Backstage - Donna Leon - E-Book

Backstage E-Book

Donna Leon

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Beschreibung

»Die Charaktere aus der Feder guter Autoren sind wie echte Menschen, nur echter«, sagt Donna Leon. Darum wohl ist ihr Leben auch so reich an Figuren, echten und erfundenen. In Backstage tritt eine bunte Truppe auf: das Rock-Genie Frank Zappa, Venedigs bekanntester Diamantenhändler, eine tollkühne Sexworkerin, ein cleverer Komponist, tragische Helden, bewunderte Kollegen und Kolleginnen. Donna Leon gestaltet diese Begegnungen zu funkelnden Geschichten.

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Seitenzahl: 183

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Donna Leon

Backstage

Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz, Christa E. Seibicke u. a.

Diogenes

Für Anna and Frank Bonitatibus

Menschen sind seltsam: So ist das Leben. Und uns dämmert, dass auch wir vielen, die uns kennenlernen, seltsam erscheinen müssen.

Früh im Leben

Cedric

Er müsste mittlerweile weit über fünfzig Jahre alt sein, doch allen Statistiken nach ist Cedric tot oder im Gefängnis. Er war schwarz und lebte in Amerika, also hatte er von Anfang an kaum eine Chance. Man könnte auch sagen, kaum eine Chance, noch bevor er überhaupt geboren war.

Kennengelernt habe ich ihn in den Siebzigerjahren, da war ich Anfang dreißig, lebte in Bloomf‌ield, New Jersey, und machte an der Abendschule meinen Master in Englischer Literatur. Mein Geld verdiente ich mir als Aushilfslehrerin an den Grundschulen von Newark, New Jersey, der Stadt mit der höchsten Säuglingssterblichkeit im ganzen Land. Newark war nur etwa zehn Kilometer von Bloomf‌ield entfernt, doch es hätte ebenso gut auf dem Mond liegen können, so sehr unterschieden sich die beiden Städte.

Cedric war einer der Drittklässler, die ich einen Monat lang unterrichten sollte. Er war mit seinen zehn Jahren in die Höhe geschossen und darum sehr dünn. Er hatte mittelbraune Haut und kurz geschorenes schwarzes Haar. Seine Augen waren eine Spur heller als sein Haar, und seine Hände standen nie still. Das Lächeln, das bisweilen über sein Gesicht huschte, war reizend, aber reserviert: Meistens wirkte seine Miene besorgt und nervös, eine Miene, die nichts auf dem Gesicht eines Zehnjährigen verloren hatte.

Die Schule, an der ich unterrichtete, war genau wie jene in unserer Lesefibel ein roter Ziegelbau. Das Rathaus der Stadt befand sich nach wie vor in der Hand der Italiener, die Anfang des 20. Jahrhunderts zu Millionen in die Staaten ausgewandert waren. Die schwarze Bevölkerung war deutlich in der Mehrzahl, besaß aber keinerlei politische Macht. Wir schreiben die Siebzigerjahre in den USA, so war das damals, obwohl es 1967 in Newark den Ghetto-Aufstand gegeben hatte. Zwar war der werte Herr Bürgermeister mittlerweile wegen Verschwörung und Erpressung verurteilt worden und saß hinter Gittern, doch die Bürger der Stadt kümmerte das wenig, und die Belegschaft der Franklin School schon gar nicht.

Man hatte mir etwa dreißig Kinder anvertraut, ohne mir zu sagen, was ich ihnen beibringen sollte und wie. Sie waren zur Hälfte Mädchen, zur Hälfte Jungen, die meisten schwarz.

