On Stage in London - Mina Mart - E-Book

On Stage in London E-Book

Mina Mart

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Beschreibung

Stell dir vor, du kannst nicht mehr wegrennen. Dich nicht verstecken. Die Vergangenheit hat dich eingeholt, aber es gibt jetzt jemanden, für den es sich zu kämpfen lohnt. Stell dir vor, die ganze Welt kennt dein Gesicht. Die Fans liegen dir zu Füßen, egal, wohin du gehst. Doch der einzige Mensch, den du je wolltest, wird niemals zu dir zurückkehren.

Manche Dinge sind unverzeihlich. Als Eliza den Entschluss fasst, ihr Studium in London weiterzuführen, will sie alles vergessen, was zwischen Finn und ihr passiert ist. Mithilfe neuer Freunde und fernab von der Stadt, in der ihr alles genommen wurde, scheint ihr endlich ein Neuanfang zu gelingen. Bis eine einzige Nacht, ein einziger Song ihre sorgfältig errichtete Fassade zum Bröckeln bringt …

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Seitenzahl: 878

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Der Originaltitel erschien 2017 bei books2read.

© 2017 by Mina Mart Überarbeitete Neuausgabe © 2021 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von zero Werbeagentur, München Coverabbildung von ANAID studio, letovsegda, Kundra, Eduard Muzhevskyi / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745751987

www.harpercollins.de

TRIGGERWARNUNG

Triggerwarnung: Dieser Roman enthält Szenen, in denen Suizidgedanken, Selbstverletzung und sexuelle Gewalt verhandelt werden.

WIDMUNG

Für alle, die jemals zwischen Songtextzeilen und Bücherseiten ihren Frieden gefunden haben.

1. KAPITEL: SETTING YOURSELF ON FIRE

1. KAPITEL

SETTING YOURSELF ON FIRE

Finn

April 11th, 1:00 a. m.

Bunte Punkte tanzten vor meinen Augen, als ich mich nach hinten fallen ließ und auf den schwarzen Fliesen meines Badezimmers aufkam. Der Aufprall war vergleichsweise schwach, aber ich war auf physischer Ebene inzwischen vollständig taub – vermutlich ein Reflex meines Körpers, weil ein Mensch nur eine gewisse Menge an Schmerz empfinden kann.

Unzählige weiße Pillen lagen um mich herum verteilt, winzige Tabletten. Bei der Hälfte handelte es sich um Antidepressiva, die restlichen waren Schlafmittel. An die fünfzig mussten es ungefähr sein, ich hatte sie nicht alle zählen können, als die Kapseln aus meinen Händen geglitten und vor mir auf dem Boden aufgekommen waren.

Ich schloss die Augen und wand mich eine Weile, während im Inneren meines Kopfs ein Film ablief, fast schon in Zeitlupe, der zu der einzig wahren Realität für mich wurde.

An das Glück konnte ich mich nicht mehr erinnern, auch wenn mein Verstand einwandfrei funktionierte. Er versuchte, mit zwei Worten die Empfindungen zurückzubringen und mich fühlen zu lassen, wie alles vor dem Anruf meiner leiblichen Mutter gewesen war.

San Francisco.

Es war vergeblich.

Wieder ein Reflex, dachte ich. Ich war nicht in der Lage, an Eliza zu denken, als ich noch der festen Überzeugung gewesen war, wir würden das hinkriegen. Wir beide würden jede Schwierigkeit überwinden, weil ich vielleicht doch normal war. Fähig, einen Menschen an mich heranzulassen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, auch wenn es kaum Wochen zurücklag.

Nur an den Anruf meiner Mutter am letzten Abend. Julia Gallagher hatte sich gemeldet. Ja, daran erinnerte ich mich in jeder Einzelheit. Sie hatte es mir vorsichtig mitgeteilt, zögernd. Aber es hatte nichts an der Tatsache geändert. Meine leibliche Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon etliche Tage mit Laura und Michael in Verbindung gewesen. Sie hatte nicht nachgegeben, und Laura sah das als Zeichen, mich einzuweihen. Ihr eine Chance zu geben. Sie hatte mich regelrecht beschworen, mich mit ihr zu treffen. Aber ihre Worte hatten keinen Sinn für mich ergeben, meine Sicht war verschwommen, das ganze Hotelzimmer war vor meinen Augen verschwunden. Ich war mit grausamer Klarheit an meine Kindheit erinnert worden, nur weil sie ihren Namen ausgesprochen hatte.

Ich konnte nicht weiter denken, ich beugte mich vor, stürzte auf die Knie und sah mein Abbild im Spiegel vor mir. Für eine Sekunde sah ich den sechsjährigen Jungen, der ich damals gewesen war. Blut, das Geräusch von knackenden Knochen, Schmerzensschreie und Dunkelheit. Es war nicht viel, Details hatte mein Verstand nicht behalten, aber es reichte aus.

Und dann verschwand die Vision, und ich sah den schwarzen Anzug, meine blutunterlaufenen Augen, die von zu wenig Schlaf zeugten, und die Maske, die mir über die Haare gerutscht war. Ich war kein Kind mehr. Ich war erwachsen. Ich hatte unvorstellbare Macht, die mir erlaubte, einen Menschen zu zerstören und zu missbrauchen. Nicht irgendeinen Menschen, sondern den einzigen, den ich jemals lieben würde.

Mit einem Satz war ich wieder auf den Beinen und riss mir erst die Maske, dann die Kleidung vom Körper, zerrte an dem teuren Stoff, machte so lange weiter, bis ich nur noch in Boxershorts dastand. Wieder ging ich zu Boden, aber nicht, bevor ich das Rasiermesser aus der Schublade unter dem Waschbecken genommen hatte.

Ich hatte mich von Eliza getrennt, nachdem sie mir schluchzend erklärt hatte, dass sie über Kathryn Bescheid wusste und trotzdem bei mir bleiben würde. Ich hatte sie gehen lassen, obwohl jede Faser meines Körpers darunter litt und ich mir bewusst war, dass ich damit die letzte Chance auf Glück verspielte. Es war mir egal, wie viel ich ertragen musste, wenn ich sie damit vor mir rettete. Lauras Anruf hatte mich aufgeweckt, mir gezeigt, wer ich wirklich war. Eliza hatte etwas Undenkbares für mich getan, als ich durchgedreht war, etwas, das ich nie, niemals hätte annehmen dürfen.

Es war falsch. Es war vergeudete Zeit. Und deshalb hatte ich es beendet. Damit hätte diese traurige Geschichte zu Ende sein müssen. Sie würde mich vergessen, sich eines Tages in einen normalen Kerl verlieben – denn ich war mir sicher: Lieben konnte sie, nur nicht mich –, in jemanden, der ihr alles geben konnte, weil sie es wert war. Der sie lieben konnte, wie sie es verdient hatte, der nicht mit seiner psychischen Unzurechnungsfähigkeit ihr Leben verdunkelte. Es wäre der perfekte Schnitt gewesen und hätte ein Happy End für sie bedeutet. Ich wäre zugrunde gegangen, aber das war nicht weiter schlimm, denn das war ohnehin der Fall.

