Babsi schwindelt - Britta Frey - E-Book

Babsi schwindelt E-Book

Britta Frey

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Beschreibung

Sie ist eine bemerkenswerte, eine wirklich erstaunliche Frau, und sie steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Alle Kinder, die sie kennen, lieben sie und vertrauen ihr. Denn Dr. Hanna Martens ist die beste Freundin ihrer kleinen Patienten. Der Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Es gibt immer eine Menge Arbeit für sie, denn die lieben Kleinen mit ihrem oft großen Kummer wollen versorgt und umsorgt sein. Für diese Aufgabe gibt es keine bessere Ärztin als Dr. Hanna Martens! Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen extrem liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Die drei Freundinnen freuten sich, wie man an den strahlenden Mädchengesichtern sehen konnte. Hörbar war die Freude auch, denn es wurde unentwegt gelacht und gekichert und herumgealbert. Man befand sich auf dem Heimweg von der Schule und hatte sich furchtbar viel zu erzählen. Kiki, die eigentlich Kirsten hieß, und Nicki, vor zehn Jahren drüben in der Marienkirche auf den schönen Namen Nicola getauft, ein sehr festliches Ereignis, woran sie sich natürlich nicht mehr erinnerte, trugen kurze luftige Baumwollkleider. Kikis war hellblau mit weißen Pünktchen, was in diesem Jahr große Mode war, während Nickis Sommerkleid die Farbe von Erdbeeren besaß, die man in Joghurt zerdrückt hatte. Das Trio vervollständigte Babsi, die an sich Babette hieß und auch zehn Jahre alt war, wie ihre Klassenkameradinnen. Babsi Berneke trug kein Kleid, sondern Jeans und ein T-Shirt. Weil sie beides nicht zu bügeln brauchte. Und noch nie hatte man eine Schleife in Babsis Haar gesehen, geschweige denn einen selbstgenähten Turnbeutel mit ihrem in Kreuzstich aufgestickten Vornamen an ihrem Schulranzen. Traurige Tatsache war nämlich, daß Babsi Berneke keine Mami mehr besaß. Das war für die anderen Kinder, die ihre Mami noch hatten und gar nicht mal besonders achteten, außer am Muttertag, weil das so üblich und gewissermaßen vorgeschrieben war, ganz schwer vorstellbar. Manchmal waren sie deshalb besonders lieb zur Babsi und kümmerten sich um sie, das heißt, sie luden sie zum Kaffee ein und waren dann immer schrecklich nett zu ihr. Auf diese Weise erhielt die Babsi eine Menge Einladungen. Wie an diesem Tag zum Beispiel. Stolz zeigten sich die drei Freundinnen gegenseitig ihre Einladungskarten. Eine vierte Klassenkameradin, die Daggi, die eigentlich Dagmar hieß, hatte sich zu ihrem elften Geburtstag Gäste eingeladen. Und da durfte das Freundinnen-Trio natürlich nicht fehlen, galt es doch als tonangebend in der Klasse. »Die hat sie toll hingekriegt, die Einladungen«, meinte Babsi anerkennend. »Nicht einfach so im Laden gekauft, sondern selbstgemacht.

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Kinderärztin Dr. Martens – 75 –

Babsi schwindelt

Aber es war reine Notwehr

Britta Frey

Die drei Freundinnen freuten sich, wie man an den strahlenden Mädchengesichtern sehen konnte. Hörbar war die Freude auch, denn es wurde unentwegt gelacht und gekichert und herumgealbert.

Man befand sich auf dem Heimweg von der Schule und hatte sich furchtbar viel zu erzählen.

Kiki, die eigentlich Kirsten hieß, und Nicki, vor zehn Jahren drüben in der Marienkirche auf den schönen Namen Nicola getauft, ein sehr festliches Ereignis, woran sie sich natürlich nicht mehr erinnerte, trugen kurze luftige Baumwollkleider.

Kikis war hellblau mit weißen Pünktchen, was in diesem Jahr große Mode war, während Nickis Sommerkleid die Farbe von Erdbeeren besaß, die man in Joghurt zerdrückt hatte.

Das Trio vervollständigte Babsi, die an sich Babette hieß und auch zehn Jahre alt war, wie ihre Klassenkameradinnen.

