Azurum - Das letzte Spiel - Stefanie Bender - E-Book

Azurum - Das letzte Spiel E-Book

Stefanie Bender

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Beschreibung

Mehrere Erdbeben erschüttern die Mainmetropole Frankfurt und hinterlassen einen rätselhaften, blauen Krater, der undurchdringlich erscheint. Als ihr Bruder Joshua spurlos darin verschwindet, macht sich Tabea widerwillig mit dem Freigeist Lily auf die Suche nach ihm. Ihre gefährliche Reise durchs Blau offenbart düstere Wahrheiten und macht sie zu Figuren in einem grausamen Spiel. Kann es Hoffnung geben, wenn jeglicher Glaube zerstört wurde und die Würfel längst gefallen sind?

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© 2023 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat: Susanne Junkel

Printed in the EU

ISBN TB 978-3-95869-533-7Alle Rechte vorbehalten

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amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

v1/23

Stefanie

Bender

Das letzte Spiel

Wie alt ist das Leben?

Nicht unsere Welt, mit all ihren Wundern, nein,

das Leben selbst, wie alt ist es?

Kannst du dir vorstellen,

dass es vor unserer Welt bereits eine gab,

die es geschafft hatte, weiter zu existieren?

Eine Welt, die unserer ähnlich war, doch scheiterte?

Gab es vor unserem Dasein eine Welt,

die mit zwei Menschen begonnen hatte,

Mann und Frau – ohne Evolution?

Und die Welt davor, wie sah diese aus?

Wurde sie unmittelbar mit tierischem Leben beglückt,

oder war auch diese ein Zufallsprodukt der Evolution?

Wer sagt uns schon, dass wir nur einmal leben?

Lebten wir alle schon einmal,

in einer alten Version dieser Welt?

Und was ist jetzt? Scheitern wir erneut?

Wann ist das Ende der hiesigen Welt erreicht?

Wird eine Neue beginnen?

Oder wird alles enden?

Mit uns? Ohne uns?

prolog

Über den Dächern des Ortes zogen sich die Wolken zusammen. Die Sonne war machtlos gegen das aufkommende Dunkel. In der Ferne hörte man ein Donnern. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt. Klischeebeladen, als wüsste das Wetter, dass der Tod nahte.

Das Grollen wurde lauter. Die ersten zarten Tropfen fielen vom Himmel und verdampften in der Hitze, bevor sie den Asphalt berührten. Der Alkohol aber war nicht verdunstet. Er tat seine Wirkung. Gemischt mit den Antidepressiva im Körper einer Fünfzehnjährigen.

»Mami! Mami!« Das Kind zupfte aufgeregt am Mantel seiner Mutter und deutete mit der freien Hand zum Brückengeländer hinüber. »Mami! Schau doch mal.« Die Frau schnaufte, verdrehte die Augen und beugte sich zu ihrer Tochter hinunter. »Was ist denn los, Klara? Siehst du nicht, dass ich mich unterhalte?«

»Aber schau doch, Mami. Das Mädchen! Da drüben!« Die junge Mutter drehte sich um und sah in die Richtung, in die ihre Tochter aufgebracht zeigte. Augenblicklich verlor ihr Gesicht alle Farbe. »Um Himmels willen«, hauchte sie. Ohne ihren Blick von der schockierenden Szene abzuwenden schloss sie den eben erst geöffneten Regenschirm und lief über die Straße, dem fremden Mädchen entgegen. Ein verschlissener Rucksack lag ein paar Meter vor dem Kind auf dem Boden.

Die Frau ging in die Knie und zog aus dem offenstehenden Reißverschlussfach ein ausgeschaltetes Handy und eine Geldbörse hervor. Beides drückte sie ihrer Gesprächspartnerin, die ihr gefolgt war, in die Hand. »Ruf die Polizei!«, forderte sie ihre Bekannte auf, dann ging sie mit langsamen Schritten weiter auf das Mädchen am Brückengeländer zu.

Sie stand an der Brüstung der Autobahnbrücke und sah hinab auf den fließenden Verkehr.

Ihr Körper spannte sich an, als sie die bedächtigen Schritte und den aufgeregten Atem vernahm.

Jemand kam auf sie zu und redete mit gedämpfter Stimme auf sie ein, doch das Mädchen auf der Brücke ignorierte sie. Niemand würde sie zurückhalten.

»Kommen Sie nicht näher!«, warnte sie die Person, ohne sich ihr zuzuwenden, und lehnte sich ein Stück weiter nach vorne.

Sie war über die Stahlkonstruktion geklettert. Zwischen Leben und Tod hielten sie nur ihre Hände, die sich mit dem letzten Rest Angst am Geländer festkrallten. Aus den anfänglichen zarten Tropfen war ein Sommerregen geworden. Die Brüstung war nass und rutschig. Nasse Haarsträhnen klebten in ihrem Gesicht.

»Nicht! Bitte! Lass dir helfen. Nichts kann so schlimm sein, dass du so verzweifeln musst.«

»Sie haben ja keine Ahnung!«, schrie das Mädchen. Was glaubte sie, wer sie war? Sie wusste nichts von ihr. Von ihrem Leben. Von dem, was sie getan hatte.

Die Fremde redete und redete. Das Mädchen brüllte, sie solle still sein, doch ihre Worte hörten nicht auf. Worte, die sie nicht verstand, Worte die leer waren, wie ihr schlagendes Herz. Auf einmal heulten Sirenen, so laut und beschwörend, dass es in den Ohren schmerzte. Endlich wandte sie für Sekunden den Kopf.

Polizei, Krankenwagen. Alle waren sie auf dem Weg zu der kleinen Brücke, die über die Autobahn führte. Es war ihr egal. Sie wollte das alles nicht mehr – diesen Schmerz nicht mehr spüren, der sich in ihre Seele gebrannt hatte, wie Gift in eine Wunde.

Dann erklang ein Schrei!

Erschrocken drehte sich das verzweifelte Mädchen um. Ihre Hände krallten sich um das Geländer. Da stand ihr kleiner Bruder vor einem der Streifenwagen. Auf seinen Schultern lagen die Hände ihres Großvaters. Er hielt ihn fest, hielt ihn zurück. Er schrie nach ihr. Seine Arme weit ausgestreckt, als könne er seine große Schwester greifen. Warum ließ der Großvater ihn nicht los? Warum zwang er ihn, ihr fern zu bleiben? Hatte er Angst, sie würde ihm ein Leid zufügen? Daneben erblickte sie ihre Großmutter. Ihr Gesicht nicht erkennbar, aber das Mädchen sah ihre Schultern beben – sie weinte. Der Junge rief ihren Namen. Immer lauter und mit Tränen erstickter Stimme.

»Bitte!«, hörte sie wieder die drängenden Worte der Frau, die sie in all der Aufregung vergessen hatte. »Bitte, lass mich dir helfen!« »Geh weg!«, schrie das Mädchen. »Lass mich endlich in Ruhe!«

»Tabea!«

Das war nicht die Stimme der Frau. War sie endlich fort? »Tabea!«, da war es erneut. Ein helles, verzweifeltes Rufen. Das Mädchen auf der Brücke presste die Lider aufeinander. Das war ihr Name. Sie hörte ihn deutlich durch das Rauschen in ihren Ohren.

