Backstage in Seattle - Mina Mart - E-Book

Backstage in Seattle E-Book

Mina Mart

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Beschreibung

Sein Leben ist die Bühne, seine Sehnsucht das Rampenlicht, doch sein Herz ist kalt – bis sein Blick auf Eliza fällt …

Stell dir vor, du bist ohne Hoffnung aufgewachsen. Ohne Eltern. Ohne Freunde. Stell dir vor, du bist am Tiefpunkt angelangt, und jemand bietet dir eine zweite Chance. Du ergreifst diese Chance und kommst nach Seattle, in die Stadt des endlosen Regens. Du trittst in einer Bar auf. Weil du nichts anderes hast als die Musik. Und dann, als alles zu eskalieren droht, da taucht sie auf. Wenn da nur ein Herz wäre, das du verschenken könntest.

Ein Blick in seine Augen genügt, um ihm komplett zu verfallen. Als Eliza den aufstrebenden Rockstar Finn in der Collegebar trifft, vergisst sie alles um sich herum und folgt ihm backstage. Zwischen beiden entwickelt sich eine heiße Affäre, die nur einer Regel folgt: Wahre Liebe existiert nicht. Doch jeder Kuss, jede Berührung bringt diesen Entschluss ins Wanken. Bis Eliza erfährt, dass der faszinierende Sänger Finn vor einer düsteren Vergangenheit davonläuft …

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Seitenzahl: 869

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Der Originaltitel erschien 2017 bei books2read.

© 2017 by Mina Mart Überarbeitete Neuausgabe © 2021 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von zero Werbeagentur, München Coverabbildung von ANAID studio, letovsegda, Kundra, Eduard Muzhevskyi / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745751932

www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für Hannah.

PLAYLIST ZUM BUCH

PLAYLIST ZUM BUCH

Skillet – Hero

Apocalyptica ft. Brent Smith – Not Strong Enough

Three Days Grace – Drown

Muse – Undisclosed Desires

Fall Out Boy – Thnks fr th Mmrs

Placebo – Where Is My Mind

Maroon 5 – Misery

Skillet – Whispers in the Dark

Foo Fighters – The Pretender

Three Days Grace – Break

Thirty Seconds to Mars – A Beautiful Lie

Blue October – Say It

The Last Goodnight – Incomplete

Muse – Unintended

Metric – Gimme Sympathy

Depeche Mode – Enjoy The Silence

Saving Abel – The Sex Is Good

The Last Goodnight – Get Closer

Three Days Grace – Someone Who Cares

Buzzcocks – Ever Fallen in Love

(With Someone You Shouldn’t Have)

Placebo – Protect Me From What I Want

Shinedown – Second Chance

Thirty Seconds to Mars – The Kill

Thousand Foot Krutch – Welcome To The Masquerade

My Chemical Romance – The Sharpest Lives

Placebo – Every You Every Me

Three Days Grace – Without You

Florence + The Machine – Howl

Crystal Castles – Baptism

Three Days Grace – Bitter Taste

Europe – The Final Countdown

Good Charlotte – Last Night

Thirty Seconds to Mars – Hurricane

Slut – All We Need Is Silence

Ladyhawke – Magic

Athlete – Wires

Neon Trees – Animal

Nirvana – Smells Like Teen Spirit

James Blunt – You’re Beautiful

Jimmy Eat World – Pain

Green Day – Holiday

Mads Langer – Beauty Of the Dark

Three Days Grace – Life Starts Now

Guns N’ Roses – This I Love

Hoobastank – Crawling In The Dark

Death Cab for Cutie – Soul Meets Body

Kings of Leon – Closer

3 Doors Down – The Road I’m On

1. KAPITEL: JUST ANOTHER DAY

1. KAPITEL

JUST ANOTHER DAY

Eliza

November 5th, 9:00 p. m.

Seufzend stieg ich aus der Dusche und schlang das Handtuch um meinen bebenden Körper. Mein Kopf brummte, mein Hals tat immer noch weh, und ein Blick in den Spiegel über dem kleinen Waschbecken sagte mir, dass ich genauso schlecht aussah, wie ich mich fühlte.

Seit knapp drei Wochen lag ich nun mit Fieber und einer Erkältung im Bett und war kaum ausgegangen. Jenny und Alison kümmerten sich rührend um mich und versuchten in ihrer freien Zeit, so gut es ging, meine Langweile zu vertreiben, aber ansonsten sah es wirklich schlecht aus. Wir hatten Ferien, verdammt noch mal. Die letzten, bevor unser erstes Semester an der Uni beginnen würde. Meine Eltern hatten mich unterstützt, wo sie nur konnten, obwohl sie mich insgeheim beide nicht ausziehen lassen wollten. Aber jetzt war ich zwanzig, hatte mein letztes Jahr an der Highschool hinter mir und wollte endlich mein neues Leben hier beginnen. Selbstständig werden. Die komplette Erfahrung haben. Vier Monate war es jetzt her, seit ich in diese kleine Wohnung nach Seattle gezogen war. Ich teilte sie mir mit Jennifer und Alison, die ich beide über die Online-WG-Börse kennengelernt hatte, Letztere beehrte uns allerdings nur mit ihrer Anwesenheit, wenn sie nicht gerade in der luxuriösen Wohnung von Tom, ihrem neuen Freund, lebte.

Ich verstand mich ziemlich gut mit den Mädels und war mir bewusst, wie viel Glück ich hatte, von Anfang an in einer nicht zu teuren Wohngemeinschaft mit sympathischen Mitbewohnerinnen zu landen. Dazu kam außerdem noch, dass wir zu Fuß nur knapp zehn Minuten zum Campus brauchten.

Ich öffnete das Fenster im Badezimmer und lief dann in den Flur, wo es noch eisiger war, selbst für November. Sollte ich mich vor den Fernseher legen und dort diesen Abend verbringen? Ich könnte auch Samuel anrufen. Er war mein bester Freund seit frühester Kindheit. Mittlerweile wohnte auch er in der Stadt, aber ich wollte mich heute niemandem aufdrängen.

Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und ich schaute verwundert zur Tür. Für einen Moment war ich zu abgelenkt, um wahrzunehmen, dass ich noch immer nur mit einem Handtuch bekleidet war.

»Eliza?«, hörte ich Alisons Stimme, eine Sekunde bevor sich die Tür öffnete und sie mit Tom an der Hand hereinspazierte, die Wangen von der Kälte draußen leicht gerötet. Sie sah wie immer super aus, ihre schulterlangen weißblonden Haare umspielten ihr hübsches Gesicht, und ihre Augen strahlten. Tom war breit und riesig, aber auch er sah unbestreitbar gut aus mit seinen dunklen Locken und den blau funkelnden Augen, wenn auch ein bisschen zu muskulös für meinen Geschmack. Aber damit war er exakt ihr Typ, wie ich wusste.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte ich verwirrt.

Tom kicherte, und auch Ally musste grinsen.

»Toms großer Bruder kommt aus L. A., um bei ihm und Alex zu wohnen. Er wird mit uns studieren.«

Das war eine Neuigkeit, zumal ich nicht gewusst hatte, dass Alex, Toms Bruder, und er noch mehr Geschwister hatten, aber es erklärte nicht ihr Auftauchen hier. Gerade wollte ich noch mal nachfragen, als Tom in unser kleines Wohnzimmer lief und sich auf das Ledersofa fallen ließ, während Ally die Küche ansteuerte.

»Ich verstehe ja, dass dir bei den Temperaturen draußen heiß ist, Liz, aber ist das für deine Erkältung besonders gut?« Er deutete lachend auf meine spärliche Bekleidung.

Ich verdrehte die Augen, musste dann aber auch grinsen, während ich schleunigst in mein Zimmer lief, um mir weitere Peinlichkeiten zu ersparen. Ich ließ die Tür offen und schnappte mir Unterwäsche aus meiner kleinen Kommode und meine karierte Pyjamahose, die unter einem meiner unzähligen Kissen lag. »Wollt ihr mir jetzt erklären, warum ihr hier seid?«, rief ich Richtung Wohnzimmer, während ich mich hastig anzog.

»Finns Flieger kommt in ungefähr ’ner Stunde an, und ich muss ihn abholen. Alex hatte kurzfristig keine Zeit, deswegen mach ich’s jetzt halt. Und da dachten Ally und ich, wir könnten dir davor einen Besuch abstatten und dich aus deinem Loch holen.«

Finn – das war wohl der dritte Westwood-Bruder.

Ally kam in mein Zimmer und wuschelte mir durch die nassen Haare, als ich mir gerade ein übergroßes T-Shirt überzog.

»Geht’s dir besser?«, fragte sie und schaute mich mitleidig an. Sie benahm sich manchmal so, als wäre sie Jahre älter als ich, dabei waren es gerade einmal ein paar Monate. Ein bisschen konnte ich es verstehen: Sie war die Vernünftigere von uns beiden und außerdem auch ein ganzes Stück größer als meine 1,65 m.