Babsi Berneke trug kein Kleid, sondern Jeans und ein T-Shirt. Weil sie beides nicht zu bügeln brauchte. Und noch nie hatte man eine Schleife in Babsis Haar gesehen, geschweige denn einen selbstgenähten Turnbeutel mit ihrem in Kreuzstich aufgestickten Vornamen an ihrem Schulranzen.

Traurige Tatsache war nämlich, daß Babsi Berneke keine Mami mehr besaß.

Das war für die anderen Kinder, die ihre Mami noch hatten und gar nicht mal besonders achteten, außer am Muttertag, weil das so üblich und gewissermaßen vorgeschrieben war, ganz schwer vorstellbar.

Manchmal waren sie deshalb besonders lieb zur Babsi und kümmerten sich um sie, das heißt, sie luden sie zum Kaffee ein und waren dann immer schrecklich nett zu ihr.

Auf diese Weise erhielt die Babsi eine Menge Einladungen.

Wie an diesem Tag zum Beispiel.

Stolz zeigten sich die drei Freundinnen gegenseitig ihre Einladungskarten. Eine vierte Klassenkameradin, die Daggi, die eigentlich Dagmar hieß, hatte sich zu ihrem elften Geburtstag Gäste eingeladen. Und da durfte das Freundinnen-Trio natürlich nicht fehlen, galt es doch als tonangebend in der Klasse.

»Die hat sie toll hingekriegt, die Einladungen«, meinte Babsi anerkennend.

»Nicht einfach so im Laden gekauft, sondern selbstgemacht. Und jede ist anders, super.«

»Naja«, schwächte Nicki ab, »ihre Mutter hat ihr dabei geholfen und das meiste gemacht.«

Babsis Gesicht, eben noch so heiter, verfinsterte sich.

»Die Frau Groth ist überhaupt irre nett«, setzte Nicki hinzu. »Und sie kann toll backen. Ich freue mich schon auf ihren Apfelkuchen.«

»Meine Mami backt auch jeden Sonntag«, sagte Kicki. »Bienenstich kann sie am besten.«

Babsi senkte den Kopf und trabte schneller.

»Daggi hat gesagt, daß ihre Mutter ganz tolle Verlosungsgeschenke für uns gekauft hat«, verriet Nicki.

»Bei mir hat sie eine Nelke draufgemalt«, verkündete Kiki. »Wahrscheinlich, weil ich neulich mal die Nelkenseife von meiner Mami benutzt und wie ’ne Nelke gerochen habe.«

»Und auf meiner Einladung ist ein Pferd«, erzählte Nicki. »Das soll wohl die Maxie sein, die Fuchsstute von meiner Mutter, die ich ab und zu mal reiten darf.«

Babsi schwieg. Ihr war die fröhliche Stimmung vergangen. Wie immer, wenn ihre Freundinnen von ihren Müttern erzählten. Da konnte sie natürlich nicht mithalten, denn sie hatte ja keine Mutter mehr, konnte nicht mal mit Erinnerungen auftrumpfen.

Ganz schön blöd war das, keine Mutter mehr zu haben, fand die Babsi mit zusammengezogenen Brauen.

Benachteiligt fühlte sie sich und ganz schrecklich einsam, wenn sie immer mitanhören mußte, wie toll es ihre Freundinnen hatten.

»Und was hat sie auf deine Einladung gemalt, Babsi?« fragte Nicki. »Wieso sagste denn nichts? Oder ist das ein Geheimnis?«

Während sich Nicki und Kiki mit den Ellenbogen anstießen und prusteten, sagte Babsi wütend: »Quatsch. Ihr seid vielleicht Gänse, ihr beiden! Hier, sie hat eine Rose gemalt. Gar nicht mal so schlecht, finde ich. Nur die Blätter stimmen nicht. Die sehen aus wie Salatblätter.«

Babsi wußte, wovon sie sprach. Vom Zeichnen verstand sie tatsächlich etwas, denn ihr Papa war von Beruf Grafiker und zeichnete den ganzen Tag lang. Damit verdiente er sein Geld und außerdem machte es ihm Spaß.

