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Nach der dramatischen Gefangennahme des dunklen Fürsten Malrik kehrte endlich Frieden nach Nyrassar zurück. Unter dem ewigen Sternenhimmel gediehen die Völker und glaubten das Böse besiegt. Doch als Malriks führungslose Horden einen letzten, verzweifelten Angriff wagen, der unzählige Opfer fordert, greifen die Ilûmar selbst ein: Sie erschaffen Sonne und Mond als mächtigste Waffe gegen die Finsternis. Ein neues Zeitalter bricht an - Aurelinya, das Zeitalter des Lichts. Mit dem Licht kommen neue Geheimnisse: Die rätselhaften Dainor erscheinen, eine Rasse unbekannten Ursprungs. Das dunkle Reich spaltet sich unter der Sonne, während Malrik aus seinem Gefängnis heraus Zwietracht unter den Iriël und Ilûmar zu säen versucht. Dann geschieht das Undenkbare: Nach Hundejahren gelingt dem dunklen Fürsten die Flucht - ungeplant und für alle überraschend. Er findet sein Reich verwüstet und beinahe verlassen vor, doch mit unbeugsamer Entschlossenheit beginnt er sofort, eine neue, grausamere Armee aufzubauen. Sein erstes Ziel: die Verdunklung des Himmels über seinem Reich, damit die verhasste Sonne seine finsteren Pläne nicht vereiteln kann. Die freie Welt reagiert mit beispielloser Einigkeit. Alle Völker Nyrassars vereinen sich in einem großen Bündnis, entschlossen, den Feind in seinem eigenen Land gefangen zu halten. Doch während sie ihre Verteidigung aufbauen, rüstet sich Malrik unaufhaltsam und unerbittlich für den Krieg, der das Schicksal der Welt entscheiden wird. Band 2 der Chroniken entführt Sie über Jahrhunderte durch ein Zeitalter voller Wandel und wachsender Bedrohung. Erleben Sie das Schicksal verschiedener Völker, tauchen Sie tief in die Geheimnisse der faszinierenden Dainor ein und werden Sie Zeuge der dramatischen Ereignisse, die eine ganze Welt erschüttern. Für alle Leser komplexer Fantasy-Welten im Geiste Tolkiens - eine detailreiche Saga voller vielschichtiger Charaktere und epischer Momente.
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Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Black Tower Music & Books
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1. Auflage 2025
© 2025 Andy Waldner.
Alle Rechte vorbehalten.
Verlag:
Black Tower Productions
Alte Post 1
6383 Wiesenberg
Schweiz
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Inhaltsverzeichnis:
Was bisher geschah:
Kapitel 1: Die Sternendämmerung
Kapitel 2: Glanz der Abendstunden
Kapitel 3: Inneren Frieden finden
Kapitel 4: Die fallenden Sterne
Kapitel 5: Zwischen Gold und Silber
Kapitel 6: Aurelinya
Kapitel 7: Elenar und Silmion
Kapitel 8: Die Dainor
Kapitel 9: Elfrun und Caerandor
Kapitel 10: Der kalte Hauch
Kapitel 11: Am Scheideweg
Kapitel 12: In fremden Welten
Kapitel 13: Der Ruf der freien Völker
Kapitel 14: Der Schattentanz
Kapitel 15: Die Wiederkehr
Kapitel 16: Aus Feuer geboren
Kapitel 17: Aus Blut und Abgrund
Kapitel 18: Die große Erneuerung
Kapitel 19: In der Abenddämmerung
Kapitel 20: Der alte Fluch
Kapitel 21: Feuer und Wiederstand
Kapitel 22: Zu neuen Ufern
Namensverzeichnis:
Andy Waldner
Averië
Aurelinya
Buch zwei,der Chroniken von Nyrassar.
Am Anbeginn der Zeit lag Isalor, die leere Weite, in Stille und Dunkelheit. Aus reinem Licht und Liebe formte Ayra, die Himmelsmutter, die Ilûmar – ihre Kinder des Lichts. Aus ihrem Dialog entstand das Gleichnis der Welt. Ayra erlaubte den Ilûmar, die Welt zu betreten und nach ihren Wünschen zu formen.
Doch einer der Ilûmar, Malrik, stand abseits, schweigend wie ein Schatten, und verschwand. Als die Welt in ihrer ersten Pracht geboren war, zerstörte Malrik sie. Doch seine Geschwister ließen sich nicht entmutigen und erschufen die Welt erneut, noch schöner, noch prächtiger. Malrik versteckte sich im Süden und blieb lange verschwunden.
Dann erwachten die Iriël, die Erstgeborenen, die Ayra selbst in die Welt gewoben hatte. Als Malrik von den neuen Wesen erfuhr, missfiel ihm das. Er verschleppte einige der Iriël, trieb ihnen unter Folter und Qual das Licht ihrer Mutter aus und formte sie zu Kreaturen der Nacht: zu Orks.
Mit seiner Armee der Finsternis versuchte Malrik, die Welt zu unterjochen. Doch seine Geschwister waren ihm einen Schritt voraus, und er hatte nicht mit der Tapferkeit der Iriël gerechnet. Er wurde geschlagen, zog sich in den Norden zurück und errichtete seine Festung Druugorath.
Die Ilûmar schufen daraufhin einen Rückzugsort, unerreichbar für alle Schatten: Luminar, das strahlende Westliche Reich. Sie luden die Iriël ein, Luminar zu betreten und unter ihrem Schutz zu leben, wodurch die erste große Reise gen Westen begann. Während die Welt gedieh und in Frieden lag, wurden Pläne geschmiedet, Malrik zu ergreifen. Durch Täuschung und List gelang es schließlich, ihn zu fassen und tief unter der Erde einzusperren.
Der Duft von gerösteten Kastanien und süßem Lórilblütenwein schwebte schwer in der Luft, durchwirkt vom harzigen Atem brennender Tannenzweige. Stimmengewirr, wie das Flüstern eines fernen Waldes, erfüllte die Halle, durchzogen von altem Liedgut, das aus warmen Kehlen klang und von Zeiten erzählte, als die Iriël Luminar betreten hatten.
Die große Schenke, Laindor genannt – die „Flammenhalle“ – war ein Ort, an dem Geschichten geboren wurden. Sie stand im Herzen von Nimrond, einer Stadt aus hellem Stein, vom Wasser geglättet und vom Licht der Sterne gesegnet. Ihre Mauern, glatt und hell wie poliertes Elfenbein, durchzogen von schimmernden Adern uralter Magie, schienen zu atmen. An ihren Wänden brannten silberne Lampen, kunstvoll geschmiedet wie die Blüten des Frühlings, in denen orangefarbene Kristalle leuchteten wie eingefangene Sonnenfunken.
Die Tische in Laindor waren aus dunklem Holz gefertigt, ihre Kanten weich gerundet, als wären sie vom Wind der Jahrhunderte gestreichelt worden. In das Holz waren Muster eingeschnitzt – tanzende Flammen, Sterne und Spiralen. Auf den Stühlen lagen weiche Kissen aus feinem Leinen, mit goldenen Fäden durchwirkt.
Nahe der großen kreisrunden Feuerstelle, in der Tannenzapfen knisterten und Funken wie Glühfeen aufstoben, saßen fünf junge Iriël beisammen – lachend, redend, voller ungebändigtem Leben. Der Glanz ihrer Augen spiegelte das Feuer, aber noch mehr spiegelte er die Sehnsucht nach dem Kommenden, nach dem, was noch in dieser Welt geboren werden sollte.
Feandor – wildhaarig, mit rußverschmierten Händen, als sei er direkt aus der Glut seiner Werkstatt gekommen – warf sich mit der Leidenschaft eines Sturms in das Gespräch. Seine Gesten schnitten durch die Luft wie Hämmer, die Visionen formten.
„Du verpasst dein halbes Leben, mein Freund, wenn du dich nur mit Metall und Feuer umgibst“, sagte Calarin und legte die Fingerspitzen aneinander, als balanciere er ein unsichtbares Argument. Seine Augen leuchteten sanft im Schein der Kristalllampen – wie Spiegel alter Geschichten. Feandor lachte laut auf, der Klang war wie ein Funkenregen auf kaltem Stein.
„Mein Leben ist lang, Calarin – ich habe Zeit genug für Wein und Wald. Doch sag mir, was wäre die Welt ohne meine Wunder? Die Zeit mag ewig sein, doch sie würde leer vergehen, wenn niemand sie mit Glut erfüllt.“
Ilmarion, der wie ein junger Fürst saß – aufrecht, edel, mit einem Ernst in seinem Blick, der tiefer reichte als sein Alter – beobachtete das Geplänkel mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. Seine Stimme war ruhig, fast feierlich, doch nicht ohne Wärme.