Ich lächelte sie an. »Es geht. Aber ich freue mich, dass ihr da seid. Du schläfst hier, oder? Wenn Toms Bruder kommt?«

Sie schnappte sich mit einer Hand meinen Wäschekorb und fuhr sich mit der anderen durch ihre Haarpracht. »Ich weiß noch nicht, wahrscheinlich schon, immerhin ist es seine erste Nacht hier, sie wollen sicher Zeit miteinander verbringen … Aber hm … ich glaube nicht, dass Tom es eine Nacht ohne mich aushält«, flüsterte sie verschwörerisch und brachte mich zum Grinsen. Die beiden hatten erst vor wenigen Wochen zueinander gefunden. Es war ekelhaft süß, wie abhängig sie voneinander waren. Doch konnte und wollte ich so etwas nicht nachempfinden.

Wozu sich verlieben, wenn es sich am Ende sowieso nur als Illusion herausstellte? Bei meinen Eltern war es so gewesen. Früher waren sie so ineinander verliebt gewesen, nichts und niemand hätte sie je auseinanderbringen können – jedenfalls hatte ich das damals in meiner Naivität geglaubt. Und dann war die angebliche Liebe plötzlich weg gewesen und meine Kindheit zerstört. So ist das eben manchmal, Eliza. Ich hatte mich monatelang in den Schlaf geweint, aber inzwischen hatte ich es akzeptiert. Wieso sollte ich eine Ausnahme darstellen? Seit ich denken konnte, genoss ich mein Singleleben und verspürte nicht den geringsten Drang, etwas daran zu ändern.

Dann kam mir noch etwas anderes in den Sinn. »Ally, du musst nicht meine Wäsche machen. Ich bin kein Kind mehr!«, erklärte ich gespielt entrüstet.

»Red keinen Blödsinn, Liz, wir wissen beide, dass du so gut wie nie aufräumst, und außerdem bist du krank, das ist doch die perfekte Ausrede für dich.«

Sie grinste mich an und lief aus dem Zimmer, während ich ihr »Dafür koche ich uns heute was!« hinterherrief. Kochen beherrschte ich. Schon immer hatte ich in der Küche mitgeholfen und liebte es. Weder Alison noch Jen hatten meines Erachtens jemals etwas Essbares zustande gebracht, also hatte ich von Anfang an diesen Teil der Hausarbeit übernommen.

Ich lief ins Wohnzimmer, wo inzwischen der Fernseher lief und Tom es sich gemütlich gemacht hatte. Alison hantierte neben dem Badezimmer an der Waschmaschine und summte fröhlich vor sich hin.

Ich setzte mich neben Tom. »Erzähl mal von deinem Bruder.«

Er warf mir einen belustigten Blick zu. »Interesse?«

»Ihr habt mich neugierig gemacht. Ich wusste nicht, dass Alex und du noch einen Bruder habt.«

»Finn ist zweiundzwanzig und war in L. A. auf der Highschool, wo er auch bei unseren Eltern gelebt hat. Jetzt studiert er hier mit uns zusammen an der Uni«, erzählte er, während er wie gebannt irgendein Hockeyspiel verfolgte.

»Was studiert er denn?«

Doch ich bekam keine Antwort, Tom setzte sich laut stöhnend auf und raufte sich die Haare. »Nein! Das darf doch nicht wahr sein! Hast du das gesehen?!«

Ich war mir sicher, dass er zu sich selbst sprach. Meine Begeisterung für Sport hielt sich ziemlich in Grenzen.

In dem Moment kam Ally, und ich fing ihren Blick auf, woraufhin wir beide grinsten und die Augen verdrehten.

»Oh nein, sag mir nicht, deine Mannschaft verliert!«, rief sie mit deutlichem Sarkasmus in der Stimme und setzte sich auf den Schoß ihres Freunds.

Tom umschlang sie reflexartig mit den Armen, aber sein Blick war noch immer auf den Fernseher gerichtet. »Sie sind nur im Rückstand. Wir können das aufholen«, erklärte er todernst, und ich kicherte, was mir einen bösen Blick einbrachte.

Ich stand auf und ging hinüber zur offenen Küche. »Wollt ihr was Bestimmtes essen?«, fragte ich beiläufig.

»Keine Umstände, wir sind bald wieder weg«, kam es von Tom, der sich uns jetzt wieder zuwandte, da die Werbepause eingespielt wurde.

Ally nickte zustimmend. »Ich fahre mit Tom zum Flughafen, und danach komme ich wieder her.«

Tom strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und sah irgendwie verstimmt aus. »Bleibst du heute nicht bei mir?«, fragte er enttäuscht.

Alison drehte sich um und gab ihm einen kleinen Kuss. »Ich dachte, du willst ein bisschen Zeit alleine mit deinem Bruder verbringen?«

»Ach was, du hast doch …«

Sie diskutierten, während ich einen Blick in den Kühlschrank warf und einsah, dass es sinnlos war, etwas kochen zu wollen, während Jen noch einkaufen war. In der Kühltruhe befanden sich lediglich zwei Fertigpizzen, also zuckte ich mit den Schultern und schob sie kurzerhand in die Röhre.

»Ach, Eliza?«

Ich blickte fragend zu Tom.

»Wie wär’s, wenn du heute mitkommst, dann kannst du Finn persönlich kennenlernen und musst nicht mich mit Fragen löchern.« Er zwinkerte mir zu.

»Ich bin krank«, erwiderte ich automatisch, aber gleichzeitig machte sich Neugierde in mir breit. Plötzlich fühlte ich mich gar nicht mehr so schlecht. Gut, mein Hals kratzte noch immer, aber die Dusche hatte mir offenbar gutgetan, meine Kopfschmerzen waren fast ganz verschwunden.

Tom schaute mich kurz nachdenklich an, dann leuchtete sein Gesicht auf. »Okay, ich hab ’ne Idee … Wie wäre es, wenn du dich bis morgen Abend auskurierst und dann mit zum Howl at the Moon kommst und wir beide« – er gab Ally einen Kuss auf die Wange – »Finn abholen gehen und ich dich danach hier ablade? Aber dann schläfst du morgen ganz sicher bei mir, Baby, okay?«

Alison drehte sich recht zufrieden zu ihm um, nickte, und dann fingen die beiden an, sich auf eine Weise zu verschlingen, die ich kaum mit ansehen konnte.

»Hey, Leute, was ist Howl at the … wie war das?«, fragte ich, um sie zu unterbrechen – mit Erfolg.

Sie lösten sich voneinander, und Tom schaute mich ungläubig, Ally belustigt an. »Du kennst nicht …?«, setzte Tom an.

»Das Howl at the Moon ist eine College-Bar mit Livemusik, vor allem Indie und …« – Alison warf mir an dieser Stelle einen bedeutsamen Blick zu – »Rock. Tom und seine Brüder spielen morgen Abend.«

»Sobald wir es geschafft haben, Finn zu überreden – und glaub mir, das werden wir …«, warf Tom ein.

Ich liebte Rockmusik. Von klassisch über Alternative bis Indie war alles dabei. Und ich hatte nicht gewusst, dass die Jungs Musik machten.

»Warte – seit wann macht ihr Musik?«, fragte ich.

»Seit ein paar Jahren … Wir haben in Los Angeles ab und zu gespielt, aber als Alex und ich hierhergezogen sind, war nicht mehr viel los.«

Ich wandte mich Ally zu, für die das Thema offensichtlich nichts Neues war.

»So etwas enthältst du mir vor? Dein Freund ist Musiker?«, fragte ich sie gespielt empört.

Tom lachte, während Alison die Augen verdrehte und mich dann bittend ansah.

»Du darfst das morgen auf keinen Fall verpassen«, bettelte sie, und ich sah ihr an, dass sie sich schon längst sicher war, mich am Haken zu haben. Ich liebte Livemusik, ich war neugierig auf Finn, und außerdem hatte ich es in der letzten Zeit wirklich vermisst auszugehen. Mein Fieber war gesunken. Die Erkältung war zwar noch spürbar, aber auf jeden Fall besser geworden.

Ally sah mich mit leuchtenden Augen an.

»Ich komme mit«, ergab ich mich, und sie sprang jauchzend von Toms Schoß, um mich zu umarmen.

»Ich bin mir sicher, du wirst es nicht bereuen. Du brauchst eine ordentliche Party, um endlich wieder fit zu werden!«

***

Finn

Der Flughafen war überfüllt. Voller Menschen, die sich freudig begrüßten oder von einem Terminal zum anderen eilten, um ihren Flug nicht zu verpassen. Seufzend nahm ich mein Gepäck von der Bandkontrolle und sah mich um. Dutzende Passanten beobachteten mich, und ich verspürte den Drang, meine Augen zu verdrehen. Warum waren alle Menschen gleichermaßen naiv und völlig blind für das Wesentliche? Man akzeptierte mich nur meines Aussehens wegen. Ich hätte ein komplettes Arschloch sein können, niemand hätte sich daran gestört.

Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was unmittelbar vor mir lag. Leise Vorfreude stieg in mir auf. Es war ein ungewöhnliches Gefühl, aber irgendwie auch berechtigt – seit fast einem Jahr hatte ich meine beiden Brüder nicht mehr gesehen. Unsere Eltern waren fast geplatzt vor Glück, als ich endlich eingewilligt hatte, mich an derselben Uni wie Alex und Tom einzuschreiben. Sie hatten versucht, ihre überschwängliche Freude zu verbergen, aber ich hatte es ihnen angesehen, vor allem Laura, unserer Mutter. Ihr unvergleichbarer Optimismus tat mir irgendwie leid. Ich wusste, dass es nicht besser werden würde. Nur anders. Ich hatte keine Lust, mich zu verändern oder mich anzupassen. Tom und Alex kannten mich besser, und sie akzeptierten mich. Wir hatten seit letzter Woche eine Abmachung. Meine Vergangenheit sollte nie wieder zur Sprache kommen, ich sollte ein neuer Mensch werden. Wenigstens äußerlich, wenigstens für die Leute hier. Es war befreiend, aus L. A. rauszukommen, das musste ich zugeben. Es gab jetzt nichts mehr an meiner Umgebung, das mich an früher erinnerte, keine mitleidigen Blicke, keine kahlen weißen Wände mehr.

Ich stellte mich unter das fünfte Terminal und zog das schwarze protzige Handy aus der Tasche – ein Geschenk von meinem Dad Michael zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag.

Ich hatte mich inzwischen an den Reichtum gewöhnt, Michael und Laura gaben nicht damit an, es war okay. Es war zur Gewohnheit geworden, dass Geld keine Rolle mehr in unserem Leben spielte. Doch es war keineswegs so, dass sie nicht viel dafür getan hatten. Michael arbeitete seit Jahren als Psychiater in seiner eigenen Klinik. Und auch Laura war berufstätig, sie hatte ihr künstlerisches Interesse in etwas Handfestes umgewandelt und arbeitete für eine Kunstgalerie.

Die beiden waren erfolgreich, doch der wahre Grund, warum ich sie so sehr schätzte, war nicht etwa das Geld oder ihr Ansehen. Nein, sie waren neben all diesen Dingen auch noch die bodenständigsten Personen, die ich je kennengelernt hatte. Zu meinem unfassbaren Glück.

Meine Finger fuhren automatisch über den Bildschirm und schrieben – wie so oft in der letzten Zeit – Alex’ Namen in das Telefon. Er nahm nach dem ersten Klingeln ab.

»Finn?«

»Nein«, erwiderte ich lächelnd und mit meiner dunkelsten Stimme. »Mr. Westwood ist bei dem Flug hierher Opfer eines schrecklichen Attentats geworden.«

Ein Lachen folgte, im Hintergrund waren auch andere Stimmen zu hören. »Du hast mir auch gefehlt, Kleiner!«

Ich verdrehte die Augen. Er war nur drei Jahre älter als ich, ließ es aber ordentlich raushängen.

»Ich bin gerade angekommen und warte sehnsüchtig auf dich«, sagte ich grinsend und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Wie lange war es her, dass ich lachen konnte, ohne mich dazu zu zwingen?

»Hat Tom dich noch nicht angerufen? Ich kann heute nicht kommen – muss arbeiten –, und er sollte dich eigentlich abholen. Sag mir nicht, er hat’s vergessen!«

»Mach dir keinen Stress, ich bin gerade erst angekommen … Arbeitest du immer noch in dieser Bar?«

»Ja, Emporio, und ich muss gleich wieder los. Wir sehen uns in ungefähr zwei Stunden. Aber erzähl mal … wie war der Flug, und wie geht’s Mom und Dad?«

»Der Flug war ganz okay, ich hab die meiste Zeit geschlafen, und den beiden geht’s super. Laura hat natürlich geheult, aber du weißt ja, das ist normal, alles andere wäre besorgniserregend.«

Alex lachte erneut. »Alles klar, dann ruf jetzt mal Tom an, mal schauen, was er gerade so treibt. Wir sehen uns später, Finn!«

»Bis dann«, murmelte ich und nahm dann das Handy vom Ohr, um Tom anzurufen.

Ich wollte gerade die Wahltaste betätigen, als der hämmernde Sound von The Sharpest Lives von My Chemical Romance erklang, meinem Klingelton. Perfektes Timing.

»Tom?«, fragte ich und musste unwillkürlich grinsen.

»Willkommen!«, brüllte er mir ins Ohr. Im Hintergrund hörte ich, wie sich ein Motor beschleunigte und ein hohes Lachen ertönte. »Ich bin unterwegs, wir sind in fünf Minuten da, Ally ist mitgekommen, dann könnt ihr euch endlich kennenlernen.«

Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich wusste nicht, ob mir das Kennenlernen anderer Menschen am ersten Abend guttun würde. Andererseits erzählte mir Tom jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit von der Frau, die ihm angeblich seine Sinne geraubt hatte. Du willst neu anfangen, redete ich mir ein. Dann musst du jetzt langsam beginnen, dich auch wie ein soziales Wesen zu benehmen. Normale Menschen genießen es, unter Leuten zu sein.

»Okay, cool, ich freu mich«, sagte ich mit so viel Enthusiasmus wie möglich in der Stimme. »Hoffentlich bist du gut genug für sie, wenn sie eine solche perfekte Göttin ist, wie du mir beschrieben hast«, fügte ich hinzu.

Das Nächste, was ich hörte, war Alisons schallendes Lachen, während Tom etwas Undefinierbares grunzte. Ohne darüber nachzudenken, lachte ich schon wieder auf – was war heute nur los mit mir? Es war schwer zu glauben, aber ich hatte tatsächlich gute Laune. Wir verabredeten uns am größten Café, das direkt neben meinem Terminal lag, und verabschiedeten uns knapp, Tom mit hörbarer Freude in der Stimme, und auch ich konnte jetzt nicht mehr leugnen, dass ich erstens neugierig auf die Freundin meines Bruders war und dass ich mich zweitens auf die beiden Verrückten freute.

Ich stellte meine Koffer und den Rucksack vors Café und kramte ein paar Dollar aus den Taschen meiner schwarzen Jeans. Kaum hatte ich den Laden betreten, kam schon die erste junge Frau in meine Richtung gelaufen und warf mir eindeutige Blicke zu. Ich seufzte und stellte mich an die kurze Schlange vor der Kasse, meinen Blick wandte ich der weihnachtlichen Dekoration an den Wänden zu. Weihnachten. Seltsam. Es war noch mehr als ein Monat bis zu diesem Fest. Weihnachten war das Fest der Liebe, der Familie und des Zusammenseins. Genau das, was … Stopp. Keine Rückfälle, ermahnte ich mich innerlich und sah mich um, um mich abzulenken – und bereute es augenblicklich.

Eine Frau in ungefähr meinem Alter beobachtete mich. Sie ließ den Blick langsam von oben nach unten wandern und schmolz dabei förmlich dahin. Ich schüttelte verärgert den Kopf und fragte mich, ob sie nicht wenigstens ein paar Hemmungen besaß. Man könnte meinen, sie würde als Nächstes …

»Ich bin Zoey«, nuschelte sie leicht benommen und hielt mir dann aber entschlossen die Hand hin.

Sie war zweifellos interessiert. Kurz gesagt: Ich würde den Teufel tun und ihr näherkommen. Ich war dieses Verhalten wirklich leid. Da war es in Los Angeles ja noch besser gewesen, wo mich jeder kannte und für einen hoffnungslosen Freak hielt.

Mit deutlicher Mühe nahm ich ganz kurz ihre Hand und lächelte sie schwach an. Das sollte genügen.

»Finn.« Meine Stimme klang vermutlich nur halb so gelangweilt, wie ich mich fühlte, doch das schien sie nicht zu bemerken.

Während ich ein Stöhnen unterdrückte, drehte ich mich wieder um und war sehr froh darüber, dass ich an der Reihe mit meiner Bestellung war und somit Zoey noch halbwegs freundlich abwürgen konnte.

Hinter dem Tresen stand – dem Himmel sei Dank – ein Kerl, der höchstwahrscheinlich kein Interesse hatte, so wie er schaute. Ich bestellte einen doppelten Espresso. Nachdem ich den Kaffee entgegengenommen und bezahlt hatte, verließ ich so schnell wie möglich das Café, ohne auch nur im Geringsten auf Zoeys enttäuschte Blicke zu achten.

Zehn Minuten später sah ich meinen großen Bruder mit einer hellblonden Frau in meine Richtung laufen. Tom war riesig und breit wie immer, und er wirkte noch fröhlicher als das letzte Mal, als wir uns gesehen hatten. Wahrscheinlich lag es an Alison. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und ich konnte aus der Ferne beobachten, dass sie sich angrinsten.

Ein Lächeln breitete sich wieder auf meinem Gesicht aus, als sie vor mir standen und mein Bruder seine Freundin losließ, um mir freundschaftlich auf den Rücken zu klopfen.

»Hey, Finn! Wie geht’s dir? Wie war der Flug?«

»War ganz okay, ich freu mich, hier zu sein.«

Mein Blick wanderte zu Alison, die mich mit einer Mischung aus Neugier und Freundlichkeit betrachtete.

