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Borne E-Book

Jeff VanderMeer

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Beschreibung

In einer zerstörten Stadt der nahen Zukunft überlebt Rachel, indem sie in den Ruinen nach Überresten biotechnologischen Abfalls sucht. Ihre Beute bringt sie zu ihrem Partner Wick, der aus den gesammelten Überresten psychoaktive Drogen herstellt und verkauft. Die Stadt ist gefährlich, übersät mit den ausrangierten Experimenten der Firma – einem zerfallenen Biotech-Unternehmen – und geplagt von den unvorhersehbaren Raubzügen eines riesigen Bären namens Mord. Im Fell von Mord findet Rachel bei einer ihrer Expeditionen Borne, ein undefinierbares Wesen, das auf sie eine merkwürdige Anziehung ausübt. Entgegen ihren Instinkten – jede Schwäche kann dich in dieser erbarmungslosen Stadt töten – nimmt sie Borne mit in ihr Versteck. Doch Borne ist viel mehr, als Rachel sich vorstellen kann. Er lernt sich zu bewegen, zu reden, seine Gestalt zu verändern und beginnt zunehmend, die delikate Balance der Macht in der Stadt zu bedrohen. Während sich neue Feinde der Firma formieren, führt Bornes Metamorphose Rachel vor Augen, wie sehr ihre prekäre Existenz auf Lügen und Geheimnissen beruht, deren Aufdeckung ihre Welt für immer verändern wird.

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Zum Buch

In einer zerstörten Stadt der nahen Zukunft überlebt Rachel, indem sie in den Ruinen nach Überresten biotechnologischen Abfalls sucht. Ihre Beute bringt sie zu ihrem Partner Wick, der aus den gesammelten Überresten psychoaktive Drogen herstellt und verkauft. Die Stadt ist gefährlich, übersät mit den ausrangierten Experimenten der Firma – einem zerfallenen Biotech-Unternehmen – und geplagt von den unvorhersehbaren Raubzügen eines riesigen Bären namens Mord.

Im Fell von Mord findet Rachel bei einer ihrer Expeditionen Borne, ein undefinierbares Wesen, das auf sie eine merkwürdige Anziehung ausübt. Entgegen ihren Instinkten – jede Schwäche kann dich in dieser erbarmungslosen Stadt töten – nimmt sie Borne mit in ihr Versteck. Doch Borne ist viel mehr, als Rachel sich vorstellen kann. Er lernt sich zu bewegen, zu reden, seine Gestalt zu verändern und beginnt zunehmend, die delikate Balance der Macht in der Stadt zu bedrohen. Während sich neue Feinde der Firma formieren, führt Bornes Metamorphose Rachel vor Augen, wie sehr ihre prekäre Existenz auf Lügen und Geheimnissen beruht, deren Aufdeckung ihre Welt für immer verändern wird.

Über den Autor

Jeff VanderMeer wurde 1968 in Pennsylvania geboren und wuchs auf den Fidschi-Inseln auf. Er ist ein vielfach ausgezeichneter Science-fiction-Autor – u.a. mit dem Nebula Award, dem Hugo Award, dem World Fantasy Award und dem British Science Fiction Award – und Herausgeber zahlreicher Anthologien.

Jeff VanderMeer lebt in Tallahassee, Florida. Zuletzt erschien von ihm bei Kunstmann die Southern-Reach-Trilogie.

 

JEFF VANDERMEER

BORNE

 

ROMAN

 

Aus dem Englischenvon Michael Kellner

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

 

 

 

 

Für Ann   

 

ERSTER TEIL

 

 

 

 

 

 

 

WAS ICH FAND UND WIE ICH ES FAND

Ich fand Borne an einem sonnigen, stahlblauen Tag, als der riesige Bär Mord sich in der Nähe unseres Zuhauses herumtrieb. Zunächst war Borne für mich einfach etwas, das wir vielleicht verwerten konnten. Ich wusste nicht, was Borne für uns bedeuten würde. Ich konnte nicht wissen, dass er alles verändern würde. Mich inklusive.

Auf den ersten Blick machte Borne nicht viel her: Er war dunkelviolett, etwa so groß wie meine Faust und klebte in Mords Pelz wie eine halb geschlossene, gestrandete Seeanemone. Ich fand ihn nur, weil er ungefähr alle dreißig Sekunden ein smaragdgrünes Leuchten aufblitzen ließ, wie ein Leuchtfeuer.

Als ich näher kam, stieg mir in Wellen der Geruch von Salzlake in die Nase, und einen Augenblick lang war die zerstörte Stadt um mich herum verschwunden, gab es keine Suche nach Nahrung und Wasser mehr, keine umherstreunenden Gangs und entlaufenen, modifizierten Kreaturen von unbekannter Herkunft, deren Absichten man nicht kannte. Keine verstümmelten, verbrannten Körper, die an kaputten Straßenlaternen hingen.

Stattdessen sah das Ding, das ich gefunden hatte, einen alarmierenden Augenblick lang aus wie aus den Gezeitenbecken meiner Jugend, bevor ich in die Stadt gekommen war. Ich konnte das Salz wieder riechen und den Wind spüren, und die vertraute Kälte des Wassers, das über meine Füße schwappte. Die lange Suche nach Muscheln, die schroffe Stimme meines Vaters und der Singsang meiner Mutter. Der honigwarme Sand, in den meine Füße sanken, während ich auf den Horizont und die weißen Segel starrte, die von fernen Besuchern auf unserer Insel kündeten. Falls ich jemals auf einer Insel gelebt hatte. Falls das jemals der Wahrheit entsprochen hatte.

Die Sonne hoch oben war von einem kariösen Gelb wie das Auge von Mord.

Ich hatte Mord den ganzen Vormittag über verfolgt, von dem Augenblick an, als er im Schatten eines Gebäudes der Firma weit im Süden erwacht war; so fand ich Borne. Der De-facto-Herrscher unserer Stadt hatte sich in die Lüfte erhoben und sich meinem Versteck genähert, um seinen Durst zu stillen, indem er den riesigen Schlund öffnete und mit der Schnauze durch das verseuchte Flussbett im Norden pflügte. Niemand außer Mord konnte aus diesem Fluss trinken und überleben; die Firma hatte ihn so geschaffen. Dann schwang er sich wieder hoch ins Blaue, ein Killer, leicht wie der Samen einer Pusteblume. Wenn er auf seinem Weg nach Osten unter dem finsteren Blick regenloser Wolken Beute fand, stieß er aus der Höhe hinab und befreite ein schreiendes Stück Fleisch von der Notwendigkeit zu atmen. Ließ von ihm nichts als eine blutige Gischt übrig, eine schäumende Wolke unvorstellbar fauligen Atems. Manchmal brachte ihn das Blut zum Niesen.

Niemand, nicht einmal Wick, wusste, warum die Firma den Tag nicht hatte kommen sehen, an dem Mord von ihrem Wächter zu einem Verhängnis geworden war – warum sie nicht versucht hatte, ihn zu zerstören, solange sie noch die Macht dazu hatte. Inzwischen war es zu spät, denn Mord war nicht nur zu einem Ungeheuer mutiert, sondern hatte durch irgendeinen Technikzauber, der der Firma abgepresst worden war, auch gelernt zu schweben, zu fliegen.

Als ich Mords Lagerplatz erreichte, wurde er in seinem unruhigen Schlaf von erdbebenartigen Rülpsern geschüttelt; seine Hüfte ragte über mir empor. Sogar wenn er auf der Seite lag, war er drei Stockwerke hoch. Sein befriedigter Blutdurst hatte ihn schläfrig gemacht, und auf der Suche nach einem Ruheplatz hatte er sich auf einem Gebäude niedergelassen, dessen Mauerreste aus Ziegelsteinen jetzt überall unter ihm hervorquollen und ihren Zweck als Schlafstatt erfüllten.

Mord hatte Zähne und Klauen, die blitzschnell zerfleischen und vernichten konnten. Seine Augen, die manchmal sogar beim Träumen offen standen, waren gewaltige, fliegenverkrustete Leuchtfeuer, Spione seines Geistes, der – so glaubten einige – in kosmischen Größenordnungen arbeitete. Aber für mich, den menschlichen Floh an seiner Flanke, bedeutete er vor allem eine gute Quelle für Wiederverwertbares. Mord zerstörte unsere kaputte Stadt, aber unfreiwillig belebte er sie auch wieder.

Wenn Mord sich von seinem Lager aus, das er in die beschädigte Seite des Firmengebäudes geschlagen hatte, mit Schaum vor dem Maul auf den Weg machte, verfingen sich allerlei Schätze in seinem klebrigen, verdreckten Pelz, der vor Aas und Chemikalien stank. Er beschenkte uns mit Packungen namenlosen Fleisches, Reste aus Firmenbeständen, und manchmal stieß ich auf Kadaver nicht wiederzuerkennender Tiere, mit durch Innendruck geborstenen Köpfen und grellweißen, hervorquellenden Augen. Wenn wir Glück hatten, regnete es, während er herumtapste oder hoch über uns hinwegglitt, manche dieser Schätze aus seinem Pelz, dann mussten wir nicht auf ihn hinaufklettern. An besonders guten, sprich schlechten Tagen fanden wir Käfer, die man sich ins Ohr stecken konnte, wie die, die mein Partner Wick herstellte. Aber wie im Leben überhaupt konnte man nie sicher sein, und so folgten wir Mord mit gesenktem Kopf und auf Knien in der Hoffnung, dass er liefern würde.

