnosestichworte denken und daran, wie Menschen Worte als Schutzwall einsetzten.

Die Biologin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Er las aus dem Protokoll vor. »›Die dortigen Disteln haben lavendelfarbene Blüten und wachsen in der Übergangszone zwischen dem Wald und dem Sumpf. Man kann sie nicht übersehen. Sie ziehen eine Vielzahl von Insekten an, und das Summen und das Leuchten, das sie umgibt, erfüllen Area X mit einer Geschäftigkeit, dass man sich fast wie in einer menschlichen Stadt vorkommt.‹ Und so weiter und so weiter.«

Sie zuckte wieder mit den Schultern.

Control hatte nicht vor, gleich beim ersten Mal einen Rundumschlag zu versuchen, sondern wollte das Terrain begutachten, das Territorium abstecken, auf dem er sich mit ihr bewegen konnte. Also kam er zum nächsten Punkt.

»Ihr Ehemann. Woran erinnern Sie sich?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Rolle wofür?« Lauernd.

Keine Antwort, also hakte er nach. »Ihr Ehemann. Woran erinnern Sie sich?«

»Dass ich einen hatte. Ein paar Erinnerungen an die Zeit, bevor es losging, wie an die Linguistin.« Clever, das aneinanderzukoppeln, als sei beides untrennbar miteinander verbunden. Verwirrung statt Aufklärung.

»Wissen Sie, dass auch er zurückgekommen ist, wie Sie?«, fragte er. »Dass auch er verwirrt war, wie Sie?«

»Ich bin nicht verwirrt«, schnappte sie und beugte sich vor. Control zuckte zurück. Er hatte keine Angst, aber einen Augenblick lang dachte er, er sollte vielleicht Angst haben. Gehirnscans hatten keine Anomalien gezeigt. Sie waren mit allen denkbaren Mitteln auf eine Infizierung mit einer irgendwie feindlich gesinnten Spezies hin überprüft worden. Oder »einem Eindringling«, wie Grace es ausdrückte; sie weigerte sich standhaft, ihm gegenüber einen so vagen Begriff wie Alien zu gebrauchen. Ghostbird war jetzt gesünder als vor ihrem Aufbruch; die Gifte, die heutzutage die meisten Menschen mit sich herumtragen, waren bei ihr und den anderen in deutlich geringeren Dosen nachzuweisen.

»Ich wollte Sie nicht verletzen«, sagte er. Und doch wusste Control, dass sie verwirrt war. Es war egal, woran sie sich erinnerte oder nicht erinnerte – die Biologin aus den Mitschriften im Vorfeld der Expedition hätte niemals eine solche Blöße gezeigt. Warum musste er sich nur mit ihr befassen?

Er griff nach der Fernbedienung neben der Akte. Der flache Bildschirm zu seiner Linken erwachte mit einem Knistern zum Leben und zeigte das pixelige, verschwommene Bild der Biologin auf dem leeren Grundstück, wie sie dort stand, unbeweglich wie der Boden oder die Backsteine des Gemäuers vor ihr. Die ganze Szene war in das kränkliche Grün einer Überwachungskamera getaucht.

»Warum das leere Grundstück? Warum wurden sie dort aufgegriffen?«

Ein gleichgültiger Blick und keine Antwort. Er ließ das Video weiterlaufen. Manchmal führte eine solche Konfrontation zu einer Reaktion des Befragten. Aber normalerweise zeigten Videos, wie der Verdächtige eine Tasche abstellte oder etwas in eine Mülltonne kippte.

»Erster Tag in Area X«, sagte Control. »Fußmarsch zum Basislager. Was ist da vorgefallen?«

»Nichts Besonderes.«

Control hatte keine Kinder, aber er stellte sich vor, dass dies genau die Antwort war, die Eltern von einem Teenager auf die Frage bekamen, wie der Schultag gewesen sei. Vielleicht sollte er es noch einmal andersherum versuchen.

»Aber an die Disteln erinnern Sie sich sehr, sehr gut«, sagte er.

