Azur Sammelband - Sabine Schulter - E-Book

Azur Sammelband E-Book

Sabine Schulter

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Beschreibung

Der Sammelband mit allen drei traumhaften Geschichten zu der Traumdiebin Azur. Jess ist die beste Traumdiebin des Landes und unter ihren Namen Azur zu einem Mythos aufgestiegen. Allerdings verabscheut sie das Stehlen und will lieber ein ganz normales Leben führen. Doch lässt Saphir, der Chef der Diebe, das nicht zu. Er hat sie in der Hand, entscheidet über ihr Leben und ihren Tod. Jess hat das weitestgehend akzeptiert. Bis sie Cedric und seine Freunde Vincent, Julian und Leander kennenlernt. Die vier sind Behüter, die nur dafür zuständig sind, Traumdiebe zu fangen: also sie. Doch die vier bieten ihr als Jess, nicht ahnend, dass sie eine Diebin ist, eine unvergleichliche Freundschaft an, die in ihr den Wunsch schürt, von der kriminellen Welt der Diebe fortzukommen. Vor allem als sie spürt, welche Anziehungskraft Cedric auf sie ausübt, zerbröckelt ihr altes Leben. Sie kann und will Cedric nicht entfliehen. Doch sie weiß ganz genau, dass sie kein Mitleid von ihm zu erwarten hat, wenn er herausfindet, dass sie eine Diebin ist.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Band 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Band 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Band 3

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Danksagung

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Impressum

Sabine Schulter

Azur

Die legendäre Traumdiebin

Sammelband

Roman

Band 1

Azur – Wenn eine Diebin liebt

Kapitel 1

Jess

Mein Ziel liegt direkt vor mir. Ein unscheinbares Fenster eines fünfstöckigen Mehrfamilienhauses mitten in einem mittelmäßigen Viertel unserer Millionenmetropole. Nie hätte ich erwartet, dass ein hoher Richter, der die wichtigsten Urteile des Landes fällt, ein so schlichtes Heim bevorzugt. Nun, so leicht irrt man eben.

Nervös lecke ich mir über die Lippen und lasse meinen Blick über die Umgebung schweifen. Ruhig liegen die vielen Häuser vor mir, erstrecken sich wie dunkle Giganten in den Himmel, nur unterbrochen von den langen, wie Flüsse anmutenden Straßen, die in dem gelben Licht der Straßenlampen dreckig und gruselig wirken. Mir aber macht das nichts aus. Die Nacht und die Dunkelheit sind meine Heimat und ich sehe sie nicht als Feind. Da gibt es ganz anderes, das ich fürchte. Die vielen, verschachtelten Ecken und unzureichend beleuchteten Gassen bergen für mich keine Orte der Gefahr, sondern der Möglichkeiten. Sie sind meine Welt und werden es wohl immer sein.

Es ist bereits vier Uhr morgens und damit der dunkelste Teil der Nacht angebrochen, der nur noch von den abertausenden Straßenlaternen erhellt wird. Aber die Behüter bewachen diese Wohnviertel am nördlichen Rand des Stadtparks sehr genau, da gerade die Einfachheit der Hochhäuser hier viele Einstiegsmöglichkeiten bietet.

Ein wahres Festmahl also für Diebe aller Art.

Und auch wenn ich es nicht gern zugebe, gehöre auch ich zu jenen unauffälligen Gestalten. Doch ich interessiere mich nicht für Schmuck, Kunst oder andere weltliche Dinge. Mein Metier ist etwas Flüchtigeres. Ich besitze eine Gabe, die nur wenige Menschen aufweisen: Ich kann die Träume von schlafenden Menschen stehlen.

Kurz atme ich durch, springe dann von der Dachkante, auf der ich bereits eine geraume Weile saß, und greife auf der Hälfte meines Falls nach der Querstange einer Straßenlampe. Einmal muss ich einen Überschlag machen, um meinen Schwung abzufedern, bevor ich mich lautlos auf den Asphalt fallenlassen kann. Ein kurzer Blick, aber die Umgebung bleibt wie erwartet ruhig, weshalb ich schnell zu der Häuserecke gegenüber in eine einsame Gasse eile. Meine Informationen besagen, dass dort eine alte Feuerleiter hinauf bis zum Wohnzimmerfenster meines heutigen Opfers führt. Leise flattert mein Mantel hinter mir her und der Stoff, der über meinem Mund liegt und fast mein gesamtes Gesicht verbirgt, lässt meinen Atem lauter klingen, als er sollte.

Aufregung befällt mich, aber ich darf sie nicht zulassen. Wenn ich aufgeregt bin, mache ich Fehler, was wiederum tödlich enden kann. Ich habe die Gegend fast eine Stunde beobachtet und weiß daher, dass niemand auch nur ahnt, dass ich hier bin. Die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, ist also mehr als gering, weshalb ich mich entscheide, etwas gegen meine Unruhe zu tun. Während ich laufe, drücke ich also auf den Startknopf meines Musikplayers und sofort hämmert mir ein schneller Bass ins Ohr. Kein anderes Geräusch dringt mehr durch die Musik, aber gerade das beruhigt mich. Denn wenn mich etwas nervös macht, dann ist es Stille.

Ich erreiche die Hausecke und die angrenzende Gasse. Sie ist äußerst schmal und nicht für häufige Passagen gedacht, sondern nur dafür da, um einen Weg zu den Hinterhöfen zu ermöglichen und den Bewohnern eine Abstellmöglichkeit zu bieten. Tatsächlich schraubt sich hier zwischen Abfallbehältern und einer einzelnen, flackernden Straßenlampe eine Feuerleiter die Mauer hinauf. Zwar liegt die erste Sprosse in gut drei Metern Höhe, aber das hält mich nicht auf. Ohne langsamer zu werden, sprinte ich zu einem der Behälter und springe über ihn auf die Mauer zu. Sie als weiteren Trittstein nutzend, erreiche ich die Sprosse und ziehe mich geschickt daran hoch. Auch wenn ich durch die Musik nichts höre, weiß ich, dass ich dabei nicht das leiseste Geräusch verursache. Schließlich bin ich die Beste meines Faches, sonst hätte mir Saphir diesen Auftrag nicht zugeteilt. Geschwind erklettere ich die Leiter, blicke mich noch einmal kurz um und schiebe dann vorsichtig das Fenster auf.

Die Gefahr, nachts bestohlen zu werden, ist groß in der heutigen Zeit, aber das Vertrauen auf die Behüter ebenfalls. Sie sind dafür zuständig, Leute wie mich von meinem Job abzuhalten, weshalb sie so etwas wie die Polizei gegen die Traumdiebe sind. Doch sie tragen zu ihrem Schutz schwere, mit Metall verstärkte Kleidung, die sie ausbremst und behäbig macht. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass auch nur einer von ihnen gut genug ist, mich zu fangen. Mit meiner leichten, hautengen Kleidung, die nur von dem weiten Mantel umhüllt wird, bin ich so viel schneller und beweglicher. Natürlich werde ich mich hüten, sie zu unterschätzen, aber ich habe zu viel Erfahrung im Entkommen, um mich von Behütern schnappen zu lassen.

Geschmeidig lasse ich mich durch das Fenster fallen und rolle lautlos ab. Sofort komme ich wieder auf die Füße, lasse kurz meinen Blick durch das Zimmer gleiten und eile dann weiter. Das Schlafzimmer, in dem der Richter neben seiner Frau schläft, befindet sich auf der rechten Seite der Wohnung, was bedeutet, dass ich einmal quer durch das Wohnzimmer muss, Flur und andere Räume aber meiden kann. Eine Alarmanlage, einen Hund oder Kinder besitzen sie nicht. Leise schleiche ich durch den Raum, an Möbelstücken und möglichen Stolperfallen vorbei, und schiebe schließlich die Tür zu meinem Zielort auf. Nun schalte ich die Musik wieder ab. Nicht weil sie mich behindert hätte, ganz im Gegenteil. Nein, ich will mein Ziel nicht wecken.

Als ich neben das Bett trete, das nur durch das wenige Laternenlicht vor dem Fenster erhellt wird, blicke ich auf den schlafenden Mann hinab. Er tut viel Gutes für diese Stadt und es ist mir zuwider, ihm seinen Traum zu stehlen. Aber ich habe keine Wahl.

Das zarte, goldene Leuchten um den Kopf des Mannes zeigt mir, dass er träumt. Nur Menschen mit meiner Begabung sind dazu fähig, diesen Schimmer überhaupt zu sehen und noch weniger besitzen das Geschick, die Träume auch zu stehlen. Sacht strecke ich meine Hand nach ihm aus und kaum, dass ich ihn berühre, entfaltet sich der Traum wie ein strahlender Film um mich herum, umhüllt mich mit seiner goldenen Herrlichkeit. Es ist ein guter Traum, von einem ruhigen Tag zusammen mit seiner Frau auf einer Wiese in der Sommersonne.

Kurz sehe ich zu und zertrenne dann die Verbindung zwischen Traum und Mann. Er regt sich kurz, schläft aber weiter. Der Traum bildet eine kleine Kugel vor mir in der Luft und ich greife sie mir, wodurch sie weltlich wird.