»Tabea. Bitte! Lass mich nicht allein! Bea!« Der Schrei des Jungen war flehend und kämpfte sich durch den prasselnden Regen in ihr Herz. Dann glitt er durch die haltenden Hände seines Großvaters und lag auf dem nassen Asphalt, den Kopf unter den Armen vergraben. Just in diesem Augenblick veränderte sich alles. Es war der Moment, in dem sie begriff: Sie stand auf einer Brücke. Sie wollte ihrem Leben ein Ende bereiten. Doch da lag Joshua auf dem eisigen Boden. Der kleine Josh, der nicht verstanden hatte, was geschehen war. Er glaubte, sie würde ihn im Stich lassen.

»Nein!« Ihr Schrei war schrill und zerriss die angespannte Stille, wie ein Schwert.

Niemals würde sie Joshua zurücklassen. Er brauchte seine große Schwester.

Tabeas Körper zitterte, als sie sich vorsichtig umdrehte und wieder über das Geländer kletterte. Da rüttelte der Großvater an Joshuas Schulter. Der kleine Junge sah endlich auf, sah, dass seine Schwester ihn erhört hatte. Er stand auf und rannte auf wackeligen Beinen los. Er rannte, stolperte und rannte weiter. Tabea kam ihm entgegen und fing ihn auf, als er erneut über seine eigenen Füße strauchelte. Joshua krallte sich in ihre Jacke, drückte seine laufende Nase an ihre Brust. »Lass mich nicht allein, Bea, bitte!«

Sie schlang ihre Arme um seinen Kopf und hielt ihn, wie es seine Mutter hätte tun müssen.

»Niemals«, antwortete Tabea, »niemals!« Dann nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und flüsterte: »Ich werde auf dich aufpassen – immer!«

über dem Blau

1 / Tabea

Die Erde bebte.

Anfangs nur ein Vibrieren - sich bewegender Stahl.

Die Frau im Fahrstuhl umklammerte die Haltestange fester. Die Türen standen offen, nur ein paar Schritte und sie hätte die enge Kabine verlassen können. Doch sie war vor Angst erstarrt.

Die Erschütterung unter ihren Füßen verstärkte sich, der Boden begann zu wanken. Dann, ein ohrenbetäubender Knall, der von den verspiegelten Wänden widerhallte.

Stöhnend sank sie in die Knie und verschränkte die Arme über dem Kopf. Ihr Atem ging stoßweise, während ihr wild pochendes Herz kurz davorstand, ihren Brustkorb zu sprengen. Sie zählte still bis fünf, um sich selbst zu beruhigen und wartete, bis die aufgekommene Übelkeit sie nicht mehr zu übermannen drohte. Erst jetzt wagte sie aufzusehen. Was auch immer geschehen war, sie musste hier raus. Sie sah durch die offene Lifttür in den Flur, der direkt zu ihrem Redaktionsbüro führte. Gleich würde sie in Sicherheit sein, sie musste nur ... Innerhalb eines Wimpernschlags bog sich das Glas der Kabine wie Gummi, dann zersprang es mit einem Schlag in tausende Scherben. Das Glas fiel in ihre Haare und ritzte ihre Kleidung auf. Mit einer Hand schützte sie ihre Augen, dann hechtete die junge Frau kurzentschlossen mit einem Sprung aus den offenstehenden Türen hinaus auf den Flur. Hastig robbte sie fort vom Fahrstuhl, der bedrohlich ächzte.

Als sie das Gefühl hatte, genügend Abstand zwischen sich und den Lift gebracht zu haben, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand und versuchte, mit kontrolliertem Atem ihrem bebenden Körper Herr zu werden.

Ein metallisch schnalzendes Geräusch drang durch das Rauschen in ihren Ohren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zum Fahrstuhl. Die Liftkabine stürzte im freien Fall hinab und das Gewicht schoss funkensprühend nach oben.

Jeden Moment würde der Knall des Aufpralls das Gebäude erschüttern. Sie presste die Lider fest aufeinander und schützte mit den Händen ihre Ohren. Es war ein markerschütternder Lärm, auf den eine bedrückende Stille folgte. Eine Ruhe, die endlich ihren Tränen freien Lauf schenkte. Sie zog die Beine eng an den Körper, legte ihre Arme und ihren Kopf auf den Knien ab und weinte. Sie ergab sich der Erleichterung am Leben zu sein und der Angst, was als Nächstes folgen würde. Dann zerfetzte ein Schrei die Stille. Sie fuhr herum. Wieder ein Schrei, nein, eher ein Rufen, ein hysterisches Rufen. Sie kannte den Namen, der wie ein Echo in ihren Ohren hallte. Hastig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und drückte sich mit dem Rücken an der Wand hinauf. Sie irrte sich nicht. Es war ihr Name, der durch die Flure hallte.

»Ich bin hier!«, wollte sie antworten, doch ihre Stimme war nur ein heißeres Krächzen. Instinktiv fühlte sie nach ihrer Tasche, aber ihre Hand griff ins Leere. Sie musste sie im Aufzug vergessen haben. Auf zittrigen Beinen stolperte sie mehr den Flur entlang, als zu laufen. Sie glaubte, der Boden würde noch immer wanken. Ihre Lunge brannte. Sie stoppte und stützte sich auf die Knie. Dann hörte sie erneut die Rufe.

»Tabea! Tabea!«

Das war Britt. Endlich konnte sie sich wieder erinnern. Sie hatte das Büro verlassen, war mit dem Aufzug in das Archiv gefahren und wieder auf dem Weg zurück in den neunten Stock, als das Beben begonnen hatte. Hoffentlich war den Anderen nichts geschehen.

»Tabea!«

»Ich ...«, sie räusperte sich kräftig, »Ich komme!« Sie lief nur wenige Meter, da sah sie schon die offenstehende Tür des Büros, in dem das Chaos ausgebrochen war. Akten lagen auf dem Boden, lose Blätter bedeckten die Schreibtische, die Deckenlampen waren zersprungen.

»Oh mein Gott, Tabea, da bist du ja!«, rief die kleine rundliche Frau, die mit verweinten Augen auf Tabea zustürmte. »Geht es dir gut?« Ihre Kollegin und beste Freundin drückte sie so fest an sich, dass Tabea die Luft wegblieb.

»Mir geht es gut. Alles in Ordnung«, hauchte sie und löste sich sanft aus der Umarmung.

»Was ist mit euch? Jemand verletzt?«

Britt schluckte schwer und schüttelte den Kopf. »So weit ist alles gut. Steffen hat eine Beule am Hinterkopf, aber die tut ihm mal ganz gut, findest du nicht auch?« Tabea konnte nicht anders, als zu lächeln. Sogar in brenzligen Situationen konnte diese lebensfrohe Frau Späße machen. Just in diesem Moment tauchte Steffen vor ihr auf. Wortlos nahmen sie sich in die Arme. Er küsste ihre Stirn, ihre Wange, dann erschrak er. Vorsichtig hob er ihre Arme und sah sich die an einer Stelle zerrissene Bluse und die darunter blutige Haut an. »Was ist passiert?«

»Ich bin aus dem Lift gesprungen«, beantwortete Tabea Steffens Frage. Das ganze Team umringte sie.

»Du bist was?«, fragte Steffen.

»Aus dem Lift gesprungen«, wiederholte Britt Tabeas Worte.