Jeden Tag hatte ich gekämpft, um nicht alles zu ruinieren, jede Stunde war ich immer wieder aufs Neue gestorben, weil sie niemals mir gehören würde. Ich hatte mich damit getröstet, dass es ihr besser ging. Aber das tat es nicht. Ich hatte es in ihren Augen gesehen, als ich sie vor wenigen Stunden auf der Tanzfläche in meinen Armen gehalten hatte. Sie war nicht über mich hinweggekommen und versuchte es erst gar nicht. Sie wollte mich genauso wie in der Nacht, als ich ihr offenbarte, dass ich versucht hatte, mir das Leben zu nehmen. Und ich hatte die Situation ausgenutzt, auch wenn ich ihr so wehgetan hatte wie noch niemandem zuvor.

Ich atmete zitternd ein und wieder aus, spürte, wie mein Herzschlag sich verdoppelte, und setzte das silberne Messer an meinem Unterarm an.

Ich würde mich nicht sofort umbringen. Das wäre nicht genug. Das wäre viel zu selbstsüchtig, weil ich mich damit sofort von den Qualen erlösen würde. Erst würde ich leiden. Körperlich und seelisch. So wie sie gelitten hatte, als ich sie ohne jegliche Gefühlsregung genommen hatte.

Der erste Schnitt war klein, oberflächlich, und nur wenige dunkle Tropfen quollen aus meiner Haut.

Sie hatte sich wehren wollen, da war ich mir sicher. Sie hatte mich davon abhalten wollen, es zu tun.

Ich fuhr weiter nach oben, hielt dann inne, als ihr gequältes schönes Gesicht unter der hauchdünnen Maske vor meinem inneren Auge erschien, und schleuderte das Rasiermesser so weit ich konnte von mir.

Es bereitete mir Höllenqualen. Nicht die Wunde, sondern meine Reue. Und der Gedanke an sie, an ihre perfekte Unschuld, ihre Wärme. Ich konnte mich nicht selbst verletzen, ich wollte nicht zusammengekauert in meinem Badezimmer liegen und mir den Beweis liefern, dass ich derselbe Psychopath wie vor einem Jahr war. Denn der war ich nicht.

Ich war schlimmer.

Nicht wie damals, vor San Francisco, als ich geglaubt hatte, sie zu hassen. Das hier grenzte an Selbstzerstörung. Das konnte ich mir nie wieder verzeihen. Deshalb war die einzig vernünftige Lösung, der einzig richtige Weg mein Untergang.

»Verzeih mir«, schluchzte ich und krallte mich an meinen Haaren fest, spürte, wie das Blut auf mein Gesicht tropfte und dort verschmierte. Ich konnte keine Sekunde länger leben. Ich konnte mir meine Arme nicht aufschlitzen, bis ich verblutete. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich war zu schwach. Mit einem Mal wurde der Gedanke erdrückend. Ich brauchte ein schnelles Ende. Wo waren die verdammten Tabletten? Meine Finger kratzten erfolglos auf dem Boden herum, ich bekam nicht eine zu fassen. Meine Augen schlossen sich automatisch, und ich spürte neben der Verzweiflung eine solche Erschöpfung, als hätte ich stundenlang einen Kampf ausgetragen. Ich konnte wirklich nicht mehr.

Vielleicht war das der Tod. Vielleicht hatte eine höhere Macht Mitleid mit mir, auch wenn ich es nicht verdiente. Und wieder sah ich Eliza vor mir, als ich der Ohnmacht immer näher kam. Aber diesmal sah ich keinen Schmerz in ihrem Gesicht, sondern ihr Lächeln. Ihre kleine Hand, mit der sie ihre Locken zurückstrich, und die Röte, die ihr langsam in die Wangen stieg. Ich spürte ihre Lippen an meiner Haut und ihren Geruch, der mich einhüllte, wenn sie auf mich zukam und es sich auf meiner Brust gemütlich machte. Ich wusste, dass sie mich als jemanden ansah, der es wert war.

Ich liebe dich.

Etwas Nasses lief mein Kinn runter, und mein Körper schüttelte sich.

»HASTDUDENVERSTANDVERLOREN?«

Meine Lider zitterten und flogen auf. Bevor ich wusste, wie mir geschah, wurde ich hochgezerrt und gegen den Spiegel gedrückt. Es folgte ein brennender Schmerz an meiner Wange, und ich riss meine Augen weiter auf.

Blaue Augen, wutverzerrtes Gesicht.

Reflexartig hob ich die Arme, um mich selbst zu verteidigen, als die nächste Ohrfeige kam.

»Tom! Bist du wahnsinnig geworden?«

Mein Blick zuckte nach rechts, und ich sah Alison neben ihm stehen. Ich war überrascht, dass ich sie in meinem Zustand überhaupt erkannte.

»Er muss zu sich kommen«, fuhr er sie an und griff mir hart unters Kinn, bevor sein Blick über den Fußboden wanderte. Jetzt erkannte ich den Schock in seinen Zügen, der sich unter den Zorn mischte. »WIEVIELEHASTDUGENOMMEN?«

Ich brauchte einen Moment, um zu schalten, dann schüttelte ich den Kopf.

»Lass ihn los, Tom, wir müssen den Notarzt rufen. Schau dir seinen Arm an.«

Er wich zurück, fast schon angeekelt, und schaute entsetzt auf das Blut. »Was hast du getan?«, flüsterte er.

Ich erwiderte nichts, aber in gewisser Weise fühlte ich mich, als hätte man mir einen Wassereimer über den Kopf gekippt. Eiskaltes Erwachen. Der Schmerz ließ meine Wangen pochen, und jetzt bemerkte ich auch den Schnitt an meinem Arm, wenn auch nur geringfügig. Wie in Trance starrte ich auf das Blut und wieder zurück zu meinem Bruder und Ally.

Sie trat vor. »Tom, geh ins Wohnzimmer. Ich muss mit ihm reden.«

»Ich werde sicher nicht …«

»Sofort«, knurrte sie. »Ich sag dir Bescheid, wenn ich Hilfe brauche.« Dann drehte sie sich zu mir. »Wie viele Tabletten hast du genommen?«

Ich sah, dass sie versuchte, ruhig zu bleiben, aber ihre Hände bebten, genau wie Toms. Mein Blick war jetzt klar, alles wurde intensiver. »Keine«, brachte ich hervor. »Verschwindet.«

»Er ist mein Bruder, Alison, und du hast keine Ahnung …«

»Und ich bin mit Eliza befreundet, was …«

»VERSCHWINDET«, brüllte ich, als Ally ihren Namen aussprach.

»Sieh ihn dir an«, sagte er panisch. »Ich kann dich nicht mit ihm alleine lassen, er ist imstande, dich zusammenzuschlagen.«

»Das wird er nicht.«

Sie sahen sich lange an, und schließlich wurde Toms Blick weich. Er drehte sich zu mir, und auf einmal war jegliche Wut aus seinem Gesicht verschwunden. »Zeig mir deinen Arm.«

»Lass mich in Ruhe.«

»Zeig mir deinen verfluchten Arm, oder ich rufe sofort den Notarzt.«

Ich stöhnte und streckte ihn aus. Wieso konnten sie mich nicht einfach alleine lassen?