Wick warnte mich immer, dass einige dieser Dinge möglicherweise absichtlich dort platziert worden waren. Dass es Fallen sein könnten. Oder dass sie in die Irre führen sollten. Aber ich kannte mich mit Fallen aus. Ich stellte selbst welche. Wick wusste, dass ich sein »Sei vorsichtig!« in den Wind schlug, wenn ich morgens aufbrach. Ich ging das Risiko ein, um mein eigenes Überleben zu sichern und ihm zurückzubringen, was ich fand, damit er es inspizieren konnte wie ein Wahrsager einen Haufen Gedärme. Manchmal dachte ich, Mord würde die Sachen aus einem verqueren Verantwortungsgefühl heraus zu uns, seinen Spielzeugen, seinen Folterpuppen, bringen; ein andres Mal schien es mir, als hätte die Firma ihn dazu verleitet.

So mancher Sammler, der wie ich jetzt Mords Flanke begutachtete, überschätzte die Tiefe von Mords Schlaf und fand sich hochgehoben, haltlos, und zu Tode stürzen … ohne dass Mord es bemerkte, der wie ein Felsbrocken über sein Jagdgebiet dahinglitt, die Stadt, die sich diese Beteichnung noch nicht wieder verdient hatte. Und so riskierte ich nicht viel mehr als Erkundungstouren entlang seiner Flanke. Seether. Theeber. Mord. Er hatte viele Namen, die denen, die sie laut aussprachen, wundersam erschienen.

Schlief Mord also wirklich, oder hatte er in seiner verdorbenen, giftigen Abfallhalde von Kopf einen Trick ausgeheckt? Es war nicht leicht zu beurteilen. Ermutigt von seinem Schnarchen, das sich als ein gigantisches Erdbeben quer über den ganzen Atlas seines Körpers manifestierte, kletterte ich weiter auf seine Hüfte zu, während andere Sammler mich vom Boden aus wie ein Versuchskaninchen beobachteten. Und da stieß ich zufällig auf Borne, der sich im braunen, rauen Seetang von Mords Pelz verfangen hatte.

Borne summte leise vor sich hin, die halb geschlossene Öffnung auf der Oberseite wie ein Mund, dessen Muskelstränge sich ständig zusammenzogen und weiteten. Noch war Borne ein »es«, kein »er«.

Je näher ich kam, desto deutlicher ragte Borne aus dem Pelz heraus, wurde immer mehr zu einer Kreuzung aus Seeanemone und Tintenfisch: eine glatte Vase mit sich wellenden Farben, die von dunkelviolett über tiefblau bis meergrün changierten. Vier vertikale Grate zogen sich über die warme und pulsierende Haut, deren Textur glatt war wie die eines vom Wasser geschliffenen Steins, aber etwas gummiartig. Es roch nach Strandhafer an faulen Nachmittagen im Sommer, Meersalz und unterschwellig nach Passionsblumen. Erst viel später verstand ich, dass es für einen anderen anders gerochen, ja vielleicht sogar eine andere Form angenommen hätte.

Es sah nicht nach etwas Essbarem aus, und es war kein Erinnerungskäfer, aber auch kein Abfall, deshalb nahm ich es mit. Ich glaube, ich konnte gar nicht anders.

Mords Körper bebte, hob und senkte sich im Takt seines Atems, und ich stand mit angewinkelten Knien da, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er schnarchte und zuckte, als würde er einen psychotischen Traum ausagieren. Seine faszinierenden Augen – so weit und schwarzgelb und vernarbt wie ein Meteor oder die gesprungene Kuppel des Observatoriums im Westen – waren fest geschlossen, der riesige Schädel nach Osten ausgestreckt, ohne sich um mögliche Gefahren zu kümmern.

Und hier war Borne, wehrlos.

Die anderen Sammler, viele von ihnen Befürworter einer unsicheren Waffenruhe, begannen ermutigt, an Mord hochzuklettern, sich ins Unterholz seines verdreckten, heiligen Pelzes zu wagen.

Borne schlug an meiner Brust wie ein zweites Herz.

»Borne.«

Namen von Menschen, von Orten bedeuteten so wenig, dass wir aufgehört hatten, andere mit der Suche danach zu belästigen. Die Karte der alten Welt schien von einem grotesken Märchen heimgesucht, das, wenn man es erzählte, nicht nach Worten klang, sondern nach Geräuschen als Folge einer Gräueltat. Zwischen den Trümmern der Erde unsichtbar zu bleiben, war alles, was ich suchte. Und ein gutes Paar Stiefel für die Zeit, wenn es kalt wurde. Und eine alte Dose Suppe, halb vom Schutt begraben. Diese Dinge bedeuteten Glückseligkeit; daneben blieben Namen kraft- und bedeutungslos.

Und trotzdem nannte ich ihn Borne.

WOHIN ICH BORNE BRACHTE

Man kann es nicht anders sagen: Wick, mein Partner und Liebhaber, war ein Drogendealer, und die Droge, die er verkaufte, war so schrecklich und so schön und so traurig und so süß wie das Leben selbst. Die Erinnerungskäfer, die Wick modifizierte oder aus Teilen herstellte, die er der Firma gestohlen hatte, brachten einem nicht nur etwas bei, wenn man sie sich ins Ohr schob, sondern konnten auch Erinnerungen löschen und hinzufügen. Menschen, die die Gegenwart nicht ertrugen, steckten sie sich ins Ohr, um die glücklicheren Erinnerungen anderer wachzurufen, aus lange vergangenen Zeiten und an Orte, die nicht mehr existierten.

Als ich Wick kennenlernte, war die Droge das Erste, das er mir anbot, was ich aber sofort ablehnte, weil ich die Falle darin witterte, auch wenn es wie ein Ausweg aussah. Wenn man sich den Käfer ins Ohr steckte, wuchsen inmitten einer Explosion von Minze und Limone phantastische Visionen von Orten, die es – wie ich hoffte – nicht gab. Der Gedanke, dass ein solcher Zufluchtsort tatsächlich existierte, war zu grausam. Er konnte dumm oder unvorsichtig machen.

Nur der gequälte Ausdruck auf Wicks Gesicht, seine Reaktion auf meinen Widerwillen, ließ mich bleiben und weiter mit ihm reden. Ich wünschte, ich hätte den Grund seines Unbehagens schon damals erfahren und nicht erst so viel später.

Ich legte die Seeanemone auf den klapprigen Tisch zwischen unseren Stühlen. Wir saßen auf einem der vermoderten Balkone, die aus einer glatten Steinfassade ragten und mich dazu inspiriert hatten, unseren Zufluchtsort »Balcony Cliffs« zu nennen. Der eigentliche Name des Gebäudes auf dem verrosteten Schild in der halb verfallenen, unterirdischen Lobby war nicht zu entziffern.

Hinter uns lag das Labyrinth, in dem wir lebten, und tief unter uns – verborgen durch einen Tarnschleier, den Wick angelegt hatte, um uns neugierigen Blicken zu entziehen – wand sich der verseuchte Fluss, der um den größten Teil der Stadt floss. Ein Gebräu aus Schwermetallen und Öl und Abfällen, das toxische Dämpfe verbreitete und uns daran erinnerte, dass wir vermutlich an Krebs oder Schlimmerem sterben würden. Hinter dem Fluss erstreckte sich eine Brache aus Buschland. Dort gab es nichts Gutes oder Gesundes, trotzdem tauchte an diesem Horizont manchmal noch jemand auf, wenn auch sehr selten.

Ich war an diesem Horizont aufgetaucht.

»Was ist das für ein Ding?«, fragte ich Wick, der sich ausführlich ansah, was ich mitgebracht hatte. Es pulsierte und leuchtete auf, harmlos und praktisch wie eine Lampe. Aber die Firma hatte die Stadt in der Vergangenheit nicht zuletzt damit terrorisiert, ihr Biotech auf den Straßen zu testen. Die ganze Stadt war zu einem gewaltigen Labor geworden und inzwischen halb zerstört, genau wie die Firma.

Wick lächelte das dünne Lächeln eines dünnen Mannes, es war mehr ein Zucken als ein Lächeln. Er hatte einen Arm auf den Tisch gelegt und das linke Bein über das rechte geschlagen, trug eine weit geschnittene Leinenhose, die er eine Woche zuvor gefunden hatte, und ein weißes Hemd, das vom langen Tragen gelb geworden war. Er sah beinahe entspannt aus. Aber ich wusste, es war nur eine Pose, die er einnahm, um der Stadt und auch mir einen Gefallen zu tun. Risse in der Hose. Löcher im Hemd. Jene so gern ausgeblendeten Details, die eine andere, genauere Geschichte erzählen.

»Was ist es nicht? Das muss die erste Frage sein«, sagte er.

»Also dann: Was ist es nicht?«

Er wollte sich nicht festlegen und zuckte mit den Schultern. Wenn wir über Funde sprachen, stand manchmal eine Wand zwischen uns, eine Reserviertheit, die mir nicht gefiel.

»Soll ich später noch mal wiederkommen? Wenn dir mehr nach reden ist?«, fragte ich.

Meine Geduld hatte im Laufe der Zeit nachgelassen, was nicht sehr freundlich war, denn er brauchte sie jetzt mehr als früher. Ihm ging das Rohmaterial für seine Kreationen aus, und außerdem setzte ihn unter Druck, dass seine Konkurrenten – besonders die Magierin, die den ganzen westlichen Teil der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatte – auf sein Territorium und seine Gedanken übergriffen, Ansprüche erhoben. Sein attraktives Gesicht unter dem feinen, blonden Haar mit dem spitzen Kinn und den hohen Wangenknochen war dabei, sich aufzuzehren, wie eine Kerze von einer Flamme.

