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Als Willow mit nichts weiter als ihren fünf Umzugskartons in Autumn Creek ankommt, hat sie sich eins fest vorgenommen: mit ihrer Vergangenheit abzuschließen. Die malerische Landschaft der Rocky Mountains und die friedliche Stille von Autumn Creek scheinen perfekt dafür. Auf der Mountain View Ranch erwartet sie ein neuer Alltag. Während Willow sich in die Arbeit mit wilden Mustangs und in die Schönheit der Natur verliebt, eröffnet sich ihr eine ganz neue Welt - eine Welt, in der nicht nur die Pferde, sondern auch der unnahbare Aiden eine bedeutende Rolle spielen. Willow wird schnell klar, dass Aiden mit den Dämonen seiner Vergangenheit zu kämpfen hat. Doch das ändert nichts daran, dass ihr Herz jedes Mal schneller schlägt, wenn er in der Nähe ist.
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Foto © Nina Wirths
Über die Autorin
Nina Wirths wurde 1990 geboren und lebt mit ihrem Verlobten und zwei Katzen in Wuppertal. Als @ninawirths begeistert sie ihre Follower*innen mit Buchempfehlungen, Outfitideen auf ihren Social-Media-Kanälen und nimmt sie mit auf Reisen. Die
Inspiration, die Nina aus ihren Reisen schöpft, ermöglicht es ihr, lebendige und mitreißende Geschichten zu erschaffen. Für sie gibt es nichts Gemütlicheres, als an einem verregneten Tag die Nase zwischen die Seiten eines Buches zu stecken und fantastische Orte zu entdecken. Wegen ihr Wegen ihrer Liebe zu Tieren setzt
sie sich außerdem für den Tierschutz ein.
Die Autorin im Netz: www.ninawirths.com
Instagram: www.instagram.com/ninawirths
TikTok: https://www.tiktok.com/@ninawirths
Youtube: https://youtube.com/@ninawirths
WREADERS E-BOOK
Band 282
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Vollständige E-Book-Ausgabe
Copyright © 2025 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Druck: Custom Printing
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Umschlaggestaltung: Emily Bähr
Lektorat: Johanna Struck
Korrektorat: Lektorat Seitensturm
Satz: Antje Weise
www.wreaders.de
Für Sascha,
da ich durch Dich meine Lebensträume erfüllen kann. Ohne Dich und unsere Roadtrips wäre diese Geschichte nie entstanden.
Content Notes
Panikattacken, Erwähnung physischer Gewalt, Verlust von Angehörigen, verletzte Tiere
Playlist
Taylor Swift – Carolina
Bring me the Horizon – Hospital for Souls
First Aid Kit – Walk Unafraid
X Ambassadors – Renegade
Kx5 – Escape
Nightwish – Creek Mary’s Blood
The Chainsmokers – Sick Boy
Miley Cyrus - Midnight Sky
X Ambassadors – Unsteady
Iniko – Jericho
Lana del Rey – Blue Jeans
Lana del Rey – Dark Paradise
Lany – Super Far
1
A journey of thousand miles begins with a first step
Mein gesamtes Leben passte in fünf Umzugskartons. Mühsam hievte ich sie auf die Ladefläche meines uralten Nissan Navaras und hoffte, dass sie stabil genug waren und sich mein Lebensinhalt nicht auf der Straße verteilen würde. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete kritisch meinen Pick-up. Ich sollte wohl auch beten, dass er die über zwanzigstündige Fahrt nach Montana überhaupt durchhielt. In letzter Zeit hatte ich die Werkstatt häufiger besucht mit mehr als nur einem Nervenzusammenbruch als Ergebnis. Den Auspuff, der wie die Lunge eines Kettenrauchers keuchte, hatte ich gestern vorsorglich überprüfen lassen. Die rostigen Stellen in der Karosserie hatte ich mit einem schwarzen Lackstift übermalt und ihm somit etwas von seinem alten Glanz verliehen.
Mit einem lauten Ruck schloss ich die Klappe der Ladefläche und schaute auf die Überbleibsel meines Lebens.
»Wow, grandiose Meisterleistung«, nuschelte ich. Sollte ich lachen oder weinen? Fünfundzwanzig Jahre in fünf Umzugskartons, einer sogar nur mit Studienunterlagen gefüllt.
Mit einem klagevollen Seufzen wischte ich mir den Schweiß aus dem Nacken und verfluchte die spätsommerliche Hitze der Stadt. Während sich überall im Umland langsam der Herbst ankündigte, kämpften wir in Chicago mit einer Schwüle, die sich kaum aushalten ließ. Die Luftfeuchtigkeit verstärkte das Schwitzen, und jegliche körperliche Anstrengung, auch solche, die normalerweise keine waren, brachten mich außer Atem. Klimaanlagen in den Gebäuden und Geschäften liefen auf Hochtouren. Ein Grund mehr, meiner Heimat den Rücken zu kehren. Ich ließ meinen Nacken kreisen und fühlte, dass meine schulterlangen Haare sich bereits wellten und mich im Nacken kitzelten.
Genervt zog ich die Plane über die Ladefläche und stieg auf den Fahrersitz. Ich wagte einen Blick in den Rückspiegel, um den Zustand meiner Haare zu bewerten. Sie sahen genauso katastrophal aus, wie ich befürchtete. Einzelne Strähnen klebten sogar an meiner Stirn. Schnell richtete ich den Blick auf den Plüschanhänger, der an dem Spiegel baumelte.
Er hatte die Form eines Ponys, auch wenn das Tier durch die Sonne in den letzten Jahren ausgeblichen war. »Wir sind bereit«, hauchte ich und berührte das Plüschfell.
Ich startete den Motor und aktivierte das Navi. Einundzwanzig Stunden bis Montana.
Einundzwanzig Stunden, in denen ich mich über den Verlauf meines Lebens in aller Ruhe befassen konnte. Genug Zeit, um den Fahrtwind in meinem Gesicht zu spüren und meine Playlist so laut abzuspielen, wie ich es wollte.
Ich. Musste. Hier. Raus.
Die Entscheidung, so viele Meilen wie möglich zwischen mich und Illinois zu bringen, war nicht meine eigene gewesen. Und Montana war weit genug entfernt, um einen Neustart zu wagen und mein Praktikum an der renommierten »Mountain View Ranch« zu absolvieren. Schmerzhafte Erinnerungsfetzen bohrten sich in mein Herz, als ich an meine alte Wohnung dachte. An das Sofa im Wohnzimmer, was ich als Erstes entsorgt hatte.
Ich reckte das Kinn und richtete mich etwas auf. Ich würde nicht zulassen, dass Joel meine Stimmung trübte. Es war schon schlimm genug, dass ich wegen ihm mein Studium in den letzten Wochen hatte schleifen lassen. Aber das war jetzt vorbei. Durch mein Praktikum in »Autumn Creek« würde ich mein Veterinärstudium mit Bravour beenden.
»Dann mal los«, flüsterte ich und lenkte den Pick-up auf die Hauptstraße.
Die Skyline von Chicago verkleinerte sich mit jeder Meile in meinen Außenspiegeln und ich ließ mein altes Leben mit der Stadt zurück. Gedanklich verabschiedete mich ein letztes Mal von der Wohnung in Lincoln Park sowie den Erinnerungen des alten Lebens. Die Wohnung war leer und es gab kein Zurück mehr. Das Echo meiner Schritte, das von den nackten Wänden widerhallte, als ich sie verlassen hatte, waren das letzte, was ich mit ihr verband.
Die engen Straßen, die Menschenmassen und die glitzernden Lichter hatten mich in letzter Zeit erdrückt. Mir die Luft zum Atmen geraubt. Ein Alltag auf dem Land war bestimmt keine schlechte Wahl.
Meine Lippen zitterten und mit Mühe vertrieb ich die aufkommenden Tränen. Ich hielt das Lenkrad fest umklammert. Da war Freude in mir, weil ich wusste, dass mich in Montana etwas Neues erwartete. Ein Leben auf einer Ranch, auf der ich endlich mein Können unter Beweis stellen konnte. Etwas bewegen konnte. Tieren helfen und Leben retten – dafür lernte ich seit vier Jahren.
Aber da war auch Trauer, weil Erinnerungen mir die Brust zuschnürten. Sie klopften ständig an und zeigten mir, was ich verloren hatte.
Und dann war da ständig diese Stimme in meinem Kopf, leise, aber allgegenwärtig, die mir zuflüsterte: Was, wenn es an dir liegt? Was, wenn du versagst, weil du nicht gut genug bist?