»Ich habe keine Ahnung, warum Sie immer wieder auf die Disteln zurückkommen.«

»Weil es den Eindruck macht, dass Sie sich sehr wohl an Einzelheiten der Expedition erinnern.«

Pause, Control spürte den bohrenden Blick der Biologin. Er wollte ihn erwidern, aber etwas hielt ihn davor ab. Etwas ließ ihn fühlen, dass der Traum, in diesen Abgrund zu fallen, ihn vielleicht überwältigen könnte.

»Warum werde ich hier gefangen gehalten?«, fragte sie, und er spürte, dass er sie wieder ansehen konnte, dass die Gefahr vorübergegangen war.

»Werden Sie nicht. Das ist nur ein Teil der Nachbesprechung.«

»Aber ich kann nicht gehen.«

»Jetzt noch nicht«, gab er zu. »Aber Sie werden.« Und wenn auch nur in eine andere Einrichtung; es konnte auch ein oder zwei Jahre dauern, bis man den Rückkehrern erlaubte, wieder in die Außenwelt zurückzukehren – bestenfalls.

»Ich finde das merkwürdig«, sagte sie.

Er beschloss, es noch einmal zu versuchen. »Wenn nicht die Disteln, was wäre dann relevant? Was sollte ich sie fragen?«

»Ist das nicht Ihr Job?«

»Was ist mein Job?« Obwohl er ganz genau wusste, was sie meinte.

»Sie haben doch das Kommando auf Southern Reach.«

»Wissen Sie, was Southern Reach ist?«

»Natürlich«, stieß sie hervor.

»Wie war der zweite Tag im Basislager? Wann fing es an, merkwürdig zu werden?« War es merkwürdig geworden? Er nahm es einfach mal an.

»Ich kann mich nicht erinnern.«

Control lehnte sich vor. »Ich kann Sie unter Hypnose setzen lassen. Ich habe das Recht dazu. Das habe ich.«

»Hypnose funktioniert bei mir nicht«, sagte sie mit deutlichem Ekel.

»Wie können Sie da sicher sein?«

Ein Augenblick der Verwirrung. Hatte sie etwas verraten, was sie nicht verraten wollte, oder sich an etwas erinnert, dass sie vergessen hatte? Wusste sie um den Unterschied?

»Ich weiß es einfach.«

»Nur damit das klar ist, wir können Sie rekonditionieren und dann unter Hypnose setzen.« Das war insofern ein Bluff, weil es logistisch schwierig gewesen wäre. Control hätte sie dazu nach Central schicken müssen, und in diesem Rachen wäre sie bestimmt auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Vielleicht hätte er die Berichte einsehen können, aber nie wieder direkten Kontakt zu ihr gehabt. Außerdem wollte er sie ausdrücklich nicht rekonditionieren.

»Versuchen Sie’s und ich werde Sie …« Sie bremste sich gerade noch, bevor das Wort umbringen aus ihr herausgeplatzt wäre.

Control beschloss, das zu ignorieren. Er hatte selbst schon genug Drohungen ausgestoßen, um zu wissen, welche man ernst nehmen musste.

»Warum sind Sie gegen Hypnose resistent?«

»Sind Sie gegen Hypnose resistent?« Herausfordernd.

»Warum waren Sie auf dem leeren Grundstück? Die beiden anderen fand man auf der Suche nach ihren Angehörigen.«

Keine Antwort.

Vielleicht war es fürs Erste genug. Vielleicht reichte es.

Control schaltete den Bildschirm aus, nahm die Akte, nickte ihr zu und ging zur Tür.

Er öffnete sie und ließ damit mehr Schatten hinein, als gut war, wandte sich im Bewusstsein, dass die stellvertretende Direktorin ihn vom anderen Ende des Flurs her anstarrte, noch einmal der Biologin zu.