Bei mir an der Grundschule hatte es einen einzigen Schwarzen gegeben, keinen an der Highschool und keinen an der Universität. Ich hatte keine schwarzen Freunde, weil die Rassentrennung es nicht zuließ, wir wussten so wenig voneinander, als lebten wir auf verschiedenen Planeten. Diskriminierung kannten Weiße nur aus dem Fernsehen, im Alltag begegnete uns das Unrecht nicht. Die wenigen Male, die ich zu Familienbesuch in den Südstaaten war, schreckten mich die Hinweisschilder auf, wonach bestimmte Trinkbrunnen, Busse, Restaurants, Strände und so ziemlich alle anderen Orte, an denen Menschen zusammenkamen, strikt nach Schwarz und Weiß getrennt waren. Die einzige Erklärung, die ich meinen durchaus liberal gesinnten Eltern abrang, war ein trügerisch neutrales »Die Menschen hier sind anders«. Wir hätten genauso gut in Kapstadt sein können.

Ich war die Enkelin von Einwanderern. Mein Familienname war ursprünglich »de León«, doch sowohl das »de« als auch der Akzent blieben in dem Hafen zurück, in dem mein Großvater väterlicherseits, der nie verriet, aus welchem südamerikanischen Land er stammte, in den Vereinigten Staaten anlandete. Er hat mit uns Enkeln kein Wort Spanisch gesprochen. Er kam, sah sich um, ging die Gangway hinunter und war, sowie er festen Boden betrat, durch und durch Amerikaner. Gebildet, erfolgreich als Geschäftsmann, unauf‌fällig wurde er nie Opfer von Vorurteilen, und wir als seine Enkel wussten ohne den fremden Namen nicht einmal, was Vorurteile waren.

Ganz anders erging es Cedric, obwohl gebürtiger Amerikaner. Er fehlte häufig (melden musste ich das erst ab drei Tagen), und wenn er kam, saß er da und schaute die meiste Zeit zum Fenster hinaus. In meiner Erinnerung hat er sich immer als Erster gemeldet, wenn es ums laut Vorlesen ging. Er trug klar und deutlich vor, dass Jack und Jill den Hügel hinaufgingen und Farmer Brown seine Kühe liebte, gab den Stimmen der verschiedenen Figuren dabei eine dramatische Note. An seinen guten Tagen.

Bald nutzte ich solche Gelegenheiten, um ihn als Ersten drankommen zu lassen. An den weniger guten Tagen kam erst Leben in ihn während der Sportstunde im Freien, wo die Jungen sich wie von Dämonen besessen auf‌führten, während sich die Mädchen sittsam auf einer langen Bank unterhielten. Und dann waren da die ganz schlechten Tage, vielleicht einmal pro Woche, an denen er es scheinbar grundlos auf eine Schlägerei anlegte, stets mit einem größeren und stärkeren Schüler als er selbst.

Von der zweiten Woche an wartete er auf dem Parkplatz, wo ich mein Auto abstellte, und ging mit mir gemeinsam Richtung Schule. Zweimal suchte er meine Hand und hielt sie, bis wir eine Straße von der Schule entfernt waren, dann war er weg.

Ich brauchte nur wenige Tage, um zu begreifen, in welchem Ausmaß die Welt dieser Kinder und meine sich voneinander unterschieden. Ich war eine weiße Mittelschichtlerin, vom Leben mit unzähligen Wohltaten verwöhnt, während sie die ganze Woche lang dieselbe Kleidung trugen und das Mittagessen, das es in der Schule gab, blitzschnell hinunterschlangen. Doch so wie Fische keine Proben des Wassers nehmen, in dem sie schwimmen, hinterfragten die meisten Menschen damals nicht – und ich fürchte, das tun sie auch heute nicht – die Gesellschaft, in der sie lebten.

Ich war gerade mal zehn Kilometer von Cedric entfernt aufgewachsen. Doch während ich mich mit der Unterscheidung zwischen einem Shakespeare- und einem Spenser-Sonett herumschlug, lernte Cedric sich durchsetzen, wo die Gewalt regierte.

In meiner letzten Woche kam eines Morgens ein Schüler außer sich zu mir und erzählte, Cedric habe ein Messer dabei und gedroht, einen von ihnen niederzustechen. Als ich Cedric auf‌forderte, mir das Messer zu geben – mit Fragen hielt ich mich nicht auf –, klopf‌te Cedric mit der Rechten und Linken gegen seine Taschen und beteuerte hitzig seine Unschuld.