Ein weiterer Stau begrüßte mich an der Auffahrt zur Interstate. Fieberhaft suchte ich den Urwald aus Hinweis- und Warnschildern ab, um mich korrekt einzuordnen. Ich reihte mich in eine Schlange von abgaspustenden Autos ein, für Lkw und Motorräder wurde die Maut separat eingefordert. Die Straße flimmerte vor Hitze. Ich näherte mich einem der fünf Mauthäuschen, die alle triste graue Kabinen mit verschmutzen Fensterscheiben waren. Abgegriffene und verblichene Sticker klebten an der Außenwand. Die Schranken hoben und senkten sich träge und ließen die Autos im Schneckentempo auf die Interstate passieren.
Ich rollte näher, kurbelte mein Fenster hinunter, das auf halben Weg klemmte. Peinlich berührt drückte ich die Kurbel kraftvoll durch, nur um abzurutschen und mir den Kopf anzuschlagen.
»Sorry«, sagte ich und rieb mir die schmerzende Stirn.
Die Beamtin unterdrückte ein genervtes Seufzen. »Kein Problem, bis wohin fahren Sie, Miss?«, erkundigte sie sich und musterte mich kritisch über ihre Sonnenbrille hinweg. Tief im Herzen gehörte sie offenbar zur Grenzpolizei statt zur Maut Aufsicht.
»Bis Autumn Creek, Montana.« Ich zückte die Geldbörse und kramte meine Kreditkarte hervor.
»Kenne ich nicht«, nuschelte sie gelangweilt, und ich unterdrückte ein Augenrollen. Niemand kannte Autumn Creek. Das war ja der Punkt. Ich hatte es erst selbst auf Google Maps suchen müssen.
Die Beamtin tippte wild auf der Tastatur des Computers. »Dreiundfünfzig Dollar«, forderte sie mich auf, und ich hielt die Visa vor das Lesegerät. In aller Seelenruhe baute sich die Verbindung auf, und ich kaute nervös auf meiner Lippe. Dann blinkte mir ein »akzeptiert« entgegen.
Quietschend öffnete sich die Schranke und mit jedem Zentimeter fieberte ich meinem neuen Zuhause entgegen. Ich trat das Gaspedal so lang durch, bis ich den Nissan auf eine Geschwindigkeit von siebzig Meilen pro Stunde gefoltert hatte. Was, wenn ich merkte, dass das Ranchleben doch nichts für mich war?
Ich hatte das letzte Mal vor Ewigkeiten auf einem Pferd gesessen und hoffte, dass ich nicht direkt hinunter flog.
Vielleicht reichten meine Kenntnisse nicht aus?
Stopp. Nein.
Es musste sein.
Montana.
Entgegen jeder Vernunft fuhr ich einundzwanzig Stunden fort von Chicago. Ich lachte erstickt auf und schüttelte den Kopf, sodass die Haarspitzen meine Schulter kitzelten.
Auf in die Prärie und die raue Berglandschaft!
Ich drehte das Radio lauter. Ein Song der X Ambassadors schallte mir blechern entgegen, und ich sang lautstark mit. Ich war gefangen zwischen Abenteuerlust und dem Verständnis, dass das, was ich gerade verwirklichte, eine hirnlose Schnapsidee war.
Mein Herz schlug schneller, als ich die Interstate vor mir betrachtete, die sich wie ein Versprechen durch die Landschaft zog. Mein gebrochenes Herz rückte unweigerlich in den Hintergrund.
Die ersten Stunden flogen an mir vorbei. Anfangs ärgerte ich mich über den Müll, der abseits der Interstate lag und verfluchte die Menschen für ihr dämliches Verhalten. Aber ich beschloss, mich nicht von negativen Gedanken herunterziehen zu lassen. Karma würde bestimmt seinen Weg finden. Zumindest redete ich mir das ein. Ich schaute zu meinem Ponyanhänger, der bei gelegentlichen Schlaglöchern hin und her wippte.
»Ist ja gut, ich denke jetzt nur noch positiv«, sagte ich. Toll, ich redete schon mit einem Plüschanhänger. Das Pferd baumelte weiter vor sich hin, während ich mich räusperte, um meinen Monolog zu üben, den ich am Ziel halten würde.
»Guten Tag, mein Name ist Willow.« Nein, das war zu förmlich.
»Hi, ich bin Willow!« Zu locker?
»Howdy!« Verdammt, damit würde mich als Stadtkind niemand ernst nehmen. Hatte ich wirklich vergessen, wie man sich locker vorstellte? Ich schaute zu dem Plüschtier, dessen Grinsen von einem Ohr zum anderen reichte.
»Jetzt schau mich nicht so vorwurfsvoll an«, meckerte ich und schnippte gegen das Pony, das sich wild im Kreis drehte. Ein perfektes Rodeo-Pferd.
Die Interstate brachte mich immer weiter durch die endlosen Weiten von Iowa und Wisconsin. Weizenfelder erstreckten sich meilenweit entlang der Schnellstraße und in mir flammte der Wunsch auf, durch die Felder zu laufen und den Duft zu kosten. Früher, als die Welt in Ordnung war und ich die Ferien mit Lucy bei unseren Verwandten auf dem Land verbrachte, spielten wir oft bis in die Abendstunden. Wir suchten Portale nach fantastischen Welten in knorrigen Bäumen oder waren auf den Spuren von wilden Tieren. Hin und wieder brachten wir einen unterernährten Igel mit, um den meine Schwester und ich uns kümmerten oder retteten eine Maus aus einer der Fallen vom Hof.
Ich biss mir auf die Lippe und wünschte mir die kindliche Naivität zurück, die den Schmerz mit einem bunten Pflaster und einem Kuss von Tante Tanya hinfort blasen konnten.
Tränen brannten in meinen Augen, als ich an die Zeit zurückdachte. An die Kindheit, die Sorglosigkeit. Die Zeit war skrupellos und ich hing in meiner Nostalgie fest. Teilweise vergingen Tage, ohne dass sich etwas änderte, und dann änderte sich alles auf einmal. Ohne Vorwarnung.
Wie damals bei mir und meiner Schwester.
Lucy.
Vorhin hatte ich ihr eine Nachricht geschrieben, dass ich für die kommenden Monate nach Montana zog.
Wie damals, im Winter, als es passierte.
Mein Kinn bebte, als ich an Lucy dachte. An die Schwestern, die Verstecken in Feldern spielten und hofften, einen Schatz zu finden. Sie waren gestorben. Und ihre Eltern gleich mit.
Ich wollte ihr nicht die Schuld an dem Ereignis von vor zehn Jahren geben. Es war lang her und sie war jung gewesen. So verdammt jung. Und doch …
Mich überkam das starke Bedürfnis nachzusehen, ob sie geantwortet hatte. Mein Blick zuckte immer wieder zu meinem Handy, und es kribbelte mir in den Fingern danach zu greifen. Blut rauschte in meinen Ohren und die Lieder des Albums waren nur noch dumpfe Töne. Hatte Lucy mir geantwortet? Hatte sie die Nachricht überhaupt gelesen? Vielleicht konnte sie nicht antworten. Vielleicht war ihr etwas passiert?
Mein Kinn bebte, und ich setzte den Blinker, um auf den nächsten Rastplatz rauszufahren, der sich in einer halben Meile ankündigte. Der Kies knirschte unter den Reifen, als ich zum Stehen kam. Mit zitternden Fingern kramte ich mein Handy hervor. Lucys Name blinkte auf und die Benachrichtigung zeigte an, dass sie mir vor einer halben Stunde geantwortet hatte.
Mein Mund war staubtrocken. Das Gewicht auf meiner Brust wurde immer schwerer.
Es würde mich erdrücken. Es war zu eng. Alles.
Die Luft. Die Gedanken. Mein Herz raste. Konnte es meine Rippen zerbrechen? Dabei war es doch in tausend Teile zerbrochen.
»D-du reißt dich zusammen.« Meine Stimme war rau und zittrig. Ich wollte den Start in mein neues Leben nicht so beginnen. Voller Panik und Angst. Ich schloss die Augen und holte tief Luft.
»Eins«, flüsterte ich. Für drei Sekunden einatmen.
»Zwei.« Für fünf Sekunden ausatmen. Ich wiederholte den Vorgang, bis mein Herzschlag sich normalisierte und ich einigermaßen rationale Gedanken fassen konnte.
Ich war in Minnesota. Mitten im Nirgendwo, umgeben von Weizenfeldern und sonst nichts, was an eine Zivilisation erinnerte. Die Umgebung zu beobachten half mir, die Panikattacke zu besiegen. Ich atmete ein weiteres Mal ein und schaute auf mein Handy. Rational denken, schoss es durch meinen Kopf. Lucy hatte mir geschrieben. Die Anspannung sackte ab und Erleichterung durchflutete mich.