»Das habe ich gehört!«, fauchte Steffen. Britt verdrehte die Augen. »Meine Güte. Schon gut, Mister Empfindsam.« Sie drehte ihnen den Rücken zu und nahm den Telefonhörer in die Hand. »Ich ruf mal beim Foster an, vielleicht weiß der schon, was da eben los war.«

»Gute Idee, mach etwas, bei dem du mal nicht nervst!«

»Steffen!«, schimpfte Tabea, »Sei nicht immer so bösartig zu ihr.«

»Ich? Bösartig? Sie ist einfach ...«

»Ja? Was ist sie?«, Tabea hasste Streit und sie versuchte ihm entweder aus dem Weg zu gehen oder ihn direkt aus der Welt zu schaffen, doch sobald es um ihre beste Freundin ging, gab es keine Kompromisse. Darüber war sich ihr Partner im Klaren. Tief atmete er ein. »Vergessen wir das. Und jetzt sag, was meinst du denn damit, du bist aus dem Lift gesprungen?« Tabea drückte ihren Kopf an seine Brust.

»Ich war auf dem Weg zu ...« Tabeas Erklärung wurde jäh unterbrochen. Der Boden bebte. Dieses Mal war es kein Vibrieren, das den Startschuss zu etwas Größerem gab. Tabea sah nach oben. Die Decke war mit einem Netzwerk von Rissen durchzogen, die sich unaufhaltsam in Richtung der tragenden Wand ausbreiteten.

»Scheiße, wir müssen hier raus!«, rief sie.

Ein markerschütternder Knall dröhnte durch den Wolkenkratzer. Tabea hechtete unter den Bürotisch. Sie sah Britt stürzen, die noch immer den Telefonhörer umklammerte. Wie ein Maikäfer auf dem Rücken liegend schrie sie um Hilfe. Tabea schloss die Augen und zählte wieder bis fünf. Erst still, dann leise, immer wieder von vorne, bis die Erschütterungen so stark wurden, dass sie vor Angst nur noch schreien konnte. Die riesigen Fensterscheiben zersprangen und ein Regen aus Glas ging auf sie nieder. Die schweren Aktenschränke kippten. Starr vor Entsetzen blieb Tabea liegen, zusammengerollt wie ein Embryo. Der lautstarke Donnerschlag schmerzte noch immer in ihren Ohren. Jedes Geräusch kam gedämpft bei ihr an. All die Hilferufe, all die Schmerzensschreie, die von jeglichen Seiten auf sie einprasselten, nahm sie wie durch Watte wahr.

Es musste eine Detonation gewesen sein. Ein Anschlag! Terror! Große Angst bündelte sich in ihrem Inneren. Panisch umschlang sie mit beiden Armen ihren Körper.

Dann wurde es still. Die Erde hatte aufgehört zu beben, aber die darauffolgende Ruhe war nicht weniger bedrohlich. Tabea wollte aus ihrem Versteck hervorkriechen, gleichzeitig aber hielt die Furcht sie zurück. Was würde sie zu sehen bekommen, wenn sie erneut aus dem Fenster blicken würde? Leichen? Sterbende? Schwerverletzte? Eine Stadt in Schutt und Asche? Womöglich war es noch nicht vorbei. Vielleicht waren Amokläufer auf dem Weg in ihr Büro. Alles war möglich, das hatten die letzten Jahre gezeigt.

Und was war mit ihr? War sie schwer verletzt und merkte es nicht? Dem Tode nahe? Noch könnte das Adrenalin den Schmerz beherrschen.

Sie hörte Schritte. Tabea hob vorsichtig ihren Kopf und sah zu ihrer linken Seite. Schuhe. Es stand jemand neben ihrem Tisch.

»Tabea?« Steffen ging zu ihr in die Hocke und reichte ihr die Hand. »Komm, steh auf. Geht es?« Er zog sie auf die Beine und half ihr, Staub und die Glasscherben von der Kleidung zu klopfen. Steffen blutete aus zahlreichen kleinen Schnitten im Gesicht. Auch sein Hemd sah aus wie Tabeas Bluse - rissig und blutig.

Das Büro war komplett verwüstet. Ordner, Papier, Stifte, Stühle, - alles lag kreuz und quer im Raum verteilt. Der neue Drucker und das ebenso neue teure Kopiergerät – zerstört. Dann bemerkte Tabea die grüne Stiefelette mit dem glitzernden Totenkopf darauf. Sie lag neben dem in zwei Teile zerbrochenen Telefonhörer. Nur eine Person in ihrem Leben hatte solch einen Modegeschmack:

»Oh mein Gott! Britt!«

Tabea stürzte zu ihrer Freundin. Sie lag auf dem Bauch in einer Blutlache. Ein großes Stück der Fensterscheibe hatte sich in ihren Rücken gebohrt. Ihre Augen waren geschlossen. »Scheiße! Scheiße! Britt. Oh mein Gott! Warum macht denn keiner was? Ruft verdammt noch mal einen Notarzt!« Tabea schrie. Sie wusste nicht einmal, wen sie da anbrüllte. Irgendjemand musste etwas tun. Steffen schob sie zur Seite.

»Lass mich mal!« Er fühlte mit seinen Fingern Britts Puls. »Sie lebt«, bemerkte er knapp. Tabea konnte durch ihren dicken Tränenschleier nichts mehr erkennen. Wieder schrie sie: »Einen Notarzt!«

Steffen griff nach ihrer Hand und drückte sie fest.

»Liebes! Dora und Michi haben schon mehrmals den Notruf gewählt. Die Rettungskräfte sind völlig überlastet. Hörst du denn nichts?«

»Was, verdammt nochmal soll ich hören? Britt stirbt. Ich kann ...« Da hörte Tabea ein Martinshorn. Nein, zwei, drei. Und das durchdringende Geheule mechanischer Sirenen. »Um Himmels Willen, Steffen, was ist nur passiert?«

Sie hörten, wie Dora scharf die Luft zwischen den Zähnen einzog. Sie stand am zersplitterten Fenster, als sie Tabeas Frage mit zitternder Stimme beantwortete: »Eine Katastrophe!« Steffen war mit wenigen Schritten bei Dora, um sie von den Resten des Fensters des neunten Stocks fortzuziehen. Doch er hielt inne, ohne seine Hand von Doras Arm zu lösen. Wie versteinert starrte er hinaus. »Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut.« Michi trat an Steffens Seite. Einige Sekunden sah er schweigend in die Ferne, dann setzte er sich auf den Schreibtischstuhl und vergrub den Kopf in den Händen. »Fuck!«, hörte Tabea ihn zwischen den Fingern hindurch nuscheln. Konrad, der an Britts schwerverletztem Körper gewacht hatte, stemmte sich in die Höhe. Er humpelte zum zerbrochenen Fenster. Blut sickerte aus einer tiefen Wunde an seinem Bein.

»Oh mein Gott!« Konrad sprach die Worte in einer Tonlage, die Tabea einen Schauer über den Rücken jagten.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie der bewusstlosen Britt ins Ohr, dann stand sie auf und folgte ihren Kollegen ans Fenster. Was sie dort erblickte, ließ ihren Herzschlag für einen Moment aussetzen.

Unzählige verletzte Menschen, leblose Körper auf den Straßen, zusammengedrückte und auf den Dächern liegende Autos, Krankenwagen, Feuerwehr, Polizei. Brennende Gegenstände, zersplittertes Glas, Geschrei und Rufe, doch das alles nahm Tabea nur ansatzweise wahr. All ihre Aufmerksamkeit war auf etwas gerichtet, das abseits jeglicher Vorstellungskraft lag.

»Leute, seht ihr das?« Es war Michi, der fragte, doch niemand antwortete. Alle starrten nur in die gleiche Richtung. Dorthin, wo noch vor wenigen Minuten große Firmengebäude gestanden hatten.