»Kann es fliegen?«, fragte er schließlich.

»Nein«, sagte ich lächelnd. »Es hat keine Flügel.« Obwohl wir beide wussten, dass das nichts bedeuten musste.

»Beißt es?«

»Mich hat es nicht gebissen«, sagte ich. »Warum? Sollte ich es beißen?«

»Sollten wir es essen?«

Natürlich meinte er das nicht so. Wick war immer vorsichtig, selbst wenn er vorpreschte. Immerhin öffnete er sich mir jetzt; ich wusste nie, wann das passierte. Vielleicht war das der springende Punkt.

»Nein, sollten wir nicht«, sagte ich.

»Wir könnten damit Ball spielen.«

»Du meinst, ihm helfen zu fliegen?«

»Wenn wir es schon nicht essen.«

»Es ist doch kein Ball mehr.«

Was nichts als die Wahrheit war. Eine Weile hatte sich das Wesen, das ich Borne getauft hatte, in sich zurückgezogen, jetzt aber – mit einer merkwürdig gewinnenden, zaghaften Anmut – wieder die Form einer Vase angenommen. Das Ding lag einfach auf dem Tisch und pulsierte und leuchtete rhythmisch auf, auf eine Art, die ich beruhigend fand. Das Blinken ließ es größer aussehen, oder es hatte tatsächlich angefangen, zu wachsen.

Wicks grün-braune Augen in seinem eingefallenen Gesicht waren jetzt weiter geöffnet, zeigten mehr Anteilnahme, während er über dem Rätsel grübelte, das ich ihm mitgebracht hatte. Diese Augen sahen alles, außer vielleicht, was ich in ihm sah.

»Ich weiß, was es nicht ist«, sagte Wick, wieder ernst geworden. »Es ist nicht von Mord. Ich bezweifle, dass Mord wusste, dass er es mit sich herumtrug. Aber es ist auch nicht unbedingt von der Firma.«

Mord konnte hinterlistig sein, und sein Verhältnis zur Firma veränderte sich ständig. Manchmal fragten wir uns, ob in den Ruinen der Firma eine Art Bürgerkrieg zwischen den Unterstützern von Mord und denen tobte, die bedauerten, ihn erschaffen zu haben.

»Aber wo hat Mord es her, wenn nicht von der Firma?«

Ein Zucken um Wicks Mund ließ seine feinen Gesichtszüge noch intensiver und faszinierender erscheinen. »Ich habe Gerüchte gehört. Über Dinge, die in der Stadt herumstreunen und weder Mord noch der Firma noch der Magierin gehören. Ich habe sie in den Randzonen gesehen, nachts in der Wüste, und ich frage mich…« Am Vormittag hatten mich Füchse und andere kleine Säuger beschattet. War es das, was Wick meinte? Ihre Ausbreitung war ein Rätsel – hatte die Firma sie hergestellt, oder war die Wüste dabei, auf die Stadt überzugreifen?

Ich erzählte ihm nichts von den Tieren, wollte sein eigenes Urteil hören und bohrte nach. »Dinge?«

Aber er ignorierte meine Frage und wechselte den Kurs. »Es ist nicht so schwer, mehr herauszufinden.« Er strich mit der Hand über Borne. Die purpurnen Würmer, die in seinem Handgelenk implantiert waren, schlängelten sich kurz heraus, um Borne zu analysieren, und zogen sich dann wieder unter seine Haut zurück.

»Erstaunlich. Es kommt von der Firma. Zumindest hat es jemand innerhalb der Firma hergestellt.« Während der Blütezeit der Firma vor zehn Jahren hatte er für sie gearbeitet, bevor sie ihn »verstoßen, weggeworfen« hatte, wie er es in einem seltenen, unbedachten Augenblick ausgedrückt hatte.

»Aber nicht von der Firma selbst?«

»Ein so reduziertes, schlankes Design bringt normalerweise nur ein Einzelner zustande.«

Es machte mich nervös, wenn Wick um etwas herumredete. Die Welt war ohnehin schon viel zu unzuverlässig, und wenn ich bei Wick etwas suchte, außer Sicherheit, dann war es Wissen.

»Glaubst du, es ist ein fehlgeschlagenes Projekt?«, fragte ich. »Ein Nachkömmling? Den sie im Müll entsorgt haben?«

Wick schüttelte den Kopf, aber sein strenges Stirnrunzeln beruhigte mich nicht. Wick war autark und selbstgenügsam. So wie ich. Jedenfalls glaubten wir das beide. Aber jetzt hatte ich das Gefühl, dass er mir eine wesentliche Information vorenthielt.

»Was denn dann?«

»Es könnte praktisch alles sein. Es könnte ein Signal sein. Ein Ruf nach Hilfe. Es könnte eine Bombe sein.« Wusste Wick es wirklich nicht?

»Vielleicht sollten wir es dann doch essen?«

Er lachte, wobei seine Gesichtszüge auseinanderfielen. Das Gelächter machte mir nichts aus. Jedenfalls damals nicht.

»Würde ich nicht. Am Ende ist es eine Bombe und kein Signal.« Er beugte sich vor, und ich dachte, er müsste das Vergnügen, das ich daran hatte, ihm ins Gesicht zu sehen, bemerken. »Aber wir sollten wissen, wofür es gut ist. Wenn du es mir überlässt, könnte ich es zumindest in seine Teile zerlegen und durch meine Käfer überprüfen lassen. Auf diese Art etwas herausfinden. Es auswerten.«

Inzwischen waren wir, auf unsere Art, gleichberechtigt. Partner. Manchmal nannte ich ihn »Boss«, weil ich für ihn auf Beutezug ging, aber ich hätte ihm die Seeanemone nicht zeigen müssen. Nichts in unserer Vereinbarung zwang mich dazu. Natürlich konnte er mir das Ding wegnehmen, während ich schlief … Aber das war nun einmal der Test unserer Beziehung: Waren wir symbiotisch oder Parasiten?

Ich schaute das Wesen an, das dort auf dem Tisch lag, und fühlte mich als seine Besitzerin. Das Gefühl sprang mich ganz unerwartet an – und nicht nur, weil ich mich beim Herumklettern auf Mord in Gefahr begeben hatte, um dann auf Borne zu stoßen.

»Ich glaube, ich werde es erst mal behalten«, sagte ich.

Wick sah mich lange an, zuckte mit den Schultern und sagte, etwas zu beiläufig: »Wie du willst.« Das Wesen mochte ungewöhnlich sein, aber wir hatten schon Vergleichbares gesehen; vielleicht glaubte er, dass es keinen großen Schaden anrichten konnte.

Dann holte er einen goldenen Käfer aus der Tasche, schob ihn sich ins Ohr, und seine Augen nahmen mich nicht mehr wahr. Er machte das immer, wenn ihn etwas auf die falsche Art an die Firma erinnerte und damit Selbstverachtung, Wut und Melancholie in ihm lostrat. Ich hatte ihm gesagt, dass er vielleicht Frieden finden würde, wenn er berichtete, was auch immer dort passiert war, aber er hörte einfach nicht auf mich. Er sagte, dass er mich schützte. Ich glaubte ihm nicht. Nicht wirklich.

Vielleicht versuchte er, die Einzelheiten eines persönlichen Scheiterns zu vergessen, das er sich nicht vergeben konnte, etwas, das er sich selbst zuschreiben musste, oder etwas, das er zum Ende hin getan hatte. Aber nachdem er gegangen war, erinnerte ihn der Job, den er gewählt hatte – oder zu dem er gezwungen worden war –, jeden Tag und jede Stunde an die Firma. Es war schwer abzuschätzen, weil ich kaum etwas über Biotech wusste, aber ich spürte, dass die Antworten, die ich von ihm haben wollte, womöglich technischer Natur waren, dass er womöglich fürchtete, ich würde die Details nicht verstehen.

Vielleicht hätte die Zukunft anders ausgesehen, wenn ich seine volle Aufmerksamkeit gehabt, wenn ich mich mit Wick über Borne gestritten hätte. Wenn er darauf bestanden hätte, mir Borne abzunehmen. Aber er tat es nicht. Er konnte nicht.

WO ICH LEBTE UND WARUM

Als ich Borne fand, verband Wick und mich eine komplizierte Beziehung. Wir waren durch unseren gemeinsamen, sicheren Ort aneinander gebunden; die Balcony Cliffs lagen im nordwestlichen Randbezirk der Stadt, mit Blick auf den verseuchten Fluss. Nach Westen hin, wo die Stadt sacht auf Meereshöhe abfiel, erstreckte sich das Territorium der Magierin. Im Süden fanden sich, nach Ödland und auch Oasen, die Überreste der Firma, von Mord bewacht. Ein großer Teil des Geländes erstreckte sich über ein riesiges, ausgetrocknetes Stück Meeresboden, das in die halb trockene, wüste Ebene jenseits der Stadt überging.