„Ihr beide mögt recht haben“, sagte er. „Denn groß sind die Werke, die Feandor erschafft – ja, ich habe sie gesehen, und manche halten den Atem an, wenn sie seine Hände formen sehen. Doch ich gebe auch Calarin recht: Ein wenig Licht, ein wenig Gesang – es würde dir nicht schaden, Feandor.“
Dînlon saß ruhig da, beinahe reglos, wie ein stiller Schatten am Rande der Flammen. Sein langes, braunes Haar fiel ihm weit über die Schultern, und sein Blick – dunkel, scharf und wach – huschte zwischen seinen Freunden hin und her, als wöge er jeden Gedanken, jede Regung in der Runde ab.
„Feandor, mein Freund“, sagte er schließlich mit tiefer Stimme und lehnte sich gelassen zurück. „Wenn du jemals lernen willst, mit den Waffen zu kämpfen, die du schmiedest – komm zu mir. Ich zeige dir, wie man mit der Klinge spricht, wie man tanzt, wenn es nicht mehr nur um Glut und Glanz geht, sondern um Leben.“
Feandor verzog das Gesicht zu einer Grimasse, halb Spott, halb Nachdenklichkeit. Noch ehe er antworten konnte, erhob Eldhros seine Stimme – ruhig, aber fest, und in seinem Ton lag etwas, das die Luft verdichtete, wie der erste Windhauch vor einem Sturm.
„Wir täten alle gut daran, das Spiel nicht zu lange zu spielen“, sagte er. „Sich im Kampf zu üben, ist keine Eitelkeit. Luminar mag sicher erscheinen, und Nimrond eine Stadt sein, die nicht fällt. Aber nichts bleibt ewig unberührt. Unsere Brüder und Schwestern, die jenseits von hier leben – sie sind nicht vergessen. Manche von uns stammen aus jenen alten Häusern, die nicht mit unseren Eltern hierher reisten. Was ist mit ihnen?“
Die Flammen warfen zuckende Schatten über sein Gesicht, als er weitersprach – nun leiser, als flüstere er mit der Glut selbst.
„Malrik mag gebunden sein, tief in den Schlünden des Berges, wie es die Geschichten erzählen. Doch seine Arin... sie wandeln noch. Und die Orks? Sie sind in Nyrassar und lauern im Schatten. Ich sage euch: Der Krieg ist nicht zu Ende. Er holt nur Atem.“
Sein Blick hob sich, glitt hinaus durch das Fenster. „Die Sterne erzählen es mir. Die Bäume murmeln es. Es kommt etwas. Und wir müssen bereit sein.“
Für einen Moment herrschte Stille um den Tisch, als hätte selbst das Feuer den Atem angehalten.
Ein paar Tische weiter saßen drei junge Iriël-Mädchen. Es war, als hätte man Licht, Sturm und Lächeln an einen Tisch gebeten. Sie waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft, flüsterten, kicherten und lachten frei und ungezwungen.
Die eine hatte goldenes Haar, das sanft über ihre Schultern floss, wie Bernstein im Licht. Über ihre helle Haut waren Sommersprossen gestreut wie Sternenstaub, und ihre Augen blickten wach und weise zugleich, als ruhte in ihnen ein Wissen, das älter war als ihre Jahre. Sie trug ein enganliegendes weißes Gewand, von goldenen Fäden durchzogen, die ein sanftes Leuchten warfen. In ihrem Haar funkelten silberne Spangen in Form von Blättern – zart wie Morgenfrost auf jungem Grün.
Neben ihr saß eine kleinere, drahtige Gestalt. Ihr langes, braunes Haar war zu einem festen Zopf geflochten, der weit über ihre Schulter fiel, als wäre er ein Band, das ihre ungezähmte Leidenschaft verriet. Ihre Hose war aus Flicken verschiedenster Stoffe zusammengesetzt, ein lebendiges Mosaik aus Farben – als trüge sie das Lachen des Waldes, das Feuer der Steppe und die Kühnheit des Himmels auf ihren Beinen. Darüber trug sie einen gelben Mantel, offen und flatternd. Ihre Augen glühten wie zwei Kohlen unter dem Nachthimmel, voller Trotz, Freiheit und flackernder Freude. Ihr Lachen war laut, ungebändigt, herausfordernd – als könne nichts sie zähmen, nicht einmal die Sterne.
Die dritte Iriël trug ihr Haar kurz, rabenschwarz und zerzaust, als hätte sie selbst vergessen, dass es gebändigt werden könnte – oder es absichtlich verweigert. Ein einfaches Kleid in Erdtönen – grün und braun wie das Herz eines Waldes – schmiegte sich an ihre schmale Gestalt. Um ihren Hals hing eine Kette mit kleinen Kugeln aus grünem und orangefarbenem Stein, wie Beeren eines unbekannten Baumes. Ihre großen Augen waren weit geöffnet – darin glänzte der Schalk, der tiefe Humor, und zugleich eine stille, warme Liebe zum Leben. Immer wieder rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, als müsse sie einen Tanz zurückhalten, der sich leise unter ihrer Haut regte.
„Sag mal …“ Faelirë lehnte sich plötzlich vor, die Ellbogen fest auf den Tisch gestützt. Ihr gelber Mantel glitt von der Schulter, fiel achtlos zurück wie ein Blatt im Wind – und gab einen schmalen Streifen nackter Haut frei. Das Oberteil darunter war kaum mehr als ein Hauch Stoff, kunstvoll gewebt und von wilden Farben durchzogen wie tanzende Flammen. Der zarte Glanz auf ihrer Schulter schimmerte im Licht der Kristalllampen, als wäre er von Sonne geküsst. Ihre Augen funkelten wie zwei Flammen, die verführerisch im Dunkel glühten. „Die da drüben starren jetzt schon seit einer halben Stunde herüber. Was denken die eigentlich? Dass wir aus Zucker und Blümchen sind?“
Mirwen zog die Augenbrauen hoch, ihr Blick wanderte langsam zu dem Tisch der Jungen, und ein spöttisches Grinsen breitete sich über ihr Gesicht. „Ehrlich gesagt …“ begann sie trocken, „… gehe ich genau davon aus.“ Sie lachte kurz auf, ein helles, ansteckendes Lachen. „Schau sie dir doch an – sie möchten heldenhaft wirken, ja, als wären sie Söhne alter Geschichten. Aber in Wahrheit …“ – sie schüttelte amüsiert den Kopf – „… in Wahrheit steckt in ihnen der Geist von Kindern, der sich in den Rüstungen ihrer Väter versteckt.“ Die Worte ließen sie noch mehr lachen, und als sie sich eine Träne aus den großen, glänzenden Augen wischte, glühte ihre Wange wie ein aufgehender Mond. Selbst Faelirë musste schnaubend grinsen.
Elenya hatte still zugehört, ihr Blick jedoch ruhte längst wieder auf dem Feuer in der Mitte der Halle. Dann lachte auch sie – sanft, wie ein Glockenton aus weiter Ferne. „Oder …“ sagte sie leise, „… sie sammeln einfach nur Mut.“
Faelirë wandte sich ihr zu, die Stirn leicht gerunzelt. „Mut? Mut wofür?“ Ihre Stimme war leiser geworden, beinahe ernst, doch ihre Augen blitzten immer noch.
Elenya strich sich mit einer träumerischen Geste das goldene Haar aus dem Gesicht. Dann hob sie die Augenbrauen, als habe Faelirë die einfachste Frage der Welt gestellt – und dennoch eine, auf die es keine rasche Antwort gab. Eine feine Röte stieg ihr ins Gesicht, kaum sichtbar unter dem goldenen Schimmer ihrer Haut. Und dann schwieg sie.
Faelirë erhob sich – so rasch und mühelos wie ein Windstoß, der durch das Geäst der Bäume fährt. Ihr gelber Mantel wirbelte um ihre schlanke Gestalt, ein tanzender Flammenhauch inmitten des goldenen Lichts. Entschlossen und zugleich voller Anmut schritt sie auf den Tisch der jungen Männer zu, die eben noch tief in ein Gespräch versunken waren.
„Feandor!“, rief sie mit klarer Stimme und stemmte die Hände in die Hüften, als sei sie Königin eines unsichtbaren Reiches. „Du redest und redest – aber kannst du auch schmieden? Oder sind das nur dampfende Worte?“ Ihre Augen glänzten herausfordernd, und ein spitzbübisches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich fordere dich heraus: Du und ich. Wettschmieden. Drei Tage. Drei Nächte. Der Verlierer singt ein Liebeslied – auf dem Marktplatz von Nimrond. In seinem Untergewand.“
Feandor verschluckte sich beinahe an seinem Trunk. Die anderen prusteten los.
„Ist das eine Herausforderung – oder ein Liebesgeständnis?“, fragte Ilmarion trocken und hob eine Augenbraue.
Faelirë funkelte. „Manchmal ist es genau dasselbe, Ilmarion. Das solltest du wissen.“
In diesem Moment stand Mirwen auf und trat mit einer grazilen Bewegung zu ihnen, die sowohl Anmut als auch frechen Witz verriet.