Jetzt muss ich mich sputen, denn wenn sich Behüter in der näheren Umgebung aufhalten, haben sie das Verschwinden des Traumes gespürt. Kein Geräusch begleitet meinen Rückzug und ein stolzes Lächeln versucht sich auf meine Lippen zu stehlen, als ich wieder auf die Feuerleiter klettere und das Fenster zuziehe. Aber ich unterdrücke es, denn noch bin ich nicht in Sicherheit.

Ich greife schnell nach der ersten Sprosse, um über die Dächer zu flüchten, als ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln sehe. Ohne zu zögern, katapultiere ich mich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung mehrere Sprossen hinauf. Etwas prallt kurz unter meinen Füßen gegen die Leiter und fällt dann hinab in die kleine Gasse. Verdammt, sie sind schon hier!

Mein Blick schießt hinauf und findet zielsicher auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses einen Mann stehen. Er ist kaum zu erkennen gegen den nachtschwarzen Himmel, aber er blickt eindeutig auf mich herab. Im Gegensatz zu mir ist er unverhüllt und seine Körperhaltung zeugt davon, wie ungehalten er darüber ist, dass er mich verfehlt hat. Auch bei dem wenigen Licht erkenne ich, dass er jung ist, höchstens so alt wie ich. Gespannt, zu was er bereits in der Lage ist, klettere ich die Leiter weiter hinauf, so schnell, dass auch das zweite Seil, das mich binden soll, nutzlos gegen die Leiter schlägt. Diesem Behüter zu entkommen, sollte ein Kinderspiel sein.

Womit ich mich jedoch wieder irre, ein weiteres Mal in dieser Nacht.

Denn kaum erreiche ich das Flachdach, als ich auch schon einem zweiten Behüter ausweichen muss. Scheinbar will dieser mir den Weg über die Dächer abschneiden, weshalb ich vermute, dass unten auf der Straße ein dritter wartet. Eiligst rolle ich zur Seite ab, als starke Hände nach mir greifen. Nur um Millimeter verfehlt er den dunklen Stoff meines Mantels, setzt mir aber sofort nach. Er muss erfahrener sein als sein Freund auf dem anderen Dach, der fern bleibt, wohl um zu verhindern, dass ich einfach das Gebäude wechsele. Aber so einfach will ich es ihnen nicht machen.

Kurz blicke ich über meine Schulter zu dem Behüter, um seine Stärke, Schnelligkeit und Hartnäckigkeit abzuschätzen. Auch er ist jung, höchstens Mitte zwanzig, aber groß und athletisch gebaut. Erstaunlich schnell folgt er mir, trotz der verstärkten Kleidung und dem schweren Gürtel, an dem allerhand Gerätschaften hängen. Seine braunen Haare sind leicht gelockt und fallen ihm ein wenig in die braunen Augen, die mich mehr als entschlossen anblicken.

Er gibt nicht so leicht auf, das ist mir jetzt schon klar, aber so wird das Spiel nur aufregender. Denn die kleinen Kämpfe gegen die Behüter machen im Gegensatz zu den Diebstählen durchaus Spaß. Verwundert entdecke ich an meinem Gegenüber sowohl eine gepiercte Augenbraue als auch einen Ring an seiner Unterlippe. Das ist gewagt, wenn man gegen Diebe kämpft, die im Notfall jede Schwachstelle für sich nutzen. Irgendwie gefällt mir das.

Er setzt mir nach und wieder weiche ich zurück, entschlüpfe seinen Fingern so, dass ich ihn weg von der Dachkante und somit fort von seinem Partner auf dem anderen Dach locke. Überraschend macht er einen Ausfall und fegt mir fast die Füße weg, doch ich kann mich mit einem Rückwärtssalto aus seiner Reichweite bringen.

„Du entkommst mir nicht“, knurrt er finster.

„Wieso bist du davon so überzeugt?“, frage ich und überrasche ihn damit. Normalerweise antwortet ihm wohl kein Dieb.

Er bleibt mir allerdings eine Antwort schuldig und greift lieber an. Erneut weiche ich ihm aus – auch wenn es dieses Mal etwas knapp ist – und springe auf die breite Brüstung des Daches, als ich die andere Seite erreiche. Die Reklame eines bekannten Handyanbieters beleuchtet uns und als der Behüter die markante Farbe meiner Kontaktlinsen sieht, erstarrt er für eine Sekunde. Mit mir hat er scheinbar nicht gerechnet, denn seine Lippen bilden überrascht meinen Namen.

„Azur!“

Bevor er sich fängt, lege ich mir den Zeigefinger an die Lippen und zwinkere ihm zu. Ehe er reagieren kann, lasse ich mich nach hinten in den Abgrund der Straßen fallen. Mit einem Keuchen eilt der Behüter ebenfalls an den Rand, doch hat er nicht das spezielle Gerät dabei, um mir folgen zu können und seine zupackenden Finger greifen ins Leere. Im Fall ziehe ich eine kleine Pistole hervor, ziele auf die Häuserecke gegenüber und drücke ab. Ein Haken schießt hervor, verkeilt sich in der Wand und hält meinen Sturz auf. Fest kralle ich meine Finger um die Waffe, die mir durch die Wucht fast entrissen wird, und schwinge um die nächste Ecke. Gekonnt komme ich auf dem Asphalt der Straße auf und renne sogleich weiter. Mit einem leisen Lachen verschwinde ich in der Nacht.

Kapitel 2

Cedric

Aufmunternd klopft mir Vincent auf die Schulter. „Du darfst es dir nicht so zu Herzen nehmen, dass dir Azur entwischt ist. Sie ist die beste Diebin, die es in der Stadt gibt, und wir konnten nicht ahnen, dass wir ihr auf der Spur sind.“

Natürlich ist mir das klar, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass sie mir entkommen ist.

„Ich habe mich wie ein Neuling verhalten“, knurre ich ungehalten und kippe den Rest meines Bieres hinunter. Menschen, die tagsüber arbeiten, würden das missfällig um halb acht Uhr morgens aufnehmen, aber für mich und meine Freunde ist es unser Feierabendbier und meiner Meinung nach daher gerechtfertigt. Vor allem nach einer Nacht wie dieser.

„Ja, in Ehrfurcht zu erstarren ist normalerweise nicht so dein Ding“, meint Leander schulterzuckend und fängt sich dafür einen mehr als finsteren Blick von mir.

„Ich habe sie nur nicht erwartet, also hör auf, deine Späße mit mir zu machen.“

Beschwichtigend hebt er die Hände, aber ich sehe ihm die Belustigung weiterhin an. An jedem anderen hätte ich meine schlechte Laune ausgelassen, aber nicht an ihm. Leander ist der Älteste unserer Gruppe und ich kenne ihn bereits, seit ich meine Ausbildung zum Behüter vor über sieben Jahren begann. Als ich fertig wurde, hat er mich in sein Team aufgenommen und nun arbeiten wir schon mehr als drei Jahre zusammen. Ich schätze seinen kühlen Verstand und die Ruhe, die er auch in gefährlichen Situationen behält. Ich, Vincent und Leander haben mit den besten zu erreichenden Noten abgeschlossen und bilden inzwischen eine unschlagbare Einheit. Nun, so unschlagbar aber scheinbar doch nicht.

„Tut mir leid“, murmelt nun Julian leise.

Er ist unser Neuzugang und kommt ganz frisch aus der Ausbildung. Besonders gut ist er als Behüter nicht, aber dafür gehört ihm ein unglaublich schlauer und durchdachter Kopf, was gut zu meinem und Vincents hitzigen Wesen passt und uns somit ausgleicht. Er ist ein kleiner, fast schon zierlicher Mann, der gegen Vincent ein wenig schmächtig und blass wirkt. Doch er ist ein guter Kerl und ich bin froh, dass er sich uns auf Leanders Anfrage hin angeschlossen hat.

„Muss es nicht, Kleiner“, erwidert Leander und schlägt dem Jungen auf den Rücken. „Wir haben alle mal klein angefangen und es war gut, dass du auf dem anderen Dach geblieben bist. Azur ist eine Nummer zu groß für dich.“

„Und scheinbar auch für Cedric“, bemerkt Vincent mit einem fiesen Grinsen und fängt sich dafür von mir einen Schlag in die Seite.

„Tön du nur. Du standest schließlich ganz zufällig am anderen Ende der Straße und hast sie davonlaufen lassen.“

„Mann, ich hätte sie nie eingeholt! Die ist wie eine Gazelle.“ Missmutig schiebt sich Vincent die Ärmel seines Pullovers hoch, wodurch man die Tattoos auf seinen Armen sehen kann. Er ist mein bester Freund, schon seit wir uns das erste Mal im Trainingslager in die Haare bekommen haben. Er trug damals ein blaues Auge davon und ich eine aufgeplatzte Lippe. Obwohl man es nicht meinen würde, hat uns gerade diese anfängliche Feindseligkeit zusammengeschweißt. Wahrscheinlich weil wir uns gegenseitig Respekt einflößten und schnell merkten, dass wir ziemlich gleich ticken. Seitdem sind wir unzertrennlich und uns wurde schon damals klar, dass wir auch zusammen arbeiten würden. Wir können uns aufeinander verlassen und kennen sowohl Schwächen als auch Stärken des anderen.