Lucy:
Bitte fahr vorsichtig. Melde dich, wenn du angekommen bist.
Ich starrte auf die Wörter. »Fahr vorsichtig«. Ich gab einen erstickten Laut von mir, dann sperrte ich das Handy und legte es in Sichtweite auf den Beifahrersitz und tastete nach der Wasserflasche.
Zwiespältige Gedanken und Gefühle … ich hasste sie.
Lucy war alles, was mir von meiner Familie übrig geblieben war, und doch konnte ich sie nicht vollständig in mein Leben lassen. Gierig trank ich die Flasche aus, ehe ich den Wagen wieder startete und den Weg ins Ungewisse fortfuhr.
Die Landschaft glitt an mir vorbei, während sich der Stundenanzeiger nur noch quälend langsam vorwärts bewegte. Die Wiesen und Felder wurden saftiger.
Atmen.
Ich konnte durchatmen.
Mit jedem Kilometer, den ich zurücklegte, wurde ich überzeugter, dass ich es schaffen würde. Erinnerungsfetzen prasselten immer wieder auf mich ein.
Seine Lippen auf ihrem Körper. Der Ausdruck auf seinem Gesicht.
Jahre zuvor. Ein Weihnachtsfest. Heiße Schokolade.
Pfeifentabakgeruch.
Irgendwann dazwischen. Der Moment, an dem ich mich auf der University von Chicago eingeschrieben hatte.
Durch das offene Fenster ließ ich die Erinnerungen symbolisch entfliehen.
Ob die Fetzen je verschwinden würden?
Die fünf Kartons, die mir nach all dem geblieben waren, rumpelten sorglos auf der Ladefläche und bekamen von meinen Emotionen nichts mit.
In Fergo Falls tankte ich den Pick-up erneut voll und kaufte mir einen Snack aus der Auslage als Abendessen.
Vor der Tankstelle packte ich das lieblos eingepackte Sandwich mit gerunzelter Stirn aus. Es schmeckte nach nichts und die Konsistenz ließ zu wünschen übrig, aber der Hunger siegte. Allein wollte ich mich in kein Diner setzen. Ich lief ein paar Schritte auf und ab und suchte verzweifelt in jedem erdenklichen Winkel den Handyempfang – erfolglos.
Als sich das Netzsymbol endlich aufbaute – ein paar Meter abseits der Tankstelle – durchkämmte ich das Internet nach Motels in der Nähe.
Das Glück war auf meiner Seite und ich fuhr in den nächst gelegenen Ort. In der Tasche auf dem Beifahrersitz kramte ich mit einer Hand nach der Wasserflasche, die ich mir ebenfalls gekauft hatte, aber sie blieb verschollen.
»Verdammt«, fluchte ich und war mir mit einem Mal ziemlich sicher, dass ich sie beim Bezahlen an der Kasse vergessen hatte. Bezahlt ja, aber nicht eingesteckt. Das war so typisch.
Vielleicht gab es in dem Motel einen Kiosk oder ähnliches.
Über mich selbst ärgernd, lenkte ich den Pick-up auf den Parkplatz und betrachtete das schäbige Motel hinter der Fensterscheibe. Es erhob sich wie ein einsamer Außenposten in der Weite des amerikanischen Hinterlandes. Großartig, denn so begann doch jeder Horrorfilm, oder? Weit abgeschottet jeglicher Zivilisation?
»Immerhin ist es nur für eine Nacht«, flüsterte ich, stieg aus der Sicherheit meines Autos und lief auf das Gebäude zu.
Die Farbe der Fassade blätterte ab, ein grünes neonbeleuchtetes Schild flackerte müde und warf einen fahlen Schimmer auf den staubigen Parkplatz. Nur das »E« in »Motel« blieb dunkel.
Quietschend öffnete ich die Tür zu einer heruntergekommenen Rezeption, in der mich die eisige Luft der Klimaanlage anpustete. Ich schüttelte kaum merklich mein T-Shirt. Der dicke Teppich verschlang jedes Geräusch.
»Bin gleich da«, nuschelte jemand aus der hintersten Ecke, und ich sah mich um. Alte, vergilbte Gardinen hingen schlaff herunter und taten ihr Bestes, um die triste Atmosphäre zu befeuern.
Neugierig begutachtete ich die Flyer für Touristen, die Ausflüge in die nahe gelegen Reservate anboten.
Eine männliche, rauchige Stimme ließ mich aufhorchen. »Was kann ich für Sie tun?« Vor mir stand ein Mann Ende sechzig mit langen grauen Haaren und einer gewaltigen Erscheinung. Er war mindestens einen Meter neunzig und fast genau so breit.
»Ich suche ein Zimmer für die Nacht«, sagte ich. »Haben Sie eins frei?«
Er schaute in den Unterlagen und tippte mit einer Seelenruhe und einem einzigen Finger auf die Tastatur.
»Mmmh …«, brummte er, und ich knetete meine Finger. Der Parkplatz war leer, und ich bezweifelte, dass die Apartments in einem Kaff mitten im Nirgendwo ausgebucht waren.
»Ah, da haben wir eins. Sie haben Glück. Wie viele Nächte?«
»Nur eine. Ich breche morgen früh direkt auf«, erwiderte ich.
Er nickte, was ihn nicht davon abhielt, weiter grobmotorisch auf die Tasten einzuhämmern. »Mit Karte oder Cash?«
»Mit Karte, bitte«, antwortete ich und hielt ihm meine Kreditkarte hin. Er nahm sie zwischen die Finger und betrachtete sie kritisch, ehe er sie auf das Lesegerät legte. »Akzeptiert«, stellte er erfreut fest.
Er überreichte mir die Schlüssel mit einer zwölf darauf und erklärte mir, dass das Rauchen nicht gestattet sei. »Es gibt kein Frühstück, aber drei Blocks weiter ist ein Diner. Den Zimmerschlüssel können Sie morgen in die Schlüsselbox werfen.«
Ich bedankte mich bei ihm und trat nach draußen, um meine Tasche zu holen. Was ein Typ.
Die Luft hier war angenehm abgekühlt und die umstehenden Laubbäume färbten sich allmählich rot und orange.
Ich betrachtete erneut das Gebäude. Inmitten der Einsamkeit und dem Verfall war das Motel ein Zeuge verblühter Zeiten und Reisen. Es sehnte sich nach dem Glanz vergangener Tage, in denen Reisende voller Hoffnung und Abenteuerlust im Herzen das Land durchquerten. Jetzt blieb nur die Erinnerung.
Ich öffnete die Zimmertür von Apartment zwölf und betrachtete zähneknirschend das Zimmer: Die Möbel waren alt, dunkel und heruntergekommen, die Dielen quietschten, ein Ungetüm von einem Bett stand in der Mitte des Raumes. Ein dürftiger Fernseher stand auf einem wackeligen Tisch. Es roch nach Reinigungsmitteln, mit denen jemand vergebens versucht hatte, den Zigarettenqualm zu übertünchen.
»So viel zum Thema, es darf nicht geraucht werden.« Ich seufzte und stieß die Tür mit der Hüfte zu.
Ich musterte das Bad, dessen Fliesen abgenutzt und Waschbecken gesprungen war.
Niedergeschlagen ließ ich mich auf das Bett fallen und kramte zur Aufmunterung den Brief heraus, der mittlerweile ganz zerknittert war. Ich atmete tief durch, bevor ich die Zeilen erneut las, obwohl ich jedes Wort mittlerweile auswendig kannte.
Liebe Ms. Halewood,
wir bedanken und herzlich für Ihr Interesse an einem Praktikumsplatz an unserer renommierten Mountain View Ranch.
Gern bieten wir Ihnen die Möglichkeit, in verschiedenen Bereichen der Pferdepflege Erfahrungen zu sammeln. Sie werden die Gelegenheit bekommen, unsere Mustangs kennenzulernen und an ihrer Ausbildung teilzunehmen.
Wir sind davon überzeugt, dass die Arbeit mit den Tieren Ihrem Studium zugutekommt und Sie einiges bei uns lernen können.
Mein Team wird Sie unterstützen und dabei helfen, Ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
Wir freuen uns darauf, Sie in unserer Ranch-Familie willkommen zu heißen!
Bis dahin, bleiben Sie gesund und liebe Grüße aus Montana.
Ellen Blake und das Team der Mountain View Ranch
Und ich wollte das. Ich wollte mein Studium erfolgreich beenden und Tieren helfen. Ich wollte fort von meinem Zuhause.