Allerdings arbeitete er nicht, wie man nun hätte meinen können, für eine Werbeagentur und entwarf fetzige Plakate oder machte Werbung für ein bestimmtes Produkt. O nein, weit gefehlt, beides beherrschte er zwar, doch es lag ihm nicht. Jedenfalls nicht so sehr wie das Illustrieren.

Im Klartext: Hartmut Berneke, ein stiller, nachdenklicher Mann, illustrierte Bücher, hauptsächlich Kinder-, bisweilen auch Jugendbücher. Und das machte er ganz großartig, hatte sich längst einen guten Namen gemacht in der Branche.

Wenn es um stimmungs-, gemüts- und seelenvolle Illustrationen ging, dann bekam Hartmut Berneke den Auftrag, davon konnte man ausgehen, denn keinem seiner vielen Kollegen gelang es so perfekt, Szenen aus dem Leben von Kindern und Jugendlichen zeichnerisch darzustellen oder Dinge herauszustellen, die junge Menschen insbesondere interessierten, für die sie schwärmten.

Ein einfühlsamer Mann also, mit viel Phantasie und wenig Durchsetzungsvermögen.

Seine Tochter Babette, die Babsi mit dem Lockenkopf, war alles andere als zufrieden mit ihrem Dasein.

Sie fand die idyllische Ruhe im Rosenhaus grauenvoll. Und daß ihr Vater von morgens bis abends zeichnete und sich seines bescheidenen, zurückgezogenen, wohlgeordneten Lebens freute, fand sie gräßlich langweilig.

Es störte sie auch, daß er nicht so war wie die anderen Väter, die sich vor allem sportlich betätigten und sehr aktiv waren.

Ihr Vater besaß ja nicht einmal ein Auto. Auf seinem altmodischen Fahrrad, einer richtigen Quietschkiste, wie die Babsi fand, radelte er durch Ögela und kümmerte sich nicht um die Meinung der Leute, noch weniger um die neugierigen Blicke der Touristen, die ihn für ein Original hielten. Und die unzufriedene Miene seiner Tochter bekam er sowieso nicht mit.

Weil Hartmut Berneke nie etwas mitbekam, er lebte ja in seiner eigenen Welt, einer Traumwelt, die ihm offenbar besser gefiel als die real existierende.

Babsi hatte keinen Zugang zu dieser Welt und fühlte sich daher doppelt allein gelassen. Denn daß sie ihre Mutter vermißte, obwohl sie sich gar nicht mehr an sie erinnerte, stand fest und war auch mehr als verständlich.

Kein Wunder, daß Babsis Stimmungen manchmal schneller wechselten als das Wetter, das in der Lüneburger Heide einen guten Ruf besaß, weil so beständig und zuverlässig.

Bisweilen war die Babsi so traurig, daß sie sich in den Schlaf weinte. Und dann gab’s wieder Tage, da sie am frühen Morgen schon fürchterlich grimmig war und sich aufführte wie eine Ziege.

Der Meinung waren jedenfalls ihre besten Freundinnen Kiki und Nicki. Sie hatten zwar noch keine Ziege aus der Nähe gesehen, denn in der Lüneburger Heide führten die Heidschnucken die Liste der tierischen Top Ten an, doch sie waren sich ganz sicher, die beiden jungen Damen, daß die Babsi manchmal ganz schön zickig war und zuviel meckerte und auch schon mal die Hörnchen benutzte.

*

»Hallo, Rulle!« Babsi winkte dem fünfjährigen strohblonden Buben, der im kahlen Vorgärtchen spielte, zu.

Sofort kam Rulle, der eigentlich Rudolf hieß, Rudolf Wardemann, aber von keinem so genannt wurde, an den Zaun gelaufen.

»Babsi!« sagte er und strahlte. Für ihn, den Knirps, war sie bereits eine junge Dame. Er bewunderte sie hingebungsvoll und freute sich immer unbändig, wenn sie sich mit ihm beschäftigte.

Das Rosenhaus lag am Ende der kleinen Sackgasse. Jeder, der zu den Bernekes wollte, mußte das schmale windschiefe Eckhaus passieren, in dem Verena Wardemann und ihr Söhnchen wohnten.