„Aber wenn Azur geschickt wurde, um den Traum von Richter Lorenz zu stehlen, muss etwas Großes dahinterstecken“, vermutet Julian nun. Müde fährt er sich durch das kurze, blonde Haar.

„Das befürchte ich auch. Wir haben schon lange nichts mehr von ihr gehört“, stimmt Leander ihm zu und stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch, an dem wir sitzen. „Du hast Lorenz nach dem Diebstahl geweckt?“

Ich nicke, bin aber unzufrieden. „Ja natürlich, aber auch wenn wir ihn dadurch vor Alpträumen beschützen konnten, ist Azurs Plan aufgegangen. Allein durch den Schlafmangel ist er heute und wohl auch für die nächsten Tage nicht so gut zu sprechen. Eine schlechte Voraussetzung für einen Richter.“

„Wir hätten ihm einfach einen anderen Traum geben sollen“, sagt Vincent schon zum gefühlten zehnten Mal.

„Und damit riskieren, dass er süchtig nach Traumperlen wird? Nein, das ist keine gute Idee“, erwidert Leander geduldig.

Ich runzele die Stirn, denn mir gefällt der Gedanke nicht, dass Azur genau das erreichen wollte. Wenn jemandem mehrmals ein Traum entrissen wird, ist es eine der Nachwirkungen, dass derjenige Alpträume erleidet. Wenn dieser gestohlene Traum jedoch von jemand anderem geschluckt wird, ermöglicht dies, die Bilder daraus zu erleben. Das ist an sich nichts Schlechtes und wird sogar in der Medizin verwendet, um Schlafstörungen zu beheben und Schmerzen zu lindern, aber es kann auch missbraucht werden. Wenn ein einzelner zu viele fremde Träume konsumiert, machen sie süchtig.

Die Traumperlen, die bei einem Diebstahl entstehen, erzielen auf dem Schwarzmarkt horrende Summen und jeden Tag werden weitere Süchtige in die Kliniken eingeliefert. Es ist inzwischen genauso schlimm wie mit herkömmlichen Drogen. Und deswegen hasse ich die Traumdiebe.

Nicht nur, dass sie Leute bestehlen, nein, sie beeinflussen damit die gesamte Stadt. Menschen, denen die Träume gestohlen wurden, sind aggressiver und ihr Urteilungsvermögen ist eingeschränkt. Wenn dies einem Politiker oder – wie in dieser Nacht geschehen – einem Richter angetan wird, kann das schlimme Konsequenzen nach sich ziehen. Die Spannungen zwischen den verschiedenen Ländern der Erde sind so schon groß, da müssen nicht noch die Diebe mitmischen.

Unsanft werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als die Tür zu unserem Stammcafé aufgestoßen wird und ein kalter Wind hereinweht. Wir sehen alle auf, während eine junge Frau hereinkommt. Sie ist recht zierlich und versucht, ihre mangelnde Größe durch umso höhere Schuhe wieder wett zu machen. Ihre langen, braunen Haare fallen ihr von den schmalen Schultern und ein Pony bedeckt halb die Sonnenbrille, die auf einer kleinen Nase sitzt, obwohl die Sonne draußen gerade einmal aufgeht. Sie schüttelt sich kurz, als sie aus der Kälte tritt.

Meine eh schon schlechte Laune wird durch ihren Anblick nicht besser. Sie ist äußerst modisch angezogen, trägt bis auf den schwarzen Mantel nur Pastelltöne und ist daher ganz offensichtlich jemand, der nicht in ein Szenecafé wie das Rockkitten passt. Hier treffen sich Leute, die ein wenig aus der Reihe fallen, weil sie sich nicht an den Mainstream anpassen wollen: Skater, Gothik, Tattooliebhaber und Gestalten wie wir vier halt. Das Mädel jedoch scheint sich verlaufen zu haben.

Sie hebt die Hand, um die Sonnenbrille zurückzuschieben und ich weiß, dass ich gleich einen abfälligen Blick sehen werde. Doch sie überrascht mich mit einer ganz anderen Reaktion. Ihre großen, grünen Augen scheinen aufzuleuchten, als sie über das kunstvolle schwarze Tribal an der Wand uns gegenüber, die alten, dunklen Holzbohlen und die nicht ganz zusammenpassende, rustikale Einrichtung blickt. Ein Lächeln zeigt sich auf ihren Lippen und sie zieht sich Kopfhörer aus den Ohren, die ich bisher gar nicht bemerkt habe. Überrascht hebe ich eine Augenbraue, als ich daraus ziemlich deutlich harten Rock herüberschallen höre.

„Jess!“, ruft Leander erfreut aus und drückt sich von seinem Stuhl hoch. Ihm gehört das Café, in dem er tagsüber arbeitet und nachts, wenn er geschlossen hat, unsere Einsätze leitet. Die als Jess betitelte sieht zu ihm und zeigt ein Grinsen, das mich unerwartet erbeben lässt.

Na hoppla …

„Leander, du musst mich retten“, ruft sie aus und tritt an die Theke, die die komplette Wand gegenüber der Tür einnimmt. Nur kurz sieht sie zu uns und als ihr Blick meinen streift, stockt mir der Atem. Trotz meiner schlechten Laune muss ich mir eingestehen, dass sie verflucht hübsch ist. Ihr Mund öffnet sich leicht, so als wäre sie überrascht, doch dann wendet sie sich wieder Leander zu und stützt sich mit einem Seufzen auf die Theke.

„Ich brauche einen Kaffee, einen starken, sofort“, bittet sie.

„Eine kurze Nacht gehabt?“, fragt Leander und dreht sich bereits um, um ihren Wunsch zu erfüllen.

„Frag besser nicht.“

„Und was ist mit der Uni? Fällt die heute aus?“

„Nein, ich habe eine Kommilitonin gefragt, ob sie für mich mitschreibt. Eine Kollegin ist ausgefallen und ich muss im Laden einspringen.“ Scheinbar ziemlich müde, schließt sie kurz die Augen.

„Ah, deswegen bist du heute schon so früh da. Lass dich von deinem Chef aber nicht ausbeuten“, ermahnt Leander sie und stützt sich auf die Kaffeemaschine, während er sich kurz den gut gestutzten Bart reibt.

Jess winkt ab, öffnet die Augen und reißt Leander regelrecht den Kaffee aus der Hand, als er ihr den Becher reicht. „Danke. Vielleicht komme ich in der Mittagspause noch einmal vorbei. Bis dann.“

Und damit macht sie sich wieder auf den Weg hinaus.

Als sie an Vincent, Julian und mir vorbeikommt, fällt ihr wohl auf, dass wir sie die ganze Zeit angestarrt haben, denn sie muss ein Lächeln hinter dem Pappbecher verbergen, während sie sich die Ohrstöpsel in die Ohren steckt.

Und dann ist sie weg.

„Das, meine Herren, war Jessica Read“, erklärt Leander mit einem breiten Grinsen, als er wieder an den Tisch tritt und wir Jess noch immer hinterhersehen.

Übertrieben hingerissen legt sich Vincent eine Hand an die Brust. „Sie ist ein Traum. Wieso habe ich sie bisher noch nicht gesehen, wenn du sogar schon ihren Namen weißt?“

Ich rolle innerlich genervt mit den Augen. Vincent ist ein Aufschneider und leider auch ein ziemlicher Frauenheld. Mit seiner gebräunten Haut und dem hübschen Gesicht fallen ihm die Frauen nur so zu Füßen. Sein Badboy-Image und die Tattoos an den Armen helfen ihm nur zu oft dabei. Und scheinbar hat er sich nun Jess als sein nächstes Opfer auserkoren.

„Sie arbeitet drüben im Dekoshop, um ihr Studium zu finanzieren. Sie hat dort vor etwa vier Wochen angefangen und zählt seither fast schon zu meinen Stammkunden. Allerdings übernimmt sie meist die Spätschichten, weswegen ihr sie noch nie gesehen habt“, berichtet Leander bereitwillig.

Ich sehe Jess durch die Glasfronten hinterher, wie sie die Straße überquert. Auf der anderen Seite wendet sie sich für einen flüchtigen Moment um und ich habe das Gefühl, dass sich unsere Blicke treffen. Etwas entbrennt in mir, das ich so noch nie gespürt habe. Verwirrt runzele ich die Stirn.