Wick hatte die Balcony Cliffs entdeckt und sich eine Zeit lang dort ohne mich behauptet. Aber erst, nachdem er mich aufgefordert hatte zu bleiben, war er dazu in der Lage, den Platz auch zu halten. Er brachte seine schwindenden Vorräte an Biotech und chemischem Blendwerk ein und ich mein Talent für physische und psychologische Fallen. Mithilfe von Wicks Plänen hatte ich die stabilsten Gänge entweder weiter befestigt oder freigeräumt, und die übrigen endeten jetzt in verborgenen Fallgruben oder Böden, die mit zerbrochenem Glas oder Schlimmerem übersät waren. Ich benutzte schreckenerregende, nostalgische Dinge: Bücher, deren Cover Totenköpfe zierten, eine blutige Wiege, die nie hätte zerstört werden dürfen, mehrere Dutzend Paar Schuhe (in einigen steckten noch die mumifizierten Füße). Die mürben Überreste eines hundeähnlichen Tiers, das hereingelaufen war und sich verirrt hatte, hingen von der Decke herab, Graffiti an der Wand sollten Eindringlingen Albträume bescheren. Wenn sie denn lesen konnten. Eine Horrorshow, die über Stolperdrähte Wicks Pheromone und Halluzinogene aktivierte. Es hatte Angriffe gegeben, Besetzer hatten ihr Glück versucht, aber wir hatten sie jedes Mal zurückgeschlagen.

Einer der Wege, die wir angelegt hatten, führte zu Wicks Räumen, ein anderer zur Treppe in der früheren Lobby, über die man Zugang zu einem befestigten Unterstand mit Sichtblende hatte, der sich nahe der oberen Schicht verbarg. Ein dritter endete nach einem Ablenkungsmanöver am Swimmingpool, den Wick zu einem Tank umgebaut hatte, in dem er wie ein durchgeknallter Wissenschaftler eine brodelnde Masse Biotech hielt. Von dort ging es weiter zu den Balkonen, die dem Ort seinen Namen gegeben hatten.

Meine besondere Aufmerksamkeit galt dem südlichen Rand des Hügels, der über die riesige Grenzfläche der zerstörten Südwestflanke der Stadt hinweg der Firma gegenüberlag – ich wollte mit voller Absicht ein Labyrinth schaffen, das ungebetene Besucher zusätzlich verwirrte. Am Ausgang mit seinen drei Gängen, von denen nur einer in Sicherheit führte, wurde es wieder einfacher. Dann kam die Tür, die von außen wie ein Teil des Hügels wirkte und durch den Duft nach Moos und Kletterpflanzen nicht zu erkennen war. Je näher man ihr kam, umso stärker entfaltete sich ein unerträglicher Gestank nach Aas, eines der genialsten Pheromone der Wahrnehmungsverzerrung, die Wick entwickelt hatte. Sogar ich hatte Probleme, durch diese Tür nach draußen zu gehen.

Überall in dem Kaninchenbau, zu dem wir die Balcony Cliffs verwandelt hatten, herrschten inzwischen Loyalitäten, die etwas Inniges hatten – inniger sogar als unser Schlafarrangement. Korridore? Tunnel? Selbst Unterscheidungen dieser Art waren dem Diktat unserer Grabungen zum Opfer gefallen, auch weil Wick überall spezielle Spinnen und Insekten zum Einsatz brachte. Ich behielt den Überblick über meine Fallen mittels einer Karte, und Wick, durch die Firma geschult, benutzte ein flunderähnliches Wesen in einer flachen Pfanne voller Wasser, auf dessen Oberseite sich ein feines, sich ständig veränderndes Liniennetz abzeichnete, sein Kommandostand.

Irgendwann waren unsere Verteidigungssysteme miteinander verschmolzen, etwa zur gleichen Zeit wie unsere Körper. Was zu unerwarteten Synergieeffekten geführt hatte. Aus einem von extremer Einsamkeit und Bedürftigkeit geprägten Zusammenschluss hatten wir zum gegenseitigen Trost eine Freundschaft entwickelt und uns von dort aus auf einen amorphen Grenzbereich der Gefühle zubewegt, der keine Liebe sein konnte – den ich mich weigerte Liebe zu nennen.

In schwachen Momenten strich ich mit meiner Hand über seine sehnige Brust, hänselte ihn wegen der blassen, fast durchscheinenden Haut, die sich gegen meine dunklen Schenkel abhob, und eine Zeit lang war ich im verborgenen Inneren der Balcony Cliffs glücklich. Es war mir ganz recht, dass wir dort ein Liebespaar sein konnten und später wieder reine Verbündete.

Aber die Wahrheit ist: Ich wusste, dass Wick in den Nächten, die wir miteinander verbrachten, völlig aus sich herausging und es sich erlaubte, verletzlich zu sein. Ich spürte das sehr stark, auch wenn ich mich vielleicht irre. Und falls ich deshalb etwas vor Wick verbarg, dann waren da doch immer die Balcony Cliffs, die uns aneinanderketteten. Unsichtbare Ströme, die von unseren Körpern und Gehirnen aus die Räume erfüllten, die dank unserer Fähigkeiten sicher waren. Sensoren, Stolperdrähte, die auf kleinste Berührungen oder Erschütterungen reagierten, als lägen wir in der Mitte von etwas Wichtigem. Sogar wenn wir aufeinanderlagen, konnte Wick diese Verbindung nicht lösen.

Außerdem sorgte die Geheimhaltung für Nervenkitzel, denn um unsere Sicherheit nicht zu gefährden, ließen wir uns draußen nicht zusammen sehen – wir gingen zu verschiedenen Zeiten durch unterschiedliche Gänge hinaus –, und etwas von diesem Nervenkitzel floss in unsere Beziehung mit ein. Jeder, der in hinterhältiger Absicht über die Balcony Cliffs schlich, musste glauben, dass unter dem kranken Kiefernwäldchen nichts als eine große, alte Müllhalde lag, mit Dutzenden von Schichten bröckelnder Tragbalken, menschlicher Überreste, zurückgelassener Kühlschränke, ausgebrannter Autos – zusammengepresst zu einer Masse, auf der es sich federnd, ja fast schwungvoll gehen ließ.

Aber darunter waren wir, lag das durch nichts zu erschütternde Dach der Balcony Cliffs, wie ein Querschnitt all dessen, was uns als Zuhause diente – alles, was eine Frau namens Rachel und einen Mann namens Wick miteinander verband. All das hatte eine geheime Form, die wir in uns trugen, eine Landkarte, die langsam in unseren Köpfen kreiste wie eine persönliche Kosmologie.

Dann brachte ich meine Seeanemone namens Borne in diesen Kokon hinein, diesen sicheren Hafen, diese riesige Falle, die zu erhalten viel Zeit und wertvolle Ressourcen kostete, während irgendwo eine Uhr tickte und die Tage zählte, die uns noch blieben. Uns war klar, dass die Vorräte an unverarbeitetem Biotech, das Wick erzeugte oder eintauschte, die Käfer und anderen wichtigen Teile, die er vor einer Ewigkeit bei der Firma hatte mitgehen lassen, irgendwann einmal zu Ende gehen würden, egal, wie viel wir jetzt noch hatten. Meine physischen Fallen würden ohne Wicks fast schon unheimliche Verstärkung andere Sammler auf Dauer nicht fernhalten können.

Jeder Tag brachte uns dem Punkt näher, an dem wir unser Verhältnis zu den Balcony Cliffs und unsere Beziehung neu definieren mussten. Und hier, im Kreuzungspunkt aller Wege, meiner Wohnung, höchst angespannt von allem, was uns verband, vögelten wir und liebten wir uns, gleichermaßen unbeeindruckt von allem, was uns Grenzen setzen konnte, von jedem Feind, der versuchen würde, hier einzudringen. Hier konnten wir gierig und egoistisch sein, hier erlebten wir uns ganz und gar. Oder zumindest glaubten wir das, denn was immer wir taten, es war der Gegenpol zur Welt da draußen.

In der ersten Nacht, nachdem ich Borne mit in unser Zuhause gebracht hatte, lagen wir in meiner Wohnung und lauschten dem fernen, dumpfen Prasseln des schweren Regens, der auf die moosbedeckte Oberfläche hoch über uns schlug. Wir wussten beide, dass es kein echter Regen war; echter Regen in dieser Stadt war flüchtig und kurz, und deshalb wagten wir es nicht, nach draußen zu gehen. Sogar der echte Regen war häufig giftig.

Wir redeten kaum. Wir vögelten nicht. Wir lagen einfach eng umschlungen da, während Borne auf einem Stuhl in einer Ecke des Schlafzimmers thronte, so weit von uns entfernt wie möglich. Wick hatte vom jahrelangen Hantieren mit den Materialien, die in seine Tanks mit Proto-Leben wanderten, kräftige Hände mit geradezu weichen Fingerspitzen, und ich mochte es, seine Hand in meiner zu spüren.

Wir waren so weit gekommen, dass wir zusammen schweigen und still daliegen konnten. Aber schon damals, in dieser ersten Nacht, änderten sich die Dinge durch Bornes Anwesenheit, und ich wusste nicht, ob unser Schweigen zum Teil darauf zurückzuführen war.

Am Morgen spähten wir durch eine der Geheimtüren und entdeckten, dass die rissige Erde mit Tausenden von kleinen, roten Salamandern bedeckt war, die sich im Todeskampf wanden. Verworren und komplex, langsame, suchende Gliedmaße, Obsidianaugen. Fast wie eine Fata Morgana. Ein Mosaik aus lebenden Fragezeichen, die völlig sinnlos aus dem verdunkelten Himmel herabgeregnet waren. Und im Westen konnten wir schon den wütenden Mord hören, das Beben, das sein Herumrennen auslöste. Wütend auf diesen unlogischen Regen, oder auf etwas anderes, jemand anderen?