Im Erdgeschoß befand sich ein kleines Lädchen. Hier verkaufte Rulles Mutter alles, was man brauchte, wenn man gern handarbeitete, also Wolle, Stickgarn aller Art, Nadeln oder Anleitungen.

Über dem Handarbeitsgeschäft, dem einzigen übrigens in Ögela, lebten Verena und Rulle Wardemann in drei winzigen Stuben.

Babsi mochte die schmale junge Frau mit dem blassen Gesicht gern, obwohl sie es mühsam fand, sich mit ihr zu unterhalten.

Verena Wardemann war sehr zurückhaltend, sie hielt nichts vom Schwatzen, und es dauerte lange, bis sie auftaute. In ganz Ögela gab es nur eine Handvoll Leute, die Verena Wardemann schon einmal herzlich lachen gesehen hatten.

Es war ihr nicht gegeben, schnell Freundschaften zu schließen.

Dafür war der kleine drollige Rulle um so aufgeschlossener. Er freute sich immer lebhaft, wenn jemand Notiz von ihm nahm.

Leider duldete es seine ängstliche Mama nicht, daß er mit den anderen Kindern auf dem Marktplatz spielte. Und einen Kindergarten durfte er auch nicht besuchen, obwohl er mit seinen fünf Jahren durchaus im richtigen Alter dafür gewesen wäre.

Verena Wardemann hütete ihren Buben wie ihren Augapfel, sie sah überall Gefahren, die auf ihn lauerten, und hatte längst eine Art gläserne Glocke über ihn gestülpt, um ihn vor Krankheiten oder häßlichen Erfahrung zu bewahren.

Rulle war schon oft krank gewesen. Er war tatsächlich das, was man allgemein ein Sorgenkind nennt.

Weil seine Mama ihn so isoliert großzog? Wäre es nicht besser für den kleinen Rulle gewesen, mit anderen Kindern herumzutoben?

Natürlich unterhielten sich die Ögelaer Mütter oft über den kleinen, so wenig robusten Rulle und seine zaghafte Mama. Und immer waren sie der Meinung, daß Rulle Wardemanns labile Konstitution nicht angeboren, sondern hausgemacht war.

Was dem kleinen Rulle dringend fehlte, so hieß es in Ögela, war der Umgang mit Altersgenossen. In der Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen würden sich seine gesundheitlichen Probleme sozusagen spielend von allein erledigen.

In diesem Punkt war mit Verena Wardemann allerdings nicht zu reden. Sie duldete nicht, daß ihr kleiner Rulle sich außerhalb des kümmerlichen Vorgärtchens aufhielt. Angeblich vertrug er Aufregung nicht, reagierte gleich mit Fieberanfällen.

Die meisten Ögelaer Mütter hielten das für eine Schutzbehauptung. Für sie war der Fall klar: Verena Wardemann war eine kontaktarme Frau, sie sah nicht ein, weshalb ihr Sohn die Gesellschaft anderer Kinder brauchte.

Rulle liebte jedoch andere Kinder, ob sie nun größer oder kleiner als er waren. Als Babsi sich jetzt mit ihm abgab, jauchzte er vor Freude und machte ihr gleich vor, wie sein neues Holzauto fahren konnte.

»Brrummm, brrummm!« Mit mächtigem Gebrumm schob er den Wagen über den mickerigen Rasen. »Guck ma, Babsi.«

»Jaja, Rulle. Aber jetzt muß ich gehen, ich habe heute leider keine Zeit für dich.«

Rulles rundliches Gesicht verzog sich, die Unterlippe schob sich vor und zitterte.

»Ich komme morgen wieder, Rulle«, sagte Babsi schnell.

Rulle nickte, in seinen Augen standen gleich Tränen.

»Bestimmt«, nickte Babsi und rannte vom Zaun weg.

Sie schaute sich nicht mehr nach Rulle um. Denn sie wußte, daß er ihr nachschaute, das Gesicht sehnsüchtig an die Zaunlatten gepreßt, beide Hände um das Holzauto geklammert.

Keuchend erreichte sie das Rosenhaus, stieß die Gartenpforte auf und steuerte gleich die Laube hinter dem Fliedergebüsch an.

Wenn das Wetter so schön war wie heute, wußte sie, zeichnete ihr Vater im Garten, in der Laube, wo er sich gern aufhielt.