Ich zitterte immer noch bei dem Gedanken daran. Dass ich mich irgendwann auf Pferde spezialisieren wollte, stand für mich außer Frage. Als ich bei meiner Recherche nach einem geeigneten Praktikumsplatz auf ein YouTube-Video von Fiona Mosley gestoßen war, stand für mich fest, wohin ich wollte. Die Art, wie sie auf der Mountain View Ranch mit wilden Mustangs arbeitete und deren Vertrauen gewann, beeindruckte mich zutiefst. In einem Anflug von Eifer hatte ich mir Bücher über Pferde, Horsemanship und diverse Rasseportraits besorgt und mich eingelesen. Jede Seite, die ich verschlang, befeuerte meinen Entschluss – ebenso wie der Satz meiner Mom, der mir seit über zehn Jahren im Kopf herumspukte. Damals hatte ich unserer kranken Katze Medikamente gegeben und sie versorgt. Mom hatte einen Arm um mich gelegt. »Du wirst eines Tages eine hervorragende Tierärztin.«
Eine herzzersplitterende Traurigkeit überkam mich, und ich gab mir nicht die Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Wie gern hätte ich meinen Eltern davon berichtet. Stattdessen teilte ich die Freude, als der Brief ankam, mit der Person, die mich wenige Tage später am meisten verletzte – meinem Ex.
Er war natürlich dagegen und hätte es besser gefunden, wenn ich in der städtischen Tierarztpraxis mein Praktikum absolvierte. Ich hatte tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, abzusagen, Joel zuliebe. Aber dann hatte er mir das Herz gebrochen und ich wollte so weit wie möglich weg von ihm.
Zum ersten Mal verließ ich meine Komfortzone und begab mich ins Unbekannte, fernab von Chicago. Blind und hoffnungslos stürzte ich mich in ein Abenteuer in einem fremden Staat, in dem ich niemanden kannte und dessen Tierwelt eindrucksvoller als ganz Illinois war.
Ich schnitt die Fäden der Vergangenheit von mir ab. Stattdessen ging es nach Montana, dem sogenannten Treasure State. Ich versuchte, mir die endlose Prärie und die raue Landschaft auszumalen. Nur Alaska und Wyoming waren dünner besiedelt als Montana, und das war der viert größte Staat in Amerika.
Was, wenn meine Erfahrung nicht ausreichte, um die nächsten Wochen und Monate dort zu überstehen? Was, wenn ich vor Ort keinen Anschluss fand?
Die Unsicherheiten kreisten in meinem Kopf und ließen mich schwanken. Auf was hatte ich mich eingelassen? Zitternd atmete ich ein. Meine Hände waren schweißnass und das Herz raste in der Brust. »Einatmen, ausatmen. Du schaffst das, Willow«, flüsterte ich mir zu.
Ich war hier, um meinem Herzen zu folgen.
Die Uhr zeigte an, dass der Abend erst angebrochen war, und früher wäre ich vermutlich in eine Bar einkehrt und hätte auf das Beste gehofft. Getrunken. Geflirtet. Spaß gehabt. Aber das war nicht mehr. Zumal ich derzeit nicht den Hauch von Interesse an Männerbekanntschaften hatte.
Ich lief ins Bad und duschte die Trauer hinfort. Der heiße Dampf vertrieb für den Moment meine wirren Gedanken und lockerte meine Muskeln, die von der langen Fahrt vollkommen verspannt waren.
Mit einem Handtuch umwickelt wischte ich den Dampf vom Badezimmerspiegel und sah mir selbst in die grauen Augen. Nur um zu sehen, wie die sich erneut mit Tränen füllten und mir die Sicht wieder verschleierten. »Ich schaffe das. Ich schaffe das, ich schaffe das.« Ich war sicherlich nicht die erste Person, die in einen ihr unbekannten Staat zog. Andere Menschen bekamen das auch hin.
»Du wolltest von zu Hause weg, und jetzt bist du hier. Also mach das Beste draus«, sagte ich zu meinem Spiegelbild.
Das Bad war stickig und eng, das Deckenlicht summte. Die Zweifel nagten an mir.
»Es hat nicht mehr gereicht, Willow. Du hast nicht mehr gereicht.«
Ich umklammerte das Waschbecken mit beiden Händen, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Ein weiteres Mal atmete ich kräftig aus. Ein einsamer Tropfen fiel vom Wasserhahn und ich drehte ihn weiter zu.
Wie hatte ich nur hier landen können? In einem heruntergekommen abgefuckten Motelzimmer im mittleren Westen Amerikas?
Auf der Flucht.
Vor meinem Leben.
Und dem Schmerz.
»Montana ist die Lösung«, presste ich durch zusammengepresste Zähne hervor.
Weit, weit weg von zu Hause.
Die schulterlangen dunkelbraunen Haare band ich im Nacken zusammen und zog mir meinen Einhornpyjama über. Der Duft nach meinem Waschmittel beruhigte meine Nerven.
Müde von der langen Autofahrt und dem Gefühlschaos kroch ich unter die kratzige Decke und versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Um sechs Uhr morgens riss mich der Wecker aus den nicht vorhandenen Träumen und kurz überlegte ich, einfach liegen zu bleiben. Ich tastete nach der Bettdecke und zog sie mir über die Schulter, fühlte den kratzigen Stoff …
Moment. Meine Decke war nicht kratzig. Langsam öffnete ich die Augen und starrte auf eine kahle weiße Wand. Ich befand mich nicht in meinem Schlafzimmer, sondern in dem lieblos eingerichteten Motelzimmer.
Das frühe Aufstehen kam mir mit einem Mal reizvoll vor, weswegen ich mich aufrappelte und die letzten Fetzen der Müdigkeit aus meinen Augen blinzelte. Damit ich vor Einbruch der Dunkelheit in Autumn Creek ankam, war ich bereit, dieses Opfer zu bringen.
Ich packte die wenigen Sachen zusammen und schmiss sie in meine Tasche, was ganze drei Minuten dauerte. Obwohl ich am Abend zuvor kaum etwas ausgepackt hatte, checkte ich jeden Winkel des Motelzimmers, um auszuschließen, dass ich etwas vergaß. Bei meiner Schusseligkeit wäre das durchaus denkbar.
Draußen schloss ich das Zimmer hinter mir ab.
»Guten Morgen«, grüßte mich eine Stimme in der Morgendämmerung.
Erschrocken drehte ich mich in die Richtung und sah zwei Biker, die ihre Harleys beluden.
»Morgen«, nuschelte ich zurück und blieb unbeholfen mit der Tasche im Arm stehen.
»So früh schon wach?«, fragte der andere und schenkte mir ein Lächeln. Die Antwort war offensichtlich, denn immerhin stand ich hier. Halbwegs wach.
»J-ja«, stotterte ich. Mir fehlte mein Koffein für dieses Gespräch. Oder Gespräche ganz allgemein.
»Willst du in den Yellowstone?«, erkundete sich der Fremde freundlich und zog die Satteltasche seiner Harley zu. »Wir hätten eine Karte des National Parks abzugeben.«
Yellowstone? Karte? Ich brauchte einen Moment, um das das Gesagte logisch zusammen zu führen. »Nein, ich umfahre ihn mehr oder weniger. Ich fahre nach Montana«, erzählte ich und hoffte, dass das mein Entlassen bedeutete. Kein Yellowstone, keine Konversation. Die beiden schienen zu merken, dass aus mir nichts Weiteres herauszuholen war.
»Dann eine gute Fahrt.«
»Ebenso«, wünschte ich und steuerte auf die Rezeption zu, warf den Schlüssel des Zimmers in die passende Box, ehe ich zu meinem schwarzen Nissan ging. Ich schmiss die Tasche, die ich immer noch festklammerte, auf den Beifahrersitz, öffnete die Navigation und startete den Motor.
Weitere Stunden vergingen, in denen sich die Landschaft veränderte, grüner und felsiger wurde. Ich kurbelte das Fenster hinunter und atmete den frischen Fahrtwind ein. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Die Hügelkuppen der Rockies ragten am Horizont in den Himmel, Täler schlängelten endlos durch die Prärie. Das war das erste Mal, dass ich die Rockies sah und ein Jubelstoß rutschte aus meinem Mund. Ich lachte. Die Weite und die Schönheit der rauen Natur raubten mir schier den Atem.
Der warme Wind wirbelte meine Haare auf. Der Duft nach trockener Erde und frischen Gras mischte sich ins Wageninnere, ganz einer Umarmung der Seele gleich. In der Ferne zog ein Habicht seine Kreise am hellblauen Himmel. Ich lehnte mich entspannt zurück und ließ mich von der Welt – beziehungsweise Montana – willkommen heißen.
»O mein Gott, ich tue das wirklich!«, schrie ich aus dem Fahrerfenster.