Ich hielt ihm weiter die ausgestreckte Hand hin. Nach kurzem Widerstand gab er mir ein Taschenmesser, mit dessen Klinge man bestenfalls eine Weintraube hätte schälen können. Zu meiner und der anderen Schüler Verblüffung schritt er sodann quer durchs Klassenzimmer und stellte sich hinter die offene Tür, als habe er seine Schuld erkannt und wolle nun seine Strafe ableisten.

Zwei Jungen aus der ersten Reihe nutzten die allgemeine Ablenkung, um sich anzuschreien, und rauf‌ten sich auch schon am Boden. Ich trennte sie, während es läutete, nie zuvor hatten Glocken einen so himmlischen Klang.

Die Kinder liefen in Reih und Glied, die Mädchen voran, leise aus dem Klassenzimmer und die Treppe hinunter; ich blieb zurück. Erst vor dem Schulgebäude würden sie außer Rand und Band geraten, doch dann war es nach fünfzehn Uhr und ich nicht mehr zuständig. Unfähig, mich zu rühren, starrte ich auf die Plakate an den Schranktüren hinten im Klassenzimmer, Porträts von Delaware, den Ureinwohnern des Landes, das heute New Jersey heißt: Federn im Haar, Gesicht und Körper in der gleichen Farbe wie Cedric.

Cedric.

Hinter der Tür.

Ich rief seinen Namen, näherte mich seinem Versteck: »Hey, Cedric, das war aber ein Riesenmesser, was?« Knarzen.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«

Keine Reaktion.

»Ich bin geschafft. Du doch bestimmt auch.«

War da ein Geräusch? Ich fragte: »Hilfst du mir, die Fenster zu schließen?«

Die Tür bewegte sich, er schlüpf‌te hervor und ging zu den Fenstern; behutsam und leise schloss er die unteren Hälften und überließ mir die oberen. Gemeinsam verließen wir die Schule, wegen der kühlen Herbstluft in Jacke und Schal eingemummelt. Cedric ging schnurstracks auf meinen roten VW zu, und als wir eingestiegen waren, bat ich ihn, mir den Weg zu sich nach Hause zu zeigen.

»Links. Jetzt rechts. Da vorne rechts ist ein Platz zum Parken.«

Ich machte, was er sagte, und wir stiegen aus. Er schloss geräuschlos die Wagentür hinter sich. Ich tat es ihm nach.

Die Häuser sahen alle gleich aus: schmal, aus Holz, überall blätterte die Farbe ab, morsche Stufen, noch mehr abblätternde Farbe.

Unter seiner Jacke holte Cedric den Schlüssel, den er umhängen hatte, hervor, steckte ihn ins Schloss und ließ mir den Vortritt. Noch mehr abblätternde Farbe, ausgetretene Stufen, ein wackliges Geländer.

Der durchdringende Geruch im Treppenhaus erinnerte mich an die Hamster, die mein Bruder früher gehabt hatte. Oben klopf‌te Cedric leise an die Eingangstür zur Linken.

Man hörte ein Geräusch, ein Schlüssel drehte sich und ein zweiter, dann öffnete jemand die Tür. Die Frau konnte ihr Erschrecken nicht verbergen. Auf ihrer Miene spiegelte sich Angst, dann Argwohn und schließlich Neugier. Sie war groß; Augen und Mund ließen keinen Zweifel daran, dass sie Cedrics Mutter war.

»Das ist meine Lehrerin«, sagte er.

Ihre Züge entspannten sich, als sei die Gefahr vorüber.

»Kommen Sie herein, M’am. Möchten Sie ein Glas Wasser?«

Ich bemühte mich um ein Lächeln. »Danke, M’am, aber ich muss noch mal zur Schule zurück. Wegen meiner Unterlagen.«

Als ob ich nichts gesagt hätte, machte sie die Tür ganz auf und trat zurück. Das Zimmer war makellos, sauberer als mein Wohnzimmer und wesentlich aufgeräumter, aber der Geruch war uns gefolgt.