»Das kann nicht sein«, hauchte er. »Weg, er ist weg.«

Dora tippte Michi auf die Schulter und deutete in die andere Richtung. »Das ist doch jetzt ´n Scherz?«

Tabea war klar, dass es sich keinesfalls um einen Scherz handelte. Nicht einmal die beste Fernsehsendung konnte für einen “Verstehen Sie Spaß“ – Dreh den Messeturm, das Messegelände, die Hochhäuser Kastor und Pollux, den Hammering Man und sogar den vierthöchsten Wolkenkratzer der Stadt verschwinden lassen. Nein. Das hier war bitterer Ernst.

Die Sirenen heulten mit ihren schwingenden Tönen über die Dächer der Stadt hinweg. Sie klangen nicht ab, wie es bei Probealarmen der Fall war. Sind wir im Krieg? Tabeas Gedanken rasten, überschlugen sich. Vom neunten Stockwerk aus beobachtete sie am zersplitterten Fenster die winzigen Menschen auf der Straße, die verwirrt umherliefen. Ihre Schreie drangen bis zu ihr hinauf. Es war, als hätten die Gebäude sie kurz vor ihrem Verschwinden ausgespuckt. Und an ihrer Stelle ... Dort wo einst hunderte Leute gearbeitet hatten, wo Menschen das Messegelände besucht oder auf ihre Bahn gewartet hatten, klaffte ein furchteinflößender Schlund. Ein länglicher Graben, der alles verschlungen hatte, was zuvor ein fester Bestandteil der Großstadt gewesen war.

Von hier oben sah der Graben wie ein riesiger Badesee aus, der in den Sonnenstrahlen der Nachmittagssonne in bläulichen Farben flimmerte.

»Ist das Wasser?«, frage Dora in die geschockte Stille hinein.

»Wasser? Nein. Für mich sieht das aus wie blauer Wackelpudding. Schaut doch mal, wie es an den Rändern wabert.«

»Und das willst du von hier oben erkennen können?«

»Ja, ich kann das. Vielleicht solltest du mal zum Augenarzt, bevor du mich hier wieder anfauchst!«

Tabea drängte sich zwischen Michi und Steffen, ehe die Situation eskalieren konnte. »Schluss jetzt! Ich denke, wir haben hier andere Sorgen als eure bescheuerten Streitereien. Britt braucht dringend einen Arzt. Habt ihr das vergessen?«

Nur schwerlich lösten sich die Redakteure vom Anblick der Stadt im Ausnahmezustand. Alle hatten Angst vor dem, was sie da unten erwarten würde.

»Wir müssen die Scherbe entfernen.«, stellte Steffen fest und deutete auf die bewusstlose Britt.

»Entfernen? Bist du irre?«, heischte Dora, »Sie könnte verbluten!«

»Aber so können wir sie nicht hier raus schaffen.«

»Wir müssen auf einen Notarzt warten«, meinte Michi. Steffen boxte mit einer Faust gegen Michis Brust, der dadurch ins Wanken geriet und auf einem Stapel Ordner landete. »Hast du schon mal rausgeschaut, du Dummkopf? Alle möglichen Ärzte sind da unten zugange. Entweder muss Britt mit oder sie bleibt hier. Aber wir müssen hier raus. Die Wände bekommen immer mehr Risse. Kannst du uns versprechen, dass das Gebäude nicht einstürzt oder es zu einem neuen Beben kommt?«

Michi schüttelte den Kopf, Dora sah zu Boden.

»Ich lasse Britt nicht hier! Los, holt mir den Erste-Hilfe-Kasten und ein sauberes Tuch!«

Niemals würde Tabea ihre beste Freundin im Stich lassen. Eher würde sie die Gefahr eingehen, sie noch schwerer zu verletzen, solange die Chance gegeben war, sie aus diesem Gebäude zu schaffen. Jemand stellte ihr den Koffer zur Seite und drückte ihr ein weißes Tuch in die Hand.

»Ich helfe dir«, sagte Dora und drückte Tabeas Hand. Sie nickte. Dann berührte sie den großen Glassplitter und hielt den Stoff bereit.

»Hoppla!«, flüsterte Dora, als Tabea das Stück Glas bereits in der Hand hielt. »Das ging einfach. Man kann ja auch mal Glück haben, nicht wahr?« Tabea griff nach einer Schere, zerschnitt den Stoff von Britts Oberteil und desinfizierte die Wunde, bevor sie diese mit einer Kompresse abklebte. Mehr konnte sie nicht tun. »Na, dann los jetzt!« Steffen schlang Britts linken Arm um seinen Hals. Konrad trat an ihre rechte Seite. Gemeinsam begannen sie mit der bewusstlosen Kollegin den Abstieg durch das Treppenhaus, das wie durch ein Wunder intakt geblieben war. Im sechsten Stockwerk aber legten sie Britt völlig außer Atem ab.

»Sie ist schon ganz blass und kalt!«, weinte Dora.

»Es tut mir leid, aber ich kann echt nicht mehr. Britt ist nicht gerade die Leichteste und ...«

»Ich habe eine Idee!«, rief Michi. »Im sechsten Stockwerk befindet sich doch der große Sanitätsraum. Lasst uns nachsehen, ob die alte Bundeswehr Krankentrage noch vorhanden ist. Dann können wir Britt anschnallen und einfacher nach unten tragen.«

Ohne Zögern machten sich Michi und Konrad auf den Weg. Es dauerte keine fünf Minuten, da kamen sie mit der Trage zurück und hievten Britt darauf. Währenddessen knirschte und ächzte das Gebäude aus jeder Ecke bedrohlich.

»Beeilt euch«, forderte Tabea, »Die Kompresse ist schon durchtränkt mit Blut. Wir brauchen einen Arzt.«

Sie zählten bis drei, dann hoben die Männer die Trage an, auf der die angeschnallte Britt lag. Sofort geriet Konrad ins Straucheln, die Trage kippte, Tabea stieß einen spitzen Schrei aus.

»Verflucht noch mal. Pass auf wo du hintrittst!«, fuhr Steffen Konrad an.«

Tabea sah deutlich, wie sich die Muskeln der Männer unter den Hemden anspannten. Konrads Knie zitterten, doch er hatte zum Glück wieder einen festen Stand und nickte Steffen zu. »Und nun los! Raus hier, bevor das ganze Gebäude einstürzt.« Mit gemeinsamen Kräften schafften sie es ins Freie, mitten ins große Tohuwabohu.

***

Die Sonnenstrahlen schmerzten auf ihren vom Weinen verquollenen Lidern. Sie schirmte das Gesicht mit den Händen ab. Das Heulen der Martinshörner, gemischt mit den jaulenden Sirenen, war kaum auszuhalten. Doch schlimmer war das, was sie sah, als sich ihre Augen endlich an das grelle Licht gewöhnt hatten. Tabea spürte das Herz in ihren Ohren pochen. Gab es eine Steigerungsform von Chaos?

Überall liefen Leute planlos umher. Manche verletzt, andere verwirrt. Tabea hörte sie weinen, hörte sie schreien und ... Da rempelte sie eine Frau an. Ihr dunkelgrünes Businesskostüm saß tadellos an ihrem ebenso makellosen Körper. Tabea packte sie an ihrem Unterarm, damit sie nicht zu Boden stürzte. Die Frau schaute sie an. Weit aufgerissen waren ihre Augen und ihre Haut blass. Hysterisch schrie sie Tabea an: »Weg! Es ist einfach weg. Plötzlich stand ich auf der Straße. Und dann kam der Bus. Aber ich lebe. Jemand hat mich fortgerissen. Ich lebe! Ich lebe!« Ihre Stimme überschlug sich, dann wandte sie sich von Tabea ab, eilte mit wild gestikulierenden Armen davon.