Mit jedem Kilometer wurde mein Traum greifbarer: Ich näherte mich Montana.
Immer wieder sah ich zu den Rocky Mountains am Horizont. Ich freute mich auf die Arbeit mit Pferden, die Ausritte und ein Leben auf einer Ranch. Ich stellte mir vor, das Schnauben der Tiere zu hören und hätte schwören können, Heu zu riechen.
In weiter Ferne sah ich am Straßenrand vier dunkle, sich bewegende Flecken. Ich kniff die Augen zusammen und drosselte das Tempo auf dem leeren Highway.
Mein Herz schlug mit einem Mal höher. Ich rollte auf den Standstreifen und schaltete den Motor ab.
Drei Stuten mit einem Fohlen in ihrer Mitte trotteten am Rand entlang und blickten neugierig in meine Richtung. Ihre Ohren wackelten und eins der Tiere schnaubte. Mit offenem Mund starrte ich die Pferde an. Ich traute mich kaum zu atmen und doch konnte ich nicht anders, als sie nach möglichen Verletzungen abzusuchen. Gerade bei Wildpferden traten diese so häufig auf, besonders durch Revierkämpfe. Doch ihnen ging es dem ersten Blick nach gut.
Die Stuten sahen ein letztes Mal zu mir, ehe sich die kleine Herde von mir abwandte und ihren Weg ins Unbekannte fortsetze.
Wilde Mustangs.
Die Sonne glitzerte auf ihren Mähnen und ihr Fell schimmerte in den unterschiedlichsten Farbtönen, von sanften Brauntönen bis zu kräftigem Schwarz. In kaum einem anderen Staat konnte man so ein Schauspiel beobachten.
Der Klang meines eigenen Herzens war lauter als das Summen der Reifen eines vorbeifahrenden Autos.
Die Herde verschwand aus meiner Sicht und ich löste mich aus meiner Trance, ehe ich den Motor startete. Nach fast zwei Tagen Reisezeit näherte ich mich langsam dem Ziel. Das Navi zeigte noch eine halbe Stunde Fahrtzeit an und meine Finger trommelten nervös auf das Lenkrad.
»Welcome to Autumn Creek« begrüßte mich ein schick aussehendes, orangenes Schild und ich drosselte mein Tempo. Ich bog ab, und der Highway wurde zu einer sich schlängelnden Straße, die mich durch die Ortschaft führte.
Anmutige Häuser reihten sich aneinander und die herbstliche Atmosphäre der Stadt brachte mich zum Strahlen: Die ersten Laubbäume hatten ein orangenes Laubdach. Bunte Fassaden und verzierte Verandas sorgten für einen wohligen Charme. Obwohl es erst Mitte September war, säumten Trockenblumen die Hauseingänge, geschnitzte Kürbisse wurden zur Schau gestellt und eine Bäckerei mit dem Namen »Finest Bakery« prophezeite den besten Pumpkin-Pie in ganz Autumn Creek.
Alles, was ich sah, verströmte gemütliche, einladende Wärme. Die Sonne strahlte auf Autumn Creek und tauchte die Umgebung und ihre sanften Erdtöne in ein weiches, goldenes Licht. Für mich als Herbstliebhaberin war das mein heiliger Gral.
Die Stadt zog an mir vorbei und ich setzte einen Besuch oben auf die To-do-Liste.
»Biegen Sie rechts ab«, forderte mich das Navi auf und ich lenkte den Pick-up auf den Belleview Drive. Der Straße folgte ich für einige Minuten und der Wagen ruckelte die letzten Meter, bis ich vor einem prächtigen und eindrucksvollen Tor zum Stehen kam.
Obwohl ich dachte, ich hätte mir genug Mut zugeredet, rumorte mein Bauch bei der Vorstellung, gleich die anderen zu begrüßen. Ich knabberte an meiner Lippe und knetete meine Finger.
»Sie haben Ihr Ziel erreicht.« Selbst die monotone Stimme des Navis schien erschöpft.
Ich stieg aus und bestaunte das Eingangstor. Zwei Pferdeabbildungen, jeweils links und rechts waren in das Tor eingearbeitet, sodass es aussah, als stünden sich steigende Pferde gegenüber. Durch die Streben des Tors erkannte ich einen Schotterweg und das Anwesen am Horizont. Dahinter erstreckte sich ein Waldgebiet, an das sich die Bergkette der Rockies schmiegte.
Ich stieß einen leisen Pfiff aus, als ich die weite Landschaft hinter der Ranch betrachtete. Es war riesig. Wenn mich meine neuen Arbeitskolleginnen und -kollegen so sähen, würden sie mich für unzurechnungsfähig halten.
»Heilige Scheiße«, murmelte ich. Das beschrieb Montana in einem Bild: Prärie, Wald und Berge. Fehlte nur noch ein See, auf dessen Oberfläche sich die Kuppen der Rockies spiegelten.
Kurz schüttelte ich mich, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Das gesamte Gelände wurde von einem strahlend weißen Zaun umschlossen.
Unwillkürlich dachte ich an die Farm meiner Tante Tanya – und an Lucy. Ihr würde es hier ebenfalls gefallen. Ich zog das Handy aus der Hosentasche und ließ meine Schwester wissen, dass ich angekommen war. Sicher.
Dann wandte ich mich wieder dem imposanten Eingangstor zu und suchte nach einer Klingel oder etwas, womit ich auf mich aufmerksam machen konnte. Ich lief jeweils rechts und links einige Meter am Zaun entlang und landete schließlich wieder vor dem Tor. Das war lächerlich. Ich konnte doch nicht so kurz vor dem Ziel versagen. Das Tor war mit zwei Holzbalken verschlossen und ich überlegte, ob ich sie einfach öffnen sollte. Ich konnte doch nicht einfach ein fremdes Tor öffnen … oder? Was, wenn es hier Wachhunde gab? Oder mich in der Adresse geirrt hatte? Aber ein anderes Haus am Belleview Drive gab es nicht.
Mir blieb wohl nichts anderes übrig. Unbeholfen öffnete ich das Tor und mein Herz pochte vor Aufregung, als der Weg zur Ranch frei wurde.
Der Klang des Autos auf dem Schotterweg vermischte sich mit dem sanften Rauschen des Windes, der durch die Gräser strich. Auf den Koppeln neben dem Weg grasten Pferdeherden. Vereinzelt hob ein Tier interessiert den Kopf und blickte zu mir.
Die Bäume auf den Weiden nahmen auch hier langsam herbstliche Töne an und ich atmete den Duft ein, der in der Luft lag. An einem der Bäume hing sogar eine Schaukel.
Im Schritttempo kroch der Nissan den Weg hinauf und an einem ausgewiesenen Parkplatz stellte ich den Motor ab. Ich erlaubte mir, tief durchzuatmen, und tätschelte meinem Pick-up das Lenkrad. Ich war mehr als erleichtert, dass mein altes Auto die letzten Tage ohne Panne durchgehalten hatte. Vielleicht belohnte ich es mit einem Ölwechsel.
Angekommen.
Ich war angekommen. Die Müdigkeit hing immer noch wie ein Schleier auf mir, doch das weiche Licht der Nachmittagssonne, das die Ranch in warme Goldtöne tauchte, ließ mich die Strapazen vergessen. Irgendwo wieherte ein Pferd und ich grinste. Beinahe behutsam öffnete ich die Fahrertür, um die Idylle nicht zu stören.
Ich ging einige Schritte auf und ab und scannte die Umgebung. Der Schotter knirschte unter meinen Chucks und das Haupthaus breitete sich vor mir aus. Staunend rieb ich mir meine schwitzigen Hände an der Jeans ab.
Riesige Fenster durchbrachen die Holzfassade und ein atmosphärisches Licht drang nach außen. Groß, elegant, mit drei Etagen und rustikalem Aussehen thronte die Ranch vor mir und passte perfekt in die Szenerie.
Eine breite Veranda mit Stühlen und Decken umschloss das Haus auf allen Seiten. Neben dem Haupthaus erhob sich eine Scheune aus massivem Holz und ich vermutete, dass dort die landschaftlichen Geräte und Werkzeugen sowie das Heu und Stroh lagerten.
In unmittelbarer Nähe befanden sich drei Ställe, in denen vermutlich Pferde untergebracht waren. Ausladende Fenster und Tore, die hinaus auf einen Paddock führten, sorgten dafür, dass die Boxen mit Tageslicht durchflutet wurden.
Endlose Wiesen, üppig und grün, vollendeten den Anblick der Ranch, die in den Weiten der Prärie verschwanden. In der Ferne ragten die Rocky Mountains in die Höhe und boten eine spektakuläre Kulisse.