»Hallo, Papa.« Babsi begrüßte ihren Vater mit einem erwartungsvollen Lächeln. Ihren Schulranzen warf sie schwungvoll auf die Bank, von der die weiße Farbe in großen Batzen abblätterte.

»Wie war’s denn in der Schule?« fragte er, offensichtlich bemüht, Interesse zu zeigen. Dabei war’s augenfällig, daß er mit seinen Gedanken bei der Zeichnung war, die er gerade anfertigte.

»Ganz gut«, murmelte Babsi mit mürrischer Miene. »Was gibt’s zum Mittagessen?«

»Wieso, ist es schon wieder soweit?«

Babsi verdrehte die Augen himmelwärts und sichtete eine winzige Spinne, die sich an einem Fädchen von der Decke herabließ.

»Igitt!« quietschte sie und sprang von der Bank.

Hartmut lächelte sanft, erhob sich und nahm das Fädchen zwischen Daumen und Zeigefinger, trug das Spinnchen sozusagen am Seil aus der Laube. Dort ließ er das Fädchen behutsam über einem Rosenbusch hin und herschwingen, bis die kleine Spinne sich auf einem Blatt niedergelassen hatte und rasch weiterkrabbelte.

»Na also«, sagte Hartmut Berneke zufrieden und kehrte in die Laube und an seine Arbeit zurück.

»Iiiih, daß du so was anfassen kannst!« stieß Babsi hervor.

Er lächelte sein stilles sanftes Lächeln und schwieg.

Babsi ärgerte sich, wie man an ihrem finsteren Blick sehen konnte. »Ist die Adomeit noch da, Papa?«

»Frau Adomeit? Nein, ich glaube nicht. Oder doch? Ich weiß gar nicht. Schau doch mal nach, Kind.«

Else Adomeit kam täglich zwei Stunden lang ins Rosenhaus, um bei Vater und Tochter Berneke nach dem Rechten zu sehen. Sie versorgte den frauenlosen Haushalt recht ordentlich, konnte aber die Hausfrau in der kurzen Zeit natürlich nicht ersetzen.

»Hoffentlich hat sie nicht schon wieder Gemüsesuppe gekocht. Ich mag keine Gemüsesuppe«, verkündete Babsi.

»Aha«, machte Hartmut, den Blick auf die Zeichnung geheftet.

Babsi beschwerte sich maulend: »Du hörst mir gar nicht zu, Papa. Nie hörst du mir richtig zu.«

»Tut mir leid, mein Mäuslein, aber ich muß doch arbeiten. Die Frau Franck kommt morgen vorbei, um sich die Zeichnungen abzuholen. Und ich möchte sie nicht enttäuschen, ver­stehst du?«

Frau Charlotte Franck war ›seine‹ Lektorin. Die junge Frau arbeitete in dem renommierten traditionsreichen Verlag, der ausschließlich Kinder- und Jugendbücher verlegte. Mit viel Erfolg, was nicht zuletzt den schönen Illustrationen Bernekes zu verdanken war, für die er schon etliche Preise erhalten hatte.

Er kümmerte sich weder um die öffentliche Anerkennung, die er erfuhr, noch um sein Honorar. Da war es ein wahres Glück, daß es Charlotte Franck gab, die den stillen Zeichner schätzte und dafür sorgte, daß er in finanzieller Hinsicht zu seinem Recht kam.

»Wie viele mußt du denn noch machen?« fragte Babsi.

»Drei, mein Spatz.«

»Oooch, so viele. Dann können wir nicht zusammen essen.«

»Ich mach mir nachher ein Brot.«

Babsi schwieg und sah sehr unzufrieden aus. »Nie hast du Zeit für mich«, beklagte sie sich seufzend. »Und nie passierte hier etwas. Nie, nie, nie! Es ist gräßlich langweilig bei uns!«

Hartmut Berneke hörte sie nicht mehr, er war in Gedanken auf der von Butterblumen besternten Wiese, die er gerade zeichnete, und träumte von einer anderen, besseren Welt.

*

Am Abend, als in den Fenstern der umliegenden Häuser längst die Lichter ausgegangen waren, zeichnete Hartmut Berneke immer noch. Und es stand zu vermuten, daß er noch gar nicht mitbekommen hatte, wie dunkel es inzwischen geworden war.