Dieser Nachtrag war von Anfang an Teil seines Plans für den ersten Akt gewesen. Frage: »Was ist Ihre letzte Erinnerung an Area X?«

Die unerwartete Antwort schwappte über ihn hinweg wie eine Angriffswelle aus Licht, das die Dunkelheit attackiert: »Ertrinken. Ich war am Ertrinken.«

002: KORREKTUREN

»Schließ einfach die Augen und du wirst dich an mich erinnern«, hatte Controls Vater ihm vor drei Jahren an einem Ort gesagt, der nicht weit von hier entfernt lag; der Sterbende hatte versucht, den Lebenden zu trösten. Aber wenn er die Augen schloss, verschwand alles, außer dem Traum vom Fallen und der Ansammlung von Narben aus früheren Einsätzen. Warum hatte die Biologin das gesagt? Warum hatte sie gesagt, dass sie ertrank? Es hatte ihn umgehauen, ihm aber auch das merkwürdige Gefühl gegeben, als würden sie ein Geheimnis teilen. Als wäre sie in seinen Kopf gestiegen und hätte den Traum gesehen, und jetzt wären sie aneinandergebunden. Er nahm ihr das übel, er wollte keine Verbindung zu Menschen, die er verhören musste. Er musste über den Dingen stehen. Er musste den Zeitpunkt bestimmen können, an dem er selbst hinabstieß und nicht durch den Willen eines anderen zur Erde runtergezogen wurde.

Als Control die Augen öffnete, stand er hinter dem u-förmigen Hauptquartier von Southern Reach. Der Bogen zeigte zur Straße, dazwischen lag ein Parkplatz. Gebäude dieser Art wurden schon seit Jahrzehnten nicht mehr gebaut, und Control konnte sich nicht entscheiden, ob der Bau aus verkleidetem Schichtbeton eher ein Mahnmal oder ein Haufen Mist war. Die Firste und Spalten waren rätselhaft; wie das Dach leicht über das Gebäude hinausragte, schien weniger einen funktionellen als mehr einen künstlerischen Ursprung zu haben, eine abstrakte Skulptur in grotesk übersteigertem Maßstab. Um es noch schlimmer zu machen, hatte man die Fläche zwischen den beiden Armen des U als Innenhof gestaltet, durch dessen offene Seite man auf einen See blickte, der von einem dichten unberührten Wald umwachsen war. Das sumpfige Ufer des Sees war kohlrabenschwarz, als ob es einmal lichterloh gebrannt hatte, und im dunklen Brackwasser versuchten ein paar jämmerliche Zypressenstümpfe zu überleben. Das Licht über dem See schimmerte klaustrophobisch grau, wie abgetrennt vom blauen Himmel darüber.

Auch hier war irgendwann einmal alles neu gewesen, jedenfalls schien das Gebäude wie eine Konstruktion aus so ferner Vergangenheit, dass man beim Blick aus dem Fenster meinte, Libellen so groß wie Geier sehen zu können.

Das U, das alles so fest umschlossen hielt, weckte wenig Vertrauen; es schien weniger ein Symbol des Glücks als etwas Unvollständiges zu sein. Unvollständige Schlussfolgerungen. Unvollständige Berichte. Die Türen an den Spitzen des U, die viele als Abkürzung benutzten, bestätigten nur das Versagen der Vorstellungskraft. Und die ganze Zeit über machte der bodenlose Sumpf, was Sümpfe tun, auf seine Art ebenso vollkommen, wie Southern Reach unvollkommen war.

Alles war so still, dass das plötzliche Eindringen eines Spechts in die Szenerie so brachial klang wie der Überschallknall einer F-16.