***

Jess

So ein verdammter Mist!, fluche ich in Gedanken, als ich die Straße mit klopfendem Herzen überquere. Warum muss so etwas nur immer mir passieren? Wenn ich gewusst hätte, dass mein neues Stammcafé einem ganzen Trupp an Behütern als Treffpunkt dient, wäre ich niemals auch nur mit dem großen Zeh hineingegangen. Ist es denn zu viel verlangt, neben meiner Diebesarbeit auch ein normales Leben besitzen zu wollen? Ich stehle nicht gern und Saphir beansprucht meine Fähigkeiten nicht besonders oft, weil ich ihm zu wertvoll bin, um kleine Arbeiten zu erledigen. Deswegen habe ich schon lange den Traum, einem ganz normalen Job nachzugehen und aus diesem Grund vor einem halben Jahr ein Studium angefangen. Warum also muss ich ausgerechnet hier auf die Behüter treffen, die mir letzte Nacht nachjagten? Was für ein unbeschreibliches Glück …

Kurz blicke ich zurück zum Rockkitten und überlege, ob ich ab sofort nicht mehr hingehen soll. Aber das wäre wohl mehr als auffällig. Vor allem da ich fast jeden Tag, den ich arbeite, dort vorbeischaue. Mein Blick streift über die bodentiefen Fenster und undeutlich sehe ich den Behüter mit dem lockigen Haar, der mir in der letzten Nacht so nah gekommen war. Er schaut mir nachdenklich hinterher, wobei er unbewusst sein Lippenpiercing zwischen die Zähne zieht.

Schnell drehe ich mich weg. Hoffentlich erkennt er mich nicht! Aber es ist dumm, das zu befürchten, denn nicht umsonst sieht man in meiner Diebeskleidung nur die Augen. Und dann trage ich immer Kontaktlinsen, damit ich meinem Namen alle Ehre machen kann: Azur.

Jeder Diebin in unserer Gilde wird eine Farbe zugeteilt und damit auch die passenden Kontaktlinsen. Ich bin stolz darauf, dem hellen Blau zu einem so hohen Status verholfen zu haben, aber ein Dieb bin ich nicht gern.

Schnell ziehe ich mein Handy hervor und wähle Mirandas Nummer. Sie ist unter den Dieben die Person, der ich am meisten vertraue.

„Ja?“, antwortet sie recht schnell.

„Miranda, du musst mir helfen. Kannst du mir bitte alle Informationen über die Mitglieder einer Behütergruppe besorgen, die im Café Rockkitten abhängt?“ Hoffentlich gehört Leander nicht ebenfalls dazu, sonst muss ich mir wirklich ein neues Domizil suchen.

„Wieso? Hast du dir die falschen Freunde gesucht?“, fragt Miranda belustigt. Sie besitzt für eine Frau eine recht tiefe, rauchige Stimme, die gut zu ihren dunklen Locken und der schokobraunen Haut passt.

„So in etwa“, schnaube ich missmutig. „Mein neues Lieblingscafé ist gerade um einiges weniger attraktiv geworden.“

Miranda schnalzt mit der Zunge. „Süße, du machst dir zu viele Sorgen. Es ist doch egal, ob sie Behüter sind. Sie werden niemals herausbekommen, dass du eine Diebin bist. Außer du erzählst es ihnen, zeigst ihnen das Gildentattoo oder lässt dich schnappen. Alle drei Dinge werden mit Sicherheit nicht passieren.“ Ich schweige und Miranda deutet das richtig. „Na gut, wenn es dich beruhigt, werde ich dir die Informationen besorgen. Aber ich lege dir trotzdem ans Herz, dich nicht so beeinflussen zu lassen. Saphir beherrscht dein Leben schon genug, da brauchst du dich von deiner Arbeit nicht auch noch im Privatleben abhalten zu lassen.“

„Das mache ich nicht, versprochen. Wir hören uns dann später, wenn ich von dem Richter zurück bin.“

„Bis dann, Süße.“

Ich lege auf und stecke mein Handy zurück in meine Handtasche. Kurz streiche ich mir in Gedanken über meinen Bauch, wo an der rechten Seite, direkt über dem Hüftknochen ein blauer Schmetterling prangt. Dieses Tattoo stigmatisiert mich nicht nur als einen von Saphirs Dieben, sondern bindet mich unwiderruflich an ihn. Selbst wenn ich wirklich wollte, käme ich nicht von dem Leben als Diebin weg.

Kapitel 3

Jess

Mitten in der darauffolgenden Nacht sitze ich verborgen im Schatten auf einem Dach ganz in der Nähe vom Haus des Richters und beobachte die Umgebung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich den drei Behütern aus dem Rockkitten heute wieder begegne. Sie wissen nun, wer mein Ziel ist und damit werden sie versuchen, mich von einem weiteren Diebstahl abzuhalten. Bisher habe ich sie aber nicht entdecken können.

Fröstelnd ziehe ich meinen Mantel enger um mich, denn diese Nacht Anfang März ist besonders klar und kalt. Als ich hinauf in den Himmel sehe, glaube ich sogar ein paar Sterne funkeln zu sehen. Aber das bilde ich mir wahrscheinlich nur ein, denn das Licht der Millionenmetropole überstrahlt alles.

Da sich in meiner unmittelbaren Umgebung nichts bewegt, wage ich mich weiter vor. Ich husche hinter dem Lüftungsschacht auf dem Flachdach hervor und ducke mich, als ich bei der Brüstung ankomme. Mit geübten Blick suche ich die Gegend ab, doch sehe ich nur zwei ältere Männer, die nach ihrem wankenden Gang zu urteilen, aus einer Kneipe auf dem Weg nach Hause sind. Von Behütern ist weit und breit nichts zu sehen. Und das macht mich misstrauisch.

Sie wissen, dass ein hohes Mitglied der Stadt auf der Liste von Azur steht. Dies zu ignorieren ist nicht die Art der Behüter. Wenn ich an den unnachgiebigen Blick des Lockenkopfes gestern denke, ist es auch nicht die seine.

Ich will erneut meine Position ändern, als mir eine Bewegung auffällt. Ich versuche, mit den Augen den Schatten einer Nebenstraße zu durchdringen, aber noch einmal lässt sich nichts entdecken. Habe ich mich vielleicht getäuscht? Doch ich will auf Nummer sicher gehen.

Über Umwege nähere ich mich der Gasse, versuche dabei so viel Deckung wie möglich mitzunehmen und spähe schließlich vom Dach direkt über der Stelle hinab. Und tatsächlich: Dort unten verbirgt sich der Blondschopf in einem Hauseingang.

Konzentriert blickt er die Straße hinab, dorthin, wo sich die Wohnung des Richters befindet. Amüsiert schmunzle ich hinter meinem Mundschutz. Er muss wirklich noch ein Frischling sein, wenn er keinen Blick hinauf wirft. Gerade hebt er die Hand zum Mund. Wahrscheinlich ruft er durch das Mikro an seinem Handgelenk seine Kollegen. Wachsam ziehe ich mich ein Stück zurück, ohne den jungen Behüter aus den Augen zu verlieren.

Meine Vorsicht wird belohnt, denn nur Momente später taucht der tätowierte Schönling auf. Er schlendert herbei, als ob er nicht gerade einer Diebin auflauern würde, aber mir fällt auf, wie er seine Umgebung geschickt mit Blicken absucht. Er tut nur so unprofessionell, was mich irritiert und seine möglichen Reaktionen undurchsichtig macht.

Fehlt noch einer.

Mein Herzschlag beschleunigt sich ein wenig bei der Erwartung auf den Lockenkopf. In der letzten Nacht habe ich ja schon festgestellt, dass er recht interessant zu sein scheint. Im Tageslicht habe ich jedoch bemerkt, dass er zudem ziemlich attraktiv ist. Vor allem wenn seine braunen Augen neugierig und offen blicken und nicht voller finsterer Entschlossenheit.

Als er schließlich eintrifft, entdeckt er mich trotz meiner Vorsicht beinahe. Er kommt über das Dach gegenüber und vergisst im Gegensatz zu dem Blondschopf nicht, die Dächer in der Umgebung mit den Augen abzusuchen. Im letzten Moment ducke ich mich und da er nicht neben mir auftaucht, hat er mich wohl nicht gesehen. Aufatmend schaue ich wieder hinab, wo sich die drei nun besprechen und dann abwartend zur Wohnung meines Opfers blicken.

Natürlich weiß ich, wie der Richter heißt. Aber ich versuche zu vermeiden, meine Aufträge beim Namen zu nennen. So halte ich mein schlechtes Gewissen, dass ich ihnen Leid zufüge, im Zaum.

Ich bin noch am Überlegen, wie ich die drei Behüter am besten abwimmeln kann, um meinen Auftrag zu erfüllen, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippt. Meine eintrainierten Reflexe übernehmen mein Handeln, weshalb ich mich schnell zur Seite werfe und in Abwehrhaltung gehe. Doch mein Gegner ist genauso gekleidet wie ich: in einen schwarzen Mantel mit einer großen Kapuze und einer Maske, die nur die Augen freilässt. Durch diesen Sehschlitz blickt mich mein Gegenüber erheitert an.

„Violett!“, zische ich vorwurfsvoll, denn ich habe die lilafarbenen Kontaktlinsen sofort erkannt.

„Hey Kleine. Habe ich dich erschreckt?“ Meine Freundin muss sich deutlich ein Lachen verkneifen.

„Ja, natürlich! Schleich dich doch nicht so an mich heran.“

„Aber du sahst so schön abgelenkt aus. Da konnte ich nicht widerstehen“, meint sie und lacht leise.