Nebenan rief jemand etwas. Sie sah zu Cedric, überlegte kurz und sagte dann: »Sieh mal nach den Zwillingen, Cedric.«

»Ja, Mom«, sagte er und ging dorthin, von wo das Rufen kam.

Sowie er in dem anderen Zimmer verschwunden war, sah sie mich an und fragte: »Schlägerei?«

Ich nickte.

»Aber er ist ein guter Junge«, sagte sie ernst und mit Nachdruck. »Bisweilen ist es, als ob der Teufel in ihn gefahren sei, dann gibt es kein Halten mehr.«

»Haben Sie schon mal mit jemand in der Schule gesprochen?«, fragte ich. »Es gibt dort eine Betreuerin, oder?«

Ihr freundliches Gesicht verdüsterte sich, aber sie sagte nur: »Ja, die gibt es.«

Cedric kam zurück und erklärte, den Zwillingen gehe es gut.

»Na schön«, meinte ich und wandte mich zur Tür. »Ich fahre jetzt die Unterlagen holen.«

»Cedric«, sagte die Mutter mit erstarkter Stimme, »was tust du, wenn ein Gast gehen möchte?«

»Die Tür aufmachen«, antwortete er und tat es.

»Danke, Cedric«, sagte ich.

Ehe seine Mutter etwas sagen konnte, meinte er: »Danke, dass Sie mich hergebracht haben, Frau Lehrerin.« Es entstand eine lange Pause, während er nach Worten suchte. »Das ist ein schönes Auto.«

Ich lächelte, in der Hoffnung, sein Kompliment sei auch für mich gemeint.

»Bis morgen«, sagte ich.

Auf der Straße wandte ich mich um und sah zu ihrem Fenster hinauf. Sie standen beide dort und winkten. Ich winkte zurück.

Erzähl ihnen sonst was

Charles Dickens ist nicht nur einer der größten englischen Romanschriftsteller: Er kann uns auch mit der Strahlkraft seiner Weisheit durchs Leben geleiten. Als ich in den Siebzigerjahren einmal ohne Arbeit war, hat Dickens mich ermutigt zu handeln, statt herumzuhängen und darauf zu hoffen, dass ein Job von alleine an meine Tür klopft. Denn: »Fand sich gekochtes Hammelfleisch mit Kapernsoße je in einer Kokosnuss?« Es hieß die Stellenangebote in der New York Times zu durchforsten – wo just ein internationales Helikopterunternehmen nach Englischlehrern suchte, die bereit wären, in den Iran zu gehen.

Gleichzeitig segelte mir eine Fellowship der Uni von Massachusetts ins Haus, dank der ich meine Doktorarbeit beenden und mithilfe der Almosen der Alma Mater – wenn ich das Ganze ein wenig in die Länge zog – für drei, vier Jahre ausgesorgt hätte. Schon fühlte ich auf meiner Schulter die schwere Hand der Trägheit ruhen, die mich sachte in den feuchtwarmen Schoß des akademischen Lebens schob.

Doch da – als hätte sich der Himmel aufgetan – hörte ich die Stimme von Dickens die schlichte Wahrheit verkünden: »Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie König Richard der Dritte sagte, bevor er seinen Nebenbuhler im Tower erstach und dann die Kinder erwürgte.« Wurde das Gesetz des Himmels je deutlicher formuliert? Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen. Ich eilte nach Hause, schlug den Atlas auf, und kaum hatte ich den Iran gefunden, war es abgemacht, ich begann im Geiste zu packen.

An meinem ersten Tag im Iran erschien mir Teheran riesig, sehr laut und voller Autos, die von mordlustigen Rasern oder von Blinden gefahren wurden. Die Straße, an der das Hotel lag, war noch lauter, denn es war Aschura, der Jahrestag des Märtyrertods von Hussein ibn Ali, an dem lange Prozessionen von Männern des Enkels des Propheten Mohammed gedenken, Klagerufe ausstoßen und sich geißeln. Wie ich später in Isfahan sehen sollte, schlugen sich die sehr Frommen zum Zeichen ihrer Trauer sogar mit Ketten, die einen blutigen Beweis der Frömmigkeit auf ihren weißen Hemden hinterließen, und rezitierten dazu die traurige Geschichte von Husseins Tod in der Schlacht.