Das hier war mein Arbeitsplatz. Ich schlug die Hände vor das Gesicht und blinzelte schnell ein paar Tränen fort.
Ein aufgeregtes Hundebellen drang an mein Ohr und ich drehte mich in die Richtung. Ich runzelte die Stirn und ging in Richtung der Scheune, aus der ich jetzt weitere Geräusche kamen, darunter ein lautes Lachen. Ich bog um die Ecke und blieb vor einem Traktor stehen, auf dessen Anhänger vier Leute damit beschäftigt waren, Heuballen abzuladen. Sie bemerkten mich nicht, weshalb ich mich räusperte und ein vorsichtiges »Hey zusammen« in die Runde warf.
Vier Köpfe erhoben sich und schauten erwartungsvoll zu mir.
Verstecken konnte ich mich jetzt nicht mehr.
Ich räusperte mich. »Ich bin … Willow. Ich bin, also, die Neue hier.«
Ein Labrador und ein Australian Shepherd rannten schwanzwedelnd auf mich zu und bellten aufgeregt, ehe ich noch etwas sagen konnte. Insgeheim dankte ich den Hunden, dass sie mir etwas Zeit schindeten. »Ist ja gut«, beruhigte ich sie, als sie aufgeregt vor mir auf und abliefen, und hielt ihnen meine Hand zum Schnüffeln hin.
»Die tun nichts, die wollen nur spielen«, rief mir eine jüngere Frau zu, die sich ihren Cowboyhut zurechtzupfte. Blonde Haare kamen darunter zum Vorschein. »Ich begrüße unseren Gast und ihr arbeitet weiter, danke!«, flötete sie.
Der Typ neben ihr lachte und schüttelte den Kopf.
Ich lächelte, als die Hunde freudig an mir schnupperten und sich um meine Beine drängten. Zögerlich tätschelte ich einem das Fell und er schmiegte seinen Körper an mich. Erleichterung durchflutete mich. Nach einer kleinen Streicheleinheit hob ich den Kopf. Und schluckte, als ich in das erwartungsvolle Gesicht des blonden Cowgirls sah, das jetzt etwa einen Meter vor mir stand und mich betrachtete.
2
Long roads often lead to beautiful ranches
Hey«, murmelte ich und schirmte meine Augen mit den Händen gegen die tief stehende Sonne ab.
»Hi Willow«, entgegnete die Blonde und winkte mir grinsend zu.
»Mit Tieren umgehen kann sie schon mal.« War das ein Kompliment? Der junge Mann, dessen dunkle Haare unter dem Cowboyhut hervorlugten, schmunzelte. Ein Bartschatten zeichnete sich auf seinem markanten Kinn ab.
»Willkommen mitten im Nirgendwo in Montana, Stadtmädchen.« Er lächelte mir zu. »Du bist doch aus Chicago, richtig?«
»Jetzt überfordere unsere Praktikantin doch nicht gleich, Lex, sie ist gerade erst angekommen«, schimpfte die Blonde, und ich schnaubte belustigt.
»Warum sind Männer immer so gemein?«, flüsterte sie und beobachtete mich aus ozeanblauen Augen, während sie neben mich trat. Ihre Wangen waren rosig und sie pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie trug eine schwarze Jeans, Gummistiefel, ein Jeanshemd und einen schlichten, stilvollen Cowboyhut. Sie verkörperte pure Lässigkeit. Ein geflochtener Zopf, aus dem sich einzelne Strähnen lösten, hing über ihre Schulter.
Ich kam mir in meinem Aufzug absolut lächerlich vor.
»Keine Sorge, ich bin fast einundzwanzig Stunden gefahren, ich werde jetzt nicht sofort umkehren«, entgegnete ich und lächelte.
»Das freut mich zu hören. Happy scheint dich nämlich zu mögen. Das ist mein Australian Shepherd. Ich heiße übrigens Lilly.« Sie war so cool, dass ich mich direkt wohlfühlte.
Siehst du? War doch gar nicht so schlimm, schoss es mir durch den Kopf.
»Happy liebt jeden, der vorbei kommt«, stichelte Lex und klopfte ihr auf die Schulter. Lachfalten zeichneten sich um seine tiefgrünen Augen und spiegelten eine ungezwungene Leichtigkeit wider.
Lilly streckte ihm die Zunge raus und ich kicherte.
Er ignorierte sie, klopfte sich Heu von der Jeans und schaute zu dem Anhänger des Traktors. »Jetzt kommt her und lasst für eine Sekunde mal das Heu in Ruhe«, forderte er.
»Wir mussten den Heuballen nur entsichern«, kam es zur Antwort. Ein Niesen folgte. »Wir kommen gleich.«
Lilly deutete neben sich. »Und dieser nette Kerl ist Lex«, stellte sie ihn vor und sah ihn auffordernd an.
»Hi Willow.« Er zog mich in eine Umarmung, und ich machte große Augen. Mit derart viel Freundlichkeit und Offenheit begrüßt zu werden, hatte ich nicht erwartet.
Da sprang der helle Labrador an mir hoch. »Lucky, hör auf zu springen. Ich muss zugeben, Happy ist etwas besser trainiert. Lucky ist mein Hund und er denkt, er wäre ein Kuschelmonster.« Lex versuchte seinen Hund zu zähmen, aber der lief schwanzwedelnd davon.
»Wie sein Herrchen.« Lillys Lachen war ansteckend.
»Er braucht noch etwas Erziehung.« Entschuldigend kratzte Lex sich im Nacken, was mich zum Lächeln brachte. Er zog ein Haargummi über sein Handgelenk und band sich seine Haare im Nacken zusammen. »Jetzt hast du uns kennengelernt und wirst merken: Wir sind lustiger als die anderen beiden.«
Lilly stimmte zu und drehte sich zum Traktor. »Jetzt hört doch mal kurz auf mit der Arbeit und kommt her. Das Heu läuft nicht weg.« Sie schüttelte den Kopf. »Claire und Aiden sind pflichtbewusster als alle anderen zusammen«, flüsterte sie mir zu. Dann fragte sie mich etwas lauter: »Hast du gut hergefunden?«
Ehe ich antworten konnte, drang eine Stimme zu mir: »Lilly, du und deine Arbeitsmoral«, sagte eine brünette Frau. Das musste bestimmt Claire sein. Ihr Grinsen entblößte eine schmale Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen.
Lilly nickte in die Richtung. »Ah, da ist sie ja!«
Happy winselte und bettelte um meine Aufmerksamkeit. Ich streichelte beiläufig seine Öhrchen, schaute aber zur Ladefläche. Das Gesicht eines weiteren jungen Mannes verbarg sich im Schatten eines Cowboyhuts. Unweigerlich klopfte mein Herz wieder schneller.
Jeder schien hier Westernkleidung zu tragen und ein richtiges Cowgirl oder echter Cowboy zu sein. Ich hingegen trug meine hellen Jeans, die Chucks und den College-Pullover der University of Chicago. Mehr Stadtmädchen war nicht drin. Daran hatte ich nicht gedacht. Innerlich seufzte ich und hoffte, dass sie mich nicht gleich abstempelten.
Die brünette junge Frau mit der gebräunten Haut in meinem Alter nieste lautstark und schob sich zwischen Heuballen hervor. »Sorry«, murmelte sie. »Zu viel Heu.« Sie kletterte von dem Anhänger und landete direkt vor Lilly und mir. Ihre Augen strahlten förmlich. »Hi Willow, freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Claire.« Sie streckte mir die Hand hin, die ich ergriff. »Ich würde dich auch gern umarmen, aber ich bin voller Heu. Was Lilly auch theoretisch wäre, wenn sie nicht mehr reden, als arbeiten würde.«
»Hi, Danke für die liebe Begrüßung«, erwiderte ich und lächelte. In Gedanken ging ich die Namen durch. Claire. Lex. Lilly.
Das lief doch gar nicht mal so schlecht.
»Du bist allergisch?«, erkundigte ich mich bei ihr.
»Eigentlich nicht, aber Aiden hat so viel Heu aufgewirbelt, das hat mich zum Niesen gebracht. Ich habe das Gefühl, dass ich mindestens einen Heuballen inhaliert habe.« Sie hob ihre Stimme, damit dieser Aiden das Gesagte auch mitbekam. Kurz darauf sprang er ebenfalls herunter. »Ich hab das genau gehört!« Er klopfte sich die Jeans ab, sodass Heu aufwirbelte und in der tief stehenden Sonne tanzte. Er warf eine Plane über die übrigen Heuballen und zurrte sie fest.
Claire hob ihren Cowboyhut an und schüttelte ihr langes, wunderschönes Haar aus, sodass Heu zu Boden regnete.