„Wenn die Behüter da unten uns gehört hätten, würden wir einiges an Problemen bekommen.“

Violett wirft einen Blick hinab und zieht die Augenbrauen zusammen. „Das sind ja die drei, um deren Informationen du mich gebeten hast.“

Ich horche auf. „Hast du etwas über sie herausgefunden?“

Ganz kann ich die Aufregung nicht aus meiner Stimme verbannen und Violett, die ich jedoch öfter mit ihrem richtigen Namen Miranda rufe, zwinkert mir wissend zu. „Habe ich. Deswegen bin ich hier. Mein Auftrag liegt nur ein paar Blocks entfernt und da dachte ich, dass ich kurz bei dir vorbeischaue. Wenn ich gewusst hätte, dass du schwer beschäftigt bist, hätte ich es auf später verschoben.“

Sie zieht aus einer der vielen verborgenen Taschen des Mantels eine Mappe hervor und reicht sie mir. Die Neugier brennt mir schon unter den Nägeln, aber ich habe zuerst einen Auftrag zu erledigen und stecke den schmalen Ordner deswegen weg.

„Soll ich dir helfen?“, fragt Violett und deutet hinab zu den drei Männern, die abwarten, dass ich auftauche.

Mir gefällt ihr Vorschlag nicht wirklich. „Ich will dich nicht in Gefahr bringen …“

Die größere Frau winkt ab. „Ich lenke sie doch nur ab. Oder hast du eine bessere Idee?“ Als ich schweige, tätschelt sie mir liebevoll die Wange. Niemals hätte ich einem anderen Dieb solch eine Geste durchgehen lassen. Doch Miranda ist meine beste Freundin und in der Diebesgilde haben wir Dinge durchgestanden, die uns so fest zusammengeschweißt haben, wie es nicht einmal Familienbande gekonnt hätten. „Ich gehe keine Risiken ein, versprochen. Wir sehen uns dann morgen, Süße.“

Damit läuft Miranda geschwind zur rückwärtigen Wand und springt mit flatterndem Mantel hinab. Dass ich nichts von ihr höre, beweist, dass sie heil unten angekommen ist. Also wende ich mich wieder den Behütern zu und warte auf Mirandas Ablenkungsmanöver.

***

Cedric

Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt, während wir auf Azur warten. Es wird Zeit für sie, denn es ist bereits nach vier Uhr und bald würde die morgendliche Betriebsamkeit die Diebe in ihren Unterschlupf zurückzwingen. Am liebsten würde ich Julian und Vincent auf andere Positionen schicken, aber bei Azur haben wir nur zu dritt eine Chance. Und ein weiteres Mal lasse ich sie sicher nicht entwischen.

„Vielleicht kommt sie nicht“, flüstert Julian und blickt gebannt die Straße hinab.

„Doch, mit Sicherheit“, antwortet Vincent und lehnt sich lässig an die Wand der Gasse. Er tut gern so, als wären unsere Schichten das Einfachste der Welt, doch ich kenne kaum jemanden, der seinen Job so ernst nimmt wie er.

„Und wenn sie bereits mehrmals bei Richter Lorenz gewesen ist?“, gibt Julian zu bedenken.

„Wir haben die drei Tage zuvor nichts bemerkt und in so großen Abständen bringen ihr die Diebstähle nichts. Nein, sie wird noch kommen“, sage ich und blicke die glatten Wände der Backsteinhäuser um uns hinauf, die so typisch sind für die Gegend hier.

„Da“, rüttelt Vincent uns auf. Ich folge seinem Blick und tatsächlich huscht eine geschmeidige Gestalt quer über die Straße auf das Haus des Richters zu. Ein wenig verdutzt runzle ich die Stirn, denn die Diebin scheint mehr als sicher zu sein, wenn sie so offen herumläuft.

„Also Männer, ihr wisst, was ihr zu tun habt“, raune ich meinen Kollegen zu. Die nicken und verschwinden eilig in der Nacht.

Ich lasse Azur noch einen kleinen Vorsprung und renne dann los, um ihr den Weg an der abgesprochenen Häuserecke abzuschneiden. Die Diebin bemerkt mich schnell und versucht auszuweichen, doch blitzschnell ziehe ich eines der Seile von meinem Gürtel, die an beiden Enden beschwert sind und sich somit besonders leicht um Beine und Füße schlingen. Ich werfe es nach der Frau, aber bewusst so schlecht, dass sie ohne Probleme ausweichen kann. Sie wechselt die Richtung, wie ich es zu erreichen gehofft habe, und läuft damit direkt in Vincents Arme.

Bevor der kräftigere Mann Azur packen kann, lässt diese sich einfach fallen und schlittert durch seine Beine hindurch. Schneller als das Auge folgen kann, ist sie wieder auf den Beinen und will flüchten. Allerdings taucht nun auch Julian auf und zu dritt setzen wir der Frau schwer zu.

Natürlich haben wir auch Schusswaffen dabei, die den Kampf schnell beenden würden. Aber unser Ziel ist es nicht, die Diebe zu töten. Wir wollen sie fangen und Informationen zur Diebesgilde aus ihnen herausbekommen. Denn auch wenn die Gilde in dieser Stadt schon so lang existiert, ist es ein wohlbehütetes Geheimnis, wo ihr Versteck liegt und wer ihre Mitglieder, die wir nur mit Decknamen kennen, wirklich sind. Jede Kleinigkeit kann uns helfen, gegen die Machenschaften von Saphir anzugehen und je kooperativer die Gefangenen sind, umso mehr Güte wird später bei der Gerichtsverhandlung walten gelassen.

Doch Saphir hat seine Diebe mehr als gut unter Kontrolle. Sie sterben lieber, als in unser Gewahrsam zu gelangen und viele haben wir schon verloren, ohne zu wissen, wodurch. Wie in einem abgekupferten Spielfilm sterben sie wie aus dem Nichts und die Todesursache bleibt uns verborgen. Herzstillstand ist die Diagnose. Und wenn wir die Diebe erschießen würden, brächte uns das nicht weiter. Außerdem wäre Missmut unter der Bevölkerung vorprogrammiert, wenn wir jeden zweiten Tag jemanden auf offener Straße erschießen würden. Ja, einfach ist unser Job sicher nicht.

Als ob sie wüsste, wer von uns dreien der Unerfahrenste ist, rennt Azur auf Julian zu und springt ihn regelrecht an. Kurz ist der blonde Mann von dieser Offensive überrascht und geht in Verteidigungsposition. Das nutzt die Diebin, legt Julian die Hände auf die Schultern und springt einfach über ihn hinweg. Ich fluche und jage ihr nach.

„Vinc!“, rufe ich und deute nach links.

Schon weicht er in eine Nebenstraße aus und wird versuchen, die Diebin an anderer Stelle abzupassen. Julian, wild entschlossen, seinen Fehler wieder gut zu machen, ist dicht neben mir. Am liebsten hätte ich ihn die Verfolgung über die Dächer fortführen lassen, doch er ist noch nicht so schnell im Erklimmen der Hauswände. Das muss ich in nächster Zeit ändern. Also gebe ich noch mehr Kraft in meine Schnelligkeit und merke, wie der Abstand zu der Diebin geringer wird.

Da fällt mir etwas auf. Ich bin Azur gestern sehr nah gekommen und kann ihre Größe daher recht gut einschätzen. Heute erscheint sie mir größer und auch nicht ganz so grazil, was mich stutzig macht. Wie Schuppen fällt es mir von den Augen.

„Verdammter Mist, das ist nicht Azur!“, rufe ich in das Mikro an meinem Handgelenk. Julian sieht mich fast entsetzt an, während ich Vincent fluchen höre.

„Dann dreht um! Ich kümmere mich um die Lady hier“, versichert Vincents Stimme in meinem Ohr. Ein Schatten fällt vom Himmel und mein Partner rollt sich nur einen Meter von der unbekannten Diebin ab. Ich nicke ihm zu und spurte wieder zurück.

Wenn das ein Ablenkungsmanöver war, hätte Azur genügend Zeit gehabt, in aller Ruhe den nächsten Traum zu stehlen. Ich bedeute Julian nun doch, auf die Dächer zu wechseln, und spurte so schnell es geht zurück zu Richter Lorenz‘ Haus. Fast habe ich die Straße erreicht, als ich ein leicht flaues Gefühl im Bauch spüre. Wild fluche ich. Dieses Gefühl sagt mir, dass ein Traum gestohlen wurde, aber das heißt nicht, dass sich Azur mir erneut entziehen kann. Schlitternd komme ich am Zugang zu der schmalen Seitengasse zum Stehen. Mit Sicherheit nimmt Azur wieder die Feuerleiter. Sie ist der leichteste Zugang zur Wohnung. Doch dort oben rührt sich nichts.

„Du bist zu langsam gewesen“, weist mich eine weiche Stimme auf mein Versagen hin. Als ich zum gegenüberliegenden Dach blicke, fällt mir die Gestalt auf, die oben auf der Dachkante hockt und den Kopf auf eine Hand stützt.

„Und du musst mich natürlich auch noch verhöhnen“, knurre ich. Wild rasen meine Gedanken, um einen Weg zu finden, die Diebin noch zu schnappen. Julian müsste ebenfalls fast heran sein, also muss ich Azur nur etwas hinhalten. Die Diebin strafft sich, als hätten meine Worte sie getroffen.