 

Drei Monate später hatte ich meine Arbeit in Isfahan und eine Wohnung unweit des Basars, ein Haus mit großzügigen sechs Zimmern, das ich mir mit einem Kollegen teilte.

Der eingeschossige Quader aus gebrannten Lehmziegeln hatte an beiden Enden je drei Zimmer, die alle auf den Innenhof hinausgingen. Dort gab es einen Garten mit einem Wasserbassin, zwei Granatapfelbäumen und jeder Menge hässlichen roten Geranien, umfriedet von einer vier Meter hohen Ziegelmauer.

Das Haus war, wie man mir erzählte, so ausgerichtet, dass das Licht, wenn die Sonne im Winter tief stand, durch die hohen Fenster einfiel und die Zimmer auf der einen Seite wärmte; im Sommer hingegen erhitzte sie die Zimmer auf der anderen Seite dermaßen, dass man sich dort tagsüber nicht aufhalten konnte, während es gegenüber mangels direkter Sonneneinstrahlung angenehm kühl war.

Mit einer Leiter hätte man ohne Weiteres aufs Dach steigen und auf den Umfriedungsmauern wie auf einem Bürgersteig von Haus zu Haus spazieren können. Aus der Höhe wäre es leicht gewesen, in Nachbars Garten zu spähen. Doch in meinen vier Jahren in Isfahan habe weder ich noch hat irgendeiner meiner Kollegen jemals jemand dort oben gesehen. Nach dem, was ich beobachtete, und dem, was man mir erzählte, tat man das nicht. Ganz einfach. Ich habe von meinem Farsi wenig behalten, aber ein Wort ist mir geblieben, haram, verboten, streng verboten. Nachbars Garten auszuspionieren war haram.

Unser Vermieter musste einmal das Dach an der Winterseite des Hauses reparieren, in das ein heftiges Hagelgewitter ein metergroßes Loch geschlagen hatte, wobei die aufgeweichten Lehmziegel ins Wohnzimmer stürzten. Die Arbeiter waren noch am selben Tag zur Stelle, und er hielt ihnen die Leiter, während sie rauf- und runterkletterten, immer von der Straßenseite aus, wo sie ein Gemisch aus Lehm, trockenem Gras, Wasser, Ton, Sand und – wie man mir sagte – Eseldung zusammenrührten, um das Loch zu stopfen. Als abends der Ruf zum Gebet erscholl, war die Arbeit vollbracht. Drei Tage später waren sie wieder zur Stelle, stellten ihre Schuhe vor dem Haus ab und weißelten die Decke des Wohnzimmers, ohne uns auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Am liebsten, schien mir, hätten sie die Augen die ganze Zeit über geschlossen gehalten. Sie arbeiteten ebenso schnell wie sorgfältig.

Der Besitzer des Hauses, ein spindeldürrer Mann in den Sechzigern, behandelte uns mit ausgesuchtem Respekt, weil wir Gäste in seinem Land waren, und wir behandelten ihn ebenso, weil er sich mit der Pilgerreise nach Mekka den Titel eines »Hadschi« erworben hatte.

Ich sprach noch kaum ein Wort Farsi, aber er war mein Vermieter, und so war mein Austausch mit Hadschi Aragh zwar äußerst begrenzt, aber herzlich. Er kam zweimal die Woche, um die grässlichen Geranien zu gießen, mit Blick nach Mekka seine Gebete zu verrichten und in aller Ruhe ein Opiumpfeifchen zu rauchen, und dann servierte ich ihm Tee und die Pistazien, die wir eigens für ihn immer vorrätig hatten.