»Sind die denn alle verrückt geworden?«, fragte Konrad, der einem Mann hinterher sah, der scheinbar desorientiert etwas suchte. Konrad schüttelte den Kopf. »Scheiße Mann, wo ist der Messeturm? Wo ist der Hammering Man? Nirgends Geröll. Kein Schutt. Die sind doch nicht explodiert oder zusammengebrochen, die sind einfach ...«

»Weg! Einfach weg!«, rief ein Mann ihm schrill entgegen, der von einem Sanitäter vorbeigeführt wurde.

»Leute«, begann Steffen, »hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Das ist unsere Story!«

Tabea riss sich vom Anblick des Wirrwarrs los und sah ihrem Freund in die Augen. »Ernsthaft? Die Stadt versinkt im Chaos und du interessierst dich für eine neue Story?«

»Komm mal wieder runter, Bea! Wir müssen ...«

»Nenn mich nicht so! Du weißt, dass ich das nicht will.«

»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte er. »Was ist denn nur los mit dir?«

»Steffen!« Tabea entfuhr ein Ächzen. Fassungslos starrte sie ihn an. »Hier sind Menschen gestorben, hier sterben noch immer Menschen!«

»Das tun Menschen jeden Tag«, konterte er.

Tabea schüttelte den Kopf, dann schnaufte sie und wandte sich ab. Ein weiterer Krankenwagen kam angefahren. Tabea und Dora stoppten ihn und führten den Notarzt und seinen Sanitäter zur schwer verletzten Britt. »Wir kümmern uns jetzt um sie«, versuchte der Rettungsassistent, die wieder weinende Tabea zu beruhigen. »Wird sie es schaffen?« Der Notarzt sah nicht auf. »Sie ist aktuell stabil«, teilte er nach kurzer Pause mit. »Wir werden sie gleich in den OP fahren.«

Dora zog Tabea an den Schultern ein Stück von Britts Anblick fort und deutete auf die bläulich glitzernde Decke des Lochs. Dorthin, wo vor geraumer Zeit Gebäude gestanden hatten und Autos gefahren waren. »Los, komm, du musst dich ablenken. Lass uns mal schauen, was das blaue Ding da ist.«

Das blaue Ding war kein Ding, sondern ein riesiger Abgrund. Die wabernde Oberfläche schien dünn zu sein, wie eine feine Schicht Götterspeise. Die Sonnenstrahlen brachen hindurch und verrieten nur einen geringfügigen Teil der Dimension seiner Tiefe. Genaueres konnten die Frauen nicht erkennen, denn das Blau war weitläufig mit Flatterband abgesichert.

»Glaubst du«, fragte Dora, »dass alles dort hineingefallen ist? Wie weit geht es da runter? Wie viele Menschen sind mit in die Tiefe gestürzt?«

Bevor Tabea antworten konnte, kamen Konrad, Steffen und Michi aus unterschiedlichen Richtungen auf sie zu gerannt. »Man kommt nirgends durch«, rief Michi außer Atem, »Die haben aus allen Nachbarstädten Polizei und Security anrücken lassen. Der Schlund wird verdammt gut bewacht.«

»Schlund?«, wiederholte Tabea.

»Ja, der Mann da drüben, der mit der Wodkaflasche, hat mir erzählt, der Schlund zur Hölle wäre aufgegangen, hätte seinen Jeep verschluckt und ihn selbst ausgespuckt.«

»Das ist irre. Aber hey, mal kein Terroranschlag.« Konrad zuckte die Schultern. »Und wenn doch? Woher wollen wir das wissen? Vielleicht haben sich diese Kranken etwas Neues ausgedacht.«

»Und lassen dabei alle Menschen am Leben?«, gab Steffen genervt zurück.

»Das stimmt nicht so ganz. Viele sind in den Krankenwagen oder auf dem Weg ins Hospital verstorben. Einige Tote liegen unter Planen«, korrigierte Michi.

»Ja, aber das sind keine, deren Gebäude und Autos verschwunden sind. Die Toten sind die, die vom Beben überrascht wurden.«

»Richtig!«, bestätigte Michi und fügte hinzu: »Das wird eine Story!«

»Seid ihr denn bescheuert?«, fauchte Tabea die Männer an. »Denkt ihr nur an eure nächste große Überschrift? Verflucht noch mal, hier sind Menschen gestorben und keiner hat eine Ahnung, was geschehen ist. Schaut euch um. Alle sind in Panik, verwirrt. Die Sirenen heulen immer noch und ...«

»Auch das Netz hat keine Ahnung«, unterbrach Konrad Tabeas wütenden Redeschwall. »Ich kann auf keine App zugreifen. Das System ist tot. Habe versucht, den Chef zu erreichen. Aber auch das Telefonnetz ist am Arsch.«

»Die Menschheit ist am Arsch!«, fügte Michi theatralisch hinzu. »Jetzt hört doch endlich mal auf!« Tabea griff in ihre Hosentasche, nach ihrem Smartphone. Da erinnerte sie sich, dass sie das Handy in ihre Tasche gesteckt hatte und die mit dem Lift in die Tiefe gestürzt war. Verflucht!

»Suchst du die hier?« Dora hielt ihr eine beige Lederhandtasche vor die Nase.

»Das ist ... Aber wie ... Ich hab sie doch im Aufzug ...«

Dora schüttelte den Kopf. »Im Aufzug? Nein, du hast sie im Büro gelassen, als du ins Archiv bist. Wir sind alle etwas verwirrt, was?«

»Und du hast trotz des Chaos daran gedacht sie mitzunehmen?« Dora hob schuldbewusst die Hände. »Hallo? Das ist das Erste, wonach ich gegriffen habe, bevor wir die Treppen runter gelaufen sind: unsere Taschen!«

Tabea lächelte, dann öffnete sie die Handtasche und suchte nach ihrem Handy. Es war nicht da. Und sie war sich sicher gewesen, dass sie es heute noch nicht benutzt hatte. Auf dem Bürotisch legte sie immer nur das Diensthandy ab.

»Verdammt. Dora, hast du mein Handy rausgeholt?«

»Was?«

»Ich mein ja nur. Es ist weg.«

»Was soll das, Tabea? Ich gehe doch nicht an deinen Privatkram.« Dora schien entsetzt.

»Ja, schon gut. Sorry, es tut mir leid.« Ihre Kollegin aber nahm die Entschuldigung nicht an und wandte sich ab. »Die spinnt ja«, hörte sie Dora nuscheln. Tabea atmete tief ein und ging ein paar Schritte auf Steffen zu. »Hey, kann ich bitte mal dein Handy benutzen?«

»Wozu? Hast doch gehört, nichts geht mehr.«

»Bitte! Ich muss versuchen Joshua zu erreichen.«

»Ach Tabea, dem wird schon nichts passiert sein. Hängt bestimmt in einem Park rum und zieht sich nen Joint rein.« Nicht nur bei Britt machte Steffen aus seiner Antipathie keinen Hehl, auch an Tabeas jüngerem Bruder ließ er kein gutes Haar. »Ja, genau. Vielleicht hat er einen Joint geraucht. Vielleicht sogar hier in der Grünanlage, die vom Schlund verschluckt wurde! Ich muss ihn anrufen!«

»Ich bitte dich ...«, sagte Steffen und verdrehte die Augen. Jetzt wurde Tabea sauer. »Gib mir dein verdammtes Handy!«, schrie sie ihn an, so laut, dass sich nicht nur ihre Kollegen, sondern auch einige andere Menschen zu ihnen umdrehten. Steffen schien beeindruckt. Er zog die Augenbrauen hinauf, griff in seine Gesäßtasche, zog das iPhone heraus und drückte es Tabea in die Hand. Doch bevor sie versuchen konnte, die Nummer zu wählen, stieß sie Konrad unsanft in die Seite. »Schaut mal!« Er zeigte mit dem Finger in den Himmel. »Hubschrauber!«

Zwei Helikopter kreisten über dem blauen Schlund. Ein Dritter flog in der Höhe des Stadtzentrums und weiter in der Ferne war ein vierter zu sehen.