„Nein, ich will dich nicht verhöhnen. Ich will dir noch eine Chance geben.“ Sogar auf die Entfernung hin kann ich die Erregung in ihren Augen sehen. Heiße Wut lässt mich fest die Zähne zusammenbeißen.

„Für dich bedeuten diese Diebstähle wohl nur Spaß“, vermute ich mit finsterer Stimme.

Azur reißt die Augen auf und steht voller Empörung auf. „Nein, da missverstehst du etwas.“

Sie greift in eine Tasche ihres Mantels und sofort bin ich bereit auszuweichen. Doch sie zieht bloß eine Traumperle hervor. Sie sieht wunderschön aus in ihren schwarz behandschuhten Fingern, makellos und golden funkelnd. „Dies hier ist nur ein Job, den ich machen muss. Aber mit euch Behüter ein wenig Fangen zu spielen, macht durchaus Spaß.“

Einen Moment weiß ich ob ihrer Anmaßung keine Worte zu finden. Bevor ich antworten kann, taucht Julian auf und stürzt sich ohne zu zögern auf Azur.

Die scheint kurz ehrlich überrascht zu sein, doch ist sie zu erfahren für den jungen Mann. Sie erlaubt ihm, dass er sie packt, greift aber gleichzeitig nach seinem Kragen, lässt sich nach hinten fallen und drückt dem Mann den Fuß in den Bauch. Zur Untätigkeit verdammt, muss ich vom Boden aus zusehen, wie Julian durch seinen eigenen Schwung über die fallende Azur hinwegfliegt und direkt in den Abgrund der Straßenflucht stürzt.

„Julian!“, rufe ich entsetzt.

Die Mauer besitzt keine Fenster wie ihr Gegenpart gegenüber und der junge Mann hat keine Chance, sich irgendwo abzufangen. Er würde die knapp vier Stockwerke ohne Bremsung hinabstürzen. Ich spurte los, um ihn irgendwie aufzufangen, aber ich weiß jetzt schon, dass es für uns beide äußerst schmerzhaft werden wird. Wenn wir Glück haben, überstehen wir es mit ein paar Knochenbrüchen.

Soweit kommt es aber nicht.

Noch bevor Julian einen Meter hinabstürzt, packt eine zarte, behandschuhte Hand seine hilfesuchend nach oben gereckte. Azur, die sich blitzschnell auf den Bauch gedreht hat, hält seinen Fall auf und wird dabei selbst fast über den Rand des Flachdaches gezogen. Es muss eine gewaltige Kraftanstrengung sein, den Mann erst zu halten und dann wieder hinaufzuziehen. Doch Julians zweite Hand erreicht die Kante und er hievt sich geschwind hoch.

Azur wirft mir einen Blick zu und ergreift die Flucht, bevor Julian ganz hinauf kommt. Ich folge ihr nicht. Eher bin ich zu überrascht und weiß nicht, was ich von dieser Aktion halten soll. Azur hat gerade Julians Leben gerettet.

***

Jess

Mein Herz klopft immer noch, als ich bereits zu Hause und aus dem Mantel sowie dem hautengen Bodysuit geschlüpft bin. Eigentlich hatte ich wirklich nur Lust auf ein wenig Sparring mit dem Lockenkopf gehabt. Dass es gleich so eskaliert, habe ich nicht kommen sehen. Aber zum Glück konnte ich den Blondschopf noch retten, ehe er am Boden der Straße zerschlagen wäre. Er muss wirklich ganz frisch von der Ausbildung kommen, wenn er sich von mir so leicht abwehren lässt. Mit seinem Kollegen hätte ich wohl mehr zu tun gehabt.

Bei dem Gedanken an ihn kommt mir der wütende Blick wieder in den Sinn und ein schweres Seufzen entringt sich meiner Kehle. Wieso verstanden Behüter nicht, dass nicht jeder Dieb stiehlt, weil es ihm Spaß macht oder weil er eine finstere Seele besitzt?

Ich schüttle den Kopf, weil diese Gedanken müßig sind, und ziehe die Mappe aus meinem Mantel. Ich befreie meine Haare aus dem strengen Dutt und gehe hinüber in meine kleine, aber gemütliche Küche, um mir einen Tee zu machen. Schlafen zu gehen lohnt sich nicht mehr. Es ist bereits halb sechs und um acht muss ich an der Uni sein. Müde reibe ich mir über die Augen. Wenigstens habe ich vor dem Einsatz vier Stunden schlafen können, aber am Wochenende würde ich viel nachzuholen haben. Studieren, nebenbei arbeiten und nachts noch Träume stehlen laugt wahrlich aus. Hoffentlich lässt mich Saphir verschnaufen, wenn dieser Auftrag vorbei ist.

Ich mache mir den Tee und setze mich dann an den kleinen Küchentisch, der gegenüber der Küchenzeile steht, um die Akte aufzuschlagen. Beeindruckt, wie viel Miranda in der kurzen Zeit herausgefunden hat, lese ich mir die Informationen durch.

Zuerst kommt Julian, der kleine Blondschopf. Tatsächlich hat er seine Ausbildung erst vor wenigen Wochen abgeschlossen. Kein Wunder also, dass er so ungeschliffen wirkt. Er wird mir bei meinen Einsätzen kaum Probleme bereiten. Was mich stutzen lässt, ist sein IQ. Der Junge ist ein wahres Genie und scheint damit seine körperlichen Makel auszugleichen. Vor ihm muss ich mich also als Jess bedeckt halten. Ein falsches Wort und er würde vielleicht Verdacht schöpfen.

Ich blättere weiter und sehe auf dem nächsten Bild den tätowierten Schönling. Vincent ist Mitte zwanzig und mich beeindrucken seine Ergebnisse im Nahkampf. Scheinbar ist er sehr stark und geschickt, doch nicht sonderlich schnell, was ich ebenfalls zu meinem Vorteil ausnutzen kann. Ausgebildet ist er in insgesamt sechs Nahkampftechniken und zudem ein sehr geschickter Kletterer.

Eine Seite weiter blickt mir der Lockenkopf vom Foto entgegen. Sein Name ist Cedric und scheinbar haben er und Vincent die Ausbildung zusammen absolviert. Als ich seine Referenzen lese, verziehe ich den Mund. Er wird mir tatsächlich die meisten Probleme bereiten. Er ist nicht nur geschickt und äußert gut ausgebildet, sondern auch noch clever. Keine gute Mischung, wenn man zusätzlich seinen Biss und das scheinbar große Temperament hinzuzählt. Ich stutze, als mir sein Nachname auffällt. Er ist ein Connors. So heißt eine der einflussreichsten Familien der Stadt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Sohn dieser Familie zu den Behütern geht. Ich greife nach meinem Handy und suche im Internet nach der Familie.

„Hm“, mache ich überrascht. Tatsächlich heißt der einzige Sohn der Connors Cedric. Ein älteres Foto findet sich auch und bestätigt mir meine Vermutung.

„Wie hast du es denn aus den Verpflichtungen dieser Familie geschafft?“, murmle ich und blicke auf das Foto hinab. Meine Lippen zucken belustigt. Mit den beiden Piercings und dem kühnen Blick sieht er wirklich nicht aus wie ein Kind aus gutem Hause.

Erheitert blättere ich weiter und seufze auf. Leander gehört also tatsächlich zu der Truppe. Er ist der Einsatzleiter und auch mit Ende zwanzig der Älteste. Seine Referenzen sind beeindruckend, doch liegt seine Stärke in der Analyse und Taktik. Kein Wunder also, dass er die Einsätze koordiniert. Wahrscheinlich sogar aus meinem Lieblingscafé heraus …

Nachdenklich klopfe ich mit dem Finger auf die Mappe. Eigentlich sollte ich mich von diesen vier Männern fernhalten und vielleicht sogar meinen Nebenjob in dem Dekoladen aufgeben. Andererseits ist es unwahrscheinlich, dass sie herausfinden, in welche Rolle ich nachts schlüpfe und Miranda hat mir ebenfalls geraten, mich von Saphir nicht von meinem Privatleben abhalten zu lassen. Was soll schon passieren, wenn ich ihnen ab und an als Jess begegne?

***

Nach diesen Überlegungen ist es nicht überraschend, dass ich auf dem Weg zur Uni kurz bei Leander für einen Kaffee anhalte.

„Guten Morgen, Jess“, begrüßt er mich. Leander ist groß und ein wenig schlaksig, doch wirkt er mit den kurzen, dunklen Haaren und dem gut gestutzten Bart sehr reif.

„So früh schon gute Laune?“, frage ich und unterdrücke ein Gähnen. Bis auf die morgendlichen Kunden ist niemand im Rockkitten. Scheinbar sind die Behüter noch unterwegs. Ein wenig enttäuscht mich das.

„Natürlich! Draußen geht die Sonne auf und ich werde schon jetzt mit deiner Anwesenheit beehrt. Da kann man doch nur gute Laune bekommen“, meint Leander und bringt mich trotz meiner Müdigkeit zum Lachen.

„Musst du heute arbeiten?“, fragt er mich.