Früher waren Kometen am Himmel erschienen, und die Menschen hatten sie für Himmelswesen gehalten. Jetzt hatten wir Mord, und Salamander. Was bedeuteten sie? Welches Schicksal erwartete die Stadt? Als die Sonne auf ihre Körper schien, lösten sich die Salamander minutenschnell in Flüssigkeit auf, wurden von der Erde absorbiert, und nichts als ein rötlicher Schimmer blieb zurück, der an einen mit winzigen Spuren neugieriger Lebewesen gesprenkelten Ölfleck erinnerte.

Wick schien sich wegen der Salamander keine großen Sorgen zu machen, abgesehen davon, dass er die Vorräte in seinem Swimmingpool wieder aufstocken musste.

»Kontaminiert«, sagte er, aber das hatte ich bereits seinem Gesichtsausdruck entnommen.

WARUM ICH IHN BORNE NANNTE UND WIE ER SICH VERÄNDERTE

Wick hatte mir nur wenig über seine Zeit bei der Firma erzählt, aber eine seiner Geschichten brachte mich auf den Namen »Borne«, Bürde. Über ein Wesen, das in seiner Werkstatt entstanden war, hatte er gesagt: »Es wurde geboren, aber ich habe es getragen.«

Wenn ich nicht auf einem Streifzug nach Sachen für Wick oder mich war, kümmerte ich mich um Borne. Dabei musste ich experimentieren, denn ich hatte mich noch nie um etwas oder jemanden gekümmert – außer als Kind um ein paar Einsiedlerkrabben und einen herrenlosen Hund, den ich nach einem Tag wieder abgeben musste. Ich hatte keine Familie, meine Eltern waren gestorben, bevor ich in die Stadt gekommen war.

Ich wusste nichts über Borne und behandelte ihn zunächst wie eine Pflanze. Auf Basis meiner ersten Beobachtungen schien das nur logisch. Borne fühlte sich zum ersten Mal wohl und entspannt genug, um sich zu öffnen, während ich gerade bei einem stillen Abendessen aus alten Notfallrationen der Firma saß, die ich unter Schutt in einem halb eingestürzten Keller gefunden hatte. Er stand mir auf dem Tisch gegenüber, enigmatisch wie immer. Da hörte ich unterm Kauen ein winselndes Geräusch und einen deutlichen Furz. Ich ließ die Packung sinken, die Öffnung an Bornes oberem Ende weitete sich und verströmte einen Duft nach Rosen und Tapioca. Seine Seiten bogen sich nach außen auf und ließen zarte, dunkelgrüne Tentakel erkennen, die, obwohl sie sich schlängelten, den Kern weiterhin verbargen. Ohne nachzudenken, sagte ich: »Borne, du bist ja gar keine Seeanemone – du bist eine Pflanze.«

Ich hatte mir schon angewöhnt, mit ihm zu sprechen, aber beim Klang meiner Stimme verschloss er sich schlagartig wieder, nahm seine, wie ich es nannte, Verteidigungshaltung ein und blieb so einen ganzen Tag lang. Also brachte ich ihn auf einem Teller ins Badezimmer, stellte ihn auf ein Regal unterhalb eines schrägen Lochs in der Decke, durch das nur selten und von sehr weit oben Sonnenlicht einfiel. Ich genoss dieses grünlich-modrige Licht am Morgen, bevor ich hinausging, um Wicks Arbeit zu erledigen.

Am Ende des zweiten Tages hatte er eine gelb-pinke Färbung angenommen und die Hartnäckigkeit seiner Abwehrhaltung deutete entweder auf Krankheit oder auf religiöse Verzückung hin – beides hatte ich draußen in der Stadt schon zu oft gesehen. Er roch verkocht. Ich holte Borne wieder vom Regal herunter und stellte ihn auf den Küchentisch. Inzwischen hatte ich allerdings bemerkt, dass die Würmer, die meinen Badezimmerabfall kompostierten und Nährstoffe ausschieden, die Wick in seinem Tank verwendete, »verschwunden« waren.

Ich hatte ein paar nützliche Dinge gelernt: Borne konnte Sonnenlicht gut aushalten. Borne war ein Nimmersatt, was Kompostwürmer betraf. Borne konnte sich aus eigener Kraft bewegen, tat das aber nicht in meiner Gegenwart. Borne suchte das Sonnenlicht geradezu. Nichts deutete noch darauf hin, dass Borne missgebildet oder ein Fehlversuch welcher Art auch immer war.

Ich stufte Borne hoch, von »Pflanze« auf »Tier«, ordnete ihn aber immer noch nicht in die Kategorie »zielgerichtetes Verhalten« ein. Das hätte ich aber tun sollen, denn im Anschluss an sein Badezimmerabenteuer machte er keine Versuche mehr, seine Bewegungen zu verschleiern. Wenn ich nach Hause kam, fand ich ihn in der Küche, obwohl er, als ich ging, im Schlafzimmer gewesen war – oder im Flur, wenn ich ihn auf dem Boden des Wohnzimmers zurückgelassen hatte. Wenn ich mich ihm näherte, blieb er still und reglos, nie konnte ich ihn auf frischer Tat ertappen. Ich hatte das Gefühl, Borne amüsierte sich darüber, aber wahrscheinlich war das nur eine Projektion meinerseits. Das brachte mich zum Lächeln. Ich machte mir eine Art Spiel daraus, zu erraten, wo er sein würde, wenn ich zurückkam. Und ich freute mich jetzt mehr als sonst darauf, nach Hause zu kommen.

Als ich das Wick erzählte, während ich ihm eine halbtote, himmelblaue Schnecke reichte, die ich in der Nähe der Firma gefunden hatte, fand er es gar nicht lustig.

»Und das macht dir keine Sorgen?«

»Warum sollte es?«

»Weil er seine Fähigkeiten vor dir verbirgt. Schon jetzt. Du weißt nicht, was er als Nächstes tun wird. Du erzählst mir, dass er planvoll vorgeht und vielleicht die Intelligenz eines Hundes hat, aber wir wissen immer noch nichts über seinen Zweck.«

»Du hast gesagt, Borne muss keinen Zweck haben.«

»Vielleicht habe ich mich geirrt. Du solltest ihn mir geben. Ich kann herausfinden, was er ist.«

Es lief mir kalt über den Rücken. »Nur, indem du Borne auseinandernimmst.«

»Vielleicht. Ja, natürlich. Ich habe hier keine hochentwickelten Geräte. Ich habe weder die Zeit noch die Fähigkeiten, nichtinvasiv vorzugehen.« Die Magierin vergrößerte ihren Einfluss, die Vorräte würden nicht ewig halten – das war der Rhythmus, der unser Leben regierte.

Für Wick war Borne nur eine weitere Variable, etwas, das er brauchte, um seinen eigenen Stress in den Griff zu bekommen. Das verstand ich, aber vielleicht war es eine vom Leben innerhalb der Balcony Cliffs erzeugte Lüge, dass wir irgendwann einmal über den nächsten Tag oder die nächste Woche hinausdenken würden. Und während ich noch über Bornes Eskapaden lachte, nistete sich dieser leichte Zweifel in mir ein.

Spontan umarmte ich Wick, hielt ihn fest im Arm, obwohl er versuchte, sich aus meiner Umarmung zu lösen. Das hier ist Geschäft, hier geht’s ums Überleben – so seine Botschaft. Ich sollte unsere Beziehung nicht mit dem Geschäft vermischen. Aber ich konnte nicht anders.

Trotzdem wollte ich ihm Borne nicht überlassen. Nicht aus Mitleid oder Überzeugung oder irgendetwas gleichermaßen Falschem. Und weil ich ihm Borne nicht überlassen wollte, hörte ich auf, mit ihm über Borne zu reden. Wenn er nach Borne fragte, fielen meine Antworten kurz und beiläufig aus. Es geht ihm gut. Er ist wirklich nicht mehr als eine Art Gemüse. Eine Topfpflanze, die laufen kann. Wick sah mich an, als durchschaute er mich, aber er ließ mir Borne.

Es war nichts als ein Test, ob wir einander noch Vertrauen schenken konnten, und jedes Mal, wenn ich die Grenzen dieses Vertrauens ein Stück weiter ausdehnte, rechnete ich damit, dass es diese Belastung nicht aushalten oder unter dem Gewicht der Bedeutung, die ich ihm zumaß, kollabieren würde.

WAS ICH IN WICKS WOHNUNG FAND

Vertrauen aber bedurfte auch eines gewissen Verrats. Lange bevor ich auf Borne stieß, hatte ich Wicks Quartier durchsucht, während er draußen seine Drogen verkaufte. Ich nehme an, er hatte dasselbe bei mir getan, aber wer weiß? Über diesen Aspekt des Vertrauens redet man nicht mit demjenigen, den es betrifft.

Mein Verrat erforderte Geschick – Schlösser öffnen, Fallen umgehen, Kameras ausschalten –, aber am Ende war es den Aufwand kaum wert. Ich fand nicht viel in den drei Räumen, das etwas über den Menschen Wick verraten hätte. Die Summe seiner Existenz in diesen vollgestopften Zimmern ergab fast nichts. Keine Familienfotos oder Porträts, nur wenige, persönliche Dinge.

Vielleicht hatte er beschlossen, mit so wenig auszukommen, um nicht an irgendwelche Geheimnisse erinnert zu werden? Ich stellte mir vor, dass es irgendwo tief in den Balcony Cliffs ein ganzes Lager voller Artefakte gab, die Wick dort weggeschlossen hatte, damit sie ihm nicht gefährlich werden konnten. Aber wenn es so etwas gab, dann habe ich diesen Ort nie gefunden.