„Verzeiht meine Freundin“, sagte sie mit schelmischem Lächeln, „sie ist etwas stürmisch. Wahrscheinlich hat sie zu viele Becher Wein gekostet. Aber keine Sorge – ich bin zum Aufpassen hier.“ Ihre großen Augen glühten wie Bernstein im Feuerschein.
„Und was ist mit dir?“, fragte Calarin, seine Stimme ruhig, beinahe lauschend. Sein Blick ruhte kurz auf Mirwens feinem Gesicht.
„Ich?“, Mirwen lachte leise und blinzelte. „Nein. Mir genügt es, im Einklang mit dem Leben zu sein. Ich schmiede nicht.
Hinter ihr näherte sich Elenya, langsam, beinahe schwebend. Sie sagte kein Wort – doch ihr bloßer Blick genügte, um die Gespräche für einen Moment verstummen zu lassen. Eine Stille, wie sie nur dann entsteht, wenn Schönheit auf Unsicherheit trifft.
Dînlon und Eldhros sprangen gleichzeitig auf. Eldhros zupfte hastig an seinem Gewand, während Dînlon versuchte, sein langes Haar mit den Fingern zu ordnen. „Guten Tag, Elenya“, stammelte Eldhros, während ein verräterisches Rot über sein Gesicht huschte – denn er ertappte sich dabei, wie sein Blick kurz zu ihrem Ausschnitt gewandert war. „Ich bin Eldhros. Meine Freunde und ich könnten… ein wenig Gesellschaft vertragen. Vielleicht möchtet ihr euch setzen?“
Faelirë grinste. „Sicher doch. Wir wollen doch sehen, ob hinter den schönen Worten auch Taten stecken.“
Die jungen Frauen holten sich ihre Stühle und Becher, setzten sich dazu – und bald vermischten sich ihre Stimmen mit dem Murmeln des Raumes.
Es wurde gelacht, geneckt, erzählt – doch über all dem blieb diese besondere Stimmung, ein erstes Knistern wie vor einem Sommersturm. Eldhros konnte den Blick kaum von Elenya abwenden – und sein Herz pochte wie ein Hammer auf glühendem Erz. Calarin dagegen sprach mit Mirwen, zunächst zögerlich, dann mit wachsender Vertrautheit. Und in ihren Augen spiegelte sich das erste Licht einer noch namenlosen Nähe.
Und während sie lachten, saß ein wenig abseits, nahe der Flamme, ein einzelner junger Mann. Er sprach nicht. Er trank nicht. Er lachte nicht.
Das Feuer flackerte, doch es schien ihn nicht zu wärmen. Die Glut spiegelte sich in seinen dunklen Augen – Augen, in denen ein anderes Licht brannte. Ein Licht, das von fern kam. Ein Licht, das mehr sah als den Tanz der Flammen. Sein Name war Elion.
Man sprach von ihm mit leiser Stimme, wie man von Dingen spricht, die man nicht ganz versteht. Er sei oft allein unterwegs, hieß es, wandere in den Schatten der Berge, dorthin, wo kein Lied und kein Lachen mehr klingt. Es ging das Gerücht, er übe sich in alter Magie – in jener Art von Wissen, die nicht gelehrt wird. Und seltsam sei er, nicht böse, nicht falsch – aber anders.
Und vielleicht, ja vielleicht, sah er in diesem Moment nicht das Feuer vor sich. Sondern die Dunkelheit dahinter.
Man erzählte sich später – wenn der Wind still war und der Mond hoch am Himmel stand – von jener Zeit, da Calarin und Mirwen Seite an Seite durch das Land wandelten. Es war eine lichte Zeit, beinahe vergessen im langen Schatten späterer Jahre.
Gemeinsam reisten sie durch Luminar, das Land der Ewigkeit, in dem die Spuren der Geschichten wie halbvergessene Lieder im Wind lagen. Sie wanderten auf verborgenen Pfaden, lauschten den Steinen, den Blättern, dem Flüstern vergangener Tage.
Oft sah man sie in Elenvarië, der strahlenden Stadt der Ilûmar, wo das Licht in den Kuppeln tanzte und sich uraltes Wissen sammelte wie Tau auf den Blättern eines Morgens. In den hohen Hallen der Bibliothek saßen sie beisammen, vertieft in die alten Schriften, sprachen mit den Weisen der Elenquendi und spürten dem nach, was einst gewesen war – und was vielleicht noch kommen mochte.
Sie bestiegen die schroffen Zinnen der Rûnvarad, wo noch immer die Fürsten der Adler hausten, uralt und erhaben, mit Augen, die in andere Zeiten blicken konnten. Dort, über den Wolken, wo die Sterne an Isalor grenzten, hörten Calarin und Mirwen von Dingen, die kein anderes Ohr vernahm.
Doch stets kehrten sie heim zu den östlichen Bergen, in ihre vertraute Heimat. Oft rannten sie, lachend und wild, Hand in Hand, mit dem Wind im Haar, über die blühenden Wiesen. Sie streckten ihre nackten Füße in das eiskalte Wasser der Bäche, die aus den eisigen Gipfeln ins Tal stürzten – und lachten über das Leben.
Ihr Zuhause war ein schlichtes Haus im fünften Ring Nimronds, aus hellem Stein erbaut, mit einem Balkon, der weit nach Norden wies – dorthin, wo in der Ferne das große Meer lag, sehr weit entfernt und doch ewig gegenwärtig. An klaren Tagen konnte man von dort aus das Flimmern der fernen Wasser erahnen – wie das Echo einer anderen Welt.
Und dort wuchs ihre Liebe, still und stark, wie ein Baum, der tief in guter Erde wurzelt. Ihr Wissen verband sich wie zwei Stimmen in einem alten Lied – voller Harmonie, voller Sehnsucht nach dem Ganzen.
Gemeinsam hatten sie drei Kinder – hell wie Sterne, jeder auf seine Weise einzigartig:
Ailónë – die Älteste, klug und vorausschauend. Sie trug das sanfte Wesen ihrer Mutter in sich und den stillen Ernst ihres Vaters. Man sagte, sie könne Worte wie Kristalle ordnen – klar, scharf und doch voller Schönheit.
Nérion – der Sohn, wild wie der Wind über den Bergen. Ein Geschichtenerzähler wie sein Vater, doch seine Lieder klangen freier, mutiger – als strebten sie stets nach neuen Ufern.
Silivren – die Jüngste, geboren in einer Nacht, da die Sterne besonders hell standen. Sie war zart wie ein Traum. Sie sprach wenig, aber wenn sie sang, wurde selbst der Sturm still. Ihr Lachen war selten – doch wenn es erklang, erinnerte es an Frühling in vergessenen Ländern.
Die Liebe zwischen Elenya und Eldhros war kein rasches Aufflammen, sondern ein leises, stetiges Glühen, das in der Tiefe wuchs. Lange trug Eldhros das Licht dieses Gefühls in seinem Innersten, still wie ein Hüter, der nicht wagt, den Schatz beim Namen zu nennen.
Er träumte von ihr – wach und schlafend. In seinen Gedanken sah er sie stehen, wie aus dem ersten Licht gewebt, den Blick zum Himmel gerichtet, während der Wind sanft durch ihr goldenes Haar strich. Ihre helle Haut leuchtete wie Elfenbein im Sternenschein, und ihre Sommersprossen – wie verstreute Bernsteinfunken – schienen ein verborgenes Geheimnis zu tragen.
Für ihn war sie mehr als Fleisch und Blut – ein Lichtwesen, rein an Herz und Geist, unvergleichlich. Und er? Ein Sohn der Erde, grob und einfach, wie ein Stein, der sich nach dem Himmel sehnt.
„Was kann ich ihr bieten?“, dachte Eldhros oft, wenn er allein war. „Ein Wesen wie sie verdient Gesang – und ich bringe nur Stille. Sie verdient einen Stern – und ich bin nicht mehr als Schatten.“
Und während die Sterne schweigend ihre uralten Bahnen zogen, rückte der Tag des Fests der Heimkunft näher – Vanvarsael, wie es in der alten Sprache hieß. Es war das Fest zur Erinnerung an die Ankunft der Iriël in Luminar. Die Straßen der Stadt waren geschmückt mit Lichtern, die wie schwebende Glühwürmchen über den Gassen tanzten. Musik erfüllte die Luft – Flöten, Harfen, Trommeln – und der süße Duft von Gewürzwein und gebratenem Honigbrot lag über dem Festplatz. Alle lachten, tanzten, sangen – und unter ihnen waren auch Calarin und Mirwen, Feandor, Dînlon, Ilmarion – und Faelirë, die, wie stets, das Leben mit funkelnden Augen begrüßte.
Inmitten dieser Freude – fast wie vom Schicksal geführt – geschah es.