Auf der linken Seite von U und See – von seinem Standpunkt aus gerade noch zu sehen – schlängelte sich eine Straße zwischen den Bäumen auf die unsichtbare Grenze zu, hinter der Area X lag. Nur fünfunddreißig Meilen asphaltierte Straße und dann weitere fünfzehn Meilen unbefestigte, insgesamt zehn Kontrollpunkte mit Schießbefehl auf alles, was sich unberechtigt dort aufhielt, und Zäune und Stacheldraht und Gräben und noch mehr Sumpf, vielleicht sogar von der Regierung ausgesetzte Spitzenprädatoren und gentechnisch modifizierte Giftbeeren sowie Hämmer, mit denen man sich selbst den Schädel einschlagen konnte, trennten ihn von dieser Grenze. Nach dem Briefing hatte Control sich gefragt: Warum das alles? Weil man genau das in so einer Situation tat? Um Leute fernzuhalten? Er hatte die Berichte eingehend studiert. Jeder, der sich der Grenze »unberechtigt« genähert und sie an einer anderen Stelle als dem »Tor« überquert hatte, verschwand spurlos. Wie viele Menschen hatten genau das getan, ohne dabei entdeckt worden zu sein? Wie sollte Southern Reach das jemals in Erfahrung bringen? Ein oder zwei Mal war ein Enthüllungsjournalist nah genug herangekommen, um ein paar Fotos der Grenzanlage von Southern Reach zu machen; aber selbst das hatte in den Augen der Öffentlichkeit allenfalls die offizielle Version von einer Umweltkatastrophe bestätigt, deren Folgen zu beseitigen wohl noch hundert Jahre dauern würde.

Er hörte Schritte zwischen den Steintischen im betonierten Innenhof näher kommen, wo weiße Fliesen mit rechteckigen Blumentöpfen wetteiferten, in die man wahllos und in unregelmäßigen Abständen tulpenartige Blumen gestopft hatte. Er erkannte diese Schritte an einem leichten Nachschleifen. Die stellvertretende Direktorin war zuvor Beamtin im Außendienst gewesen und hatte sich bei einem ihrer Einsätze am Bein verletzt. Innerhalb des Gebäudes konnte sie das verbergen, aber nicht auf diesen verräterischen Fliesen. Die Herkunft ihrer Verletzung flößte ihm Respekt ein – »Jedes Mal, wenn du ›im Außendienst‹ sagst, sehe ich euch ganzen Spione durchs Getreide rennen«, hatte sein Vater einst zu seiner Mutter gesagt –, was nicht unbedingt ein Vorteil für ihn war, denn es führte dazu, dass er ihr das nachfühlte.

Er hatte sie herbestellt, um ihm beim Starren auf den Sumpf Gesellschaft zu leisten und um über Area X zu sprechen. Er hatte geglaubt, dass ein Ortswechsel – ein Ausbruch aus der Enge des Betonsargs – helfen könnte, ihre Feindschaft abzumildern. Das war, bevor er gemerkt hatte, wie durch und durch höllisch und prähistorisch diese Landschaft war, und deshalb jetzt auch wie prä-hysterisch. Schau dir diese Mückenorgie an, Grace, und lass uns Freunde sein, Grace.

»Sie haben nur die Biologin verhört. Ich weiß immer noch nicht, warum«, sagte sie, bevor er auch nur zu einer einleitenden Bemerkung ansetzen konnte … und seine ganze Entschlossenheit, sich diplomatisch zu geben, irgendwie zu einem Kollegen zu werden und nicht Kontrahent zu bleiben – und sei es durch Täuschung oder einen symbolischen Nierenhaken –, entwich in die feucht-schwüle Luft. Er versuchte es zu erklären und sie schien beeindruckt, auch wenn er sich da nicht sicher war.

»Machte sie während der Ausbildung den Eindruck, irgendetwas zu verheimlichen?«, fragte er.

»Von etwas ablenken? Sie glauben, dass sie etwas verheimlicht?«

»Ich weiß es noch nicht. Ich könnte mich irren.«

»Wir haben erfahrenere Verhörspezialisten als Sie.«

»Gut möglich.«

»Wir sollten sie nach Central überstellen.«

Der Gedanke ließ ihn frösteln.

»Nein«, sagte er, mit ein bisschen zu viel Nachdruck; sofort befürchtete er, dass die stellvertretende Direktorin denken könnte, ihm würde das Schicksal der Biologin am Herzen liegen.

»Die Anthropologin und die Vermesserin habe ich schon weggeschickt.«

Jetzt konnte er die Verwesung riechen, all die Pflanzen, die unter der Oberfläche des Sumpfes vor sich hin rotteten, die plumpen Schildkröten und verkümmerten Fische, die sich den Weg durch die verfilzten Schlingen bahnten. Er war zu überrascht, um ihr das Gesicht zuzuwenden oder zu antworten.