Lilly kam ihr zu Hilfe und zupfte ein paar Halme aus ihren Strähnen.
Etwas Nasses, Feuchtes schleckte an meinem Handrücken und ich sah Happy, der mir auffordernd entgegenblickte.
»Ich sag doch, er mag dich«, freute sich Lilly und klatschte in die Hände.
»Happy mag jeden«, sagte auch Claire, die sich einen neuen Zopf band. Lex stimmte zu. Immer wieder glitt mein Blick zu dem anderen Mann, der eine weitere Öse mit einem Spanngurt festzurrte.
»Ihr habt euch gegen mich verschworen«, jammerte Lilly und verdrehte die Augen. »Keine Sorge, Willow, ich bin die einzige Normale auf der Ranch.«
Claire lachte und Lex legte Lilly eine Hand um die Schultern. »Du bist vieles, aber nicht normal.« Lillys Wangen wurden noch einen Ton dunkler. Sie war definitiv die Jüngste von allen. Der vierte der Runde wandte sich zu uns und schloss zu unserer Gruppe auf.
Happy ließ augenblicklich von mir ab und lief ihm entgegen.
»Ist ja gut, Großer.« Er tätschelte das Fell des Hundes, dann richtete er sich auf. Er hob seinen Cowboyhut an und wischte sich mit seinem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Sein dunkelblondes Haar war an den Seiten kürzer geschnitten.
Unsere Blicke trafen sich und ich schluckte schwer. Vermutlich hatte er wesentlich mehr Erfahrung in Pferdeangelegenheiten als ich und mein Outfit war alles andere als Ranch-like.
Er kam mit undurchdringlicher Miene auf mich zu. Seine braunen Augen erinnerten mich an Herbstlaub. Wenige Schritte vor mir stehend bleibend, schaute er auf mich hinab. Machte er sich gerade ein Bild von mir? Ob ich seine Prüfung bestanden hatte? Unruhig biss ich mir auf die Unterlippe. Ich wusste selbst, dass ich von der langen Fahrt müde aussah.
»Hi, ich bin Willow«, hauchte ich und sein misstrauischer Blick wurde weicher.
»Ich würde dir gern die Hand geben, aber die ist leider dreckig. Willkommen auf der Mountain View Ranch, Willow. Ich bin Aiden.« Seine Stimme war kühl, doch seine kleinen Lachfältchen ließen ihn weniger distanziert wirken.
»Hi Aiden, freut mich, dass ich hier sein darf«, sagte ich. Freut mich, dass ich hier sein darf? Ich hätte mir am liebsten gegen die Stirn geschlagen.
Er tippte sich an die Hutkrempe und sagte knapp. »Ellen wir später deine Personalien noch mal aufnehmen. Ich bin gleich wieder da.« Er drehte sich um und lief in Richtung des Traktors, von dem er eben gesprungen war.
»Also Willow, vermisst du die Großstadt schon?« Lilly sah mich abwartend an. Eine Last fiel von meinen Schultern und ich stieß grinsend den Atem aus. Das war doch kein schlechter Start.
»Bis jetzt noch nicht. Immerhin ist es hier deutlich ruhiger und hier fahren sicherlich auch keine Krankenwagen im Stundentakt vorbei.« Lilly verzog den Lippen.
»O nein, keine Sorge. Der Krankenwagen kommt selten, das nächste Krankenhaus ist eh viel zu weit weg. Bis da Hilfe kommt, ist man vermutlich –«
»Lilly!«, unterbrach Claire und rümpfte die Nase. »Lass dir keine Angst machen«, sagte sie zu mir. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Lex sich lachend abwendete und Aiden half, den letzten Heuballen vom Anhänger zu laden. »Hey, wenn ihr kurz wartet, helfen wir euch!«, rief Claire ihnen zu.
Lex winkte ab. »Wir wissen, dass du die schnellste von uns bist. Das musst du uns nicht immer unter die Nase reiben.«
Claire schüttelte grinsend den Kopf.
»Okay, dann passe ich wohl besser auf, dass mir nichts passiert«, griff ich den Faden wieder auf und es war nur halb scherzend gemeint.
»Und du studierst Veterinärmedizin?«, fragte Lilly stattdessen.
»Ja, ich befinde mich am Ende des Studiums –«, fing ich an, aber sie unterbrach mich.
»Dann wirst du hier voll auf deine Kosten kommen.«
»Sind so viele Tiere krank?« Erschrocken hob ich die Augenbrauen, doch Lilly lachte nur. »Nein, das nicht. Aber es gibt immer mal wieder kleinere Verletzungen und eine Stute erwartet bald ihr Fohlen.«
»Hier ist eine trächtige Stute?« Die Müdigkeit der langen Reise war wie fortgeblasen und ich horchte auf. Erst vor kurzem hatte ich mir noch ein Kapitel über Geburten bei Pferden durchgelesen und ich witterte meine Chance.
Da ich noch keine Lizenz besaß, durfte ich keine Tiere ohne Anweisung ausgebildeter Ärztinnen und Ärzte verarzten oder offizielle Diagnosen stellen, aber eine Wunde zu reinigen, Verbände anzulegen und die Notversorgung im Ernstfall vorzunehmen war mir erlaubt. Eine Geburt zu begleiten und nur zur Vorsichtsmaßnahme bereitzustehen, wurde ebenfalls geduldet. Die Stuten meisterten eine Geburt in der Regel immer allein.
»Ja, unsere Miracle ist schon kugelrund. Sie ist ein Quarter Horse«, ergänzte Claire.
»Ich freue mich sehr auf ein Fohlen. Die sind so niedlich«, himmelte Lilly und ihre Augen waren kurz davor, in Herz-Emojis aufzugehen. Ich drehte mich zu Aiden und Lex.
Die Männer unterhielten sich und mit einer Kopfbewegung deutete Aiden in meine Richtung. Lex nickte zustimmend und klopfte auf Aidens Schulter, ehe er wieder zu uns trat. Lex überragte mich um mehr als einen Kopf.
Aiden dagegen lief zum Haupthaus. Lucky folgte ihm schwanzwedelnd, der offensichtlich von seinem alleinigen Spaziergang zurückgekommen war.
Kurz schaute ich ihm hinterher. Was hatten die beiden über mich gesagt? Vorsichtig schnüffelte ich an meiner linken Achsel. Oder gab es vielleicht Probleme mit meinem Praktikumsplatz? Ich schreckte auf und Blut rauschte in meinen Ohren. Hatte ich –
»Erde an Willow aus Chicago!«, Lex wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht.
»Sorry, ich war in Gedanken. Was hast du gefragt?«
»Normalerweise reagieren Frauen anders auf mich.«
Lilly boxte Lex gegen die Schulter. »Du Charmeur, lass sie in Ruhe. Sie scheint wenigstens cool zu sein, im Gegensatz zu dir.«
Abwehrend hob er die Hände.
»Wie war denn die Fahrt?«, fragte Lilly, worauf Claire belustigt den Kopf schüttelte.
»Eigentlich hätte das die erste Frage sein sollen«, meinte Claire.
Ich räusperte mich. »Lang. Ziemlich lang und ich bin froh, dass mein Pick-up auf der Fahrt nicht liegen geblieben ist.« Gespielt locker deutete ich auf die Rostlaube.
Das brachte Lex und Lilly zum Lachen.
»Da kannst du froh sein. Das Netz hier draußen ist auch nicht das Beste«, meinte Claire. »Wenn du liegen bleibst, hast du fast verloren. Deshalb sind wir hier in Montana überwiegend mit Pferden unterwegs. Einen Keilriemen oder ein Rad könnte ich dir wechseln, aber das war’s.«
Lilly kicherte. »Es gibt nur einen Mustang für uns. Und der hat eine Pferdestärke.«
Ich lachte über die Anspielung.
Mit jedem weiteren Satz lockerte ich mich. Claire und Lilly schienen gut drauf zu sein und es war leicht, ein Gespräch in Gang zu halten. Ich hatte Sorge gehabt, keinen Anschluss zu finden oder nicht ernst genommen zu werden. Aber genau das Gegenteil war der Fall – zumindest bis jetzt. Sobald ich erst mal mit der Arbeit anfing, konnte ich sie dann auch noch von meinem Können überzeugen.
»Komm mit, wir zeigen dir erst mal dein Domizil für die nächsten Monate, dann kannst du dich auch ausruhen. Aiden holt gerade den Schlüssel.« Lilly deutete den Schotterweg entlang, der von der linken Seite der Ranch in einen Wald verlief. Ich atmete erleichtert aus. Vermutlich hatten die beiden darüber geredet und nicht über mein Outfit oder meinen Praktikumsplatz geredet. Nicht alle hatten direkt etwas Böses im Sinn.