Tom sah aus, als wäre ihm übel geworden, er holte ein Taschentuch aus seiner Tasche und drückte es auf die Wunde. »Fünf Minuten, Ally. Dann bringen wir ihn zum Arzt, ich weiß nicht, ob ich ihm glauben kann, dass er nichts genommen hat.« Und damit verließ er das Badezimmer und ließ mich mit ihr alleine.

»Wie kannst du es wagen?«, fauchte sie augenblicklich, und ihre Augen blitzten.

Ich wusste, wovon sie sprach. Meine Beine schienen wieder nachzugeben, ich musste mich am Waschbecken festhalten. »Geht, Ally. Bitte. Lasst mich einmal die Verantwortung für meine Taten übernehmen«, krächzte ich, und meine Stimme brach.

»Die Verantwortung?« Ihre Stimme bebte vor Zorn. »Sag mal, wie kann man so egoistisch sein? Okay, sagen wir, du hast nicht an deine Freunde oder an deine Familie gedacht, die dich lieben, die immer für dich da sind und denen du mit diesem Scheißdreck« – sie deutete auf den mit Pillen übersäten Boden – »das Schlimmste antun würdest. Oder Eliza?«

»Bitte.« Ich schüttelte verzweifelt den Kopf, ich hielt es nicht aus. »Bitte nicht.«

Aber sie sprach erbarmungslos weiter, und ihre Stimme wurde immer lauter. »Du hast sie heute Abend vollkommen zerstört, Finn. Aber glaubst du wirklich, DASHIER würde es wiedergutmachen? WIEKANNMANNURSOFEIGESEIN? BEDEUTETSIEDIRWIRKLICHSOWENIG, DASSDUIHRDASZUMUTENWÜRDEST? DEINENTOD?«

Wieder spürte ich die Hitze an meinen Wangen herunterlaufen und schüttelte den Kopf hin und her, immer wieder. »ICHKANNESNICHTAUSHALTEN, VERSTEHSTDU? DIESERSCHMERZ, DIESEREUE, ICHKANNNICHTDAMITUMGEHEN!«

Sie trat ganz nah vor mich, und jetzt sah ich, dass sie wirklich zitterte. »Ich weiß nicht genau, was dir passiert ist, aber nichts rechtfertigt einen Selbstmord.«

»Ich liebe sie«, brachte ich irgendwie hervor.

»Wieso hast du ihr das dann angetan?«

»Weil ich ein Psychopath bin. Die Welt wäre besser dran ohne mich.« Nichts konnte mein Verhalten erklären. Ich hatte sie nicht missbraucht, um sie dazu zu bringen, über mich hinwegzukommen. Ich hatte es getan, weil ich das schlimmste, niederträchtigste Geschöpf im ganzen Universum war.

»Nein.« Ally weinte jetzt ebenfalls. »Nein, das wäre sie nicht. Ihr beide, Eliza und du … Ich habe noch nie zwei Menschen gesehen, die sich so sehr brauchen und sich gleichzeitig immer wieder aufs Neue wehtun. Du hast ihr heute nicht nur das Herz gebrochen, du hast sie wie Dreck behandelt. Das kannst du nicht wiedergutmachen. Aber weißt du, was du machen kannst?« Sie wischte sich die Tränen weg und blickte mir fest in die Augen. Als ich nicht antwortete, ging sie in die Hocke und sammelte in Sekundenschnelle die Tabletten auf, bevor sie sie in die Kloschüssel pfefferte und spülte.

Stumm sah ich sie an und drückte das Taschentuch gegen meinen blutenden Arm. Und während ich sie betrachtete und all meine Empfindungen zurückkamen, wurde mir bewusst, was sie meinte. Ich liebte Eliza. Ich liebte sie mehr als mein eigenes nichtsnutziges Leben. Und deshalb würde ich mich nicht umbringen. Deshalb hatte ich es auch schon nicht gekonnt, bevor die beiden aufgetaucht waren.

Meine Worte fielen mir ein, als ich mit Eliza Schluss gemacht hatte, als ich ihr von meinem ersten Selbstmordversuch erzählt hatte. Selbst du kommst nicht gegen die Hölle an, hatte ich gesagt und geglaubt, es sei die Wahrheit. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Ich konnte mir mein Leben nicht nehmen – nicht, solange sie noch atmete. Selbst wenn ich ihr etwas Unverzeihliches angetan hatte. Alison hatte recht. Das würde es nicht wiedergutmachen. Das würde niemandem etwas bringen.

»Es tut mir leid«, murmelte ich leise und spürte, wie die Gefühle in meinem Inneren immer stärker tobten. »Es tut mir so leid, was ich getan habe.«

Ally nickte und kam auf mich zu, nahm mich wortlos in den Arm und strich mir über den Rücken, tröstete mich wie ein kleines Kind, bis ich mich beruhigt hatte.

Ich hörte ein Geräusch, und sie trat zurück, als Tom vor uns stand. Ich sah sie an, und mir fiel wieder ein, dass die beiden sich getrennt hatten.

»Alles okay?«, flüsterte er leise und blickte erst zu ihr, dann zu mir.

Ich wich seinem Blick aus. »Ich werde die Wunde verbinden.«

Er nickte vorsichtig, er schien sich auch beruhigt zu haben. »Und du solltest dich bei Dad melden, ich habe ihn angerufen. Anschließend bring ich dich zum Arzt.«

»Ja.« Ich war nicht einmal wütend. Ich wandte mich zum Gehen, das Verbandszeug war in meinem Schlafzimmer, aber er hielt mich zurück.

»Es tut mir leid, Finn, ich wollte nicht … ich wusste nicht, wie ich reagieren soll, ich …«

Schnell schüttelte ich den Kopf. »Vergiss es. Ich tu das nie wieder. Das schwöre ich.« Dieses Versprechen meinte ich hundertprozentig ernst, auch wenn ich mir noch nicht ganz bewusst war, woher diese Sicherheit kam.

Sein Blick war fast überrascht, dann wurde er ernst und schwieg eine Weile, bevor die Worte herauskamen. »Gut. Denn wenn du es tun würdest, dann würdest du nicht nur dich umbringen.«

Ich lief aus dem Zimmer und wusste nicht, was ich denken sollte. Mit einem Mal durchfuhr mich Scham, dass ich auch nur eine Sekunde an die Möglichkeit gedacht hatte. Wie schnell hätte es vorbei sein können … Wie schnell hätten die Pillen in meinen Magen oder das Messer an meine Pulsader gelangen können. Immer noch zitternd, aber diesmal aus Angst, nahm ich den Verbandskasten aus dem Schrank neben meinem Bett. Laura, Michael, Tom, Alex. Ich hätte ihnen allen das Herz gebrochen. Alison, meine anderen Freunde, die ich täglich in der Universität sah und gegen die ich mich zu Beginn gewehrt hatte. Mir wurde bewusst, was für eine Verantwortung auf mir lastete. Es war nicht wie damals, in Los Angeles. Ich war jetzt wirklich erwachsen. Und Eliza. Meine Eliza. Auch wenn ich kein Recht mehr hatte, auch nur an sie zu denken. Ich wickelte das weiße Band um meinen Arm und atmete tief ein. »Was bist du nur für ein Volltrottel«, murmelte ich.

Ally trat wieder neben mich, Tom ließ sich auf mein Bett nieder, sie schienen beide mit den Nerven am Ende.