Heiter fuhr sie fort: »Sie haben doch gesagt, dass sie völlig überflüssig seien, also habe ich sie nach Central geschickt.«

»Mit wessen Genehmigung?«

»Mit Ihrer Genehmigung. Sie haben mir deutlich signalisiert, dass dies Ihr Wunsch ist. Wenn das nicht Ihre Absicht war, bitte ich um Entschuldigung.«

Ein leichtes Beben durchfuhr ihn, begleitet von einem erneuten Frösteln.

Sie waren fort. Er konnte sie nicht zurückholen. Er musste sie aus seinen Gedanken verbannen, sich selbst sagen, dass Grace ihm einen Gefallen getan, ihm seinen Job erleichtert hatte. Saß sie bei Central am längeren Hebel?

»Ich kann mir jederzeit die Abschriften ansehen, wenn ich mich noch anders entscheide«, sagte er und versuchte, einen umgänglichen Ton anzuschlagen. Sie würden so oder so noch verhört werden, und er hatte ihr mit der Aussage, das selbst nicht tun zu wollen, eine Steilvorlage geliefert.

Sie suchte sein Gesicht aufmerksam nach einem Zeichen ab, dass sie ihn mit ihrer Aktion getroffen hatte.

Er versuchte zu lächeln und seinen Ärger mit dem Gedanken zu betäuben, dass die stellvertretende Direktorin, wenn sie ihm wirklich schaden wollte, einen Weg gefunden hätte, die Biologin verschwinden zu lassen. Das hier war nur ein Warnschuss. Trotzdem musste er sich jetzt revanchieren. Nicht aus Rache, sondern damit sie nicht weiter bei ihm wilderte. Er konnte es sich nicht leisten, auch noch die Biologin zu verlieren. Noch nicht.

In die unbehagliche Stille hinein fragte Grace: »Warum stehen Sie immer noch wie ein Idiot hier in der Hitze herum?« Munter, als wäre überhaupt nichts passiert. »Wir sollten reingehen. Es ist Lunchzeit, und Sie können ein paar Leute aus der Verwaltung kennenlernen.«

Beinahe fing Control schon an, sich an ihre Respektlosigkeiten zu gewöhnen, aber noch stießen sie ihm auf und er wartete nur auf eine Gelegenheit, das Spiel umzudrehen. Während er ihr ins Gebäude folgte, spürte er die Präsenz des Sumpfes in seinem Rücken. Eine andere Art Feind. Er kannte diese Präsenz von damals, als er als Teenager nach der Scheidung seiner Eltern hier in der Nähe gewohnt hatte, und erneut, während sein Vater einen langsamen Tod starb. Er hatte gehofft, sie nie wieder spüren zu müssen.

»Schließ einfach die Augen, und du wirst dich an mich erinnern«.«

Mach ich, Dad. Ich habe diese Erinnerung noch, aber du fängst an zu verblassen. Es gibt zu viele Störungen, und das wird alles viel zu real.

Die Familie des Vaters stammte aus Mittelamerika und hatte hispanische und indianische Wurzeln; er hatte die Hände und das schwarze Haar seines Vaters und die kleine Nase und Statur der Mutter. Die Hautfarbe lag irgendwo zwischen beiden. Sein Großvater väterlicherseits war verstorben, bevor Control alt genug war, um ihn kennenzulernen, aber er hatte all die abenteuerlichen Geschichten gehört. Der Mann war in seiner Kindheit von Tür zu Tür gezogen und hatte Wäscheklammern verkauft, in seinen Zwanzigern war er Boxer gewesen, nicht gut genug für einen Champion, aber gut genug als bezahlter Herausforderer, der einiges einstecken konnte. Später hatte er auf dem Bau gearbeitet, dann als Fahrlehrer, bevor ihm ein Herzinfarkt einen frühen Tod mit fünfundsechzig bescherte. Seine Frau, die in einer Bäckerei arbeitete, starb nur ein Jahr nach ihm. Ihr ältestes Kind, Controls Vater, war Künstler geworden. Er war in einer Familie aufgewachsen, die größtenteils Zimmerleute und Mechaniker hervorgebracht hatte, und nutzte dieses handwerkliche Erbe für seine abstrakten Skulpturen. Er gewann der Abstraktion neue Aspekte ab, indem er auf die heitere Farbgebung der Mayas und Materialien wie Stein und Glas zurückgriff, und schlug damit eine Brücke zwischen der hohen und der naiven Kunst. Das war sein Leben, und Control konnte sich nicht daran erinnern, dass sein Vater nicht dieser Mensch und genau dieser Mensch gewesen war.