Tom trat zurück. »Das ist Ally, meine perfekte Göttin«, sagte er mit einem Kichern, woraufhin wir ihn beide auslachten. »Baby – mein kleiner Bruder aus dem sonnigen L. A.«

Ich verdrehte wieder die Augen und umarmte dann Alison, die mich jetzt offen angrinste. Sie war mir seltsamerweise sofort sympathisch. Das lag dann wohl daran, dass sie mich weder angaffte, als wäre ich das einzige männliche Wesen im näheren Umkreis, noch auf irgendeine Weise peinlich berührt durch meine Anwesenheit war. Na bitte, es ging doch.

Wir fuhren mit Toms geräumigem Wagen in Richtung Stadtmitte, während Alison mich über alles Mögliche ausfragte: mein Studium, meinen Musikgeschmack, die Erwartungen, die ich an Seattle hatte, und natürlich Los Angeles.

»Ich fühle mich, als hätte ich hier einen Test zu bestehen. Tom, was hast du ihr für schreckliche Sachen über mich erzählt, dass sie mich jetzt so löchert?«

Alison kicherte, und Tom drehte sich zu mir um und warf mir einen belustigten Blick zu.

»Nur die Wahrheit«, antwortete er mit einem Grinsen, drehte das Radio auf volle Lautstärke und gab Gas.

***

November 6th, 12:15 a. m.

»Wie bitte?!« Perplex drehte ich mich zu meinen Brüdern um. »Das ist nicht euer Ernst, oder?«

Alex lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war vor einer Stunde zu Toms Wohnung gekommen, wo ich in nächster Zeit leben würde, wie ich bis vor einer Sekunde geglaubt hatte.

Ich starrte zum fünften Mal vom Schlüssel, den Tom mir in die Hand gedrückt hatte, zur Tür, die ein Stockwerk über seiner lag, und wieder zurück zu meinen Brüdern.

»Sehen wir so aus, als würden wir Witze machen? Komm schon, schließ auf.« Tom kicherte. »Auf den Moment haben wir seit Monaten gewartet. Um genau zu sein, seit du gesagt hast, du würdest sicher kommen. Stimmt’s, Alex?«

Er nickte. »Wir haben lange nach etwas gesucht, das dir gefallen würde, und fanden diese Wohnung passend – das perfekte Willkommensgeschenk, oder?«

Noch immer fühlte ich mich benommen, als ich den Messingschlüssel ins Schloss steckte. Am Schlüssel hing ein Anhänger, eine silberne E-Gitarre.

Nachdem ich die Tür aufgestoßen hatte, hielt ich beeindruckt inne. Diese Wohnung war genau auf meine Ansprüche abgestimmt. Eigentlich war es mehr ein Loft als eine Wohnung, die verschiedenen Wohnbereiche gingen ineinander über. Rechts von mir befand sich das Wohnzimmer: eine schlichte schwarze Ledercouch, groß genug, um zwei Menschen darauf sitzen zu lassen. Links und rechts davon standen die dazu passenden Sessel, und gegenüber war ein schwarzer Flachbildfernseher angebracht, gerade die richtige Größe, um nicht übertrieben zu wirken. Dahinter war eine Kochnische – nichts Besonderes, nur die wichtigsten Utensilien, um zurechtzukommen. Die Küche war in braunem Holz gehalten, genauso wie der Esstisch, der gleich daneben stand. Gegenüber der Tür stand ein einfacher Schreibtisch, der Platz für mein Notebook bot und auf dem sich jetzt eine komplette Schreibausrüstung befand. Diese würde ich für mein Studium gut gebrauchen können.

»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«

Alex deutete auf die Tür hinter der Couch. »Dein Schlafzimmer«, erklärte er lächelnd. »Aber du hast später mehr Zeit, dich umzuschauen.« Er drehte sich zu Tom. »Komm, zeigen wir ihm das Dach, dann können wir auch die restlichen Details besprechen.«

»Seid ihr verrückt geworden?«

Sie liefen beide mit selbstzufriedenen Gesichtsausdrücken in die Küche und dann durch die Glastür, die ich jetzt erst dort bemerkte. Ich folgte ihnen benommen und konnte mein Glück noch nicht ganz fassen. Langsam, aber sicher machte sich das Gefühl in mir breit, dass es vielleicht doch ganz gut gewesen war hierherzukommen. Ich sah meine Brüder jeden Tag, hatte aber trotzdem eine eigene Wohnung, in der ich meine Ruhe haben konnte.

Die Dachterrasse war klein, der Ausblick überwältigend. Gerade jetzt, mitten in der Nacht, konnte man all die Lichter der Stadt sehen, während von den Straßen unter uns entfernte Geräusche zu uns drangen. Alex und Tom hatten sich schon auf zwei der Holzstühle gesetzt, die zusammen mit einem winzigen Tisch nah am Geländer standen. Beide grinsten mich an und warteten auf eine Reaktion.

Ich fuhr mir durch die Haare. »Ich glaube, ich hab die richtige Entscheidung getroffen hierherzukommen. Danke.«

»Wir wollen einen Neuanfang für dich«, meinte Alex, und sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich ernster.

Ich hoffte, er würde jetzt nicht das Thema ansprechen, über das ich ganz und gar nicht reden wollte.

»Bau dir hier was Neues auf, vergiss, was war.«

Ich räusperte mich und lief zu dem dritten Stuhl, um mich darauf niederzulassen.

»Ich weiß das alles hier zu schätzen und auch, dass ihr mir helfen wollt. Ich will auch einen Neuanfang«, murmelte ich abweisend und stützte mich mit den Ellbogen an den Stuhllehnen ab.

Eine Weile blieb es still, während wir alle vor uns hin starrten. Ich hoffte inständig, die beiden würden das als Warnung verstehen und nicht mehr davon anfangen. Ich hatte keine Nerven dazu, immer und immer wieder daran erinnert zu werden.

»Super«, meldete sich Tom zu Wort, und seine Stimme klang nach wie vor zuversichtlich. »Apropos Neuanfang, wir haben was mit dir zu besprechen …«

Fragend blickte ich vom einen zum anderen. Alex sah irgendwie vorsichtig aus, als hätte er Angst vor einem großen Ausbruch, Toms Gesichtsausdruck verriet pure Entschlossenheit.

»Also, es gibt hier einen ziemlich angesagten Club oder eine Bar oder wie auch immer du es nennen willst. Das Howl at the Moon. Es ist ein Schuppen für Livemusik, meistens Classic-Rock und Indie. Tja, und da morgen eine Party steigt und so ziemlich alle Studenten dort sein werden, haben wir uns überlegt, dass wir denen mal ein bisschen einheizen und dich so ganz nebenbei vorstellen können.« Er grinste, als wäre ihm der Sieg schon sicher.

In meinem Kopf fing es an zu arbeiten. Sie wollten mich den Leuten vorstellen, und zufällig handelte es sich um eine Bar, in der Livemusik gespielt wurde. Bestimmt traten dort Amateur-Bands auf, genau wie wir es früher in Los Angeles getan hatten.

Und wie stellte man am besten den Bruder der berühmten – und ich war mir sicher, Tom und Alex waren hier berüchtigt – Westwoods dem ganzen Semesterjahrgang vor? Richtig, man nehme ihn, stelle ihn auf die Bühne, drücke ihm ein Mikro in die Hand, dazu noch seine Gitarre und …

»Würdest du morgen Abend mit uns auftreten?«

***

Eliza

Während ich mir eine Wiederholung einer uralten Sitcom im Fernsehen anschaute, klingelte es erneut. Schlurfend lief ich zur Tür und riss sie schwungvoll auf – vor mir stand eine vollbepackte Jenny, die sich an mir vorbeidrängte, um ins Innere der Wohnung zu kommen. Sobald ich Anstalten machte, ihr ein paar Tüten aus der Hand zu nehmen, grinste sie und schüttelte die dichten roten Locken.

»Oh nein, du ruhst dich mal schön aus, du hast es echt nötig.«

Ich verdrehte die Augen, legte mich dann aber wieder brav aufs Sofa.

»Ach so, was ich dir sagen wollte: Sam kommt morgen vorbei, um den Wasserhahn in der Küche zu reparieren – ich hab ihn gefragt, er hat Zeit. Ich hab ihn im Supermarkt getroffen. Er wollte eigentlich jetzt noch kommen, aber ich hab ihm gesagt, du würdest noch ein bisschen Ruhe brauchen, schließlich geht’s für uns alle ja am Montag mit der Uni los. Aber er freut sich schon auf morgen, du weißt schon – die Party.«

Wie so oft, wenn Jenny mich mit einem Schwall von Informationen überschüttete, war ich leicht verwirrt. Langsam drang das, was sie mir eben gesagt hatte, zu mir durch.

»Warte … du weißt auch von der Party?«

»Süße, jeder weiß davon«, erwiderte sie mit einem mitleidigen Lächeln, während sie die Einkäufe in Windeseile in die Schränke räumte. »Du hast wirklich zu lange in diesem Kaff gewohnt«, meinte sie grinsend. »Erstens ist das Howl at the Moon die angesagteste College-Bar im ganzen Zentrum, und außerdem sollen doch die Westwoods morgen spielen. Es ist das Event des Monats, Elizabeth.« Sie zwinkerte mir zu – natürlich kannte auch Jenny meine große Abneigung gegen den Namen, den meine Eltern mir gegeben hatten, aber sie liebte es, mich ein wenig zu ärgern.