»Ich stimme dir voll und ganz zu.« Ally versuchte zu lächeln, aber es misslang ihr. »Da … Da ist noch etwas.«

Ich nickte und schaute sie aufmerksam an.

»Ich glaube, sie will nach England. Sie hat kein Wort mehr mit uns gesprochen, nachdem … Du weißt schon. Sie ist völlig fertig. Aber da lagen überall Prospekte auf ihrem Boden und … Ich denke, sie muss weg hier.«

Ich brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, was Ally meinte. »England«, wiederholte ich schließlich tonlos. Ich erinnerte mich sofort an das Treffen. Wir hatten uns damals zusammen für das Auslandssemester angemeldet.

Plötzlich begann mein Herz wieder zu rasen, und ich stolperte nach hinten, um erneut nach Halt zu suchen. Mein Körper reagierte vor meinem Verstand auf die Idee, die sich mit der Geschwindigkeit eines Lauffeuers in mir ausbreitete, während mein Blick durch das Fenster meines Schlafzimmers nach draußen wanderte und an Seattles Skyline hängen blieb. Ich sah die leuchtenden Hochhäuser, die inzwischen so vertrauten Gebäude.

Und in dem Moment wusste ich, dass es die einzige Möglichkeit war.

***

Eliza

April 17th, 5:10 a. m.

»Ist es nicht zu früh für Kaffee?« Samuel deutete aus dem Fenster auf den Himmel, der sich hinter den Wolkenkratzern langsam goldrot färbte. Ich war vor einer halben Stunde in seine Wohnung gekommen, und jetzt saßen wir nebeneinander auf seiner kleinen gemütlichen Couch in seinem unordentlichen Wohnzimmer, das irgendwie etwas Tröstliches hatte.

»Es ist nie zu früh für Kaffee«, entgegnete ich und nahm die dampfende Tasse, die er mir reichte.

Ich hatte ihn aus dem Schlaf geklingelt und gefragt, ob wir zusammen hier frühstücken konnten, weil wir das schon lange nicht mehr getan hatten. Weil ich nicht schlafen konnte. Und weil wir uns seit dem Maskenball nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten. Es war genau eine Woche her, seit ich zusammengebrochen war und er mich auf dem Motorrad nach Hause gefahren hatte.

»Alles okay?«, fragte ich ihn, nachdem wir ein paar Minuten gedankenverloren geschwiegen hatten.

»Hmh …« Er hob den Kopf und sah mich direkt an. »Das müsste ich dich fragen.«

Ich sah weg und nahm einen großen Schluck. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Was kann ich tun?«, kam es prompt.

»Ich muss zur Uni, Papiere unterschreiben, und ich … Ich will nicht alleine auf den Campus. Heute Nachmittag treffe ich mich mit ein paar Kommilitonen für ein Literaturprojekt in einem der Seminarräume, aber davor … muss ich zum Auslandscenter.« Er wartete, bis ich weiterredete, und ich atmete ein paarmal tief durch, bevor ich es aussprach. »Ich werde nach England ziehen.«

Es war beschlossene Sache. Am Morgen nach jener verhängnisvollen Nacht hatte ich mich hingesetzt und ernsthaft nachgedacht. London war keine Entscheidung mitten in der Nacht gewesen, die ich am Tag darauf als übertrieben oder lächerlich abstempelte. Ich war verzweifelt gewesen, mehr als jemals in meinem Leben, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich hier in Seattle nicht mehr leben konnte. Ich hatte mir geschworen, diese Woche noch zur UW zu gehen, und heute hatte ich endlich den Mut aufgebracht, mit jemandem darüber zu sprechen. Außerdem musste ich wegen Literatur sowieso hingehen. Jenny und Ally wussten noch nichts, genauso wie meine Eltern, die inzwischen durchdrehten vor Sorge, weil ich mich so lange nicht meldete, aber das würde sich ändern, sobald heute Abend alles unterschrieben war. Ich würde mich meinen Freunden und meiner Familie stellen und ihnen meine Entscheidung mitteilen, auch wenn ich schon jetzt viel zu nervös war. Fast zerbiss ich mir meine Lippe, während ich Sam ansah und auf eine Antwort wartete.

»Wie meinst du das? Für wie lange?«, fragte er langsam und blickte mich ein wenig ängstlich an.

»Für den Rest meines Studiums.« Ich schluckte. »Zwei Jahre.«

Damals hatte ich mich mit … ihm … nur für ein Semester angemeldet, aber ich hatte im Laufe der Woche dank der Tausenden Prospekte und diverser Homepages herausgefunden, dass man nach einer Zulassungsprüfung auch den Abschluss im Ausland machen konnte. Für das Semester war ich schon angenommen worden – meine Noten waren vor allem in Literatur einwandfrei –, und um die Prüfung machte ich mir keine Sorgen. Ich musste sie ohnehin nur in einem meiner Fächer belegen.

»Okay.«

»O-okay?«

Er schaute mich ganz ruhig an, jegliche Sorge war verschwunden, und lächelte dann traurig. »Unter anderen Umständen hätte ich versucht, dich davon abzuhalten, Liz … Aber du bist dir sicher, oder?«

Ich nickte, während mich eine unglaubliche Erleichterung durchfuhr.

»Fühlt es sich wie Davonlaufen an?«

»Es fühlt sich wie meine einzige Chance an, jemals wieder glücklich zu werden«, murmelte ich mit leicht sarkastischem Unterton. Was war schon Glück?

»Dann helfe ich dir«, sagte Sam leichthin. »Seit wann denkst du ernsthaft darüber nach?«

»Ich hab mich schon vor einiger Zeit angemeldet …« Er wusste auch so, wieso ich gehen musste. Er war live dabei gewesen, als ein Teil von mir endgültig gestorben war.

»London war es, richtig?«

»M-hm. Eigentlich nur ein Semester. Aber ich … Ich möchte gerne länger bleiben, verstehst du?«

Anstatt zu antworten, legte er einen Arm um meine Schultern, und ich lehnte mich an ihn. Ich lächelte leicht. Es war schön zu wissen, jemanden zu haben, auch wenn es inzwischen selbstverständlich sein sollte – das war es immer noch nicht, obwohl Sam mir schon Tausende Male geholfen hatte. Generell sollte ich mein Glück, was meine Freunde anging, mehr schätzen. Sie waren das Wichtigste. Ich hatte noch keine Ahnung, wie ich in England ohne sie auskommen sollte, aber die Notwendigkeit, wegzukommen, war im Moment stärker. Ich war eine geborene Einzelgängerin, hatte ich immer gedacht, aber ich brauchte trotzdem jemanden, der für mich da war. Brauchten wir das nicht alle?