Zeitweilig stieg der Vater auf zum Liebling der angesehensten Galeristen. Und während eines Empfangs zu Ehren seines Vaters lernten sich Controls Eltern kennen und, wie sie sagten, auf den ersten Blick lieben, was Control schwerfiel zu glauben. Seine Mutter war damals in New York stationiert und hatte einen Schreibtischjob; aber ihre Karriere zeichnete sich schon deutlich ab. Sein Vater zog nach Norden zu ihr, dann kam Control. Nur ein oder zwei Jahre später wurde sie versetzt, vom Schreibtisch weg in den aktiven Außendienst, und das war der Anfang vom Ende gewesen; alles, was Control in der Kinderzeit Halt gegeben hatte, entpuppte sich als kurzes Glück, dem ganze Landschaften des Unglücklichseins gegenüberstanden: wie auf diesen deprimierenden Familienbildern, die man in den Trödelläden entlang der Küste findet, aber nie kauft.

Das Schweigen der Mutter, das nicht nur auf Geheimnisse zurückzuführen war, die sie mit sich herumschleppte und über die sie nicht sprechen durfte, sondern – wie Control als Erwachsener verstand – zu gleichen Teilen ihrer generellen Distanziertheit entsprang, wurde nur durch Streitereien unterbrochen. Ihre Abwesenheit und insbesondere ihre Verachtung für seine Kunst nagten an seinem Vater in besonderem Maße, da die Kunstszene weitergezogen und die Arbeit an den Werken kostspielig war und er Gönner oder Stipendien brauchte, um weitermachen zu können.

Aber sein Vater rückte nicht von seinen Prinzipien ab. Wenn sie zwischen zwei Einsätzen nach Hause kam, saß er da zwischen den wie Beweismittel verstreuten Plänen der neuen Projekte. Control erinnerte sich, dass sie Schuldzuweisungen mit frostigem, unnahbarem Mitgefühl konterte. Es brach mit ungebremster Wucht in Form von Geschenken über sie herein, die sie in letzter Minute auf irgendeinem entlegenen Flughafen gekauft hatte, und als Lügengeschichten über das, wo sie gewesen war. Oder in Form einer wahren Geschichte, die sich schon Jahre zuvor zugetragen hatte und die nicht mehr der Geheimhaltung unterlag, was Control aber erst viel später durchschaute, als er sich einem ähnlichen Dilemma gegenübersah. Diese Geschichten und ihre Unnahbarkeit ärgerten seinen Vater, aber erst ihr Mitgefühl machte ihn richtig wütend. Er konnte es nur als pure Überheblichkeit deuten. Woher soll man auch wissen, ob ein so ferner Blitz aufrichtig ist?

Nach der Scheidung blieb Control bei seinem Vater, der zurück in den heimatlichen Süden zog und dort Teil eines Kreises wurde, der zum Teil aus Verwandten bestand und in dem er sich zu Hause fühlte; hier wurden seine künstlerischen Ambitionen anerkannt, obwohl sein Bankkonto darbte. Control konnte sich noch genau an den Schock nach dem Umzug erinnern, als er merkte, wie viel Lärm und Bewegung und Farbigkeit in einem Haus herrschten konnten; wie er plötzlich eine Familie hatte.

Doch während der heißen Sommer in dieser kleinen Stadt nicht weit von Southern Reach dachte ein dreizehnjähriger Junge, der ein rostiges Fahrrad und ein paar treue Freunde hatte, trotzdem an seine Mutter, irgendwo da draußen, in irgendeiner weit entfernten Stadt oder einem weit entfernten Land, an diesen fernen Blitz, der manchmal aus dem nächtlichen Himmel niederfuhr und sich auf ihrer Türschwelle als menschliches Wesen materialisierte. Wie damals, als sie noch eine Familie waren.