»Okay, es hört sich immer besser an, wenn du jetzt auch mitkommst. Weißt du zufällig, mit wem Sam hingeht?« Jetzt war es an mir, sie anzuzwinkern.

Sie zuckte mit den Achseln, als wäre es ihr gleichgültig, aber die leichte Röte ihrer Wangen verriet sie.

»Und wenn du möchtest, kann ich morgen vor der Party kurz mit Ally verschwinden, dann habt ihr die Wohnung für euch«, fuhr ich mit Unschuldsmiene fort und bekam ein Sitzpolster an den Kopf geworfen.

»Du weißt ganz genau, dass wir nur Freunde sind!«

Lachend setzte ich mich auf und nickte ironisch. »Na sicher. Deshalb grinst du auch immer wie ein Honigkuchenpferd, wenn sein Name fällt. Und wo wir gerade beim Thema sind, hat es zufällig was mit eurem Zusammentreffen zu tun, dass du eine Dreiviertelstunde länger als sonst gebraucht hast?«

»Ich rede nicht mehr mit dir«, verkündete sie, aber ich sah, wie ein Grinsen über ihr Gesicht huschte. Früher oder später würden die beiden zusammenfinden, da war ich mir sicher. Jetzt müsste ich nur noch zufälligerweise ein paar Sätze bei Samuel fallen lassen, und die Sache wäre in Butter. Er war verschossen in meine Mitbewohnerin, seit wir beide hierhergezogen waren, nur war er zu schüchtern, um den ersten Schritt zu wagen.

Jenny setzte sich mit einem Pudding zu mir, und ich legte meinen Kopf in ihren Schoß.

Eine Weile sagten wir beide nichts, bis meine Gedanken wieder in diese seltsame Richtung führten. Sie kannte Alex, da die beiden am Wochenende in derselben Bar jobbten, also vielleicht konnte sie mir mehr über den mysteriösen dritten Westwood-Bruder erzählen.

»Sag mal, hast du irgendetwas von diesem Finn mitbekommen?«

»Hmm … ja«, nuschelte sie und schob sich genüsslich einen weiteren Löffel Schokoladenpudding in den Mund. »Alex hatte vorhin saugute Laune, weil er heute kommt, um bei ihnen zu wohnen. Ich glaube, die stehen sich alle ziemlich nah. Und Finn wird in einem neuen Loft direkt über Tom wohnen, das ist sozusagen sein Willkommensgeschenk, das Geld haben sie ja«, plapperte sie los und blickte dann misstrauisch zu mir. »Aber wieso interessiert dich das? Ich dachte, du bist zufrieden mit deinem Singleleben.«

»Bin ich auch«, versuchte ich mich herauszureden. »Ich darf doch neugierig sein, ich wusste bis heute Morgen nicht, dass dieser Finn überhaupt existiert. Seit wann weißt du eigentlich von ihm?« Ein Themenwechsel. Genau das Richtige. Nicht, dass sie noch dachte, ich hätte mich mehr mit ihm befasst. Sonst würde sie sicher Verkupplungsversuche starten.

»Ach, Ally hat ihn vor einigen Wochen erwähnt, als gerade feststand, dass er kommen würde. Ich frage mich nur, wieso wir erst so spät von ihm erfahren haben. Was es wohl damit auf sich hat?«, fuhr sie schon in Gedanken fort.

***

Finn

November 6th, 1:00 a. m.

Tom und Alex waren vor wenigen Minuten gegangen. Ich saß noch immer auf der neuen – auf meiner neuen Terrasse. Der Ausblick von hier oben aus dem sechsundzwanzigsten Stock war wirklich hervorragend. Ich freute mich aufrichtig über das Geschenk der beiden, nur konnte ich es im Moment nicht genießen. In meinem Kopf herrschte wieder ein heilloses Durcheinander, und mit meinen Brüdern war auch die heitere Stimmung gegangen.

Ein Teil von mir fing wieder an, sich zu fragen, warum ich überhaupt hier war. Warum ich mir das antat.

Zu Hause in L. A. befand ich mich auf sicherem Terrain. Hier hatte ich keine Ahnung, worauf ich mich einließ. Ich war kaum einen Tag hier, da sollte ich mich schon von mehreren Leuten begaffen lassen, die sowieso kein Interesse an mir, sondern nur an meinem ach so tollen Aussehen hatten.

Aber andererseits war ich dankbar, von Laura und Michael wegzukommen.

Ich musste zugeben, dass es nicht das Schlimmste war, vor versammelter Menge zu singen. Das konnte ich, es lag mir einfach. Und das Gute daran war, dass es mich auch noch ablenkte. Ich musste nicht nachdenken, wenn ich die Saiten unter meinen Fingern spürte und das Mikro an meinen Lippen.

Außerdem waren Alex und Tom dann zufrieden, und ich konnte ihnen allen ein bisschen Normalität vorgaukeln. Je mehr ich sie davon überzeugen konnte, dass alles in Ordnung war, desto weniger würden sie mich mit Fragen quälen. Fragen nach meinem Befinden zum Beispiel. Oder nach meinen Zielen, meinen Wünschen und Träumen. Nach meiner Zukunft. Was wollte ich mit meinem Leben anfangen?

Die Antwort war simpel: gar nichts. Am schönsten wäre es, jetzt einfach aufzustehen, ans Geländer zu gehen und … ja, was dann?

Ich könnte springen, dachte ich. Und währenddessen die Vergänglichkeit dieses Lebens in jeder Faser meines Körpers spüren.

Was sitzt du dann noch hier? murmelte eine leise Stimme in meinem Kopf. Du könntest es doch tun. Jetzt. Hier. Du müsstest keinen Gedanken mehr an all das verschwenden.

Ich schüttelte den Kopf, dann stützte ich ihn verzweifelt in meine Hände und raufte mir die Haare. Nach wenigen Sekunden stand ich abrupt auf und warf dabei den Holzstuhl um. Es interessierte mich nicht, ich musste einfach weg hier. Weg von dieser Terrasse, hinein in meine neue Wohnung, wo keine Gefahr lauerte.

Ich rannte ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter mir. Mein Atem ging schneller, mein Herz klopfte. Ich versuchte mich zu beruhigen und schaute mich zur Ablenkung in dem Zimmer um. Es war riesig. In der Mitte stand ein Doppelbett aus schlichtem schwarzem Holz. Auch hier befanden sich ein Schreibtisch aus dem gleichen Material und ein dazu passender Stuhl mit Lederbezug.

Ich dachte kurz nach, verdrängte die vorherigen Gedanken und lief dann kurzerhand zurück in den Flur, um meine Koffer zu holen.

Nach einer halben Stunde waren all meine CDs und die große Musikanlage eingeräumt, und auch in dem begehbaren Schrank hatte ich einiges an Kleidung untergebracht. Das Zimmer sah gleich heimischer aus. Ich war noch immer nicht müde, noch immer nicht bereit, schlafen zu gehen, weil mich sonst die Gedanken leiden lassen würden. Schmerz machte mir eigentlich nichts aus, ich hatte mich mein Leben lang daran gewöhnt, nur würde ich wieder in einen Rausch verfallen und wie eben in diesem kurzen Augenblick auf der Dachterrasse die Kontrolle über mich verlieren.

Das durfte ab jetzt nicht mehr passieren. Ich hatte mich endgültig entschieden. Ich wollte kein Psychopath sein, nicht hier, nicht jetzt. Es war ein für alle Mal genug, sagte ich mir und lief zu meiner gerade aufgebauten Anlage, um Musik aufzulegen.

Dabei fiel mir auf, dass es draußen in Strömen zu regnen angefangen hatte und die Stühle noch auf der Terrasse standen. Ohne groß zu überlegen, drehte ich mich um, dann bemerkte ich aber, dass ich gar nicht in die Küche musste, um nach draußen zu kommen. Von der Fensterbank des riesigen Fensters über meinem Bett konnte man genauso problemlos aufs Dach gelangen. Ich schlüpfte hindurch, ohne irgendeinen Gedanken daran zu verschwenden, dass ich nur wenige Minuten zuvor von dort geflohen war.

Nachdem ich die Möbel unter dem Vordach der Terrasse in Sicherheit gebracht hatte und wieder zurück in mein Zimmer gestiegen war, zog ich mich langsam aus.

Ich würde eine heiße Dusche nehmen und danach sofort ins Bett gehen, in der Hoffnung, dass die Müdigkeit mich doch noch übermannte.

Seufzend öffnete ich die Tür zum Badezimmer, während meine Gedanken wieder zum morgigen Tag wanderten. Ich war mir sicher, es würde mich enorme Anstrengung kosten, mich normal zu benehmen. Ich war aus der Übung. Aber wenn ich heute noch ein wenig Glück hatte, dann würden die hinterlistigen Gedanken mich vielleicht für diese Nacht verschonen und ein bisschen schlafen lassen.