»Also dann hol ich dich um drei ab, okay?«, vergewisserte sich Samuel noch mal, als ich mich zum Gehen wandte, da Jenny und Ally sich wahrscheinlich schon fragten, wo ich blieb. »Anschließend gehst du zu deinem Treffen, während ich in der Bibliothek mein Zeug erledige, und dann fahren wir zu euch, und du erzählst Jen und Ally davon.«

Ich nickte. »Genau. Danke für den Kaffee.«

Er grinste und umarmte mich, hob mich leicht an, sodass ich auf Zehenspitzen stand, und ließ mich dann wieder runter. »Für dich steh ich auch mitten in der Nacht auf, Kleine.«

Angesichts des letzten Wortes brachte ich kein Lächeln mehr zustande, als ich meinen Cardigan fester um mich wickelte und mit gesenktem Kopf die Treppenstufen hinablief. Es würden verdammte Jahre vergehen müssen, bis ich auch nur ansatzweise mit Finn abschließen konnte. Und damit, was er mir angetan hatte. All das Glück … und all die Qual.

Ich wusste nicht, wofür ich ihn mehr hassen sollte.

***

3:30 p. m.

»Bitte schön.« Die Frau reichte mir ein paar Formulare und lächelte. »Die Prüfung belegen Sie zusammen mit den anderen Interessenten in vier Wochen, und die Abreise ist am 22. Juni.«

Ich nahm die Papiere entgegen und starrte sie eine Sekunde länger als gewöhnlich an. Ende Juni. Das waren kaum zwei Monate mehr. Ich war viel zu leicht in das Programm gekommen.

»Alles klar?«, fragte Sam, als ich mich neben ihn auf die Bank sinken ließ und mit leicht zittrigen Fingern meine Zulassung durchblätterte, ohne irgendetwas zu lesen.

Ich legte ihm die Blätter auf den Schoß, schlug meine Beine übereinander und atmete tief ein, während ich meinen Blick über die Universitätsgebäude und die riesigen Kirschbäume wandern ließ. »Hör auf, mich das ständig zu fragen, als könnte ich jeden Moment zusammenbrechen. Mir geht’s gut.«

»M-hm. Und wieso wirfst du keinen einzigen Blick hierauf?« Er hielt die Blätter hoch. »Komm schon, Liz, wenn du nicht sicher bist … wenn du es dir doch anders überlegen möchtest …«

»Nein«, unterbrach ich ihn hart und atmete zischend aus. »Es ist nur seltsam, weißt du. Der Gedanke, dass alles so schnell geht, wenn man will. Dass es so einfach ist, alles hinter sich zu lassen.«

Er erwiderte nichts, sondern fing nun auch an, die Zettel durchzublättern.

Wortlos beobachtete ich die rosafarbenen Blütenblätter, die durch die Luft wirbelten, bevor sie sanft auf der Wiese vor uns landeten. Das war der typische UW-Campus. Riesig, altmodisch und absolut vertraut. Die Luft roch nach Frühling, und sogar die Sonne hatte sich entschieden, anstelle der dunklen Wolken herauszukommen. Es war der perfekte Tag für Glücksgefühle und neue Erfahrungen. Aber es war nicht ganz so vollkommen, wenn man immer noch verflucht abhängig war und nicht das Geringste dagegen unternehmen konnte. Missmutig starrte ich auf meine schwarz lackierten Fingernägel, die mich so sehr an die unbeschwerteste Zeit meines Lebens erinnerten, und fragte mich, wie das alles in ein paar Monaten sein würde. Vielleicht würde ich irgendwann mal an den Punkt gelangen, an dem ich Angst hatte zu gehen. An dem ich mich mit jeder Faser meines Körpers dagegen wehrte, weil das hier das einzig richtige Leben für mich war. Aber das konnte es nicht gewesen sein. Klar, es gab dieses hirnverbrannte Klischee, von wegen seine erste Liebe würde man niemals vergessen. Natürlich würde ich Finn niemals vergessen, aber das lag sicher nicht daran, dass er der Erste gewesen war, der mich voll und ganz verändert hatte. Es lag einzig und allein an der Tatsache, dass er ein Psychopath und ich sein schwaches Opfer war. Immer sein würde. Das hier war keine Liebe mehr – das war krankhaft. Deshalb konnte ich auch mit so großer Sicherheit behaupten, dass ich keine Zweifel hatte, wenn es um London ging. Da konnte mein Körper noch so oft protestieren.

»Ähm.«

Ich schaute auf, als Samuel sich neben mir ungläubig räusperte.

»Hm?«

Sein Gesichtsausdruck wechselte von überrascht zu besorgt, während er nervös zu mir und dann wieder auf die Formulare blickte.

»Es … muss ein Fehler vorliegen.«

Ich hob wenig interessiert eine Braue. »Wieso?«

»Hier ist ’ne Liste derer, die ebenfalls am Programm beteiligt sind.«

Ich hatte mir die Haare zurückstreichen wollen und erstarrte jetzt mitten in der Bewegung. Meine Hand zuckte automatisch zu den Papieren, und ich entriss sie ihm unsanft.

Von einer Sekunde auf die andere spürte ich das rhythmische, viel zu hastige Pochen meines Herzens. Selbst jetzt hasste ich mich dafür, dass ich augenblicklich reagierte – dass mein Körper in Rekordschnelle die Gefahr realisierte, die sich in unmittelbarer Nähe befand. Ich war noch immer nicht immun dagegen. Mein Blick flog über die Teilnehmerliste, und ich musste mich zwingen, meine Hände ruhig zu halten, um überhaupt etwas entziffern zu können.

Nein.

Ich kniff die Augen zusammen, nur um sie Sekunden später wieder aufzureißen. Die aneinandergereihten Buchstaben ergaben keinen Sinn. »Das … Das ist nicht möglich.« Ich sprang auf und starrte auf meinen besten Freund hinunter. »Sam, wieso …«

Er öffnete den Mund, aber da hatten meine Beine sich schon selbstständig gemacht, bevor ich selbst wusste, was ich tat.

Ich stürmte zurück in das kleine Gebäude, während alles um mich herum zu einem unbedeutenden Strudel verschmolz. Verzweifelt klammerte ich mich an dem inzwischen zerknitterten Papier fest, als ich es auf den Empfangstresen knallte und Miss Hastings, die Ansprechpartnerin für das Austauschprogramm, fixierte.

Sie sah von ihrem Computerbildschirm auf und erwiderte leicht verwirrt meinen Blick. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Miss Fleming? Ergaben sich Unklarheiten?«

»Ich denke, hier liegt ein verdammt großer Fehler vor.« Meine Stimme war härter als beabsichtigt, und ich deutete mit einem Finger auf den Namen, der mir Übelkeit verursachte.

Sie rückte ihre Lesebrille zurecht, runzelte kurz die Stirn, als sie las, und lächelte dann milde. »Oh, das ist kein Fehler. Mr. Westwood hat sich vor einer Woche gemeldet und telefonisch seine Teilnahme bestätigt. Oder was meinen Sie?«

Meine Hände glitten am lackierten Holz entlang, und ich schaute wie vom Donner gerührt von der Liste direkt in ihre irritierten Augen. »Was soll das heißen, seine Teilnahme bestätigt?«, fauchte ich, und zwei Studentinnen neben mir drehten sich vorwurfsvoll zu mir um.

»Nun, ich denke, es ist mehr als offensichtlich, was …«

»Wann genau hat er angerufen?«, unterbrach ich Miss Hastings wieder, als mir ein furchtbarer Gedanke kam.

Sie schien kurz zu überlegen, dann zuckte sie die Achseln. »Samstag oder Sonntag, ich bin mir nicht mehr sicher. Was haben Sie damit zu tun?«

Ich nahm die Papiere wieder an mich. »Streichen Sie mich sofort aus dem Programm«, erwiderte ich voller Überzeugung.