„Nein, ich habe den ganzen Tag Uni und bin nur für einen Kaffee und einen netten Plausch vorbeigekommen.“

„Jederzeit gerne und wenn du dadurch Geld in meine Kasse bringst, macht mich das noch glücklicher.“

Er reicht mir meinen Becher und ich will noch etwas erwidern, doch da stützt sich plötzlich Vincent neben mir an die Theke und sieht mich mit einem einnehmenden Lächeln an. So nah bin ich ihm noch nie gekommen und fast hätte ich ihm aus Reflex meinen Kaffee ins Gesicht geschüttet. Stattdessen japse ich nur überrascht.

„Guten Morgen, Schönheit. Dich nach einer anstrengenden Schicht zu sehen, versüßt mir den Feierabend“, raunt er mir mit einem breiten Grinsen zu. Vincent ist groß, durchtrainiert und von einer fast ehrfurchtgebietenden Makellosigkeit, aber es sind eher seine Worte, die mich sprachlos machen. Hat er mich gerade angebaggert?

„Vincent“, wirft Leander missbilligend ein. „Lass Jess in Ruhe. Sie hat es eilig.“

„Zu schade.“ Vincents Blick sagt deutlich, dass er mit mir gern ganz woanders hingehen würde.

„Ähm“, mache ich, „ich gehe dann besser mal. Bis dann.“

„Ciao, Jess“, sagen die beiden Männer fast im Chor.

„Morgen darfst du mir gern wieder den Morgen versüßen“, ruft mir Vincent hinterher.

Ich schnaube belustigt und drehe mich im Laufen noch einmal um. „Das muss ich mir aber noch sehr genau überlegen. Die Auswahl der Kandidaten, die den Morgen versüßt haben wollen, ist so groß!“

Vincent lacht und ebenfalls lächelnd wende ich mich um, damit ich die Tür nicht verfehle. Doch dort, wo ich meinen nächsten Schritt hinsetzen will, steht bereits jemand. Mit Leichtigkeit hätte ich ausweichen können, doch in dem Bruchteil einer Sekunde erkenne ich dunkle Locken und die schwere Kleidung der Behüter, weswegen es zu auffällig wäre, wenn ich nicht mit ihm kollidiere. Also pralle ich gegen Cedric und wäre tatsächlich fast umgefallen, weil ich genauso gut gegen eine Mauer hätte laufen können. Eine Mauer hätte allerdings nicht hilfsbereit nach mir gegriffen und mich in einer aufrechten Position gehalten.

„Entschuldigung“, sage ich und reibe mir über die Nase, die ich mir an seiner Brust gestoßen habe.

„Schon okay. Dir hat es scheinbar mehr wehgetan als mir“, stellt Cedric fest, während sich Julian an uns beiden vorbeidrückt und ziemlich schlecht gelaunt zu Vincent und Leander geht. Scheinbar hat dem jungen Mann diese Nacht keine Freude bereitet. „Aber das nächste Mal solltest du vielleicht auch in die Richtung blicken, in die du läufst.“

Cedrics Worte sind nicht zurechtweisend, sondern mit einem gewissen Grad an Humor ausgesprochen, weswegen ich mit einem Lächeln antworte. „Und damit verhindern, dass ich neue Leute kennenlerne? Das will ich nicht riskieren.“

Ein Grinsen zeigt sich auf Cedrics Gesicht, das mich einen Moment gefangen hält. Manche Menschen besitzen ein Lächeln, dem man nicht widerstehen und für das man sie mehr als beneiden kann. Cedric ist solch ein Mensch. Kurz mustert mich der Mann mit seinen braunen Augen, die erstaunlich viel Wärme bergen.

„Dann sollten wir diese Gelegenheit nutzen“, sagt er schließlich und hält mir seine Hand entgegen, während er die andere lässig in seine Hosentasche schiebt. „Ich bin Cedric.“

Kurz zögere ich und greife dann nach seiner Hand. Sie ist angenehm warm und kräftig. „Jess.“

„Es war schön, dich kennenzulernen“, bemerkt Cedric und zwinkert mir zu, bevor er sich abwendet und zu seinen Freunden geht. Auch ich gehe und verlasse das Café, frage mich jedoch, wieso meine Wangen plötzlich so heiß sind und mein Herz wie wild klopft.

Kapitel 4

Jess

Die nächsten beiden Wochen gehen vorbei, ohne dass mir die vier Behüter größere Beachtung schenken als einer jungen Frau, die sie ab und an in einem Café treffen. Drei weitere Besuche muss ich dem Richter abstatten und jedes Mal begegne ich den Jungs, wobei bei unserem beruflichen Aufeinandertreffen oft die Situationen auftreten, die ich vermutet habe.

Vincent ist ein ausgezeichneter Kämpfer, aber recht langsam. Ihm entkomme ich sehr leicht, wenn ich schnell genug bin und ihm nicht zu nah komme. Dafür muss ich mich sehr in Acht vor ihm nehmen, wenn ich als Jess unterwegs bin. Er scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, mir hinterherzustellen.

Julian bereitet mir nicht viele Sorgen. Er ist ungeschliffen und zeigt kein sonderlich großes Talent als Behüter. Er scheint mir dadurch ein wenig fehl am Platz, wurde von Leander aber wohl wegen seines Verstandes in die Gruppe aufgenommen. Das ist nur verständlich, wenn ich bedenke, wie heißblütig Vincent und Cedric sind. Zum Glück interessiert sich der blonde Mann nicht für mich als Jess, weshalb ich eine Aufdeckung meiner zweiten Identität nicht fürchte.

Und dann wäre da noch Cedric. Er ist irgendwie … interessant. Schneller und energischer als Vincent ist er es, der mir während unserer Zusammentreffen am meisten Probleme bereitet. Geschickt erlernt er meine Art zu kämpfen und hat es beim letzten Mal glatt geschafft, meine Hand zu packen. Dass ich ihm danach die seine schmerzhaft verdrehte, hat ihm den ganzen nächsten Tag die Laune verdorben. Das weiß ich, weil ich mich entschieden hatte, nach meiner Schicht noch im Rockkitten zu lernen und den Jungs somit begegnet bin.

Miranda findet die ganze Situation sehr lustig und ermutigt mich auch, weiterhin das zu tun, was mir Spaß macht. Und das machen die Jungs. Sie erheitern mich. Genau wie die Leute aus meinem Studium geben sie mir das Gefühl, normal zu sein. Obwohl man es schon als ziemlich tollkühn bezeichnen kann, dass ich die Nähe meiner Feinde suche.

„Hey, Jess“, säuselt Vincents Stimme dicht an meinem Ohr.

Mein Herz bleibt eine Sekunde stehen, denn ich mag es nicht, wenn er auf Flirtkurs mit mir geht. Das macht mich nervös. Eigentlich wollte ich gerade den Außenbereich des Dekoladens reinbringen, da wir in zehn Minuten schließen, und der Behüter scheint das ausnutzen zu wollen.

„Hi, Vincent. Ich habe leider gerade keine Zeit für dich“, versuche ich ihn abzuwimmeln, aber heute funktioniert das wohl nicht.

„Wenn du Schluss hast, wäre doch ein Kaffee drin, oder?“, fragt er und lehnt sich lässig an den Eingang zum Laden, sodass ich nicht vorbei kann. Er sieht mich mit einem Blick an, der wohl schon bei vielen Mädchen für weiche Knie gesorgt hat, eine Mischung aus Verführung und Versprechen, doch mich lässt er kalt. Ich bin in der rauen Welt der Diebe aufgewachsen und habe gelernt, Männern nie auch nur den kleinsten Hoffnungsschimmer zu lassen, da sie sich sonst einbilden, öfter Annäherungsversuche zu starten, oder sie am Ende gar handgreiflich werden.

„Nein, dafür habe ich keine Zeit. Ich muss noch ein paar Sachen für die Uni fertig bekommen.“

Auffordernd sehe ich ihn an, damit er mir Platz macht. Seit ich ihm und den anderen das erste Mal als Jess begegnet bin, kommt er häufig früher zum Rockkitten, damit er mich nach der Arbeit abfangen kann. Ständig fragt er mich nach einem Date und immer sagte ich bisher Nein.

„Ach komm, ein Kaffee tut doch nicht weh“, bleibt er beharrlich.

„Vinc, lass sie in Ruhe. Du machst sie nur nervös mit deiner Buhlerei“, unterbricht ihn eine neue Stimme.

Überrascht sehe ich über meine Schulter und atme auf, als ich Cedric erkenne. Er hat Vincent recht gut im Griff, wodurch ich hoffe, ihn bald los zu sein. Eine Hand in seiner Jeans vergraben und lässig eine Zigarette rauchend, steht Cedric hinter mir. Tief inhaliert er den Rauch und ich kann ihm den Genuss dabei ansehen.

Irgendwie sind die vier Behüter, die ich inzwischen fast jeden Tag sehe, ganz anders, als ich immer dachte. Wenn ein unabhängiger Beobachter sie neben mir sehen würde, hätten sie die besseren Karten, zu den Dieben gezählt zu werden als ich. Durch Cedrics Piercings und Vincents Tattoos, genauso wie durch ihre selbstbewusste Lässigkeit, die oft dunklen Klamotten und den kleinen Funken Gefahr, den sie zu versprühen scheinen, wirken sie viel düsterer als ich es jemals könnte.