Elenya und Eldhros begegneten einander zwischen den tanzenden Gestalten, in jenem silbernen Licht, das nur in Nächten wie dieser leuchtet. Und als sie nebeneinanderstanden, streiften sich ihre Hände – nur flüchtig, wie ein Windhauch, der durch Blätter fährt.
Doch in diesem einen Augenblick war es, als würde die Welt den Atem anhalten. Wie ein Blitz fuhr die Berührung durch ihre Körper – ein stilles Erdbeben, ein inneres Feuerwerk, das alle Zweifel hinwegfegte.
Eldhros sah sie an – und Elenya ihn. Kein Wort wurde gesprochen. Ihre Lippen fanden einander, vorsichtig zuerst, dann mit der Kraft all der unausgesprochenen Sehnsucht, die sich über Monate in ihnen aufgestaut hatte.
Sie küssten sich – lang und fest, als würde der Augenblick sonst vergehen wie Tau im Morgenlicht.
Um sie herum spielte die Musik weiter. Die Menge lachte, rief, sang – doch all das war fern, unwirklich wie ein ferner Traum. Raum und Zeit verloren ihre Bedeutung. Ihre Freunde standen staunend da, von Freude berührt, doch keiner sagte ein Wort. Selbst Faelirë schwieg – mit einem Lächeln auf den Lippen.
Und eng aneinandergeschmiegt, schlugen ihre Herzen im selben Takt – wie zwei Saiten auf einer Harfe, die endlich im Einklang erklangen.
So begann eine neue Geschichte. Eine, die man später unter den Bäumen von Averië flüsterte, wenn der Abend sich neigte.
Die Tage in Luminar vergingen in hellem Glanz. Die jungen Iriël, verbunden in Freundschaft und nun auch in Liebe, streiften oft gemeinsam durch das Land.
Sie besuchten das verborgene Tal, wo in den tiefen Hallen der Ilûmar-Schmiede Urathûn unaufhörlich das rhythmische Hämmern von Feandor zu hören war. Funken tanzten durch die Dämmerung, und in den Schatten der Halle glühte die Esse wie das Herz der Erde. Der Geruch von glühendem Eisen, altem Öl und Sternenstaub lag in der Luft.
Feandor, der feurige Schmied mit der glühenden Seele, arbeitete unermüdlich an etwas, das mehr war als bloßer Stahl. Seine Hände – stark wie die Wurzeln eines alten Baumes – führten den Hammer mit einer Präzision, als würde er nicht schlagen, sondern singen. In seinen Werkstücken – Schwertern, Ringen, Sternensplittern – versuchte er, Runen der Macht zu binden, wie sie nur in alten Zeiten gewoben wurden. Er arbeitete auch an einer geheimen Kunst: Licht zu fangen – nicht das Licht der Sterne, sondern jenes ewige Strahlen, das eigentlich nur die Ilûmar kannten.
Als sie ihn aufsuchten, war er nicht allein. Ein weiterer Schmied stand neben ihm, hochgewachsen und breit wie zwei Männer. Sein Name war Lindurion, ein Valir, dessen schwarzes Haar wie ein Fluss aus Ebenholz über seinen Rücken floss. Er sprach wenig, aber wenn er es tat, klang seine Stimme wie Eisen, das zu sprechen gelernt hatte – tief, ruhig, voll Kraft.
Ein junger Iriël, kaum älter als die ersten Knospen des Frühlings, lief zwischen den Ambossen umher. Sein Haar stand in alle Richtungen, als hätte ihn der Wind persönlich frisiert, und sein Redeschwall war unaufhaltsam.
„Habt ihr’s gehört?“, flüsterte er verschwörerisch, während er sich neben Elenya und Mirwen stellte. „Lindurion war der erste Iriël, der Nyrassar betrat. Der allererste! Kam aus dem Nebel, barfuß, mit einem Hammer in der Hand und einem Lied auf den Lippen.“
Ob es stimmte, wusste niemand – der Junge sagte viele Dinge. Das letzte Mal hatte er behauptet, dass die Sterne einst aus einer Träne Elenthis erschaffen wurden, die sich in den Himmel verirrte.
Faelirë, wie stets voller Feuer, trat keck zu Feandor. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte, warf ihm einen jener Blicke zu, die Herzen schmelzen konnten – und sagte: „Sag, Feuerjunge – hast du endlich beschlossen, auch mal den Hammer fallen zu lassen? Oder liebst du deinen Amboss mehr als mich?“
Feandor sah auf. Sein Blick – tief und flammend wie der Schlund der Esse – ruhte für einen Moment auf ihr. Er sagte nichts. Und obwohl in seinen Augen ein Lächeln aufblitzte, wandte er sich wieder der Glut zu.
Faelirë schnaufte dramatisch, drehte sich auf dem Absatz um und murmelte: „Eines Tages, Feandor… Eines Tages wirst du um mich tanzen wie deine Funken um den Stahl.“
An einem anderen Tag stiegen sie gemeinsam zur Stadt Elenvarië hinauf – jener Ort, wo Licht und Wissen sich vereinten wie Wasser und Wind. Dort fanden sie Dînlon, den stillen Krieger, der in den äußeren Gärten unter freiem Himmel junge Iriël im Kampfe unterwies.
Sein Körper bewegte sich wie ein Gedicht – geschmeidig, präzise, mit tödlicher Schönheit. In seinen Händen wurden selbst einfache Holzstöcke zu Tänzern. Er trat gegen vier Gegner zugleich an, wich aus, konterte, landete lautlose Treffer. Jeder Hieb, jeder Schritt war wie Wasser, das seinen Weg findet – nie abrupt, stets fließend.
Selbst Varukar der Arin sprach mit ehrfürchtiger Stimme über ihn: „Dînlon tanzt mit dem Schatten. Und keiner kann ihm folgen.“
Ilmarion sah dem Kampf lange schweigend zu. Die Sonne spiegelte sich in seinen Augen, doch sein Blick lag nicht auf dem Licht, sondern auf der Bewegung – auf der fließenden Kraft, dem stummen Tanz des Kriegers. In seinem Blick lag Bewunderung – und vielleicht auch ein Funken Wunsch. Nicht nach Ruhm oder Stärke, sondern nach etwas Tieferem. Etwas, das sich nicht mit dem Schwert gewinnen ließ.
Faelirë hingegen saß am Rand der Arena, auf einem flachen Stein, das Kinn in die Hand gestützt, die Beine spielerisch überkreuzt. Ihre Stimme schallte hell über das Feld: „Los, Dînlon! Zeig ihnen, wie ein wahrer Krieger küsst – ich meine kämpft!“
Ein paar der jungen Iriël kicherten verlegen, selbst Dînlon verzog kurz die Lippen.
Ilmarion wandte sich leicht zur Seite, sein Blick streifte sie. Nicht lange. Nur ein Moment. Ein Lufthauch. Doch Faelirë, die noch lachte, verstummte für einen Herzschlag. Sie spürte seinen Blick, wie man ein leises Lied spürt, das plötzlich hinter der Stille erklingt.
Sie drehte sich zu ihm – und ihre Augen trafen sich. Kurz nur, aber in diesem Blick lag mehr als Worte fassen konnten. Kein Lächeln, keine Geste, nur ein stilles Erkennen: Du bist da. Ich sehe dich.
Dann wandte Ilmarion sich wieder dem Kampf zu, als sei nichts geschehen. Faelirë blinzelte, lächelte in sich hinein – und wusste nicht recht warum. Doch irgendetwas in ihr war für einen Moment ruhig geworden. Als hätte jemand ein wildes Pferd gestreichelt, ohne es zu fangen.
Keiner von beiden sprach darüber. Keiner dachte lange darüber nach. Doch etwas hatte sich verändert – wie das erste Licht eines Morgens, das niemand bemerkt, bis der Tag längst begonnen hat.
So vergingen ihre Tage – in Freude und Licht, in Gesprächen, Reisen, im gemeinsamen Lachen. Denn diese Tage waren voller Hoffnung. Und diese Hoffnung war hell wie das erste Sternenlicht, das über die Berge fiel.
Der See lag still unter dem sternenübersäten Himmelszelt, sein Wasser wie ein Spiegel aus flüssigem Glas. Die Freunde hatten sich dort versammelt, fern aller Sorge, wo selbst die Zeit zu lauschen schien. Kinderlachen hallte über die Wellen – Ailónë, Nérion, Silivren und nun auch Elrik, der kleine Sohn von Elenya und Eldhros, tobten durch das seichte Wasser, jagten funkelnde Käfer und lauschten gespannt den Geschichten Feandors, der unter einem knorrigen Baum saß und vom Feuer der Berge sprach.