Eines Tages, so glaubte er, würde sie ihn mit sich nehmen, und er würde selbst zum Blitz werden und Geheimnisse haben, die nie jemand erfahren dürfte.

Einige der Gerüchte um Area X waren sorgfältig komponiert und erschienen Control in ihrer Komplexität wie ein ganzer Schwarm von tödlichen und sich rasant vermehrenden Quallen in einem Aquarium. Während man sie dabei beobachtete, wie sie sich mit Wellenbewegungen hin und her bewegten, schienen sie im reinen Blau des Wasser gleichermaßen real wie irreal. Invasionsgebiet. Geheime Regierungsexperimente. Konnte ein solcher Organismus überhaupt existieren? In den schlichteren Versionen klang die offizielle Geschichte an – Varianten eines von Menschen verursachten ökologischen Desasters –, die heutzutage in einer Art Allgemeingut waren, dass sie kaum noch Neugierde hervorrief. Eine Streichelzoovariante inklusive Handfütterung.

Aber die Wahrheit war viel einfacher: Vor etwa zweiunddreißig Jahren hatte in einem abgelegenen Landstreifen im Süden, manchen auch als »vergessene Küste« geläufig, ein »Ereignis« stattgefunden, in dessen Folge die Landschaft anfing, sich zu verändern, und sich gleichzeitig eine unsichtbare Grenze oder auch Mauer aufbaute. Ein Geist oder eine »durchlässige Vorab- manifestation einer Grenze«, wie es in den Unterlagen hieß – gestaltlos wie Nebel, praktisch unsichtbar, abgesehen von einem leichten Flackern –, hatte sich von einem unbekannten Epizentrum aus in alle Richtungen ausgebreitet und war plötzlich in seiner jetzigen, undurchdringlichen Ausdehnung zum Stillstand gekommen.

Damals wurde Southern Reach mit dem Auftrag gegründet, herauszufinden, was passiert war. Die Erfolge waren dürftig und erkauft mit hohen Verlusten an Menschenleben durch die Expeditionen, die man durch den einzigen Zugang hineingeschickt hatte. Doch die Verluste waren zu verschmerzen, angesichts der Hoffnung, einen Blick hinter eine Grenze werfen zu können, die selbst noch Gegenstand ihrer Untersuchungen war, und zu enträtseln, warum die Ausrüstung, wenn man sie denn bergen konnte, unbrauchbar geworden war und sich manchmal mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zersetzte. Allein die aufreizende und widersprüchliche Art, in der manche Expeditionen völlig unversehrt zurückgekehrt waren, schien noch unerklärlicher zu sein.

»Es hat schon angefangen, bevor die Grenze entstand«, erzählte ihm die stellvertretende Direktorin nach dem Lunch in seinem alten neuen Büro. Sie war jetzt ganz und gar geschäftsmäßig, und Control beschloss, ihr das unbesehen abzunehmen, seinen Ärger über den Präventivschlag hinunterzuschlucken, mit dem sie die Anthropologin und die Vermesserin in die Verbannung geschickt hatte.

Grace rollte eine Karte von Area X auf seinem Schreibtisch aus: die Küste, der Leuchtturm, das Basislager, die Wege, Seen und Flüsse, die Insel viele Meilen nördlich, Grenzpunkt der weitesten Ausdehnung der … feindlichen Landnahme? Der Invasion? Der Verseuchung? Welcher Begriff traf hier zu? Der rätselhafteste Teil der Karte war der schwarze Punkt, den die Direktorin handschriftlich als »Tunnel« markiert hatte, der fast allen anderen aber als »topografische Anomalie« geläufig war. Rätselhaft deshalb, weil keine der Expeditionen, deren Mitglieder überlebten und berichten konnten, ihn überhaupt wahrgenommen hatte, selbst wenn sie genau dieses Gebiet kartiert hatten.