Die Standuhr schlug zur elften Stunde und weckte mit ihrem metallischen Krächzen die Babsi, die eigentlich ihrem Papa Gesellschaft hatte leisten wollen, darüber aber eingeschlafen war.

»Mensch, Papa, es ist ganz schön spät geworden«, maulte die Babsi nach einem Blick zum Ziffernblatt der Standuhr und gähnte ausgiebig, reckte und streckte sich auf dem mächtigen biedermeierlichen Sofa, als habe sie stundenlang geschlafen.

»Warum lachst du?« wollte sie von ihrem fleißigen Papa wissen.

»Weil du eben Geräusche von dir gegeben hast, die mich doch sehr an die Löwen drüben im Wildgehege erinnerten.«

»Das findest du komisch!« Babsi schälte sich mißgelaunt aus den Decken, die er fürsorglich über sie gebreitet hatte. »Wieso bist du eigentlich nie müde, Papa?«

»Wenn ich arbeite, bin ich nie müde, Spätzchen.«

»Du arbeitest andauernd«, warf sie ihm vor.

»Na! Das stimmt aber nicht ganz«, widersprach er mit seiner sanften Stimme. »Morgen zum Beispiel werde ich ausschlafen.«

»Davon habe ich nix, weil ich dann in der Schule sein muß. Andere Kinder…«

»Ja? Was ist mit den anderen Kindern?«

»Oooch nix, Papa.« Merkwürdigerweise brachte sie es nie fertig, ihm ihre Vorwürfe, die manchmal wie mit aller Wucht geschmissene Tischtennisbälle in ihrem Innern hin und her schossen, an den Kopf zu werfen. Mit aller Heftigkeit, versteht sich, die sie immer dann empfand, wenn sie sich vernachlässigt fühlte und schrecklich benachteiligt.

Komisch, dachte Babsi, während sie die Decken ordentlich zusammenfaltete, daß ich nie so richtig ausflippe. Obwohl ich’s mir doch immer so wünsche. Woran das wohl liegt?

Sie warf einen flüchtigen Blick auf den gebeugten Rücken ihres Vaters. Anders als in dieser gekrümmten Haltung kannte sie ihn kaum, nur selten stand er von seinem Zeichentisch auf und tat etwas anderes. Seine Arbeit war sein Leben und umgekehrt.

Babsi war mal wieder hin- und hergerissen von den zwiespältigsten Gefühlen. Einerseits war sie sehr stolz auf ihren Papa, der so wunderschön zeichnen konnte. Mit wenigen Strichen, die er mit leichter Hand aufs Papier warf, konnte er alles zeichnen, was ihm gerade so durch den Kopf ging. Oder worum man ihn bat.

Und das tollste war, daß alles, was er zeichnete, Kätzchen, Vögel, Kinder, Autos, ja sogar Mondraketen, auf den ersten Blick als solches erkennbar war.

Andererseits fühlte sich die Babsi gegenüber ihren Freundinnen ziemlich zurückgesetzt, denn die wurden doch immer von ihren Mamis versorgt und verwöhnt. Und mit ihren Papis konnten sie schmusen oder Radtouren machen, lauter wunderbare Sachen halt.

Und ich, dachte die Babsi knurrig, denn sie war mal wieder drauf und dran, im Selbstmitleid zu ertrinken, sehe in den Mond, wie üblich. Um mich kümmert sich keiner, weder liebevoll noch sonst irgendwie.

»Worüber denkst du denn so angestrengt nach, Babettchen?«

»Ich habe an meinen Geburtstag gedacht, Papa.«

»Aber der ist doch erst im September, Babettchen.«

»Ich weiß, trotzdem sollte man jetzt schon daran denken, weil Vorbereitungen getroffen werden müssen.«

»Soso. Und an welche Vorbereitungen hast du gedacht?«

Wieso ich? fragte sich Babsi mit diesem komischen Kloß in der Kehle, der immer dort war, wenn sie an ihre Mami dachte.

»Papa?«

»Hm?«

»Ich möchte auch mal ’ne richtige Geburtstagsparty haben.«