Am Rand des Wassers jedoch saß Ilmarion allein, die Füße im See, die Hände im Schoß gefaltet. Die Sterne spiegelten sich in seinen dunklen Augen, und seine Stimme erhob sich, erst leise, dann tragend und klar wie das Licht des Mondes:
Naia hilyannë Lómëar, Endorónya yá mi rúcë nár.
Lelyan órenyallo teni, Melmelya, ná ilyë nírë.
Nai elenya ar samírë, Mi sívë na cirien lín.
Naltë indonyallo núta, Ar lómë vanwa nórienna.
(„Ich zog in die Nacht, mein Herz war schwer, ließ hinter mir Licht und Liebe.
Dein Name bleibt wie Trost in mir – eine Flamme, hell im Verlorenen.
Mögest du unter den Sternen wandeln, jenseits aller Wege und Zeit.
Denn meine Seele liegt tief – in einer Nacht, die nie vergeht.“)
Faelirë war verstummt, als sie das Lied vernahm. Ihre sonst so lebhaften Augen lagen nun weich auf Ilmarion. Sie trat an ihn heran, langsam, fast als fürchte sie, das Bild könnte zerspringen. Dann fragte sie leise: „Wer ist die Frau in deinem Lied?“
Ilmarion blickte nicht auf, sondern ließ seinen Blick auf dem Wasser ruhen. „Es ist ein Lied aus der Zeit der Calrúnnar. Ich hörte es oft aus dem Munde meiner Eltern. Es erzählt von jenen, die alles gaben – auch ihr Herz.“
Faelirës Hand berührte seine Schulter. Sie kniete sich neben ihn, sah wie das Licht der Sterne sich auf seinen Wangen spiegelte. „Weißt du, Ilmarion,“ flüsterte sie und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter, „du gibst mir Ruhe, wenn in mir der Sturm tobt.“
Er wandte sich zu ihr, streichelte ihr Haar und küsste sie sanft auf die Stirn. „Du entzündest mein Herz mit Licht und Freude, wann immer du in meiner Nähe bist. Du füllst in mir aus, was ich selber nicht füllen kann.“
Und so wurde dort, am stillen Ufer des Silmaveth, die Liebe zwischen ihnen geboren – sanft wie ein Flügelschlag, doch tief wie das Wasser des Sees.
Später, als die Sterne unzählige Male ihre Bahn über Luminar zogen, kehrten sie dorthin zurück. Die Freunde standen in einem Kreis, der Wind spielte mit den Blüten im Gras, und Ilmarion und Faelirë gaben einander das Versprechen ihrer Herzen. Zwei silberne Ringe, zart gewunden wie Äste eines Sternenbaumes, gefertigt von Feandor, schimmerten an ihren Händen. In jedem war ein blauer Stein eingefasst, wie ein gefangenes Stück Himmel.
Ihre Tochter, Silwen, wurde unter dem Licht der Sterne empfangen. Ihr Haar war silbern wie Mondlicht, ihr Geist frei und wild wie der Wind über den Höhen von Rûnvarad. Doch in ihrem Blick ruhte eine Wärme, still und tief, die sie von ihrem Vater geerbt hatte.
Und so wuchs die Freundschaft – und die Liebe – weiter in jener goldenen Zeit, fern noch von den Schatten, die einst auf sie fallen sollten.
Die Mutter von Elion hieß Lelyarín. In der Sprache der Iriël bedeutete ihr Name „die mit dem sanften Licht“. Und tatsächlich war es, als trüge sie das Dämmerleuchten eines frühen Morgens in sich – voller Wärme, voller Zärtlichkeit. Ihr Lächeln war wie der erste Sonnenstrahl nach langem Regen, und ihre Liebe zu ihrem Sohn war grenzenlos wie das weite Meer.
Sie war eine Heilerin – nicht mit Magie, sondern mit Händen, Liedern und Worten, die das Herz zur Ruhe brachten. Ihr Heim war schlicht, aus hellem Stein und dunklem Holz, umrankt von Glyzinien. Doch in diesem Heim lebte ein Schatten, gegen den selbst ihr Licht kaum bestehen konnte.
Ihr Gemahl, Darethil, war ein Großmeister der Arkanen Künste, mit Wissen, das nicht einmal in uralten Bibliotheken gehütet wurde. Die Bewohner von Nyrassar riefen ihn, wenn seltsame Wesen auftauchten, wenn Risse in der Weltmagie flimmerten oder dunkle Flüche erwachten. Und so war er selten daheim – und wenn, dann war er nicht der Mann, für den ihn die Welt hielt.
Denn daheim war er kalt. Abweisend. Und grausam.
Seine Worte waren wie Peitschenhiebe – gehüllt in Glanz, doch voller Gift. Nichts, was Lelyarín tat, war ihm recht. Ihre Güte war ihm Schwäche, ihre Zärtlichkeit Dummheit. Wenn er sprach, war es oft laut; wenn er schwieg, war es ein drohendes Schweigen. Manchmal erhob er die Hand – und noch öfter ließ er sie in Worten fallen, die Lelyaríns Seele wund schlugen. Wenn er fortging, blieb die Angst wie Rauch in den Wänden zurück.
Elion war noch klein, kaum älter als fünf junge Triebe am Baum des Lebens. Doch er verstand mehr, als er sagen konnte.
Er hatte eine Truhe in seinem Zimmer – aus dunklem Holz, mit sanftem Deckel und abgerundeten Kanten. Dort kroch er hinein, wenn der Donner durch das Haus rollte. Wenn die Stimme des Vaters wie Stahl durch die Gänge hallte. Dort drinnen hielt er sich die Ohren zu, die Augen fest geschlossen – und weinte leise. Damit seine Mutter ihn nicht hörte. Denn sie hatte schon genug Tränen.
Manchmal fand er sie später in der Küche, die Hand zitternd an der Wand, eine dunkle Stelle auf ihrer Wange. Dann lächelte sie, ein zerbrochenes Lächeln, und sagte: „Es ist alles gut, Elion. Es ist alles gut.“
Aber es war es nicht.
Sein Vater interessierte sich nicht für ihn. Nicht für seine Träume, nicht für seine Gedanken. Elion hatte eine kleine Sammlung aus Steinen und Federn – Dinge, in denen Magie flimmern konnte, wenn man nur genau genug hinsah. Doch nie hatte sein Vater sich dazu herabgelassen, ihm zuzuhören. Nie hatte er ihm ein Wort der Magie beigebracht. Und Elion sehnte sich so sehr danach. Nach Nähe. Nach einem Zeichen. Nach Anerkennung.
Stattdessen sah er nur die leeren Augen, die den Sohn nicht erkannten. Und je älter er wurde, desto klarer spürte er: Dieses Haus war ein Gefängnis. Und in ihm wuchs etwas, das er nicht benennen konnte. Eine Mischung aus Sehnsucht, Schmerz und einer dunklen, leisen Wut.
Wäre Lelyarín nicht gewesen, wäre er längst verloren gewesen.
Als die Kunde sich wie ein leiser Gesang unter den Iriël verbreitete, dass die Ilûmar die Auserwählten nach Luminar riefen, wusste Lelyarín, dass ihre Stunde gekommen war. Nicht nur Elions Seele konnte sie retten – sondern auch ihre eigene. Der Weg war fern und voller Ungewissheit, doch was blieb, war die Hoffnung: die Hoffnung auf ein neues Leben, fern von der Kälte Darethils, fern von der Dunkelheit.
Heimlich begann sie zu sammeln. Immer wenn ihr Gemahl fort war – auf Reisen, in fremden Städten, um mit großem Wissen Fremden zu helfen, während sein eigenes Haus in Trümmern lag – packte sie die nötigsten Dinge zusammen. Nur zwei Säcke, kaum gefüllt mit mehr als Kleidern, einem alten, geschnitzten Holztier, das Elion liebte, und einer kleinen Schale aus Achat, in der sie einst das Licht der Sterne gefangen hatte.
Die Säcke verbarg sie unter zwei losen Dielen im Wohnzimmer – leise, vorsichtig, wie eine Maus, die sich vor dem Schatten eines Adlers duckt.
Und als der Ruf kam, dass die Reisenden sich bei den Sylvandarië sammeln sollten, da zögerte sie nicht. Es war spät, und die Sterne hingen wie kristallene Blüten am Firmament. Sie nahm Elion bei der Hand, zog ihm die Kapuze tief ins Gesicht und warf sich die Beutel über die Schultern.
„Hör zu, mein allerliebster Sohn“, sagte sie leise. „Wir werden Nyrassar verlassen – und nie wieder zurückkehren.“
Sie gingen rasch, begleitet vom Rascheln des Windes in den Bäumen. Die Sterne leuchteten hell – ein silbriger Schein, der wie eine Verheißung wirkte. Der Sammelplatz lag an der Grenze zum Wald, wo ein uralter Stein stand, in Runen gehüllt und von weißen und gelben Blumen umrankt.
Viele Iriël hatten sich bereits versammelt. In Stille knieten sie, ihre Hände auf die Erde gelegt. Lelyarín und Elion traten hinzu.