»Wie bitte?«

»Sie haben mich gehört«, antwortete ich. »Streichen Sie mich augenblicklich aus dieser Scheiß …« Ich verstummte, als Samuel plötzlich neben mir erschien und mich bestimmend am Arm packte.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe, wir melden uns noch mal bei Ihnen, wenn die Prüfungen anstehen oder wir sonstige Fragen haben«, murmelte er gepresst.

Er zerrte mich vom Tresen weg und ignorierte meine lautstarken Proteste, die dazu führten, dass nun wirklich jeder im Raum zu uns herüberstarrte.

»Ist ihr nicht gut?«, rief die Angestellte uns hinterher, aber da standen wir schon wieder draußen.

Sam stellte sich direkt vor mich und zwang mich, ihn anzuschauen. »Drehst du jetzt völlig durch?«

Ich wehrte mich immer noch gegen seinen Griff. »Lass mich da sofort wieder reingehen. Hast du gesehen, welcher Name auf der gottverdammten Liste steht? Ich werde ganz sicher nicht …«

»Eliza«, fiel er mir ins Wort. »Hör mir einen Moment zu. Wir klären das in Ruhe. Aber du kannst nicht einfach reingehen und eine Szene machen, die nehmen dich sonst nie wieder ernst.«

»Ist mir egal, ich fliege nicht nach London«, rief ich aufgebracht.

»Lass dir das nicht von ihm kaputt machen«, beharrte er nachdrücklich. »Sprich noch einmal mit Ally, sie kann mit ihm reden. Du kannst das wieder hinbiegen. Und wenn du im Endeffekt nicht gehen willst, weil er auch dabei ist, dann geh einfach nicht zu der Aufnahmeprüfung – niemand zwingt dich. Aber falls du doch fliegst, dann lass ich dich jetzt ganz sicher nicht alles zerstören, nur weil sein Name auf der Liste steht.«

Wir sahen uns einen Moment an, und schließlich kippte meine Stimmung, und ich merkte, dass ich mich wie ein kleines Kind benahm. »Na schön«, seufzte ich. »Du gewinnst.«

Er schenkte mir ein halbherziges Lächeln. »Tief durchatmen, Liz. Wir gehen jetzt was essen, bevor du zu deinem Treffen musst. Wie wär’s mit Quedoba’s?«

»Nein.« Er hob eine Braue, und ich suchte schnell nach einer Ausrede. »Ich hab zurzeit nicht besonders Lust auf mexikanisches …«

»Schon klar, du warst mit ihm dort.«

»Nein.«

Er grinste schwach. »Doch, das warst du. Wenn du dich jetzt selbst sehen würdest, wüsstest du, dass jede Lüge umsonst ist.«

»Na schön«, wiederholte ich angepisst und lief ihm voraus. Natürlich war ich mit Finn dort gewesen – nachdem ich in der Vorlesung an seiner Schulter eingeschlafen war. Hach, wie ich diese alltäglichen Erinnerungen liebte, die mich niemals vergessen ließen, was für ein abartig spaßiges Leben ich damals geführt hatte. »Gehen wir indisch essen, ja?«, murmelte ich, während wir an den Bäumen entlangliefen, um den Campus zu verlassen.

»Du hasst indisch.«

»Samuel, halt die Klappe.«

Er lachte leise. »Einer von uns beiden muss ja die Wahrheit aussprechen.«

Wahrheit … Ich sah hoch in den Himmel – die Sonne war verschwunden, und mit einem Schlag spürte ich dicke Tropfen auf meinem Gesicht. Super. Regen war genau das, was ich jetzt brauchte.

War es nicht alles so viel einfacher gewesen, als ich noch in einer Lüge gelebt hatte?

***

Ich wusste es in dem Moment, in dem ich mich von Sam verabschiedete und die Türschwelle zum Seminarraum übertrat, den wir per Mail als Treffpunkt festgelegt hatten.

Zehn Studierende saßen an dem runden Holztisch, einer von ihnen – Logan, wenn ich mich richtig erinnerte – schrieb eine Aufteilung an das Whiteboard dahinter. Ich kannte die Hälfte von ihnen oberflächlich, die andere vom Sehen, von den Vorlesungen, und einen … kannte ich besser als mich selbst.

Eine halbe Sekunde bevor mein Herz krankhaft zu rasen begann und meine plötzlich feuchten Hände sich fest um die Henkel meiner Umhängetasche krallten, sah Finn auf, nahm mein Gesicht wahr und erstarrte in der Bewegung. Nicht geschockt, nicht einmal besonders überrascht.

Doch ich überraschte mich selbst, indem ich einfach meine Schultern straffte und direkt auf den Tisch zulief, anstatt auf dem Absatz kehrtzumachen, nachdem ich meinen Blick von ihm gelöst hatte. Er trug einen ockerfarbenen hochgekrempelten Strickpullover, darüber einen Designerschal, der verdächtig nach Kaschmir aussah und kein bisschen zu seinem Rocker-Image passte, dafür umso mehr zu den dunkelblonden Haaren, in denen ich so oft meine Hände vergraben hatte. Mein Inneres krampfte sich zusammen.

Na schön, Finn war hier. Das war nichts Absonderliches. Wir studierten beide Literaturwissenschaften. Und er hatte sich für England angemeldet, was sich früher oder später als gigantisches Problem darstellen würde. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Das Einzige, worauf ich mich konzentrieren würde, war dieses Treffen heute. Der Stoff für die nächsten Prüfungen. Unsere letzten in diesem Semester. Natürlich konnte ich nicht verhindern, dass ich schnell an mir heruntersah, um mein Aussehen zu prüfen. Ich war nur leicht geschminkt und trug hellen Lippenstift, was auch irgendwie untypisch für mich war.

Ich begrüßte alle mit einem unbestimmten Lächeln und bekam dann leichte Panik, als mir bewusst wurde, dass der einzige freie Platz neben ihm war. Noch immer spürte ich seinen Blick, aber ich wusste, ich durfte ihn nicht erwidern. Meinen Kopf stur nach vorne gerichtet, ließ ich mich langsam auf dem rot gepolsterten Stuhl nieder, raffte die Tasche zusammen und presste sie wie zum Schutz gegen meinen Oberkörper.

Es war okay. Alles war okay. Mir würde nichts passieren.

»Eliza.« Die Stimme war ganz leise, sie stach geradezu heraus aus dem gewöhnlichen Lärm der anderen.

Ich spürte, wie sich meine Gesichtsmuskeln verkrampften. »Finn«, gab ich bewegungslos zurück und hörte die Kälte in meiner Stimme.

Die nächste Empfindung traf mich völlig unvorbereitet, während unsere Kommilitonen mit der Arbeit anfingen und sich in Zweierteams einteilten, um später Präsentationen über die jeweiligen Themengebiete halten zu können. Weder hörte ich zu, noch konnte ich mich im Moment damit auseinandersetzen, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit mit ihm zusammenarbeiten musste. Alles, was ich mitbekam, war die kalte weiße Wut in mir. Ein unbeschreiblich starker Hass, der sich unkontrolliert durch meinen gesamten Körper fraß und sich gegen meinen gottverdammten Nebensitzer richtete.