Ich fand nur einen einzigen, schlichten Hinweis, den ich nach vorsichtigem Stochern im Schloss einer Schreibtischschublade behutsam ans Licht beförderte: die schematische Darstellung eines Fischs, die zusammengerollt in der äußeren Röhre eines kaputten Teleskops steckte, und eine Metallschachtel voller winziger, ausgetrockneter zinnoberroter Nautilusgehäuse.

Ich steckte eins für später ein und nahm mir die Fisch-Zeichnung vor. Ich hielt sie, immer noch aufgerollt, gegen das matte Licht der Leuchtkäfer, die Wick in die Decke eingelassen hatte. Ich wusste, dass sie ein Relikt von Wicks letztem Projekt bei der Firma war, über das er nur in betrunkenem Zustand sprach. Aus seinem provisorischen Swimmingpool-Tank war so etwas bestimmt nicht gekrochen. Noch nicht.

Welchem Zweck auch immer die Risszeichnung gedient haben mochte, am Ende zeigte sie nicht mehr als einen hässlichen Fisch, einen riesigen Zackenbarsch oder Karpfen. Eine Schnittansicht von der Seite, mit Linien, die vom Gehirn und anderen Teilen ausgingen, mit Zahlen und willkürlichen Buchstaben am Ende der Pfeile. Es half auch nicht, dass der Fisch das sehnsuchtsvolle Gesicht einer Frau mit heller Haut und blauen Augen trug, ein schauriger Anblick. Das machte mich vorsichtig, als hätte irgendein verrückter Wissenschaftler beschlossen, die Galionsfigur eines alten Segelschiffs Realität werden zu lassen.

Aber Vorsicht war nicht der richtige Begriff in Bezug auf das Gekritzel auf der Rückseite. Jüngere Anmerkungen am Rand trugen Wicks Handschrift, das konnte ich erkennen, und hatten etwas Sehnsüchtiges: kurze Anregungen, wie er das Fischprojekt wohl wiederbeleben könnte, das mit der Zeit offensichtlich im Sande verlaufen war. Aber es gab noch eine zweite Handschrift, die die Mitte des Blatts einnahm, mit – so schien es – älteren Anmerkungen, deren Leidenschaftlichkeit sich bis zum Wahnsinn steigerte. Die Handschrift wurde ausladender und scharfkantiger, immer weniger lesbar, und schließlich waren es nur noch dunkle Kritzeleien, tief in das Papier geritzt. Die Beschädigung verschleierte den Sinn, sagte mir aber doch mehr als genug. Und die wenigen Wörter, die ich in dem Chaos erkennen konnte, waren praktisch wertlos. Ganz am Ende und fast unlesbar hingekritzelt: »Keine Firma mehr.«

Ich legte das Teleskop aufs Bett und stöberte weiter, hatte Angst, dass Wick mich auf frischer Tat ertappen würde. Aber ich merkte schnell, dass es nicht mehr viel zu durchstöbern gab. So führte mich der sechste Sinn eines Sammlers wieder zum Teleskop zurück. Seine Oberfläche war von einer perlmuttartigen Patina überzogen. Ich hob es hoch, um es im Licht der Leuchtkäfer zu bewundern.

Dann stutzte ich. Es sah so aus, als wäre etwas in die Oberfläche geätzt worden. Und tatsächlich entpuppte sich die »metallene« Oberfläche von Nahem als ein so einheitliches Muster von winzigen, harten Fischschuppen, dass man die Stoßkanten praktisch nicht erkennen konnte. Die Oberfläche glänzte weiterhin silbrig, aber als ich sie in den Händen drehte, entdeckte ich, dass die Wärme meiner Finger die Schuppen dort, wo ich sie angefasst hatte, veränderte: Dort waren jetzt miniaturisierte Fotografien erkennbar. Hinterhältiger, raffinierter Wick – allerdings war mir der Zweck dieser Tarnung nicht klar. Die Fotos stammten aus der Zeit vor der Zerstörung der Stadt, waren Reproduktionen aus alten Büchern, schienen einer Geheimhaltung aber kaum wert zu sein.

Neugierig geworden fackelte ich nicht lange und berührte das Teleskop überall, erwärmte sämtliche Schuppen durch meine Hände, als würde ich ein Musikinstrument spielen, und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Ergebnis.

Neben Fotografien von inzwischen zerstörten Orten gab es ein ganzes Verzeichnis von Stadtansichten. Es gab Listen von Orten, die mit »Zurückfordern« überschrieben waren, oder Kommentare wie: »Wie tötet man ein Gebäude? Man tut nichts.« Einiges davon stellte sich als Entsprechung von Microfiches heraus, auf denen die prächtige Geschichte der Stadt in einer Zeit erzählt wurde, bevor die Firma aufgetaucht war. Andere Fragmente waren so winzig, dass ich ihre Wichtigkeit nur erraten konnte und mich fragte, wie Wick sie wohl las, wenn er nicht irgendwo ein Lesegerät versteckt hatte. Nichts davon erinnerte mich an den Wick, den ich kannte – ein Einzelgänger, der nie von der Stadt vor den Zeiten der Firma redete und jede Hoffnung auf irgendeine Zukunft der Stadt aus seinen Gedanken verbannt zu haben schien. Doch als ich sah, dass es nicht nur alte Daten und Fotografien gab, verstand ich schließlich die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Einige der Schuppen zeigten monströse Visionen von Projekten, die wohl nie abgeschlossen worden waren und die mir Angst einjagten, denn neben ihnen wirkte Mord banal. Das Wichtigste aber war, dass andere Schuppen eine ganze Reihe technischer Spezifikationen für Biotech enthielten, von dem ich wusste, dass Wick es kreiert hatte. Das waren Informationen, die wir unseren Feinden nicht überlassen sollten.

Manchmal fragte ich mich, ob ich Wick immer noch faszinierend finden würde, wenn ich all seine Geheimnisse entschlüsselt hätte, ob ich überhaupt wusste, wer er ohne sie war.

Zurück in meiner Wohnung ließ ich den gestohlenen Nautilus in ein Glas Wasser fallen und sah zu, wie er wieder zum Leben erwachte, eine glänzend purpurrote Farbe annahm, anfing, sich zu strecken, mich dabei fast herausfordernd anstarrte und sich dann spurlos auflöste, als hätte es ihn nie gegeben. Ein fauler Zauber. Ein Illusionstrick.

Das Elixier mit Wicks Geheimnissen zu trinken, kam nicht infrage. Ich schüttete das Wasser aus, wusch das Glas ab und warf es auf einen Stapel dreckiger Wäsche draußen im Flur.

Mein anderer Verrat war simpel: Ich mochte Borne viel zu gerne. Ich wusste instinktiv, dass ich ihn abgeben sollte. Aber ich wusste auch, dass sich etwas Katastrophales ereignen müsste, damit ich das tat. Je mehr Persönlichkeit Borne entwickelte, desto stärker fühlte ich mich zu ihm hingezogen.

Borne machte es mir aber auch nicht schwer, denn er fraß einfach alles – jeden Krümel, kleine Kieselsteine, auch Holzabfälle. Jeder Wurm, welcher Art auch immer, der in seine Reichweite kam, verschwand auf Nimmerwiedersehen. Borne fraß eine Menge Sachen, die ich als Müll aussortiert hätte, und in gewisser Weise machte er den Komposthaufen überflüssig. Ich glaube, wenn er hungrig genug gewesen wäre, hätte er sogar eine Abfalltonne gefressen.

Und obwohl das Leben mit Borne so mühelos war, hörte er doch nicht auf, mir Rätsel aufzugeben. Das größte und grundlegendste Rätsel? Obwohl so viel in Borne verschwand, kam doch nie etwas aus ihm heraus. Das kam mir ziemlich absurd vor, auf witzige Weise unheimlich. Es brachte mich sogar zum Kichern. Keine Speiballen. Kein Kot. Keine kleinen Pfützen. Nichts.

Außerdem wuchs Borne. Ja, er wuchs. Zunächst wollte ich es nicht wahrhaben, denn die Vorstellung eines Wachstums brachte die Vorstellung einer noch viel radikaleren Transformation mit sich – dass aus einem Kind ein Erwachsener wurde. Bei wie vielen Spezies führte das zu einer radikalen Veränderung, war der Erwachsene so ganz anders als der Jugendliche? Jedenfalls konnte ich am Ende des ersten Monats nicht länger verdrängen, dass Borne, wenn auch nur allmählich, seine Größe verdreifacht hatte.

Auch konnte ich nicht bestreiten, dass ich Borne vor Wick versteckte. Ich ließ Wick nicht mehr in meine Wohnung, und wenn doch, so stellte ich sicher, dass Borne in einem der hinteren Zimmer und nicht zu sehen war. Ich ignorierte Wicks Versuche, mit mir darüber zu sprechen, ob man Borne als gefährlich oder als ein Wesen einstufen müsste, vor dem man sich in Acht nehmen sollte.

Da Borne kein Verhalten zeigte, das man gefährlich nennen konnte, kam es mir nie in den Sinn, ihn als Gefahr zu betrachten. Ich empfand es auch zunehmend als etwas albern, von ihm als »er« zu sprechen, da er weder die Aggressivität noch die Ichbezogenheit an den Tag legte, die ich von den meisten Männern kannte. Stattdessen war Borne in diesen frühen Tagen ein unbeschriebenes Blatt, auf das ich nur Begriffe schreiben wollte, mit denen ich etwas anfangen konnte.