„Komm, mein Schatz, knie dich hin. So wie die anderen. Wir müssen den Boden berühren“, flüsterte sie.
Elion schaute ängstlich um sich. Dann legte auch er die Hände auf den Boden. Und sie warteten.
Und dann, nach einer scheinbar endlosen Stille, öffnete sich das erste Portal – ein leuchtender Riss in der Welt, rot wie glühendes Erz. Das Tor zu einer anderen Wirklichkeit.
Die Iriël erhoben sich. Einer nach dem anderen trat vor, ehrfürchtig und still. Als Lelyarín und Elion vor dem Portal standen, schaute der Junge zu ihr auf. Seine Stimme war kaum hörbar.
„Mama… ist das Magie?“
Sie nickte, ihre Stimme sanft, doch ihre Augen voller Schatten.
„Ja. Das ist die Magie der Götter.“
„Was ist mit Vater?“
In Lelyaríns Augen glitzerten Tränen. Sie schluckte hart.
„Schatz, du weißt, dass er nicht mit uns kommen würde. Nicht aus Liebe. Bitte… geh einfach hindurch. Ich lasse deine Hand nicht los. Ich bin direkt hinter dir.“
Und so gingen sie. Durch das Tor aus Licht. Die Welt hinter ihnen zerrann wie Nebel im Wind, und mit ihr der Schmerz, die Angst, die langen Nächte der Tränen. Nur Licht und Klang umgaben sie – lebendig, vibrierend, wie Musik, die die Seele berührt.
Sie durchquerten den Äther, jene transzendente Zwischenwelt, die nur wenige kannten. Schimmernde Bögen spannten sich über ihren Köpfen, leuchtende Strahlen tanzten um ihre Körper. Es war ein Ort, an dem alle Schwere von einem abfiel. Ein Ort der Reinheit, der Sehnsucht – ein Spiegel für das wahre Wesen eines jeden.
„Mama… schau dir das an!“ rief Elion ehrfürchtig. Seine Augen leuchteten.
„Es ist wundervoll“, hauchte Lelyarín.
In ihrem Herzen wusste sie: Darethil hätte diesen Ort niemals betreten können. Nicht mit all seinem Wissen, nicht mit all seiner Macht. Der Äther durchdrang jede Hülle, offenbarte jede Wahrheit. Und seine dunkle Seele hätte keinen Schritt weit getragen.
Ein tiefer, heißer Knoten in ihr löste sich. Sie atmete auf – wirklich auf – zum ersten Mal seit vielen Jahren.
Dann standen sie vor einem zweiten Stein. Wie der erste war er von uralten Runen bedeckt, aus denen ein leises, pulsierendes Licht drang. Dies war die Schwelle zu Luminar, die letzte Grenze.
Ein zweites Portal öffnete sich – blau wie der Atem der Götter – und sie traten hindurch.
Und so berührten ihre Füße zum ersten Mal das weiche, sanfte Gras von Luminar.
Elion wuchs nun in Sicherheit und Frieden auf. Seine Mutter, Lelyarín, hatte für sie beide ein schlichtes und warmherziges Heim bereitet. Es lag im zweiten Ring von Nimrond, wo das Licht der Sterne zwischen zarten Laubkronen tanzte. Ihr kleiner Garten war ein Ort des stillen Wunders – eine Oase voll blühender Pflanzen, leuchtender Blumenkelche und Schmetterlinge in allen Farben der Träume.
Elion schien glücklich. Doch es fiel bald auf, dass er selten mit den Kindern der Stadt spielte und sich nur selten dem unbeschwerten Treiben der Jugend anschloss. Oft wanderte er allein durch die Gassen, lauschte dem Klang der Märkte, stieg hinauf zu den hohen Türmen der Stadt, von wo aus man das Land bis an die fernen Berge überblickte. Das Spielen war ihm fremd geworden; er suchte anderes – etwas, das tief verborgen lag. Was es war, wusste keiner. Nicht einmal Lelyarín.
Als die Jahre vergingen, zog es ihn immer öfter hinaus. Elion wurde zu einem Wanderer – einem schweigsamen Pilger auf unbekannten Pfaden. Die östlichen Ausläufer des Rûnvarad waren ihm vertrauter als manchem Kartographen, und oft durchmaß er düstere Schluchten, verborgene Höhlen und Wälder, in denen selbst das Licht sich nicht lange halten konnte. Orte voller uralter Geheimnisse – manche flüsterten, dort lebe eine Magie, älter als die Welt selbst.
Doch je öfter er aufbrach, je weiter er sich entfernte, desto ferner wurde er auch den Seinen. Selbst die innigste Liebe seiner Mutter vermochte ihn nicht mehr zu erreichen. Oft saß er schweigend am Feuer, das Antlitz in Schatten getaucht, den Blick leer, als lausche er einem fernen Ruf, den nur er vernehmen konnte. Seine Seele, so schien es, weilte an einem anderen Ort.
In jenen Jahren begegnete Lelyarín einem Iriël namens Ylvaer. Ein Mann von stillem Gemüt, gütiger Seele und tiefer Verbundenheit zur Natur. Er liebte sie mit aller Wärme seines Herzens, trug sie auf Händen, und zum ersten Mal seit Langem war Lelyarín wieder wahrhaft glücklich.
Doch Elion schien das Glück seiner Mutter nicht zu berühren. Zwischen ihm und Ylvaer wuchs keine Bindung. Obwohl jener ihm freundlich begegnete, ihn unterstützte und oft das Gespräch suchte, blieb Elion abweisend. Immer öfter war er fort – wochenlang, manchmal monatelang. Niemand wusste, wohin er ging. Man raunte, er durchstreife die Schattenreiche im Osten, Höhlen, so alt wie die Zeit selbst. Manche sprachen gar von dunkler Magie, von alten Bündnissen, die besser ungenannt blieben. Doch waren es nur Gerüchte – oder waren sie es nicht?
Mitunter traf man ihn in den Gasthäusern Nimronds, wo er still in dunklen Ecken saß, die Kapuze tief ins Antlitz gezogen. Er sprach kaum ein Wort, beobachtete in stillem Ernst das Treiben der Gäste. Oft haftete sein Blick den jungen Mädchen an – ihrem fließenden Haar, der sanften Unschuld ihres Lächelns, der Weichheit unberührter Haut. Doch was immer er darin suchte – es blieb ein Geheimnis, wie so vieles in Elion.
Der Regen war leise gefallen, wie Tränen, die sich nicht zu erkennen geben. Elion schritt durch ein Tal voller Nebel, das keinen Namen zierte. Die Bäume dort wirkten wie verdorrte Hände, gen Himmel gestreckt, und unter seinen Schritten sog der Boden träge das Wasser auf – als würde das Land selbst atmen.
Er war weit, weiter denn je von Nimrond entfernt. Niemand wusste, wo er war. Vielleicht nicht einmal er selbst.
Ein Hauch von Schmerz lag auf ihm. Er blieb stehen. Legte die Hand auf die Brust. Dort, wo einst die Wärme seiner Mutter war, pochte nun eine Kälte, die nicht von dieser Welt stammte.
Er wollte nicht böse sein. Nicht fremd. Nicht leer. Er wollte geliebt werden. Er wollte Wärme spüren, wollte ein Lächeln, eine zarte Berührung.
Warum wich alles, das hell war, vor ihm zurück?
Da erhob sich vor ihm eine Gestalt – aus dem Nebel, aus dem Regen, aus dem Nichts.
Hochgewachsen, mit einem Gewand, das wie aus Schatten gewebt schien. Kein Gesicht war zu sehen. Nur eine Maske – glatt, aus bleichem Horn, ohne Augen, ohne Mund.
Und doch sprach sie. Oder war es nur sein eigener Geist, der antwortete?
„Du trägst eine Leere in dir, Elion. Eine Leere, die nicht du geschaffen hast.“
Elion sank auf die Knie, wie unter einem Gewicht, das plötzlich sichtbar wurde.
„Was bin ich…?“ flüsterte er. „Was wird aus mir?“
Die Stimme klang wie Wind, der durch uralte Ritzen zieht.
„Dein Weg ist Dunkel. Doch darin liegt Glanz. Du wirst lieben, was dich zerbrechen wird. Du wirst nehmen, was du begehren sollst – und zerstören, was dich heilt.“
„Ich will das nicht! Ich will… ich will leben. Lieben.“ Seine Stimme bebte, kaum hörbar unter dem prasselnden Regen.
Der Seher neigte das Haupt.
„Sie wird silbern sein, wie der erste Schnee. Zart wie das Licht am Ende der Welt. Du wirst sie küssen – und es wird ein Fluch sein. Ihr Tod wird dein Lied sein. Und dein Ende wird ihren Namen tragen.“
Stille senkte sich über das Tal.