„Ach, Ced, du bist ein Spielverderber“, beschwert sich Vincent mürrisch, gibt aber den Weg in den Laden wieder frei.

„Das bin ich nicht und das weißt du ganz genau, aber Leander will den nächsten Einsatz besprechen.“

Vincent wirft mir einen Blick zu, wohl weil er in meiner Gegenwart nicht darüber reden will. Es ist schon irgendwie witzig, dass diejenige, die sie so gern fangen wollen, direkt neben ihnen steht. Ich verkneife mir ein Lächeln bei dem Gedanken.

„Na gut, aber irgendwann bekomme ich meinen Kaffee, Jess“, meint Vincent überzeugt, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und schlendert über die Straße zum Café.

„Dir ist bewusst, dass er nicht aufgeben wird?“, fragt Cedric und zieht meine Aufmerksamkeit wieder auf sich, gerade als er langsam den inhalierten Rauch in den Himmel bläst. Ich gebe ein bestätigendes Brummen von mir, weil ich das nur zu genau weiß. Die Sorte Mann, zu der Vincent definitiv gehört, kenne ich genau, denn solche Trophäensammler gibt es zuhauf in der Gilde.

„Sag einfach Ja und tu dann während des Dates besonders uninteressant. Das ist die beste Methode, ihn loszuwerden“, verrät Cedric und zwinkert mir mit einem Lächeln zu, bevor er seine Zigarette auf die Straße schnippt und Vincent folgt.

Ich sehe ihm mit einem leisen Seufzen nach, denn ich bin verwirrt. Seit wir uns einander vorgestellt haben, tauschen Cedric und ich immer mal wieder ein paar Worte aus und mir scheint, dass unsere Gespräche länger werden. Irgendetwas an ihm macht mich neugierig, schürt in mir den Wunsch, mehr über ihn zu erfahren. Er bringt in mir etwas zum Klingen, das ich noch nie vorher gespürt habe und das, obwohl er nichts Besonderes macht.

Dadurch, dass mir dieses Gefühl vollkommen neu ist, kann ich es nicht genau einordnen, aber fast könnte ich meinen, dass er mich anzieht. Was ausgeschlossen ist! Natürlich, er ist hübsch und sein Lächeln überaus attraktiv. Aber solchen Menschen bin ich auch früher schon begegnet und die haben mich vollkommen kaltgelassen. Doch bei ihm ist das anders. Ich freue mich inzwischen, ihm zu begegnen. Sowohl als Azur als auch als Jess. Und irgendwie macht mir das Angst …

Da klingelt mein Handy und allein durch den Klang weiß ich, dass es sich um Saphir handelt. Ich runzele die Stirn und ziehe das Gerät aus meiner Hosentasche. Er benötigt mich in letzter Zeit häufig. „Ja?“

„Jessica, ich will dich in einer halben Stunde sehen.“ Das ist alles und bevor ich etwas erwidern kann, legt er auf. Mit einem weiteren Seufzen gehe ich in den Laden, um abzuschließen. Dann wird aus dem Lernen heute wohl nichts mehr.

***

Cedric

Mein Blick wandert automatisch zum Fenster, als ich bemerke, wie Jess gegenüber abschließt und dann auf ihre Armbanduhr sieht. Was diese ihr zeigt, scheint ihr nicht zu gefallen, denn sie runzelt die Stirn und eilt dann die Straße entlang. Ich sehe ihr nach und kann währenddessen die Augen nicht von ihr nehmen. Sie trägt heute eine Jeansshorts und eine Strumpfhose darunter. Ihr schwarzer Mantel fällt so weit hinab, dass es fast scheint, als ob sie nichts darunter trägt. Ihre Stiefel liegen eng an ihren Waden an und während sie die Straße hinabgeht, fällt mir auf, wie anziehend ihr Gang wirkt. Er hat etwas Geschmeidiges, wie bei einer Katze – was mir sehr gefällt. Nachdenklich ziehe ich meine Unterlippe und damit auch mein Piercing zwischen die Zähne. Bisher haben wir nur Belanglosigkeiten ausgetauscht, die ich jedoch sehr genossen habe. Jess hat etwas Besonderes an sich, das ich nicht erklären kann.

„Da läuft meine Verabredung davon“, murrt Vincent neben mir und blickt Jess ebenfalls hinterher.

„Ganz ehrlich, Vinc? Du kannst sie dir abschminken. Sie sagt auch noch in zehn Jahren Nein zu dir“, prophezeit Leander und stellt einen Kaffee vor mir ab. Nun dreht sich auch Julian zu Jess um, gerade als sie zurückblickt, um den Verkehr abzuschätzen und dann über die Straße aus unserem Blickfeld verschwindet.

„Sie sieht müde aus“, stellt unser Neuling fest.

„Wahrscheinlich ist es nicht einfach, Arbeit und Studium unter einen Hut zu bringen“, meine ich. Zwar habe ich als Bester meines Behüterjahrgangs abgeschnitten und ich bin weiß Gott nicht dumm, aber Lernen ist nichts für mich. Die vier Jahre Ausbildung haben gereicht und ich brauche den Nervenkitzel der nächtlichen Einsätze. Ein Studium wäre mir zu langweilig.

„Also?“, frage ich, um auf das eigentliche Thema zurückzukommen. „Was liegt an?“

Leander schnaubt und greift hinüber zum nächsten Tisch, wo eine Zeitung liegt. „Du solltest außerhalb der Arbeit vielleicht öfter einmal Nachrichten sehen.“

Schicksalsschwanger lässt er die Zeitung auf unseren Tisch fallen. Vincent und ich beugen uns darüber, während Julian nur von seinem Kaffee trinkt. Scheinbar hat er seine Hausaufgaben gemacht.

„Das ist nicht den ihr Ernst, oder?“, fragt Vincent außer sich und reißt die Zeitung an sich, um die Titelstory zu lesen. Mir reicht allein schon die Schlagzeile und frustriert streiche ich mir mit beiden Händen durch die Haare. Groß und Breit wird in diesem Artikel unser Versagen beschrieben.

Vincent lässt es sich natürlich nicht nehmen und liest ihn laut vor: „Heute am frühen Morgen fiel das Urteil über den ausländischen Diplomaten, der während seiner Amtszeit an mehreren, für unser Land schädlichen Aktionen teilgenommen haben soll. Darunter zählen sowohl manipulative Beratungen wichtiger Politiker, Bestechung und ein Mord. Obwohl sein Heimatland und unser direkter Nachbar ausdrücklich darum gebeten hat, selbst ein Urteil über ihn fällen zu dürfen, entschied sich der oberste Richter Siegmar Lorenz, diesem Gesuch kein Gehör zu schenken. Entgegen all seiner Berater bestrafte er den Diplomaten nicht mit einer milden Geldbuße, um ihn dann seiner eigenen Justiz auszuliefern, sondern verurteilte ihn zu der Höchststrafe unseres Landes: Tod durch öffentliche Hinrichtung.“

Bei dieser Eröffnung fluche ich hemmungslos und trete fest gegen den Tisch, sodass die Tassen darauf unwillig klirren und einige andere Gäste überrascht zu uns schauen. Aufgebracht springe ich von meinem Stuhl. „Ein demütigenderes Urteil konnte es gar nicht geben. Es denunziert unseren Nachbar, setzt sein Urteilsvermögen öffentlich herab und lässt die Spannungen nur weiter wachsen!“

„Komm runter, Ced“, meint Leander ruhig und zieht mich wieder auf meinen Stuhl. Aber ich kann gerade nicht still bleiben.

„Und das alles nur, weil wir Azur nicht aufhalten konnten!“

„Das muss nicht allein daran liegen. Vielleicht war das wirklich Richter Lorenz Meinung und hat nichts mit seinen gestohlenen Träumen zu tun“, wirft Julian ein.

„Das denkst du doch nicht wirklich, oder?“, fragt Vincent finster.

Julians Schweigen ist Antwort genug.

„Nimm es dir trotzdem nicht so zu Herzen, Ced“, sagt nun auch Leander. „Es liegt nicht daran, dass wir Azur nicht aufhalten konnten. Sie ist auch nur ein kleiner Teil von vielen. Das Problem sitzt tiefer.“

„Saphir“, knurre ich.

Leander nickt. „Er ist das Übel, das alle Diebe zusammenhält. Ohne ihn würde die Diebesgilde zerfallen.“

„Oder ein neuer Anführer übernimmt das Zepter“, wirft Julian ein.

Vincent sieht ihn mit finsterem Blick an. „Man, musst du immer so negativ denken?“

„Wohl eher realistisch.“

„Unwichtig“, unterbreche ich die beiden. „Um Saphir kümmern sich andere. Unsere Aufgabe war es, Azur aufzuhalten, doch damit sind wir gescheitert. Wir wissen nicht, was der Diebesboss damit bezweckt, aber es kann nichts Gutes bedeuten.“

Damit stehe ich auf und schnappe mir meine Jacke.

„Was hast du vor?“, fragt Vincent und folgt meinem Beispiel.

„Was wohl? Meinen Frust an ein paar Dieben auslassen. Und gnade Azur Gott, wenn sie mir heute Nacht in die Finger gerät.“

***

Jess