***

Eliza

November 6th, 8:20 p. m.

Tausende Kleideranproben, ein paar Gläser Wein und ein einstündiges Telefonat mit meiner Mutter später stand ich alleine in unserer Wohnung und begutachtete mich im Wandspiegel meines Zimmers. Die Stilettos von Ally sahen unbestreitbar gut aus und passten perfekt zu meiner Hose in Lederoptik. Darüber trug ich eine dunkelblaue Bluse mit tiefem Ausschnitt und einen grauen Strickschal, damit ich keinen Krankheitsrückfall erlitt. Schließlich herrschten draußen schon Minustemperaturen – ich hatte aus dem Fenster sogar ein paar Schneeflocken gesehen.

Meine Mitbewohnerinnen waren schon lange gegangen, nachdem wir uns ausgiebig gestylt und betrunken hatten. Ich war diejenige, die am wenigsten vertrug, aber ich hatte mich heute nicht zurückgehalten. Ich wollte meinen Spaß. Wir waren kurz vor dem ersten Semester! Wenn nicht jetzt, wann dann? Und solange ich gerade laufen und denken konnte, war ja alles in Ordnung.

Was aber definitiv nicht in Ordnung war, war der Zeiger der tickenden Uhr auf meinem Nachttisch, wie ich in diesem Moment feststellte.

Ich stieß einen kleinen Schrei aus und raste ins Badezimmer. Verdammt noch mal, wo war die Zeit geblieben, es war schon zwanzig nach acht! Ich blickte gehetzt mein Spiegelbild über dem Waschbecken an und fuhr mir in Windeseile mit meinem dunkelroten Lippenstift über die Lippen. Im nächsten Moment wirbelte ich schon wieder zurück in mein Zimmer und schnappte mir meine zum Glück schon fertig gepackte Tasche von meinem Bett. Ich schwankte kurz und wäre fast auf dem Holzboden ausgerutscht, da ich für einen Augenblick vergessen hatte, was für Schuhe ich an den Füßen trug, dann kramte ich mein Handy hervor und gab Allys Nummer ein. Während es wählte, war ich schon zur Tür gerannt, hatte meine Jeansjacke vom Jackenständer gerissen und meinen Schlüssel in der Tasche verstaut.

Nachdem die Tür abgeschlossen war und ich durch das Treppenhaus nach unten rannte, klickte es endlich in der Leitung, und ich atmete schon erleichtert auf, als die Mailbox ertönte. Ich fluchte vor mich hin und kassierte deshalb einen entrüsteten Blick unserer über achtzigjährigen Nachbarin, die gerade durch die Tür lief.

Ich schenkte ihr keine weitere Beachtung, da ich gerade ein Taxi ein paar Meter von mir entfernt an der Straßenseite halten sah. Eine Frau stieg aus, und ich rannte schon darauf zu, als mir ein Typ im Anzug mit triumphierendem Gesichtsausdruck das Taxi vor der Nase wegschnappte. Typisch Großstadt. Ich rief ihm ein aufgebrachtes »Penner!« hinterher, was er leider nicht mehr hörte, weil er die Autotür schon geschlossen hatte. Normalerweise würde ich den nächsten Bus nehmen, aber zur nächsten Haltestelle lief man über zehn Minuten, und das schien jetzt mit der Verspätung unmöglich.

Ich winkte wie wild vorbeifahrenden Taxis zu, um nicht noch später zum Howl at the Moon zu kommen. Wäre ich doch bloß vorhin mit den anderen gegangen! Endlich reagierte einer der Taxifahrer auf meine Bemühungen und hielt neben mir. Ich stieg schnell ein, wobei ich fast auf der glatten Straße ausgerutscht wäre. Die Schuhe, Eliza, denk an die Schuhe, ermahnte ich mich innerlich. Gerade noch rechtzeitig konnte ich mich fangen und hievte mich ins Wageninnere. Der Taxifahrer schaute mich fragend an. Ich las die Adresse von meinem Handydisplay ab. Das Taxi fuhr endlich los und reihte sich in den Verkehr auf der überfüllten Straße ein. Ich lehnte mich schwer atmend zurück und hoffte inständig, die Fahrt würde nicht zu lange dauern, während meine Finger wieder über meine Handytasten fuhren, um Jenny anzurufen.

Natürlich ging auch sie nicht an ihr Telefon, und so verbrachte ich die restliche zwanzigminütige Fahrt damit, aus dem Fenster zu schauen und mich etwas zu entspannen. Taxi fahren war jedes Mal Luxus pur für mich. Ich fühlte mich der Stadt so nah, wenn die Lichter an mir vorbeiblitzten.

Als das Auto langsamer wurde, hielt ich dem Fahrer ein paar Geldscheine hin, stieg aus und rief ein »Danke, stimmt so!« hinterher, während ich meine Tasche hastig über die Schulter warf und dem blinkenden Neonschild, das einen heulenden Wolf auf einem Klavier zeigte, entgegenrannte. Gott sei Dank, wenigstens war ich hier ganz sicher richtig. Ein schneller Blick auf mein Handy sagte mir, dass es schon kurz nach neun Uhr war – Ally und Jen machten sich bestimmt schon Sorgen, andererseits hatten sie mich vermutlich vergessen, denn noch immer ging keine an ihr Handy.

Ich hatte gerade die Tür erreicht, hörte schon die gedämpfte Rockmusik von innen und schlüpfte hinein, da passierte es: Ich rutschte auf dem vom Schneeregen nassen Boden aus, verlor mein Gleichgewicht und stolperte in etwas – jemanden, der gerade aus dem Club hinaustreten wollte.

Meine Nase würde in Sekundenschnelle Bekanntschaft mit dem Boden machen, wenn ich nichts dagegen unternahm. Das Erste, das mir auf die Schnelle einfiel, waren meine ausgestreckten Hände. Verdammt, warum hatte ich mir auch diese Mörderschuhe von Ally aufzwingen lassen, noch dazu bei diesem Scheißwetter?

Es dauerte einige Augenblicke, bis ich realisierte, dass ich immer noch auf beiden Beinen stand und es seltsam gemütlich war. Dazu kam noch dieser unglaubliche Duft von Regen, Erde oder Holz und etwas Süßem, das ich nicht identifizieren konnte.

Zwei Arme hielten mich fest. Ich konnte die Muskeln und die Wärme durch die Lederjacke, in der die Arme steckten, spüren.

Gott, war das peinlich, jetzt würde der Typ mich bestimmt gleich zur Sau machen. Vorsichtig blinzelte ich, hob dann langsam den Blick und erstarrte.

Ein helles Augenpaar schaute mir ins Gesicht und nahm mir den Atem.

Ich blinzelte erneut heftig, um dann festzustellen, dass es zu einem jungen Mann gehörte. Für einen Moment schloss ich die Augen.

Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder war das gerade eine Erscheinung, die dank des Alkohols in meinem Kopf herumspukte und mich etwas glauben ließ, das nicht wirklich existierte, oder ich hatte gerade einen Gott vor mir. Oder besser gesagt: Er hielt mich in seinen starken, perfekt trainierten Armen.

Ich öffnete meine Augen wieder – er war immer noch da. Langsam stolperte ich einen Schritt zurück – vielleicht würde er sich ja gleich in Luft auflösen –, aber er machte keine Anstalten, mich loszulassen, sondern folgte mir.

Nachdem ich mich von seinen Augen losreißen konnte, musterte ich den Rest seines Äußeren: Die Haare waren dunkelblond und durcheinander – bestimmt hatte er Stunden vor dem Spiegel verbracht, um sie so zerzaust hinzubekommen, mit Erfolg, sie sahen nämlich perfekt aus –, und ich konnte nur mühsam den aufkommenden Drang unterdrücken, meine Hände augenblicklich darin zu vergraben.

Super, der Alkohol wirkte zweifellos.

Seine Gesichtszüge waren perfekt. Ich fand kein anderes Wort dafür, markantes Kinn, gerade Nase, vollkommene Lippen. Und sein Geruch, sein wunderbar süßlich herber Geruch … Ich atmete tief ein und konnte nicht aufhören, ihn zu bestaunen. Mein Blick blieb an seinem hängen, nachdem mein Gehirn jedes andere Detail seines Gesichts eingespeichert hatte. Ich war mir nicht sicher, wie lange ich darin versank, bis mir plötzlich der Gedanke kam, dass ich mich hier gerade zur Idiotin machte. Vielleicht sollte ich mich entschuldigen, in ihn hineingelaufen zu sein, oder vielleicht sollte ich ihn einfach an mich reißen und nie wieder … Konzentration, Eliza!

Warum zur Hölle benahm ich mich so, als hätte ich noch nie in meinem Leben einen gut aussehenden Mann gesehen?

Das liegt vielleicht daran, dass du noch nie so einen Mann gesehen hast, verhöhnte mich die kleine Stimme in meinem Kopf. Und ich musste ihr zustimmen, denn ich hatte so jemanden wie ihn noch nie gesehen. Ich hatte gedacht, die Westwoods seien schöne Männer, wie, bitte schön, sollte ich dann den hier beschreiben?