WAS WICK MIR ÜBER DAS FISCH-PROJEKT UND DIE FIRMA ERZÄHLTE

Das meiste, was ich über das Fisch-Projekt und die Firma wusste, hatte ich von Wick erfahren, wie Teile einer düsteren Fabel, die ich selbst zusammenfügen musste. Ich wusste nie, ob er sich an diese Erinnerungen klammerte, weil er sich die Welt vom Halse halten oder ein Stück von ihr in sich aufnehmen wollte. Die Firma war ungefragt in die Stadt gekommen, als es mit der Stadt bereits bergab ging und sie sich gegen den Eindringling nicht wehren konnte. Eine Zeit lang muss die Firma der Stadt und ihren Einwohnern wie eine Retterin erschienen sein. Eine Zeit lang muss allein die Aussicht auf Jobs schon ausgereicht haben. Ich versuchte, mir den jungen Wick vorzustellen, der von der Firma angelockt wurde und sich vom Lehrling zu einem Posten hocharbeitete, auf dem er eigene Kreaturen schuf. Allerdings verschwamm dieses Bild, wurde undeutlich. In meiner Vorstellung sah ich immer nur den ausgewachsenen Wick, so, wie ich ihn jetzt kannte.

Das Fisch-Projekt war sein Verderben gewesen, der Grund, warum er nach vielen Jahren im Dienst der Firma entlassen worden war. Aber obwohl der Fisch der Anlass seiner Verzweiflung war, erfüllten ihn die Erinnerungen an ihn doch mit Nostalgie.

»Ein Monstrum von einem Fisch«, sagte Wick zu mir, etwa ein Jahr, bevor ich auf Borne stieß.

Wir waren auf unserem Balkon, von dem aus man den schwarzen Himmel sehen konnte, und ignorierten das Gluckern und Rauschen des vergifteten Flusses. Manchmal konnten wir durch das Tarngeflecht, das Wick zu unserem Schutz angelegt hatte, auf den Balkonen nördlich des von uns kontrollierten Bereichs andere sehen. Sie wirkten wie Schaufensterpuppen oder Statuetten, hoffnungslos weit weg, auch wenn wir wussten, dass sie gefährlich werden konnten.

Das Jahr hatte erst begonnen, es war spät, ein frostiger Abend. Der Wind kam böig aus dem Dunkel, brach sich am Stein der Balkone und brachte einen schwachen Geruch nach Fluss mit sich; ich hörte das beruhigende Schuh-huh der Eulen und die Geräusche von etwas, das verstohlen durch das Unterholz schlich. Ich weiß noch, dass ich dachte, dass wir den Lebewesen, die wir nicht sehen konnten, herzlich egal waren, dass sie einfach ihren eigenen Geschäften nachgingen, ohne Notwendigkeit, uns in ihre Pläne einzubeziehen. Mir selbst war ich allerdings auch egal. Wir waren beide von Alkoholfischchen betrunken und erschöpft von einem langen Arbeitstag. An meinen Stiefeln klebte Blut von einem Streifzug, der schiefgegangen war, wenn auch nur ein bisschen.

Ich starrte von meinem Stuhl aus suchend hinauf zu den verschwommenen Sternen und in den Himmel, der sich drehte und waberte und zitterte, wie ruhig ich auch dasaß. Aber ich hörte Wick, der neben mir saß, weiter zu. Ich war immer noch wach. Meine Traurigkeit gab mir eine Klarheit, eine Form von Nüchternheit, die ich nicht verdient hatte, und Wick war betrunkener als ich.

»Ein wunderschöner Fisch! Mit einem breiten und schwermütigen Maul – wie man es bei manchen Hunden sieht. Herrlich und hässlich und er bewegte sich wie ein Leviathan. Und das an Land! Er konnte Luft atmen. Ich fand es großartig, dass er Luft atmete. Außerdem bekam er wunderschöne Augen: smaragdgrün und gold geädert.«

Diesen Teil hatte ich schon mal gehört, aber je mehr Wick sich über den Fisch erging, umso weniger hatten seine echten Gefühle mit dem Fisch zu tun. Jedenfalls nicht wirklich. Während die Zeit verging und die Sterne über uns langsamer wurden, sich wieder zu vertrauten Konstellationen zusammenfügten, umso mehr konzentrierten sich seine Gefühle auf Menschen in der Firma, die alten Freunde, die ihn fallengelassen hatten, oder die er fallengelassen hatte, und den neuen Mitarbeiter, der ihn betrogen hatte. Der Supervisor, der das Fisch-Projekt beaufsichtigte. All die Menschen, die er in sein Leben gelassen und die sich gegen ihn gestellt hatten. Oder sich veränderten. Oder einfach ihrer Natur entsprechend handelten, und Wick war eine Zeit lang in ihr Blickfeld gerückt und dann wieder daraus verschwunden.

Ich kannte sie nicht, und Wick berichtete nie genug, als dass es mich gekümmert hätte. Aber selbst als Erwachsene konnte ich mich nicht daran erinnern, dass ich jemals drei oder vier Menschen gleichzeitig vertraut hätte. Dass Wick einmal so viel Vertrauen gezeigt hatte, schien dumm und unverantwortlich: ein Luxus aus der alten Welt. Und ob er ihnen vielleicht mehr vertraut hatte als mir – darüber wollte ich nicht nachdenken.

Ich fragte mich auch, ob Wicks Blick auf die Firma, seine Bereitschaft zu vergeben, sich jemals mit meiner Ansicht zur Deckung bringen lassen würde. Für mich war die Firma der weiße Gierschlund am Stadtrand, der uns unserer Ressourcen beraubt und Chaos gestiftet hatte. Von wo aus, so die Gerüchte, fertige Produkte durch unterirdische Tunnel an weit entfernte Orte gebracht wurden, während für uns nur der Bodensatz in den Entsorgungsbecken blieb.

Manchmal traf ich auf einen der wenigen älteren Sammler, die mir Geschichten erzählten, wie die Stadt vor der Ansiedlung der Firma prosperiert hatte, und ihre Gesichter zeigten ein inneres Strahlen, das mich fast dazu brachte, meine Meinung über die Erinnerungskäfer zu ändern. Fast. Was sie mir erzählten, war wahrscheinlich nur die halbe Wahrheit, so wie wir von kürzlich Verstorbenen reden und nur ihre guten Seiten erwähnen. Darin bestand die Schönheit der Firma – dass sie siegte, wie auch immer. Dass sie die Geschichte unserer Stadt bestimmt hatte. Sogar, als sie scheiterte und nicht länger existierte, außer als Hülle, als Geist oder als riesiger, mörderischer Bär.

»Irgendetwas hat ihn umgebracht und zeigte ihn mir durch eine Kamera, die in einem meiner Spionagekäfer untergebracht war.« Obwohl Wick später sagte, dass eine andere Person ihn auf dem Gewissen hatte.

Und in einer weiteren Version: Dass er verwundet worden war und in einem Entsorgungsbecken außerhalb des Firmengebäudes noch eine Weile weiterexistiert hätte. In dieser Fassung hatte der Fisch noch fast ein Jahr lang überlebt – länger, als er sollte, und teilweise deshalb, weil Wick ihn fütterte – und war zum Schrecken des ganzen Geländes geworden: Der Fisch mit dem menschlichen Gesicht, der sich aus den Tiefen erhob, um alles zu verschlingen. Das Menschengesicht war fast von Anfang an tot, weil niedere Kreaturen im Wasser an ihm genagt und geknabbert hatten, es saugte sich im Zuge seines Zerfalls voller Wasser und wurde unförmig, und niemand hätte den Fisch wiedererkannt, noch würde sich das, was vom Fisch blieb, jemals vom Tod seines Gesichts erholen.

In einer vierten Fassung deutete Wick an, der Fisch könnte noch immer dort sein, tief unten im Wasser.

Wick, der Versionen erzählte. Wick verletzt. Wick, dessen alte Angst zurückkam – Wick, der immer wieder erzählte, wie er aus der Firma flog, als sein Fisch-Projekt sabotiert wurde, die Firma im Chaos versank, ohne Verbindung zu ihrem Hauptquartier, und er ohne den Schutz leben musste, an den er sich gewöhnt hatte. Und dann war er Drogendealer geworden, ein Überlebenskünstler, ein Mann, der so dünn und durchscheinend geworden war, dass er in einer Gruppe von Höhlen- oder Tiefseewesen gar nicht aufgefallen wäre.

In meinen dunkleren Momenten, wenn ich meinem wahren Ich nicht traute und dieses Ich damit betrog, dass ich die Anziehung zwischen uns als die von Antipoden sah, war mir klar, was Wick tatsächlich zugab – nämlich, damals mitgeholfen zu haben, eine so tödliche Waffe zu bauen, dass selbst ihre extreme Schönheit nicht rechtfertigen konnte, sie einzusetzen.

Die Wahrheit, die Wick bequemerweise bei den meisten seiner Erinnerungen aussparte, trat auf der Risszeichnung in seiner Wohnung deutlich zutage: Der Zweck dieses monströsen Fischs bestand darin, als Ordnungshüter und zur Kontrolle von Menschenmengen zu dienen, Angst zu verbreiten und möglicherweise auch zu töten. An irgendwelchen abgelegenen Orten hatte eine Regierung damals vielleicht noch Autorität, war stabil genug, die Ordnung wiederherzustellen, setzte alles daran, sie wiederherzustellen.