Das Heulen der Sirenen verebbte.

»Was ist denn nun los?« Dora hatte sich wieder zu ihnen gesellt und blickte gebannt in die Luft.

»Da vorne!«, rief Konrad. Ein riesiger Lautsprecherwagen der Polizei war im Einsatz und fuhr im Schritttempo in ihre Richtung.

›Achtung! Achtung! Es folgt eine wichtige Durchsage der Polizei: Heute gegen 14:30 Uhr kam es in Frankfurt am Main und naher Umgebung zu einem kurzen Erdbeben der Stärke 7. Im westlichen Innenstadtbereich ist die Erde aufgebrochen, wodurch ein Graben entstand, dessen Tiefe nicht zu erschließen ist. Die Polizei fordert die Bevölkerung auf, dem Graben fernzubleiben und ihre Wohnungen und Häuser aufzusuchen. Es folgen weitere Lautsprecherdurchsagen in den nächsten Stunden. Bitte bewahren Sie Ruhe! ‹

»Aha!«, machte Michi, »und dass der Messeturm verschwunden ist und der Hammering Man nicht mehr hämmert, ist eher unwichtig und wird gar nicht erst erwähnt.«

»Die wollen keine Panik verbreiten.« Michi drehte sich zur Dora um und setzte zu einer Antwort an, doch Steffen legte seine Hand beschwichtigend auf die Schulter.

»Beruhig‘ dich. Du weißt doch selbst am besten, wie die Medien sind. Im Stillen wird geprüft, ob es sich um einen Terroranschlag handelt.«

»Das ist kein Terroranschlag«, bemerkte Tabea, die hinter den anderen stand. »Woher willst du das wissen?«, fragte Dora schnippisch. Tabea überlegte, doch sie fand keine Antwort, obwohl sie sich sicher war. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es eben.«

***

Verschiedene Radio- und Fernsehteams waren eingetroffen. Sie berichteten, filmten und interviewten Einsatzkräfte und Passanten, Opfer und Angehörige.

»Verflucht!«, schimpfte Steffen. »Leute, wir müssen uns ranhalten. Hat jemand was zu schreiben dabei?«

»Ist doch egal. Die können nicht senden. Alles tot!«, winkte Michi ab. »Wir haben Zeit. Morgen gibt‘s eine Sonderausgabe von Citylive mit dem Titel: Mainhattan am Abgrund!«

Tabea hörte nicht zu. Sie versuchte wieder und wieder ihren Bruder zu erreichen, doch Michi hatte recht behalten, es war nichts zu machen. Jegliches Netz war zusammengebrochen und es würde Stunden, Tage dauern, bis das Chaos behoben war.

Grübelnd sah sie sich um. Irgendwas musste sie doch unternehmen. Am Kiosk auf der anderen Straßenseite blieb ihr Blick hängen. Es war das letzte Gebäude, bevor der Abgrund begann. Eine Wand des Hauses war zerstört und mit in das Blau gerissen worden. Genau dort stand ein junger Mann in Gedanken vertieft. Da hob er den Kopf und sah zu ihr hinüber. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie sich an, dann rief er ihren Namen: »Bea!«

»Josh!«, schrie sie zurück. Die Geschwister rannten aufeinander zu und fielen sich in die Arme. »Oh mein Gott. Ich hatte so Angst um dich. Geht es dir gut?« Sie befreite sich aus seiner Umarmung und sah ihn an, ohne ihre Hände von seinen Oberarmen zu nehmen. »Du siehst übel aus!«

»Oh, herzlichen Dank«, antwortete Josh und zog die Augenbrauen hinauf, »kann ich nur zurückgeben.«

Tabea war überglücklich. Für einen Moment vergaß sie alles um sich herum. Ihr Bruder lebte – was gab es Wichtigeres?

»Du hast dir Sorgen gemacht?«, fragte er sie, »Sorgen um mich? Ich hatte das Gefühl, dein Interesse an mir sei eher gering.«

»Wie bitte?«

»Ich war bei dir. Heute Vormittag? Schon vergessen?«, rief er ihr ins Gedächtnis.

»Heute ... Oh ja, ich ...«

»Kannst du dich erinnern, um was es heute bei unserem Gespräch ging? Es war mir wichtig.«

Wollte ihr kleiner Bruder in dieser aktuellen Ausnahmesituation über seine Zukunftsvisionen diskutieren? Das war nicht sein Ernst! Doch sie musste sich eingestehen, dass sie wirklich nicht mehr wusste, wieso die morgendliche Situation eskaliert war. Sie wusste nur, dass Joshua Lilys Namen mehrmals erwähnt hatte. War das der Grund, warum sie ihn auf dem Flur hatte stehen lassen?

»Josh, bitte, es tut mir leid. Aber können wir diese Unterhaltung nicht verschieben?«

»Also wie immer?«, fragte er provozierend und sah ihr dabei direkt in die Augen. Der linke Mundwinkel zog sich ein winziges Stück hinauf.

»Ach hör doch auf. Sieh dich mal an, du brauchst einen Arzt.«

»Nein. Die Weißkittel haben heute Wichtigeres zu tun, als meine Schürfwunden zu versorgen. Du schaust übrigens auch nicht besser aus. Was ist passiert?«

Tabea holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Oh prima. Wir könnten uns ja mal auf einen Kaffee treffen. Falls du mal Zeit hast.« Tabea merkte, dass Joshua noch immer nicht gut auf sie zu sprechen war. Sie konnte es nicht verstehen, sie machte sich nur Sorgen um ihn und seine Zukunft. Und sie musste viel arbeiten, um ihre gemeinsame Wohnung zu bezahlen. Aber das verstand ihr Bruder nicht, hatte er doch nicht mal seine Ausbildung abgeschlossen. Er vertrieb sich lieber die Zeit mit dieser Lily im Park oder auf Festivals.

»Na großartig«, schnaufte Joshua. Tabea drehte sich um. Steffen trat auf sie zu, an seiner Seite Ronny Foster, der Geschäftsführer von CityLive, ihr oberster Boss. Der Mann, der ihr die Chance gab zur Chefredakteurin aufzusteigen, falls sie sich bewährte. Doch sollte er nicht in England auf einem redaktionellen Geheimtreffen sein?