Ich beging den Fehler, ihn für den kürzesten aller Augenblicke anzuschauen. Mit einem Mal wollte ich auf ihn einschlagen, ihm wehtun. Ich wollte ihm die grünen tiefen Augen auskratzen, die mich so oft getäuscht hatten und die Samstagnacht keinen wahren Blick für mich übriggehabt hatten. Ich wollte ihm jedes göttliche Haar einzeln ausreißen und ihn anschreien, wie er es wagen konnte, mich anzusprechen, auch nur in meine Nähe zu kommen. In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich ihn abgrundtief hasste. Dass ich ihm nie, niemals verzeihen würde, wie er mich behandelt hatte. Wie er mir mein Herz herausgerissen und zerschmettert hatte, als wäre es aus Porzellan. Wie er mich dazu brachte, das dramatischste, schwächste Mädchen überhaupt zu werden, das ich so verabscheute. Und dann sah ich seinen Gesichtsausdruck.

Schmerz. Mehr als schlichtes Leid, es war die pure Qual.

Schlagartig erlitt ich einen Rückfall. Ohne es beeinflussen zu können, musste ich an unseren letzten Abend in San Francisco denken, und all die Gefühle kamen zurück. Ich sah Finn unter mir auf dem Bett liegen, wehrlos, zerstört. Ich erinnerte mich an seine Verzweiflung und daran, wie er in meinen Armen gezittert hatte. Ich hatte genau den Augenblick vor mir, wie er hatte weinen wollen, wie ich es ganz deutlich gespürt hatte.

Mein Gott.

Ich würde niemals etwas anderes als Liebe für diesen armen, einsamen Mann empfinden. Auch wenn er noch so oft auf meiner Würde, meinem Glück und selbst meinem Körper herumtrampelte. Es war nicht richtig, das war mir klar. Ich konnte den Missbrauch nicht mit seinen Problemen rechtfertigen, auch wenn sie noch so groß waren. Aber ich konnte einsehen, dass ich ihm vergab, wie er mich an meine Grenzen getrieben hatte. Dass ich ihm immer vergeben würde, auch wenn es mich umbrachte.

»Eliza, hallo! Schläfst du schon?«

Ich fuhr zusammen und schaute auf. Logan sah mich argwöhnisch an. »Sorry, was …«, begann ich, und Finn kam mir unerwartet zu Hilfe.

»Wir werden Shakespeares Hamlet untersuchen und den Schwerpunkt auf die politische …«

Logan stöhnte auf und fiel ihm ins Wort. »Netter Versuch, Westwood, aber ihr solltet beide vielleicht mal richtig zuhören, wir sind nicht zum Spaß hier. Lynn und ich nehmen Hamlet, ihr bearbeitet die wohl tragischste Liebesgeschichte aller Zeiten.« Er lächelte sarkastisch und warf uns zwei Werkausgaben hin. »Viel Spaß in Verona.«

***

Ich mochte Shakespeare. Wirklich. Mir gefiel seine kitschige, fast schon gekünstelte Ausdrucksweise, die voller Metaphern war, auch wenn ich jeden Autor, der heutzutage so oder ähnlich schrieb, nicht ernst nehmen konnte. William Shakespeare war ein Klassiker. So wie all seine Werke. Nun, fast alle.

In diesem Moment, während ich die Seiten durchblätterte und kaum wagte zu atmen, verfluchte ich ihn und seine idiotische Geschichte von unsterblicher Liebe. Ich hasste Julia. Dieses weinerliche, naive, blinde Mädchen. Ich hasste Romeo und seine aufopferungsvolle Art. Ich hasste jede einzelne Liebeserklärung. Jedes Versprechen. Jede verzweifelte Tat, die von wahrer Liebe zeugte. Aber am allermeisten hasste ich die Tatsache, dass Finn neben mir saß und versuchte, sich in Romeos Denkweise einzufühlen, obwohl ich wusste, dass er die Geschichte mindestens genauso sehr verabscheute wie ich. Ich würde ihm an die Gurgel springen, wenn er noch einen Satz aus der Balkonszene zitierte, um seine Interpretation mit Belegen zu festigen, so viel stand fest.

Mein Blick wanderte immer wieder zur Wanduhr, doch die Minuten schienen heute extra langsam zu vergehen. Die anderen waren völlig vertieft in ihre Arbeit, und ich fragte mich, ob es sehr auffällig wäre, wenn ich einen Schwächeanfall vortäuschen und einfach abhauen würde. Es war wirklich anstrengend, so lange neben ihm zu sitzen, ohne jegliche Regung zu zeigen. Ich durfte ihm nicht in die Augen sehen. Ich durfte nicht in Tränen ausbrechen, was ein Resultat des ersten Verbots war. Ich durfte auch nicht freundlich zu ihm sein, sondern kühl und unnahbar, als hätten wir nie mehr als eine flüchtige Begrüßung ausgetauscht. Und nebenbei musste ich mich auch noch mit ihm unterhalten und Produktives zu unserem Projekt beitragen, das ich inzwischen gründlich bereute.

Masochismus vom Feinsten.

»Er konnte es nicht ertragen, weißt du. Als er sie gesehen hat, als er dachte, sie wäre tot, da war die Qual zu groß. Sie hat ihn von innen zerstört. Er hat sich nicht nur das Leben genommen, weil sie nicht mehr da war. Das auch, aber noch erdrückender muss sein Gewissen gewesen sein, seine unbeschreiblichen Schuldgefühle.«

»Wie kann man nur so naiv sein«, murmelte ich und wandte meinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung, um nicht in Versuchung zu kommen.

»Was meinst du?«, fragte Finn leise, und ich spürte, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen bildete. Nur gut, dass ich eine Jacke trug.

Das war das erste Mal seit einer Stunde, dass wir nicht ununterbrochen über das Werk sprachen. Seine Stimme veränderte plötzlich ihren Klang. Plötzlich war das Verlangen, ihm in die Augen zu blicken, unerträglich. Langsam, wie in Zeitlupe, bewegte ich meinen Kopf und blinzelte ein paarmal, bis ich seinem festen Blick standhalten konnte. Gott, diese Augen. Ich sah sie über mir. Ganz nah. Wie in San Francisco.

»Wie konnte Julia nur für einen Augenblick annehmen, ihr Leben ginge ohne Romeo nicht weiter? Wie hat sie es zulassen können, dass er eine derartige Macht über sie besitzt?«, fragte ich und wunderte mich dabei selbst über meine raue und doch feste Stimme.

»Liebe«, flüsterte Finn und hielt mich mit seinem Blick gefangen. »Sie hatte nur dieses Gefühl in sich, da spielte alles andere keine Rolle.«

Ich schlug die Augen nieder, auch wenn ich meine gesamte Kraft darauf anwenden musste. Also hatte er gewusst, wie ich mich gefühlt hatte – dass nichts mehr wichtig für mich gewesen war, sobald er ins Spiel kam. Und er hatte es ausgenutzt, weil er sich seiner Macht ganz genau bewusst gewesen war. Mein Mund wurde trocken, und ich starrte auf meine verkrampften Hände, dann auf seine, die unter dem Tisch zu Fäusten geballt waren. Mein Blick wanderte seinen Arm entlang, und ich stutzte, als ich eine blasse rote Linie sah, die sich auf seiner entblößten Haut bis unter den hochgekrempelten Ärmel zog.