Er unterhielt sich endlos mit meinem Mitbewohner William, der fließend Farsi sprach, er konnte gar nicht genug Zeit mit ihm verbringen. Die beiden saßen in vertrautem Zwiegespräch an dem Wasserbassin im Garten – nicht größer als eine Badewanne und weniger tief – und verneigten sich gelegentlich voreinander. Ich weiß noch, wie William beim ersten Mal am Ende der Unterhaltung mit einer Verbeugung dem Hadschi einen Umschlag in die Hand drückte. Der Hadschi erhob sich ebenfalls, schüttelte, nachdem er vergeblich versucht hatte, William den Umschlag zurückzugeben, den Kopf und wurde ein wenig lauter, auch wenn er nicht sonderlich beleidigt wirkte.

William legte beide Hände auf die Brust, wie zum Beweis, dass er den Umschlag unmöglich zurücknehmen könne, und dann folgte noch ein langes Hin und Her.

Schließlich wandte der Hadschi den Blick wie ratsuchend gen Himmel, gab sich geschlagen und ließ den Umschlag in seinem Hemd verschwinden.

William stieß einen erleichterten Seufzer aus, umfasste des Hadschis Hand und sagte mit solchem Nachdruck »Mamnunam«, dass ich einen Schritt näher trat, um herauszubekommen, worüber sie handelseinig geworden waren. Der Hadschi ließ sich nichts anmerken und machte sich mit Verbeugungen auf den Weg zur Tür.

William folgte ihm mit einem Schwall von Worten. Sie standen noch eine Minute im Eingang, dann trat der Hadschi auf die Straße hinaus und verschwand.

Kaum war William zurück, stellte ich ihn wie die betrogene, eifersüchtige Ehefrau in einer brasilianischen Seifenoper zur Rede: »Was bitte geht hier vor?«

Worauf William weniger reumütig, als ich gedacht hatte, eingestand: »Ich habe ihm die Miete bezahlt.«

 

Es muss sich in der Nachbarschaft herumgesprochen haben, dass die Fremden im Haus des Hadschi zwar farangi waren, aber keine zwei Köpfe hatten und auch keine dämonischen Riten praktizierten. Denn die Mandeln und Pistazien, die wir seit Monaten am selben Stand im Basar kauf‌ten, wurden immer leckerer; die Auberginen hielten nun eine Woche, statt nach drei Tagen verfault im Kühlschrank zu liegen; in den Milchflaschen setzte sich oben Sahne ab, und Mohammed, der Mann mit dem Laden an der Ecke und dem Cousin, der ein lahmes Bein und seinen Wasserbüffel vor den Stadttoren hatte, gab uns plötzlich frischen Büffeljoghurt in grünen Schalen anstelle der üblichen Fabrikware.

Die männlichen Nachbarn wünschten William einen guten Tag, und die Frauen, bald mit, bald ohne Tschador, nickten mir zu und grüßten freundlich.

 

Einen Großteil meiner Zeit verbrachte ich jedoch weiter damit, iranischen Helikopterpiloten Englisch beizubringen, was mich offen gestanden langweilte, ganz gleich, wie respektvoll und höf‌lich die Jungs sein mochten. Wie viele Wiederholungen von »Guten Morgen, Frau Lehrerin. Wie geht es Ihnen heute?« konnte ein Mensch ertragen? Sie ahnten nicht, wie ungeheuer sich das, was ich ihnen beibrachte, von dem unterschied, was sie später von ihren Fluglehrern zu hören bekommen würden.

Wir lehrten sie, selbstbewusst zu sagen: »Ich mache mich zum Abflug bereit, Sir«, während es bei den Männern, die ihnen später die Bedienung eines Hubschraubers beibringen sollten, eher in breitem Südstaaten-Amerikanisch heißen würde: »Bring das Teil hoch.« Und dies oft mit so starkem Akzent, dass selbst ich kaum etwas verstand. Während wir ihnen den Gebrauch des Futurs in Sätzen wie »Ich werde versuchen, links von diesen Bäumen zu landen, Sir« beibrachten, bekamen sie von den Ausbildern zu hören: »Ich setz die Kiste bei den Bäumen ab.«

Nach und nach gewöhnten sich die Schüler an die Anwesenheit einer Frau in ihrem Klassenzimmer, zumal einer Frau, deren Auf‌forderungen sie Folge leisten sollten. Es fiel ihnen nicht leicht, gewiss nicht leichter, als Englisch zu lernen.