»Arbeitet ihr alle hier?«, fragte ich und hoffte, dass insgeheim die vier meine zukünftigen Kolleginnen und Kollegen waren.
Lex grinste. »O ja, wir werden dir von nun an jeden Tag auf die Nerven gehen.«
Lilly schnaubte. »Genau, wir arbeiten auch hier und sind ein super Team. Auch wenn Aiden manchmal mürrisch wirkt, tief im Inneren ist er eigentlich ganz nett.«
»Ganz nett«, äffte Lex nach und lachte. »Du weißt schon, dass er mein großer Bruder ist?« Er machte eine Kunstpause. »Aiden ist nicht nett. Er ist ein Eisklotz.«
Lilly fiel in sein Lachen ein. »Ja, okay, du hast recht!«
»Ach Lex«, meinte Claire und verdrehte die Augen, sah dann aber schmunzelnd zu mir. »Du wirst dich noch an unsere Gruppe gewöhnen, Willow.«
Da war ich mir sicher. Dabei kam mir Aiden gar nicht wie ein Eisklotz vor.
»Wir haben dir einen kleinen Vorrat an Lebensmitteln für deine Blockhütte besorgt. Du bist bestimmt fertig nach der langen Reise. Zu Ellen gehen wir später, sie arbeitet noch und freut sich, dich dann kennenzulernen.« Lilly strich sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr. Ihr Gesicht war beinahe elfengleich und auch durch ihre aufgeweckte und lockere Art schätzte ich sie auf Anfang zwanzig.
»Ich danke euch«, sagte ich mit fester Stimme und Claire winkte ab. Unwillkürlich wurde mein Herz schwer. Ich war dankbar, dass sie an Essen für mich gedacht hatten, gleichzeitig ärgerte ich mich, es vergessen zu haben. Zumindest ein paar Snacks hätte ich mir mitbringen sollen. Es sah auch nicht so aus, als ob es in unmittelbarer Umgebung einen Supermarkt gab. Da räumte ich der Großstadt doch einen Pluspunkt ein.
»Ah, Mister Eisklotz kommt«, flüsterte Lilly zu mir.
Ich drehte mich in die Richtung, in die sie gedeutet hatte und betrachtete Aiden. Konnte er wirklich so undurchdringlich sein, wie die anderen sagten? Sein Gang wirkte selbstbewusst und als sich unsere Blicke trafen, schaute ich verdattert weg.
Aiden gesellte sich zu uns und sofort stieg mir der Geruch von Heu und Pferden in die Nase. Klimpernd hielt er mir einen Schlüssel entgegen. »Noch mal willkommen. Die anderen zeigen dir jetzt deine Blockhütte.«
»D-danke.« Ich nahm den Bund, an dem ein kleiner Hufeisenanhänger baumelte. »Ich schätze, das Hufeisen soll mir Glück bringen?«, platzte es aus mir heraus.
Seine Mundwinkel zuckten. »Ist durchaus möglich.« Er betrachtete mich kurz, als müsste er abschätzen, wie sehr ich das Glück brauchte. Vermutlich ziemlich, aber ich würde mich hier beweisen.
Wie auch bei seinem Bruder zeichnete sich ein leichter Bartschatten bei ihm ab. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig, wobei die Art, wie er mich musterte, deutlich älter wirkte. Erfahrener und irgendwie … gezeichnet vom Leben?
Ich erwiderte nichts und spielte unbedarft mit dem Schlüsselanhänger, sodass er mir aus der Hand glitt.
»Da segelt das Glück dahin«, murmelte Lex und grinste breit. Lilly kicherte.
»Dann hoffen wir, dass Glücksbringer nur Fantasie sind«, sagte ich und bückte mich nach dem Schlüssel.
Zeitgleich beugte sich Aiden danach, und ich knallte gegen seine Hutkrempe. »Autsch«, fing ich an, nur um im nächsten Moment »Sorry! Ich wollte … ich meinte …« auszustoßen. Was zur Hölle stammelte ich?
Er hob den Schlüssel auf und pustete den Dreck weg.
»Entschuldige«, er tippte sich auf die Krempe. »Da das auch unser Reithelm-Ersatz ist, sind die Cowboyhüte sehr stabil.« Er legte den Kopf schief und musterte mich. »Ich hoffe, das ist kein schlechtes Omen.«
»Wollen wir es hoffen«, gab ich kleinlaut zu und steckte den Schlüssel in meine Tasche.
»Ich würde es als gelungenen Anfang betiteln«, flötete Claire und grinste.
Etwas vibrierte und Aiden zog sein Smartphone aus der Hosentasche. Sein Blick verfinsterte sich, als er das Display betrachtete. »Ich mach mich wieder an die Arbeit«, grummelte er und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Claire sah vielsagend zu Lex. »War das gerade wirklich der Hauch eines Lächelns auf Aidens Mundwinkeln? Nur ganz kurz, versteht sich.«
»Ich glaube, wir haben uns alle verguckt«, sagte Lex.
Claire zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und deutete auf den Pick-up. »Am besten nehmen wir dein Auto, dann müssen wir deine Sachen nicht so weit tragen.«
Zusammen liefen wir zu meinem Pick-up und sie stieg an der Beifahrerseite ein.
»Ich laufe schon mal vor«, sagte Lilly und lief den Weg entlang, auf den sie vorhin gedeutet hatte. Die beiden Hunde folgten ihr schwanzwedelnd.
»Okay, der Weg ist ziemlich einfach, du kannst dich nicht verfahren. Pass nur auf, wenn du einen Spaziergang durch die Wälder machst. Die sind wirklich gigantisch.«
Langsam rollte ich über den Schotterweg, der am Haupthaus vorbei und in das dahinter liegende Waldgebiet führte. Lilly und Lex liefen ein gutes Stück vor uns, und ich folgte ihnen im Schritttempo.
Freudig betrachtete ich den Tannenwald und wir fuhren in ein Meer aus den verschiedensten Nuancen von Grün. Das hier war die wahre, raue Natur. Wenn ich den Blick weiter hob, konnte ich über den Baumspitzen noch die Rocky Mountains erkennen. Ihre schroffen Gipfel waren vom letzten Licht des Tages in zarte Rosatöne getaucht.
»Nach Möglichkeit gehen wir immer zu zweit raus«, meinte Claire und sah ebenfalls durch die Windschutzscheibe.
»Okay, danke für den Hinweis. Dann werde ich erst mal keine Spaziergänge allein machen.«
»Oh, besser nicht. Zu dieser Zeit bekommen wir oft Besuch von Bären«, erklärte sie so locker, als wäre es selbstverständlich.
Ich starrte sie an, nur um schnell zurück auf die Straße zu schauen. Das konnte ja etwas werden.
Ich rollte mit meinem Pick-up über den Schotterweg zwischen den Tannen hindurch, bis wir auf eine kleinere Lichtung trafen.
»Du kannst deinen Wagen hier abstellen, näher kommst du leider nicht. Aber wir helfen dir beim Tragen«, wies mich Claire an und sprang freudig aus dem Auto. Lilly und Lex liefen bereits um den Wagen herum.
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages glommen durch die Baumwipfel und besprenkelten die Umgebung. Ich stellte mich neben die anderen und betrachtete die sieben Blockhütten, die mit genug Abstand zueinander als Unterkünfte dienten und sich hervorragend in den Wald einfügten.
Jede Hütte war einzigartig in ihrem Erscheinungsbild und wirkte wie ein kleiner Zufluchtsort. Auf der Veranda einer dunkelgrünen Hütte standen ein Schaukelstuhl sowie ein Holztisch arrangiert und luden zum Verweilen ein. Eine andere war in einem satten Altrosa gestrichen und schien aus einem Märchen entsprungen zu sein.
Überall blühten wilde Blumen und Gräser in verschiedenen Farben.
»Wow«, hauchte ich.
»Ja, es ist jedes Mal Balsam für die Seele, das zu sehen«, stimmte Lex mir zu.
Staunend trat ich weiter auf die Lichtung zu und erkannte eine Feuerstelle, Bänke und Tische, die perfekt für ein Picknick waren.
»Es ist wunderschön«, flüsterte ich und schaute hinauf zu den Baumkronen.
»Und die Lagerfeuer erst«, bemerkte Lex.
Unter meinen Füßen knackte trockenes Laub, während ich über die Lichtung schritt und jeden Zentimeter in mich einsaugte. Der Wald war voller Geräusche, die miteinander verschmolzen und eine einzigartige Symphonie erzeugten.
»Wohnt ihr alle hier?«, fragte ich verblüfft.