»Tabea«, begrüßte er sie mit einem knappen Nicken. »Wie ich sehe, ist das Team wohlauf. Ihr müsst sofort mit der Arbeit beginnen. Noch heute werdet ihr einen Onlineartikel veröffentlichen, denn ich habe geheime Neuigkeiten von einem Informanten aus England.«

Tabea glaubte nicht, was ihr Chef gesagt hatte. »Entschuldige bitte, aber Britt ist schwer verwundet ins Klinikum gefahren worden. Unser Team ist nicht komplett.«

»Mal ganz davon abgesehen, dass nichts mehr geht«, mischte sich Steffen ein, »Die Netze sollen alle tot sein.«

»Ja, ja«, nuschelte Ronny Foster und kräuselte sich seinen roten Kinnbart. »Ja, das mit Britt ist tragisch.« Er machte eine Kunstpause, dann sprach er weiter: »Nichtsdestotrotz dürfen wir uns diese Chance nicht entgehen lassen und bis heute Abend läuft alles wieder normal digital, wirst es sehen.« Er zwinkerte ihnen zu und fuhr fort, »und nun hört mir zu. Ich bin noch nicht lange wieder in Deutschland. Auf dem letzten Stück Autobahn, als ich schon erfahren hatte, dass es ein Erdbeben gegeben haben soll, rief mich ein Redaktionsfreund der Londonslifelights an. Und jetzt passt auf, auch in England hat ein Beben der Stärke sieben zugeschlagen. Ein riesiges Loch hat unzählige Bürogebäude und sogar Fabriken verschluckt. Menschen, die kurz davor in ihrem Büro gearbeitet hatten oder in ihren Autos saßen, wären planlos über die Straßen gelaufen. Das hier, ihr Lieben, ist kein Einzelfall. Es geschieht überall auf der Welt. Schreibt darüber. Sammelt Informationen. Macht Fotos von diesem Schlund und macht ordentlich Stimmung mit dem Artikel. Wir brauchen Aufmerksamkeit. Die Leser sind in den letzten Monaten nur geringfügig gewachsen.«

Das Team sah sich an. Keiner wusste, wie er reagieren sollte. Nur Steffen blieb nüchtern. »Mehr Infos hat dein Kontaktmann nicht zu bieten?«, fragte er.

»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Bevor er mir mehr berichten konnte, brach die Verbindung ab«, erklärte Foster. »Seither konnte ich ihn nicht mehr erreichen. Aber ich denke, das reicht fürs Erste. Ihr seid mein wichtigstes Team von Citylive. Ihr seid LifeinAction – die CityNews, ihr macht da was draus!« Foster klopfte Steffen auf die Schulter und trat direkt an Tabea heran. »Du weißt, was ich dir zum Geschenk machen werde, wenn das hier ein Erfolg wird«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Hau rein, Kleines. Ich will dich an der Spitze dieses führerlosen Haufens sehen.« Mit diesen Worten wandte er sich um und stolzierte davon. Kurz hielt Tabea inne, dann rannte sie ihm ein paar Meter hinterher, bevor sie rief. »Ronny! Bitte fahr ins Krankenhaus und sieh nach Britt. Bitte!«

Foster hob den Arm und streckte den Daumen nach oben.

»Er macht es nicht, oder?«, fragte Tabea Joshua, der hinter sie getreten war.

»Nein«, antwortete er. »Bestimmt nicht. Und du, Bea, was machst du?«

2 / Joshua

Vor dem Beben

Sein Herz schlug schwer in seiner Brust. Er strich die feuchten Handflächen über die Oberschenkel der zerrissenen Jeans. Es war nicht nur die Aufregung vor dem bevorstehenden Gespräch, es steckte mehr dahinter. Dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte, ließ ihn nicht los. Er sah sich um, blickte auf die Straße und die vorbeifahrenden Autos, auf die Menschen, die hektisch ihres Weges gingen – alles war normal, wie immer in dieser turbulenten Großstadt. Joshua schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte die Schwere auf seiner Brust doch etwas mit Tabea zu tun, schließlich war das, was er vorhatte ihr zu sagen, kein leichtes Vorhaben. Er schob es schon zu lange vor sich her. Heute würde sie ihm nicht aus dem Weg gehen können.

Joshua stieg in den Aufzug. Er drückte die abgegriffene Taste für den neunten Stock, neben der ein schmales Metallschild mit dem Logo der Redaktion befestigt war. Ein rundes, im Grunge-Style gehaltenes Emblem mit der Skyline der Stadt im Fokus. Selbst über die Stadtgrenzen hinaus, war CityLife FFM – das junge Stadtmagazin - mittlerweile bekannt und beliebt. Insbesondere ein Teil, das Redaktionsresort LifeInAction war stets in aller Munde. Überall saßen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen und lasen sich durch die Artikel über das Abenteuer Großstadt. Hier war immer etwas los. Und genau hier, bei LifeInAction arbeitete Tabea, Joshuas große Schwester.Das silberne Schild glänzte wie frisch poliert und stand im Gegensatz zum alten Wolkenkratzer, in dem die Redaktion untergebracht war.

Der Lift stoppte. Es machte Ping und die Türe öffnete sich. Joshua erwischte sich dabei, wie er an seiner Kleidung zupfte. Er zog den Mundwinkel nach oben. Da versuchte er doch, einen guten Eindruck zu machen. Wozu? Bei dem, was er Tabea gleich sagen würde, konnte kein knitterfreies Hemd etwas nutzen, welches er ohne jeden Zweifel nicht besaß. Joshua steuerte zuerst die Besuchertoilette an, betrat den Vorraum, stellte sich vor den großen Spiegel und begutachtete sich ein letztes Mal.

Er trug seine liebste Bluejeans, mit den zahlreichen Rissen und Flicken, das eng anliegende, grauschwarz gestreifte Achselshirt und darüber die mit Nieten versehene offene Lederjacke. Er sah an sich hinab und lächelte, zumindest waren seine grünblauen Docs sauber und von jeglichem Festivalmatsch befreit. Sein Blick wanderte hinauf und blieb an seiner kurzen Mohawk Frisur hängen. Ok, dachte er sich, die Haare könnten neue Farbe gebrauchen. Das kräftige Blau sah durch die zahlreichen Sonnentage mittlerweile aus wie seine Schuhe: ein ausgeblichenes Türkis. Er strich über sein stoppeliges Kinn und war zufrieden mit sich. Dann griff Joshua nach dem Anhänger an der groben Silberkette um seinen Hals und drückte ihn fest. Es war das Abschiedsgeschenk seines Großvaters gewesen.

Vor knapp sechs Jahren hatte Joshua sich entschieden, mit Tabea aus Kiel fortzuziehen, um in Frankfurt am Main neu zu beginnen. Damals glaubte er, dass es nur um ihn und Tabea gehen würde. Sie war sein Leuchtturm. Auch wenn die Großeltern sie aufgenommen und umsorgt hatten, für viele Jahre war es Tabea gewesen, die seinen Mittelpunkt im Leben dargestellt hatte. Heute fragte er sich warum, denn viel zu oft hatte seine große Schwester ihm anfangs die kalte Schulter gezeigt und ihm das Gefühl gegeben, eine lästige Fliege zu sein, die um sie herumschwirrte. Zum Glück änderte die Zeit beide Kinder. Je älter sie wurden und je weiter die Tragödie zurücklag, desto inniger wurde ihre Beziehung, desto intensiver fühlten sie sich miteinander verbunden.

Joshua war froh darüber gewesen, den Norden zu verlassen und dorthin zurückzukehren, wo er die ersten Jahre seines Lebens mit seinen Eltern verbracht hatte. Dann aber kam der Abschied und Großvater legte ihm ein schweres, silbernes Amulett in die Handfläche. Er drückte Joshuas Hand sacht zu einer Faust und bedeckte sie mit seiner eigenen.