Als Elion wieder aufsah, war die Gestalt fort. Nur eine feine Linie im Moor deutete darauf hin, dass da etwas gestanden hatte.
Er saß lange dort. Allein. In seinem Herzen kein Hass – nur ein Leuchten, so fern wie ein Stern, der vielleicht schon verglüht war. Und in seinen Augen – Tränen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren.
Die Sterne glühten wie kalte Flammen am wolkenlosen Himmelsdach Nyrassars. In weiten Schalen brannten Feuer, deren Licht sich in der gefrorenen Weite der Ebene von Loth-Galor verlor. Ein eisiger Wind fuhr flüsternd über das Land, trug Geschichten von vergangenen Schlachten mit sich – und den schwelenden Atem einer drohenden Dunkelheit.
Der Wachgürtel rings um die nördlichen Grenzlande war nicht aufgehoben worden – denn Druugorath, Malriks Schwarze Feste, erhob sich noch immer wie ein fauliger Dorn aus den Tiefen der Erde. Seine Diener – Arin und Orks – hausten noch in ihren Schattenlagern. Doch seit dem Sturz ihres Herrn und seiner Verbannung an die Grenzen zur Leere herrschte Stille.
Eine Stille, die kein Frieden war, sondern das trügerische Schweigen vor dem Sturm.
Aerenvar, ein junger Iriël von lebendigem Gemüt, saß mit seinem Trupp nahe der westlichen Palisaden. Wo er war, war das Lachen nicht fern – er war ein Spötter, ein Schelm, dessen Witz selbst dem müdesten Krieger ein Lächeln entlocken konnte. Doch seine Waffenfertigkeit stand seinem Wortwitz in nichts nach, und so vertrauten ihm seine Gefährten vom Bataillon Elemmacil – „den Sternenklingen“ – wie einem Bruder.
Die Nacht war erfüllt vom Knistern der Feuer, vom Klang gedämpfter Stimmen, die sich in heiteren Gesprächen verloren, als plötzlich eine Stimme durch das Zwielicht donnerte:
„Zu den Waffen! Zu den Waffen! Feindbewegung voraus!“
Es war Thandrik, Hauptmann der nördlichen Schildwacht, dessen Stimme wie das Grollen eines Gebirges klang.
Ein jäher Ruck ging durch das Lager – wie ein Schwarm aufgestörter Krähen erhoben sich die Iriël. Helme wurden aufgesetzt, Speere und Klingen aus Halterungen gerissen, Schilde an die Brust geschlagen. Das Lager war wie ein Bienenstock, erwacht aus dem Schlummer, erfüllt von geübter Hektik.
Und da – ein Zischen, ein Keuchen durch die Luft – die ersten schwarzen Pfeile stürzten herab wie dunkle Boten des Todes. Sie bohrten sich mit dumpfem Knacken tief in die hölzernen Wälle, einige schlugen zischend in die Erde, andere fanden ihr Ziel.
Ein Ruf erhob sich, ein Schrei von Schmerz und Zorn.
Der Feind war zurückgekehrt – und der Schatten erhob erneut sein Haupt.
Als Aerenvar den Wachturm erklomm, verging ihm mit einem Schlag jeglicher Scherz. Sein Blick schweifte über die Weite von Loth-Galor – und sein Herz zog sich zusammen.
Die Ebene wimmelte von Feinden. Im Zwielicht der Dämmerung hatten sie sich angeschlichen, verborgen im Schatten der Nacht, wie eine schwarze Woge, die nun unaufhaltsam aufbrandete.
„Bogenschützen an die Zinnen!“ rief er scharf. „Spannt die Sehnen – lasst es regnen!“
Die ersten Reihen der Orks wurden von einem todbringenden Schwarm lichtdurchtränkter Pfeile überschüttet. Sie stürzten mit durchbohrten Hälsen und Augen zu Boden.
Doch der Strom versiegte nicht. Er wurde dichter, dunkler, wütender.
Dann kamen sie. Nicht Orks. Etwas anderes.
Sie ragten empor wie wandelnde Türme – drei Mann hoch, von breiter Brust und düsteren Häuptern. Die Arme lang und kraftvoll wie Baumstämme, die Schultern gepanzert mit rauem, unheiligen Fleisch. Und in ihren Händen – gewaltige Hämmer, aus Eisen und Grauen geschmiedet.
„Bei Elenthis Licht …“, flüsterte Thandrik, und seine Stimme war nur noch ein Hauch.
„Bogenschützen! Bringt es zu Fall! Tötet das Ungetüm!“
Die Pfeile flogen – schnell, präzise, wie Blitze aus Licht. Sie trafen den Riesen. Und prallten ab.
Einige drangen in das fleischige Ungetüm ein – doch ohne Wirkung. Mit einem zornigen Gebrüll zerschlug es die Schäfte, riss sich die Pfeile aus dem Leib wie Dornengras.
Dann begann es zu rennen. Wie ein Sturm aus Fleisch und Stahl donnerte es auf die Palisaden zu, und die Erde bebte unter seinen Schritten.
„Bodentruppen!“ brüllte Thandrik, das Schwert gezückt. „Macht euch bereit! Dieser Feind ist uns fremd – doch unsere Klingen sollen ihn lehren, zu fürchten!“ „Speere vor! Für Nyrassar!“
Das große Tor öffnete sich, und die Kampfreihe der Iriël trat hinaus auf das Schlachtfeld.
Die Orks stürmten ihnen entgegen – wild, zischend, voller Hass. Zehn Orks für jeden Iriël.
Doch die Iriël kämpften wie Löwen. Speere stießen, Klingen sangen, Lichtbögen flackerten bei jedem Hieb in der Dunkelheit.
Das Ungetüm wütete mitten unter ihnen. Sein Hammer zerschmetterte Rüstungen, zerschlug Leben mit einem einzigen Schlag. Viele Iriël fielen. Doch sie wichen nicht.
Dann – ein Speer, geführt von der Hand eines unbekannten, mutigen Kriegers, durchdrang die Kehle der Bestie.
Ein röchelnder Schrei, ein Gurgeln – und mit einem letzten, bebenden Schritt brach das Wesen zusammen. Eine schwarze Blutfontäne stieg empor, stinkend und dampfend, wie aus der Tiefe der Erde selbst.
Die Orks hielten inne. Verwirrung. Furcht. Sie hatten nicht geglaubt, dass der neue Schrecken fallen könnte.
Die Iriël zögerten nicht. Mit einem Ruf erhoben sie ihre Waffen. Aerenvar stieß voran, und ihre Klingen rissen goldene Lichtbögen in die Nacht.
Die Schatten wichen zurück. Die Sternenklingen kämpften – für ihr Land, für ihre Ahnen, für das Licht. Und für einen Augenblick, nur einen Hauch in der Ewigkeit, da schien es, als könnte der Stern des Nordens doch nicht fallen.
Doch der Feind, der gefallen schien, hatte nur Atem geholt.
Mit donnerndem Tritt formierten sich neue Reihen im Zwielicht. Keine rohe Raserei mehr – nun marschierten sie mit tödlicher Disziplin. Schwarze Banner flatterten im Wind wie finstere Flammen, dumpfe Kriegstrommeln hallten über die Ebene, als kämen sie aus den Tiefen der Erde selbst.
In der Ferne ragten neue Schatten empor – mehr von den kolossalen Bestien, gegen die selbst die tapfersten Iriël kaum Bestand gehabt hatten.
Aerenvar stand auf der Rampe, das Schwert in der Faust, den Blick gen Norden gerichtet. Dort, wo die Linie der Fackeln immer weiter wuchs – wie ein brennender Wall aus Dunkelheit.
„Mögen die Ilûmar uns beistehen …“, flüsterte er. Dann drehte er sich zu seinen Gefährten.
„Meine Freunde“, sprach er, laut und klar. „Als wir heute erwachten, dachte keiner von uns, was dieser Tag bringen würde. Doch wir – wir sind die Elemmacil, die Sternenklingen. Ganz Nyrassar vertraut auf uns. Unsere Familien, unsere Brüder und Schwestern, unsere Kinder. Wir sind das Bollwerk gegen den Schatten. Lasst nicht zu, dass das Licht aus euren Herzen weicht. Denn wir – wir werden diese Dunkelheit bezwingen! Heute. Jetzt. Für immer.“
Ein Ruf der Entschlossenheit hallte auf. Klingen schlugen gegen Schilde. Die Iriël formierten sich in eiserner Disziplin.
Thandrik trat an die Linie. Seine Augen blieben unbewegt auf den Feind gerichtet. „Bogenschützen – anlegen. Noch nicht. Lasst sie näherkommen.“ Stille. Nur die Trommeln schlugen weiter, Herzschläge des Feindes. Dann, plötzlich – „Jetzt!“
Ein Regen aus Pfeilen ergoss sich über die Angreifer. Dunkle Leiber brachen zusammen, von Licht durchbohrt. Doch sie kamen weiter – rennend, kreischend, krachend.