Er hatte seine Augenbrauen zusammengezogen und sah dabei so sexy aus, dass alles andere unwichtig wurde. Aber der Ausdruck in den hellgrünen Augen war irgendwie frustriert … oder besorgt? Eigentlich war es mir gleich, ich wollte einfach nur diese Situation genießen. Seine Hände waren um meine Unterarme geschlungen, hielten mich fest, aber nicht so sehr, dass sie mir wehtaten.

Ich schüttelte den Kopf, um ihn freizukriegen. Besser gesagt als getan – die Lippen des Geschöpfs vor mir teilten sich gerade und brachten mich wieder an die Grenzen meiner Beherrschung.

»Ist alles okay mit dir, Kleine?«, fragte er, und ich schmolz dahin beim Klang seiner tiefen, etwas heiseren Stimme. Alles in mir fing zu kribbeln an. Verlor ich gerade den Verstand? Wahrscheinlich war mein Kopf so vernebelt, dass ich Dinge sah, die nicht da waren.

»Hm … Ja, sorry, dass ich …« Meine Stimme verlor sich irgendwo im harten Bass, der gerade im Hintergrund ertönte. Ich räusperte mich und startete einen zweiten Versuch. »Tut mir leid, dass ich dich fast umgeworfen hab«, brachte ich etwas verständlicher hervor. Während ich sprach, wich ich seinem Blick aus. Mein Kopf schwirrte, und plötzlich schwankte ich. Verdammt, hätte ich bloß nicht so viel mit den Mädels getrunken … Ich vertrug aber auch wirklich kaum etwas.

Im nächsten Moment hätte ich die Welt umarmen können – er zog mich näher zu sich, und der Ausdruck in seinen Augen wurde hart und glühend.

»Dazu braucht es schon mehr. Aber ich glaube nicht, dass du es alleine schaffst. Ist dir schwindelig?«

»Ja«, wollte ich sagen. Natürlich war mir schwindelig, aber das lag größtenteils an seiner berauschenden Nähe. Oder am Wein, ich war mir nicht ganz sicher. Benommen schloss ich die Augen. »Ist schon okay …«

Und das Nächste, was ich mitbekam, waren seine Hände, die wirklich erstaunlich stark waren und mich jetzt hinein in die Bar zogen. Ich blinzelte – er führte mich vorbei an Tischen, Theken und Hockern. Der Laden war überfüllt, aber ich hatte nicht das geringste Bedürfnis, mich nach irgendwelchen Menschen umzuschauen, während er an meiner Seite war.

Die Musik dröhnte immer noch laut an meinen Ohren, und ich ließ mich widerstandslos von dem wunderschönen Mann mitreißen, der mich jetzt energisch in einen dunklen Flur führte. Die Toiletten kamen in Sicht. Die Alarmglocken im hinteren Teil meines Gehirns fingen aus weiter Ferne an zu klingeln. Was hat er vor?

Er zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Ohne mir Zeit zu lassen, mich zu fangen, steuerte er eine Tür neben der Toilette an, und ich konnte nichts anderes tun, als ihn sprachlos anzustarren. Was zum Teufel taten wir hier?

Er hielt mir die Tür auf, und ich schlüpfte hinein. Wir befanden uns in einem kleinen, dunklen Raum, und bevor meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten, war er schon wieder bei mir, stellte sich vor mich und nahm mir jede Sicht.

»Ich weiß nicht, warum ich dich hierherbringe«, murmelte er leise, wie zu sich selbst, und trat langsam näher. Jetzt konnte ich ihn besser sehen – seine Augen funkelten so hell. War er angetrunken, so wie ich? Wieso brachte er mich sonst in diesen Raum? War er ein Serienkiller?

Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befanden, zumal ich noch nie in diesem Club gewesen war, aber wir konnten von hier aus noch deutlich die Musik hören, also war es nicht allzu weit von der Bar entfernt. Es war kühl hier, fast wie draußen, aber vermischt mit einem Geruch nach Holz und seinem unverwechselbaren Duft. Trug er Parfüm? Wenn ja, dann wollte ich den Namen wissen – ich hatte nie etwas Vergleichbares gerochen.

»Wo sind …« Ich verstummte, als sich ein warmer Finger an meine Lippen legte. Mit großen Augen blickte ich ihn an. Fragend, suchend nach etwas … einem Grund, warum er mich mitgezogen hatte.

Doch im selben Moment bemerkte ich, dass ich mir die gleichen Fragen stellen konnte – warum war ich hier mit ihm? Warum hatte ich mich widerstandslos mitziehen lassen?

»Keine Fragen.« Seine Stimme war nur ein Hauchen, und ich spürte, wie sich eine Gänsehaut über meinen Körper legte.

Ich hörte das Ticken einer Uhr ganz nah an meinem Ohr. Die Sekunden vergingen quälend langsam, ohne dass er ein Wort sprach, und dann plötzlich sah ich etwas in seinem Blick – ein Flackern, das langsam zu einem glühenden Lodern wurde, vermischt mit Verzweiflung.

Mit einem Mal wurden alle Fragen bedeutungslos, ich sah seinen leidenschaftlichen Blick und ertrank darin. Ein brennender Wunsch erschien anstelle der Verwirrung in mir. Ein Wunsch, genauso irrational wie die ganze Situation …

Ich hob meine Hand wie in Trance und berührte seinen Finger, der nach wie vor auf meinem Mund lag.

Dann ging alles ganz schnell. Mit einer Bewegung schob er fast schon grob unsere Hände beiseite, umschlang meine Hüfte, legte seine andere Hand an meinen Nacken und drückte mich nach hinten. Ich stieß an keine harte Wand wie vermutet, sondern an etwas Weiches, aber ich verschwendete meine Zeit nicht damit, mir Gedanken zu machen, gegen was wir beide im nächsten Moment krachen würden.

Er drückte seinen Körper an meinen. Ich hielt die Luft an, und mein Herz setzte für einen Schlag aus, während sein Atem warm gegen mein Gesicht strömte. Hatte mich jemals ein Mann so berührt?

Seine Augen waren jetzt ein einziges Glühen. Im nächsten Moment beugte er sich zu mir. Ich dachte nicht mehr nach. Alles drehte sich um uns und wurde unbedeutend. Für eine Millisekunde starrte er in meine Augen, als würde er etwas darin suchen. Zustimmung vielleicht? Ich war mir sicher, er fand sie, denn einen Moment später überbrückte er in einem Atemzug den Abstand zwischen uns und presste seine Lippen voller Begierde gegen meine.

Draußen, in der Realität, schrie der Leadsänger seine Verzweiflung im Refrain heraus.

2. KAPITEL: BETWEEN PLEASURE AND PAIN

2. KAPITEL

BETWEEN PLEASURE AND PAIN

Finn

November 6th, 8:00 p. m.

Ich wusch mir die Hände und starrte währenddessen mein Spiegelbild im riesigen Spiegel an. Unter meinen Augen befanden sich dunkle Schatten, es war mir gestern Nacht nicht wirklich gelungen, allzu viel Schlaf zu bekommen. Ich befand mich in den riesigen Toiletten des Howl at the Moon, und es waren nur noch ein paar Minuten bis acht Uhr.

Tom und Alex waren wahrscheinlich gerade backstage und bereiteten sich für den Auftritt vor. Die zwei waren ungefähr genauso sehr aus der Übung wie ich, aber es gab einen großen Unterschied: Im Gegensatz zu den beiden musste ich spielen und singen. Ich war ein bisschen nervös, aber weniger wegen des Auftrittes als wegen der vielen Leute. Egal, heute musste ich da durch, das hatte ich mir selbst versprochen.

Anschließend wollte ich schnell wieder verschwinden, wenigstens von der Bühne. Mir war klar, dass ich zum Gesprächsthema der Studenten werden würde. Ich war neu, und ich war mit Tom und Alex verwandt. Seufzend trocknete ich meine Hände ab und lief zur Tür.

Der Backstage-Raum befand sich direkt neben den Toiletten. Wir hatten vorhin alle einen Schlüssel von Mr. Erikson, dem Besitzer des Ladens, bekommen – warum, war mir immer noch rätselhaft. Wir würden heute auftreten, aber wir hatten ja nicht vor, regelmäßig hier aufzutauchen. Ich stutzte. Verdammt, hatten die beiden mir irgendetwas verschwiegen?

Für den Moment ließ ich es auf sich beruhen und betrat das Zimmer. Es war weitaus kleiner als die Toiletten, die einzigen Möbel hier bestanden aus einem kleinen Tisch, einem Zweisitzer-Sofa, auf dem Tom jetzt mit leicht frustriertem Gesichtsausdruck saß, und einem Kleiderständer, direkt rechts von der Tür. In der Ecke hinter der Couch standen die Gitarren von Alex und mir. Das Schlagzeug war wahrscheinlich schon auf der Bühne. Links von der Tür befanden sich Stufen, die zur Bühne führten.