Mein erster Monat neigte sich dem Ende entgegen, bald würde das Ganze von vorne anfangen: »Guten Morgen, Frau Lehrerin. Mein Name ist Hassan.«

Ich sprach mit einem Freund im ›Controlling‹. Er schlug mir vor, in seine Abteilung zu wechseln.

»Und was mache ich da?«, fragte ich, auf die nächste Hölle gefasst.

»Tennis spielen«, lautete die Antwort.

 

Und so war es. Ich fuhr weiterhin jeden Morgen mit dem kleinen gelben amerikanischen Schulbus zur Arbeit, entlang den kaputten, verrosteten, abgestürzten, ausgebrannten, schlecht gelandeten Helikoptern, die die Straße durch das Stück Wüste säumten, auf dem der Stützpunkt errichtet worden war. Seit meinem Abteilungswechsel musste ich wenigstens niemandem mehr den Unterschied zwischen Präsens und Vergangenheit erklären. Die endlosen Reihen von Hubschrauberwracks waren ganz eindeutig Zeugen der Vergangenheit.

Pünktlich um acht erschien ich zur Arbeit, nahm einen Stapel Papier zur Hand, der auf meinem Schreibtisch übernachtet hatte, schüttelte ihn ein paarmal aus, als könnten Insekten darin sein, und rief meinem Vorgesetzten zu: »Pat, ich muss mit den Unterlagen in die Zentrale.«

Stunden später waren mein Tennispartner und ich zurück, nachdem ich den Tennisschläger und die weiße Kleidung in meinem Spind verstaut hatte. Und schon saß ich wieder am Schreibtisch und befasste mich mit unserer Hauptaufgabe: das amerikanische und das iranische Militär mit Zahlen und Statistiken im Namen der Chefetage davon zu überzeugen, dass die von den Schülern erworbenen Sprachkenntnisse im Englischen ein hinreichender Grund dafür seien, weiterhin endlose Millionen in das stetig expandierende Sprachprogramm zu pumpen. Niemand fragte nach, und so ging es zur allseitigen Zufriedenheit immer so weiter.

Die Zentrale wurde zu Lourdes in der Wüste. Menschen mit Problemen, großen oder kleinen, glaubten, dass jene Wunder wirken und allem Leid ein Ende machen könne. Bitten, flehen, fragen und – wenn es sein musste – auf den Knien rutschen, vor allem aber immer wieder vorstellig werden: Früher oder später wurden deine Gebete erhört. Man wandte sich dorthin, wenn den gelben Bussen die Ersatzreifen ausgingen. Nur Geduld, sie werden sich schon finden. Gelobt sei der Herr. Im Supermarkt der Kaserne sind die Küchenrollen ausgegangen? Nur die Ruhe, vielleicht nächste Woche. Und schon kamen sie angeflogen, zwei Flugzeuge voller Haushaltspapier. Gelobt sei der Herr.

Jenen unter uns, deren Joch der Arbeit nicht allzu schwer drückte, bot sich genügend Zeitvertreib. Dienstags, glaube ich, gab es im Suk frisches Gemüse und Obst zu kaufen, und donnerstags bestaunten wir im Basar Teppiche und Miniaturen.

Und einmal im Monat erschien der Herr von Bell Helicopter, der in dem großen weißen Palast an der Pahlavi-Straße in Teheran residierte, in unserer Mitte und händigte einem jeden von uns einen Umschlag aus. Gelobt sei der Herr.

Jack und Jill

Hm: Erzählen? Ihr fragt, was das ist? Es geht um Geschichten, oder? Da fällt mir eine der ersten ein, die ich je gehört habe, vor gut siebzig Jahren war das wohl:

Jack and Jill went up the hill

to fetch a pail of water.

Jack fell down and broke his crown,

and Jill came tumbling af‌ter.

(Den Berg hinauf geh’n Jack und Jill, ’nen Eimer Wasser holen. Da stürzt der Jack, die Krone bricht, und Jill fällt auch hinunter.)