Die Iriël ließen sie herantreten – bis auf Klingenlänge.
Dann stießen sie vor.
Ihre Schwerter rissen leuchtende Bahnen durch die Nacht, und schwarzes Blut färbte die Ebene. Doch der Ansturm war unermesslich. Die Bestien forderten einen hohen Preis – viele Krieger fielen, erschlagen, zertreten, zermalmt.
Doch die Iriël lernten schnell – sie erkannten Schwachstellen, fanden Wege durch Panzer und Fleisch. Die Giganten fielen nun schneller, mit weniger Opfern. Aber der Feind kam weiter, unaufhörlich, wie Sturmwellen an einer Klippe.
Die Reihen der Verteidiger lichteten sich. Nach Stunden erbitterten Kampfes standen nur noch wenige Hundert. Eingekesselt, erschöpft, mit dem Rücken zueinander.
Thandrik erhob sein Schwert. „Meine Brüder! Meine Schwestern! Wir haben alles gegeben. Und es ist noch nicht vorbei. Ein letzter Kampf liegt vor uns – dann wird Elenthis Licht über uns richten. Lasst uns so viele von diesen Bestien mitnehmen, wie wir nur können. In Veyraths Hallen werden wir uns wiedersehen!“ Sie riefen, sie schrien, sie hielten die Linie.
Mitten unter ihnen stand Lívareth, eine zierliche Iriël aus den Wäldern. Blut rann an ihrem Bein herab. Ihr Schwert war schwer vom schwarzen Blut. Zitternd sah sie in die Fratze des Feindes: glühende Augen, hämische Grinser. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
„Ich werde sterben. Wird es schmerzhaft sein? Werde ich sie je wiedersehen?“
Tränen liefen ihr über das Gesicht – verborgen unter dem Helm.
Mit bebender Hand griff sie in ihre Tasche. Dort lag der Stein. Ein Geschenk ihres Vaters, als sie sich freiwillig für die Wache in Loth-Galor gemeldet hatte. Warm war er. Immer. Ein gefallener Stern, hatte er gesagt – gewebt aus dem Stoff, aus dem Elenthi und Calion die Sterne schufen.
Sie zog ihn hervor. Noch einmal wollte sie ihn sehen. Dann geschah es.
Ein Licht. Grell. Heilig. Heller als jeder Stern, heller als alles, was die Welt bisher gesehen hat.
Es brach aus dem Stein hervor – eine Kuppel aus Licht umgab die Iriël. Wärme durchdrang ihre Herzen. Hoffnung. Stärke.
Die Orks hingegen schrien. Sie warfen sich zu Boden, schlugen die Hände vor die Augen. Als würde das Licht sie verbrennen – Haut und Seele. Einige flohen, andere töteten sich selbst oder ihre Kameraden in blinder Panik.
Thandriks Stimme donnerte: „Vorwärts! Treibt sie zurück in die Schatten! Lívareth – halte das Licht hoch! Für Nyrassar!“
Und so erhoben sich die Sternenklingen erneut. Mit Feuer in den Adern, mit Licht in den Herzen.
Sie schlugen ihre Feinde zurück. Töteten sie, wo sie flüchteten. Die Ebene war bedeckt mit dunklen Leibern – doch darüber leuchtete ein Stern. Ein einziger. Und er stand genau über Lívareth.
Die Kunde kam mit der Hast des Windes – getragen von geflügelten Boten, deren Schwingen Luminar stets mit dem fernen Nyrassar verbanden. Hoch oben auf dem Avirath, dem Himmlischen Thron, landete Vorandor, der König der Luft, und sprach lange mit Elenthi und Malion, den Höchsten der Ilûmar. Die Botschaft, die er brachte, ließ ihre Herzen erbeben: Ein Angriff der Orks! Doch wie konnte dies sein, da ihr dunkler Herr noch immer in Fesseln lag? Kaum zu glauben.
Malion ließ unverzüglich den Hohen Rat einberufen. In Vördrindë, der Halle der Schöpfung, versammelten sich die Ilûmar und Arin um den Großen Weißen Tisch. Ihre Mienen waren ernst, und über allem lag ein Schweigen, tief wie die Stille vor einem aufziehenden Sturm.
Malion erhob als Erster das Wort, seine Stimme klang gewichtig in der großen Halle „Ihr habt es vernommen, Brüder und Schwestern: Die Orks haben die Verteidigungslinien von Druugorath durchbrochen. Es ist erschreckend, wahrlich – und zugleich erstaunlich, dass sie dies wagen, da ihr Herr noch immer gebunden ist.“
Lóthienar sprach mit gebrochener Stimme, wie ein Windhauch, der durch zerbrochenes Glas fährt: „Das Böse wirkt mit gewaltiger Kraft – und unermüdlichem Erfolg.“
Mîrion legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter und sah sie mit Liebe an, die so alt war wie die Sterne selbst. „Doch stets vergeblich, Lóthienar. Denn das Böse bereitet nur den Boden für ein unerwartetes Gutes, das keimt und erblüht.“
Da erhob sich Elenthi. Ihr goldenes Haar leuchtete im Sternenlicht wie ein Strahl, gewoben aus der Tiefe der Zeit. „Wahr sprichst du, Mîrion. Die Geschichte von Lívareth unterstreicht deine Worte. Das Licht, das aus ihrem Sternensplitter brach, war nicht bloßer Glanz – es war Erinnerung, die Essenz des Ursprungs. Und diese Macht war um ein Vielfaches stärker, weil Lívareths Herz rein war und ihre Seele frei von Schatten. Dieses Licht brannte sich in die Herzen der Orks, weil es ihnen einst vom eigenen Meister geraubt wurde. Sie sind Wesen der Dunkelheit – nicht allein durch ihre Taten, sondern durch finsterste Magie. Und dieses Licht... es erinnert sie an das, was sie verloren haben.“
Ailinwë senkte nachdenklich das Haupt. „Es war kein gewöhnliches Licht. Ich glaube, Elenthi hat recht – es war rein, durch nichts getrübt. Ein solches Licht kann den Schatten brechen – denn seine Macht entzieht sich dem Zugriff der Dunklen Horden.“
Da trat Tharok hervor, schwer an Miene, wie ein Felsen, der von den Stürmen des Nordens gezeichnet ist. „Nicht nur Orks standen an den Fronten von Loth-Galor. Neue Wesen marschierten unter ihnen – groß wie Riesen, finster wie Albträume, die aus den tiefsten Abgründen kriechen. Ihre Haut spie Pfeile wieder aus, ihre Kraft war unermesslich.“ Er legte eine zerschlagene Helmplatte auf den Großen Tisch. „Sie zerdrückten unsere Reihen. Ich nenne sie Thûlghûl – Schattengespenster.“
Ein Raunen ging durch den Saal, leise wie das Rascheln verdorrter Blätter im Herbstwind.
„Sind sie geborene Wesen?“ fragte Ailinwë, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
„Oder geschmiedet aus Feuer und Magie?“ ergänzte Maurek, sein Blick forschend.
Lange schwiegen sie. Schließlich sprach Malion, seine Worte hallten in der stillen Halle nach: „Ich fürchte, sie sind Schatten, denen man Fleisch gegeben hat.“
Sie sahen einander an, und keiner wagte zu widersprechen, denn die Wahrheit lag schwer in der Luft.
Da erhob sich Calion. „Wir dürfen nicht warten, bis sie stärker werden. Wir müssen handeln, ehe die Finsternis alles verschlingt.“
Eledis trat vor, zog ihr Schwert aus der Scheide – und es leuchtete blau wie das ewige Eislicht der Nordhimmel. „Ich bin dafür, Druugorath dem Erdboden gleichzumachen.“
Viele nickten, und ein unruhiges Murmeln ging durch die Reihen, wie das Rauschen eines nahenden Flusses.
Doch Malion hob die Hand – und vollkommene Stille senkte sich über die Halle, als lauschte die Welt seinem Wort.
„Eledis hat recht – wir sollten Malriks alte Bastion stürzen. Aber erinnert euch an die Geschichte von Shakra und Moorka: Nicht alle in Druugorath sind verdorben. In manchen glimmt noch der Funke Ayras, ein Sternenlicht in tiefster Nacht. Sollen wir auch sie töten? Ist es nicht unsere Aufgabe, das Gleichgewicht zu wahren – und jene zu bewahren, die nicht dem Finstern verfallen sind? Und wenn wir jetzt angreifen, riskieren wir, dass die Arin Malriks entkommen – sich in den Schatten Nyrassars verkriechen, wie Ungeziefer, das an den Wurzeln der Welt nagt. Wir könnten sie kaum noch aufspüren. Besser ist es, sie in Druugorath zu binden. Niemand entkommt ungesehen diesem frostigen Gefängnis.“