Das Howl at the Moon hatte meine Erwartungen übertroffen, die Bar war geschmackvoll eingerichtet, draußen vor der Bühne befand sich eine Tanzfläche, und ansonsten gab es etliche Barhocker und kleine Tische und Sessel aus schwarzem Leder. Die Wände waren größtenteils leuchtend orange und schwarz gestrichen, und an der langen Frontseite der Bar war das Kennzeichen des Clubs groß und eindrucksvoll zu sehen, sodass es beim Betreten jedem auffiel. Die Silhouette eines heulenden Wolfs bei Vollmond, der auf einem gebogenen Klavier stand.

Tom hielt mir ein Glas Scotch hin. Er selbst stellte seines gerade ab und fuhr sich seufzend durch die Haare, bevor er mir mit einer Geste bedeutete, mich neben ihn zu setzen. »Wärm dich erst mal auf, bis Alex kommt.«

Er kippte die restliche Flüssigkeit in seinem Glas hinunter, und auch ich nippte am Alkohol. Eigentlich wollte ich es nicht gleich an meinem ersten Abend hier übertreiben, aber ich hatte zu Hause schon ein paar Bier getrunken. Mein Kühlschrank war ziemlich gut gefüllt, wie ich festgestellt hatte. Ich wusste, wie viel ich vertrug und dass ich langsam aufhören sollte, aber im Moment war es mir egal.

»Wahrscheinlich hat er sich verlaufen oder so«, murmelte ich geistesabwesend.

Tom grinste. »Du bist hier der Neue, Finn. Es ist deine Aufgabe, dich zu verlaufen. Alex hat bestimmt nur irgendein heißes Mädchen aufgegabelt«, sagte er und tat so, als wäre das etwas völlig Normales.

Ich lachte. »Na sicher, Alex, der Womanizer.«

Unser ältester Bruder war das genaue Gegenteil von einem Frauenaufreißer. Er sah zwar ganz gut aus, war aber – wie er so schön sagte – beziehungsunfähig. Sobald er eine Frau kennenlernte, kam sie in die Friendzone. Er hatte einfach nie Interesse an etwas Festem gehabt, ähnlich wie ich selbst. Mit dem Unterschied, dass er durchaus bereit war, sich anderen Menschen zu öffnen.

Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen, und kalte Luft strömte zusammen mit unserem Bruder herein. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht.

»Das hab ich gehört! Wartet, bis ich euch von meiner neuesten Bekanntschaft erzähle.«

Er nahm sich auch ein Glas. »Ihr Name ist Kristina, und ich habe sie gerade an der Bar getroffen. Tja, und sie hat mich gefragt, ob es sich lohnen würde hierzubleiben, weil sie nur mit einer Freundin gekommen ist und keine Ahnung hat, ob der Laden gut ist oder nicht.«

»Und du hast gleich mal mit der Tatsache geprotzt, dass du hier in wenigen Minuten auftreten wirst, habe ich recht, Brüderchen?« Tom kicherte.

Grinsend nickte Alex. »So in etwa. Sie ist wirklich süß.«

Wir saßen da, redeten noch eine Weile, und die Nervosität wuchs, bis die beiden aufstanden.

»Bist du fertig?«, fragte Tom.

Ich nickte schnell und versuchte, meinem Gesicht einen zuversichtlichen Ausdruck zu verleihen, damit sie sich nicht noch mehr Gedanken über mich machten.

Draußen sprach eine männliche Stimme ins Mikrofon. Sie musste laut und ohrenbetäubend klingen, doch hier drinnen hörte man sie nur gedämpft. Trotzdem konnte ich jedes Wort verstehen, das der Ansager der Menge entgegenrief: »So, Leute, hier die versprochenen Westwoods, mit ihrem Bruder aus dem sonnigen Los Angeles – Finn. Ich weiß, ihr werdet sie lieben. Bühne frei!«

Ich verdrehte die Augen. Offenbar wusste jeder hier drinnen – außer mir selbst natürlich – schon seit Wochen, dass ich heute vorspielen würde. Meine Brüder hatten mal wieder ganze Arbeit geleistet. Ich seufzte leise. Alex hörte es und warf mir sofort einen ermunternden Blick zu. Wahrscheinlich dachte er, ich hätte Angst vor dem bevorstehenden Auftritt.

»Das ist Lucas, der Barkeeper – und Sohn von Mr. Erikson«, klärte er mich auf, und ich nickte nur und fuhr mir mit der Hand durch die Haare.

Tom warf mir einen Blick zu. Es war so weit. Alex ging als Erster die Stufen zur Bühne hoch und stellte sich der Menge, die jetzt laut jubelte. Tom war der Nächste, laut lachend winkte er den vielen Menschen im Publikum zu – hauptsächlich waren es Studenten, wie ich unschwer erkennen konnte. Jetzt war ich dran. Ich atmete einmal tief durch, griff nach meiner Gitarre und trat auf die Bühne. Für einen kurzen Moment wurde ich von einem Gefühl überwältigt, das mir vage bekannt vorkam.

Während ich vor dem Mikrofon stand und auf die Leute herabsah, traf mich eine Welle der Erinnerung an unsere letzten Auftritte. Sie hatten alle in verschiedenen kleineren Bars und Clubs in L. A. stattgefunden. Damals hatte ich noch Spaß daran gehabt, zu singen und Gitarre zu spielen. Mich hatte jedes Mal eine freudige Stimmung erfasst, wenn ich auf der Bühne stand und die Zuschauer mir zujubelten.

Nachdem jeder seinen Platz auf der Bühne gefunden hatte – Tom am Schlagzeug, Alex schräg hinter mir, ebenfalls mit seiner E-Gitarre –, drehte ich mich kurz zu den beiden um, damit wir gleichzeitig anfingen. Ich nickte ihnen zu und begann meine Finger über die Saiten meiner umgehängten Gitarre zu bewegen.

Es überraschte mich, wie einfach und richtig es mir erschien, hier zu stehen und zu spielen. Ich blendete alles außer dem Klang der Instrumente aus und konzentrierte mich nur noch auf die gängige Melodie. Als mein Einsatz kam, fing ich an zu singen, mühelos, ohne Anstrengung.

Wir hatten uns für Every You Every Me von Placebo entschieden, ein Lied, mit dem wir oft in L. A. aufgetreten waren. Meine Stimme war deutlich tiefer als Brian Molkos, aber das machte nichts – die Leute waren immer auf den Titel abgefahren, er war rockig und lud zum Tanzen ein. Auch hier schien er keine Ausnahme zu machen. Ich sah, wie die Studenten direkt vor der Bühne mitwippten, ein paar weiter hinten sangen die bekannten Zeilen mit und begannen dann auch zu tanzen.

Wir waren meistens nur mit Coversongs aufgetreten. Die Texte, die ich über die Jahre in mein Notizbuch gekritzelt hatte, waren mir zu persönlich, und die Musik dazu war nicht ausgereift genug, wir hatten nur selten daran gearbeitet.

Mit allem, was ich hatte, schmetterte ich die Lyrics ins Mikro und konzentrierte mich nur auf die Noten und auf meine Stimme, die den ganzen Raum einzunehmen schien. Laut, durchdringend und melodisch. Da war kein Schmerz zwischen den Zeilen, nur die willkommene Taubheit, das Gefühl, das mich in Verbindung mit der Musik immer vergessen ließ.

Als wir beim Refrain angekommen waren und die Bar endgültig zum Kochen gebracht hatten, gesellte sich Alex zu mir, und wir sangen gemeinsam ins Mikro, während Tom ganze Arbeit an den Drums leistete. Alles in mir vibrierte, der ganze Raum schien sich in einem Strudel aus Farben, springenden Menschen und Jubelrufen aufzulösen.

Kurz vorm Ende legte ich meine Gitarre beiseite, ließ Alex das letzte Riff alleine übernehmen und nahm das Mikro aus der Halterung. Ich fing an, auf der Bühne hin- und herzutigern, spürte, wie der Schweiß an meinen Schläfen herunterlief, wie jeder Blick durch die Scheinwerfer nur auf mich gerichtet war, und genoss jede Sekunde. Sie waren perfekt, diese wenigen Minuten, in denen ich mir nicht darüber im Klaren war, dass dieser Augenblick vielleicht nie wiederkommen würde.

Als die letzten Töne verklangen, warf ich einen verstohlenen Blick nach hinten. Alex hatte sich wieder zu Tom gesellt, und beide schienen nicht im Mindesten überrascht zu sein. Sie lächelten mich an, und ich sah den triumphierenden Haben-wir’s-dir-nicht-gesagt-Ausdruck in ihren Gesichtern.

Also begann ich mit dem nächsten Lied, diesmal dem etwas ruhigeren, weniger fröhlichen Drown von Three Days Grace, auf das meine Stimmlage wie zugeschnitten war. Das Gefühl von eben war mit einem Schlag wie weggeblasen. Darüber wunderte ich mich nicht, solche Emotionen waren bei mir selten von Dauer. Stattdessen machte sich in mir eine kühle Gleichgültigkeit breit, und gleichzeitig wünschte ich mir, nie an diesen Ort gekommen zu sein. Die ganzen neuen Eindrücke brachten mich durcheinander, und ich wollte so schnell wie möglich hier raus.