»Der Kuss der Meduse«, sagte der alte Mann mit seiner kratzigen und zitternden Stimme, »Ich möchte, dass du ihn trägst. Er wird dich auf all deinen Wegen beschützen. Er wird dir Kraft geben und den richtigen Weg weisen.« Schweigend öffnete Joshua seine Hand und bestaunte die feinen Rillen und Verzierungen auf dem flachen runden Schmuckstück, in dessen Mitte eine Qualle abgebildet war. Schon in jungen Jahren war sein Großvater von diesen grotesken Nesseltieren fasziniert gewesen, die er wie ein Wissenschaftler studierte. Er hatte ihm nie erklären können, warum er so beeindruckt von diesen Meeresbewohnern war.

»Das hast du selbst gemacht.« Es war keine Frage gewesen. Sein Großvater nickte lächelnd. »Dreh es mal um«, forderte er seinen Enkel auf. Vorsichtig nahm er das Amulett zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen Hand und legte es auf die Rückseite. In feinen Linien waren Wörter zu lesen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Und da war er, der Abschiedsschmerz. Er traf Joshua völlig unvorbereitet und mit einer Wucht, die ihn beinahe zerbrach. Tabea und er würden weit fortziehen und Großvater und Großmutter zurücklassen. Diese zwei Menschen, die die Geschwister aufgenommen, geliebt und sich um sie gekümmert hatten, als ihr Leben in Trümmern gelegen hatte. Joshua war weinend in die Knie gesunken. Der alte Mann hatte ihn in seine Arme geschlossen, ihn festgehalten und ihm Mut zugesprochen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, hatte er gesagt. »Du wirst deinen Weg finden.«

Nun stand er hier, im Toilettenvorraum eines Frankfurter Wolkenkratzers, umklammerte das Amulett und fragte sich, was Großvater sagen würde, wenn er ihn so sehen könnte. Denn seine Großeltern wussten nichts von seiner Verwandlung, nichts von seinem neuen Lebensstil. Das hatte Großvater gewiss nicht gemeint, als er gesagt hatte, er würde seinen Weg finden.

Auf einmal schlug die Tür auf und ein Mann betrat den Raum.

»Hey, Joshua. Lang nicht mehr gesehen«, begrüßte ihn der kleine unscheinbare Kerl und blieb neben ihm stehen.

»Hi, Konrad«, erwiderte Joshua gelangweilt. »Tja, bin viel unterwegs.«

»Ja, ja. So in etwa hat es Tabea erzählt. Bist angeblich nur am Feiern, anstatt dich um deine Ausbildung zu kümmern.«

Joshua zuckte mit den Schultern und sah sein Gegenüber provozierend von oben bis unten an.

»Bisschen aus dem Bürostaub herauskommen, würde dir auch nicht schaden. Siehst aus wie eine wandelnde Leiche.«

»Besser, als auszusehen wie ein koksender Punk!«

»Liegt daran, dass ich ein Punk bin.« Konrad runzelte die Stirn. »Du nimmst wirklich Drogen?« Er schien entsetzt. Das hatte er ihm, wie es den Anschein hatte, trotz Klischeedenkens nicht zugetraut. Joshua überlegte, ob er den Kollegen seiner Schwester weiter auf die Schnippe nehmen oder ihn, verwirrt wie er war, zurücklassen sollte. Er lachte leise, dann sah er Konrad, so ernst es ihm möglich war an und räusperte sich. »Hör zu. Ich mache kein Geheimnis aus meinen Süchten. Ich brauche es einfach jeden Tag. Vor allem morgens. Direkt nach dem Aufstehen.«

»Du brauchst Hilfe, Joshua!«

»Und am Nachmittag. Weißt du, am Nachmittag ist es besonders schlimm. Bekomm ich es nicht, werde ich zum Tier. Da bin ich dann unausstehlich und nicht mehr unter Kontrolle zu halten.« Er fuhr sich theatralisch über das Gesicht und rieb sich die Augen. »Es geht schon einige Jahre so. Tabea geht es da ja nicht anders.«

Joshua sah Konrad an, direkt in sein bleich gewordenes Gesicht. Er musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten.

»Ja, weißt du, viel haben wir nicht gemeinsam, meine Schwester und ich. Aber dieser verflixte Kaffee. Tja, der ist unser größtes Laster.«

Konrad blieb der Mund offenstehen. Joshua sah, wie er die Fäuste ballte. »Du bist sowas von unmöglich!« Er schüttelte den Kopf und marschierte in Richtung Kabine, nicht ohne Joshua kurz anzurempeln. Die Tür knallte und der Riegel fiel geräuschvoll ins Schloss. Joshua grinste und musterte sein Spiegelbild ein letztes Mal.

Die Flure des Redaktionsstockwerks waren hell und lichtdurchflutet, der Boden mit petrolfarbenen Teppichläufern ausgelegt. An den Wänden hingen Kopien von Monet und Renoir, aber auch Fotografien von Frankfurter Wahrzeichen, wie dem Römer, dem Maintower und der Paulskirche. Joshua hielt selbst nichts von strengen Linien und durchgängigen Styles, doch dieser Wirrwarr war grauenhaft. Kunstdrucke von bedeutenden französischen Malern im Wechsel mit deutschen kühlen Bauwerken - das passte nicht. Und dieser Teppich - was sollte dieser mit Kaffeeflecken übersäte Vorleger? Nein, das hatte weder einen kreativen Touch, noch sprach es für Individualität. Joshua schüttelte den Kopf und dachte an Lily. Sie hätte sich vermutlich dafür begeistern können. Seine Freundin konnte sogar in einem Haufen Hundekot etwas Schöpferisches erkennen.

Joshua schlich ein paar Schritte weiter, dann stand er vor dem Büro von LifeinAction – die Citynews. Hier arbeitete seit fünf Jahren seine Schwester, stets mit der Absicht, in naher Zukunft die Abteilungsleitung zu übernehmen. Dieser Wunsch war zur Besessenheit geworden. Tabea war der festen Überzeugung, dass man all seine Aufmerksamkeit und Fähigkeiten seiner Arbeit zu widmen hatte, um erfolgreich zu sein. Ein logischer Ansatz, doch war dieser Weg nicht der falsche, wenn man alles andere dafür vergaß? Ihn zum Beispiel. Wann hatten Tabea und er das letzte Mal zusammen Spaghetti mit fertiger Tomatensoße und Hackfleischklößchen gekocht und sich damit vor den Fernseher gesetzt, um einen schlechten Horrorfilm aus den 90ern anzusehen? Joshua vermisste diese Abende. Er hatte jetzt Lily, er liebte sie heiß und innig. Aber mit ihr hing er lieber auf Konzerten ab und kuschelte sich in einen Schlafsack im Zelt, um bis in die frühen Morgenstunden über den Sinn des Lebens zu philosophieren. Lily. Als er an sie dachte, wurde ihm mulmig zumute. Er hoffte inständig, dass sie nicht Recht behielt. Denn als er ihr von seiner Absicht, mit Tabea reden zu wollen, erzählt hatte, hob sie überrascht die Augenbrauen. »Das kannst du doch vergessen!«, hatte sie gesagt, »Die wird dir nicht mal zuhören.«

Nervös stand er vor der Bürotür. Er hörte Stimmen, aber keine einzelnen Worte. Jetzt oder nie, dachte er sich. Was hatte er schon zu verlieren?

Joshua klopfte. Dreimal. Laut. Kurz. Die Stimmen verstummten.

»Ja?«, hörte er einen Mann von innen rufen. Joshua atmete tief ein, drückte die Klinke und trat in das Büro.