Aber in dieser Nacht auf dem Balkon tauchte, zum ersten und letzten Mal, ein anderes Monster in Wicks weitschweifiger Abhandlung über die Firma auf. »Mord kannte das Fisch-Projekt. Durch Mord habe ich verstanden, was ich bin.«

Wie sollte ich das verstehen? Waren Wick und Mord zur gleichen Zeit in der Firma gewesen? Als Mord noch kleiner war, als Mord noch nicht fliegen konnte? Wann immer ich bemerkte, dass Wick etwas Wichtiges herausgerutscht war, brach er abrupt ab, als würde er mir mein plötzliches Interesse ansehen, und verstummte. Dieses Schweigen war kein natürliches Ende des Gesprächs. Eher eine Sollbruchstelle, eine Grenze, die Wick nicht überqueren konnte.

WAS ICH ANDEREN ANTAT UND WAS SIE MIR ANTATEN

In der Stadt war die Grenze zwischen Albtraum und Realität fließend, so wie sich der Kontext der Wörter Killer und Tod mit der Zeit verschoben hatte. Vielleicht war Mord daran schuld. Vielleicht auch wir alle.

Ein Killer war jemand, der aus anderen Gründen als fürs nackte Überleben tötete. Ein Killer war ein Verrückter oder eine Verrückte, jedenfalls keine Person, die nur einen weiteren Tag überleben wollte. Einmal schlug ich eine Frau mit einem Stein. Wir begegneten uns, als wir in der gleichen verödeten Straße auf der Westseite der Stadt nach Brauchbarem suchten. Ich war auf ein geschmeidiges Stück Metall gestoßen, das gerade von einem rot funkelnden Stück einer fleischig aussehenden Pflanze aufgesaugt wurde. Ich wusste nicht, ob Wick damit etwas anfangen konnte, aber es war durchaus wahrscheinlich, da ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte.

Als ich mit meiner Trophäe in der Hand um eine Ecke bog, stieß ich auf die Frau. Sie war um die fünfzig, sehnig, wie es Überlebende oft sind, das graue Haar hing strähnig herab, ihre Kleidung war ein Patchwork aus grau und schwarz.

Sie sah mich und lächelte. Dann sah sie meinen Fund, und ihr Lächeln verschwand. »Gib mir das. Es ist meins.« Vielleicht meinte sie: »Es wird meins sein.«

Ich wartete nicht, bis sie nah genug war, um mit mir zu kämpfen, sondern kniete mich hin und griff mit der freien Hand nach einem Stein. Als sie von der Mitte der Straße her auf mich zugerannt kam, warf ich den Stein und traf sie an der Stirn. Sie knickte ein, fiel auf die Seite und atmete schwer. Dann stand sie auf, und ich warf noch einen Stein, wieder an ihren Kopf.

Diesmal taumelte sie rückwärts, legte die Hände auf ihre Knie, während sie sich krümmte. Ich konnte sehen, wie hellrotes Blut von ihrem Kopf auf den Boden tropfte. Sie setzte sich schwer auf den Schutt und legte eine Hand an den Kopf, schaute auf, und ich ließ den dritten Stein, den ich schon in der Hand hielt, wieder fallen.

»Ich wollte doch nur einen Blick darauf werfen«, sagte sie verwirrt, während sie sich immer wieder an die Wunde fasste. Ihre Augen begannen, glasig zu werden. »Nur einen Blick drauf werfen.«

Ich blieb nicht, um ihr zu helfen oder ihr den Rest zu geben. Ich ging.

Starb sie? Habe ich sie umgebracht, und wenn ja, bin ich dann eine Mörderin?

Es war nichts Neues, was da zwischen der Frau und mir passiert war, egal, wie sehr wir auch unter Gedächtnisverlust leiden mochten; es war so alt wie die Welt, und sogar noch älter. Die erste, die einzige Regel, die man beachten muss, ist, dass man sich so gut wie möglich schützen muss – man muss sich selbst so gut wie möglich schützen, und das ist das gute Recht jedes Einzelnen.

Aber eines Abends, drei Wochen, nachdem ich Borne gefunden hatte, war ich nicht wachsam genug. Eine Gang von Kindern pirschte über das Moos und den Müll, und bevor sich die Tür hinter mir schloss, waren sie drin. Sie folgten mir leise die Korridore entlang zu meiner Wohnung, folgten genau meiner Spur, um den Fallen und Pheromonen und Kampfspinnen auszuweichen. Ich bemerkte sie nicht, weil ich mit meinen Gedanken bereits bei Borne war und mich fragte, wo ich ihn dieses Mal finden würde.

Wick war in den fernsten Winkeln seines bröckelnden Drogenimperiums unterwegs. Keines meiner eigenen Verteidigungsmittel – die fleischfressenden Kakerlaken im Flur, die in die Tür eingebauten Krabbenspinnen, eine gute, alte Messerklinge – konnte sie stoppen.

Abgesehen von Mord, dem Giftregen und dem seltsamen, ausrangierten Biotech, die alle Tod oder Unannehmlichkeiten bringen konnten, waren die Kinder die fürchterlichste Macht der Stadt. Nichts in ihrem Blick ließ darauf schließen, dass sie Menschen waren. Sie hatten keine Erinnerungen an die alte Welt, die sie hätten erden oder mäßigen oder inspirieren können. Ihre Eltern waren wahrscheinlich tot oder noch Schlimmeres, und von klein auf waren sie an fürchterliche Gewalt gewöhnt, die sie grundlegend veränderte.

Sie waren zu fünft, und vier von ihnen hatten ihre Augen durch grün-goldene Wespen ersetzt, die sich in den Höhlen wanden und ihre Wahrnehmungsfähigkeit verbesserten. Ihre Hände zierten Krallen wie scharfe Kommas. Wenn sie atmeten, glühten Schuppen an ihren Hälsen rot auf. Aus dem nackten Rücken des Kleinsten heraus öffnete und schloss sich ein Blasebalg, wie ein Flügel; als Einziger hatte er noch schiefergraue Menschenaugen. Nach einer Weile wünschte ich, er hätte stattdessen auch Wespen.

Sie rochen nach Salzlake und Schweiß und Staub. Sie leckten sich die Lippen und ließen ihre Armmuskeln spielen, als wären sie kleine Eroberer. Damals wussten wir noch nicht, wie sie sich so hatten verändern können, wenn nicht auf Grund einer Kontaminierung durch die Firma, und konnten die neue Entwicklung, die sich da abzeichnete, weder deuten, noch wussten wir, woher sie kam.

Ich kämpfte, aber manchmal ist kämpfen nicht genug, ist aggressiv sein und Widerstand leisten nicht genug. Man kann sich nicht selbst die Schuld geben, wenn der Gegner in der Überzahl ist, sonst wird man verrückt.

Es war zwecklos. Ich war hilflos. Sie folterten mich stundenlang, auf verschiedene, unvorstellbare Weise. Der Kleinste schaute meistens einfach nur zu, stand neben dem Bett, starrte mich aus seinen schiefergrauen, riesigen Augen, deren Weiß nicht so weiß war wie seine bleiche Haut, stumpfsinnig an. Die Kinder waren auf irgendwelchen Drogen, die sie wahrscheinlich auf einem Haufen Giftmüll gefunden hatten.

Zwischen meinem Wimmern und Schreien und Zappeln, während die Laken sich rot färbten und die anderen ihren Triumph herausschrien, sagte ich wieder und wieder zu dem grauäugigen Kind: »Sieh nicht hin. Sieh nicht hin.« Ich redete mir ein, dass ich versuchte, ihn zu schonen, aber tatsächlich versuchte ich nur, mich selbst zu schonen. Für ihn war es längst zu spät.

Als sie ihrer Spielchen müde wurden, fingen sie an, alles Wertlose zu zertrümmern, kletterten einander auf die Schultern, um meine Leuchtkäfer zu töten.

Dann stießen sie auf Borne – er musste sich bewegt oder sonstwie ihre Aufmerksamkeit erregt haben. Und ihr Interesse an mir schwand. Auf ihrem Weg hinaus beschlossen sie, Borne mitzunehmen – aus einem blutverkrusteten Auge sah ich verschwommen, wie sie ihn sich schnappten.

Als sie Borne mitnahmen, flehte ich sie zum ersten Mal an. Zum ersten Mal spürte ich, wie wichtig Borne mir war. Aber es machte keinen Unterschied. Sie nahmen Borne mit und ließen mich in der Dunkelheit zurück, mit aufgerissener Wange, mit aus zum Teil sehr tiefen Wunden blutendem Gesicht und blutenden Armen und Beinen. Meine Haut brannte. Meine Haut war taub. Mein wundes Fleisch fühlte sich in der Hitze kalt an. Ich hatte keine Kraft mehr aufzustehen.

Die Stadt hatte mich heimgesucht, hatte mich daran erinnert, dass ich für sie weniger als wertlos war, dass nicht einmal die Balcony Cliffs sicher waren. Dass jede Verbindung zu unseren Verteidigungsanlagen gekappt werden konnte, einfach so.

Zeit verging, und ich war nicht mehr als ein zitterndes, entblößtes, entsetzliches Etwas. Ich heulte und kreischte, hatte jegliche Hemmung verloren; dafür sorgten die Schmerzen. Als ich das dritte oder vierte Mal wieder zu mir kam, lag mein Kopf auf Wicks Schoß, und er schaute mit einem seltsamen Gesichtsausdruck auf mich herab. Vor lauter Stress flackerte seine Haut grün, eine Nebenwirkung der Diagnosewürmer, die er in sich trug. Mein Körper fühlte sich weich und warm an, während er sich um mich kümmerte, aber dahinter lauerte ein Schmerz, der alles zu verschlingen drohte.