Bevor ich wusste, wie mir geschah, verließen die Worte schon meine Lippen. »Was ist das?«

Sein Blick folgte meinem, und ich sah, wie sich seine Augen verdunkelten, bevor er mich wieder direkt anblickte und den Ärmel runterkrempelte. »Sie hätten nie ohneeinander weiterleben können«, meinte er mit einem Unterton in der Stimme, der mich wieder schaudern ließ.

Auf meine Frage ging er nicht ein.

***

»Du gehst schon, Eliza?«

Ich packte eilig meinen Collegeblock und meine Schreibsachen in meine Tasche, bevor ich sie mir umhängte und den Ausgang ansteuerte.

»Wir sind hier fertig«, rief ich als Antwort zurück, ohne mich umzudrehen. Meine Kommilitonen waren mir im Moment so ziemlich egal, ich musste weg hier. Es war einfach genug, ich konnte das keine Minute länger ertragen.

Mit eiligen Schritten lief ich den langen Gang entlang und machte mir keine Gedanken darüber, dass Sam mich eigentlich hier hatte treffen wollen. Es war sowieso zu früh, und ich musste jetzt einfach nach Hause. Jenny und Ally sehen, ihnen von meinem Vorhaben erzählen und vor allem: einen Plan schmieden, damit Finn niemals wieder in meine Nähe kam, geschweige denn mit nach England. Meine Stiefel hinterließen ein lautes, monotones Geräusch auf dem Linoleumboden, und ich zwang mich, meine ganze Konzentration darauf zu richten. Es war plötzlich einfach, meinen Kopf vollständig von all dem Gift zu befreien, das seine Anwesenheit versprüht hatte, um mich wehrlos zu machen. Ich spürte ein paar kostbare Augenblicke lang nur Leere. Ein angenehmes Nichts, eine klirrende Kälte, die das qualvolle Durcheinander verscheuchte und mir ein bisschen Frieden schenkte.

Und dann wurde ich mir der Schritte hinter mir bewusst, die sich unter meine mischten und mich ganz klein werden ließen.

»Bitte …«, erklang Finns Stimme, und ich blieb reflexartig stehen, auch wenn mein Verstand mir augenblicklich sagte, dass ich gehen musste. Ich schloss die Augen. »Bitte hör mir einen Moment zu. Geh nicht …«

Ich biss mir zusätzlich noch auf die Unterlippe und zuckte zusammen, als mich Schmerz durchfuhr und ich etwas Metallisches schmeckte. Ach, Scheiße.

»Ich halte es nicht aus, nicht mit dir zu sprechen. Ich muss dir sagen, was …«

Ich wirbelte herum und stand direkt vor ihm, viel, viel zu nah. Ich musste hochschauen, um ihn richtig ansehen zu können. »Was du dir dabei gedacht hast, als du dir das genommen hast, was du wolltest, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen?«, fragte ich leise, damit meine Stimme nicht versagen konnte.

Er griff nach meinen Händen und stieß mich leicht an, sodass ich nach hinten stolperte und mein Rücken die verschlossene Tür eines Seminarraums berührte. Er sah mich einfach nur an und schüttelte den Kopf, mit seinem Daumen strich er sanft über meine Hand. Ich konnte ihn nicht anschauen, blickte zur Seite, während sich die Flüssigkeit in meinen Augen sammelte, und versuchte erfolglos, das schmerzhafte Etwas in meinem Hals herunterzuschlucken. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich war wieder hier und ließ mich von ihm berühren. Die Tränen liefen meine Wangen entlang, aber ich wusste, wenn ich jetzt nichts sagte, dann würde es enden wie Samstagnacht vor einer Woche.

»Lass mich los«, brachte ich hervor. »Lass mich in Ruhe.«

Eine Hand ließ mich los, um unter mein Kinn zu greifen. »Es tut mir leid, Eliza. Es tut mir so …«

»Lass mich gehen. Wenn du nur ansatzweise etwas anderes als Hass für mich empfindest, dann …« Mein Zittern wurde so stark, dass meine Zähne aufeinanderschlugen und ich nicht weitersprechen konnte.

Durch den Tränenschleier sah ich, wie er erschrak. »Ich könnte nie … Wieso zitterst du?«, fragte er alarmiert, ließ mich aber immer noch nicht los.

»Weil ich Angst vor dir habe«, gab ich hilflos zurück. Mein Herz raste, meine Handflächen waren schweißnass, und ich fühlte mich wie in einem Horrorstreifen, wenn das Opfer wusste, dass der Täter es gefunden hatte und jeder Fluchtgedanke vergebens war. Ich war mir nicht sicher, wann ich so schwach geworden war, aber ich konnte nicht mehr. Wenn er so vor mir stand, mich einengte und mich berührte, dann konnte ich nicht an unsere schönen Momente denken. Dann war da nur eine riesige Panik davor, was passieren würde. Was er mir antun konnte, ohne dass ich mich wehrte.

Sofort löste er den Griff, und ich presste mich verängstigt gegen die Wand, als ein wütender Schrei ertönte und ich meine Augen wieder aufschlug.

Samuel stand zwischen uns, ich hatte ihn nicht einmal kommen hören, und bevor ich wusste, was geschah, hatte er Finn an die gegenüberliegende Wand gedrückt. Es ging alles ganz schnell. Ich realisierte erst, was passierte, als ich einen Schmerzenslaut hörte und Sam wieder zurücktrat.

»Fass sie nie wieder an, du verdammter …« Seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut, aber ich fiel ihm ins Wort, als ich das Blut an Finns Lippe heruntertropfen sah.

»Sam.« Meine Stimme war auf einen Schlag ruhig, und ich wischte mir übers Gesicht. »Gehen wir.«

»Geh nach Hause, Eliza, ich kümmere mich um ihn«, knurrte er und holte zu einem weiteren Schlag aus, als ich so schnell ich konnte an seine Seite trat und nach seinem Arm griff.

Ich zwang ihn, mich anzuschauen, und hoffte, es würde trotz meiner nassen Wimpern genug Überzeugung in meinen Augen liegen. »Ich habe gesagt: Gehen wir.« Plötzlich war ich wütend auf ihn. Er meinte es gut, klar, aber wem half dieser Dreck schon? »Komm.« Ich vermied jeden Blick in Finns Richtung und zerrte Samuel mit ganzer Kraft fort.

»Eliza, er kann nicht damit davonkommen. Er hat nicht das Recht …«, begann Sam, als wir die Universität verließen.

»Nun, und du hast nicht das Recht, ihm eine reinzuhauen«, fuhr ich ihn an. Zornig blinzelte ich das Salzwasser weg, das erneut versuchte, auszubrechen. »Finn hat genug Probleme«, flüsterte ich dann plötzlich und spürte, wie er mich ungläubig von der Seite ansah.

»Er hat dich vergewaltigt.«

»Du warst nicht dabei, du kannst die Situation nicht beurteilen«, protestierte ich, und in meinem Magen drehte sich alles um bei dem Wort. »Ich bin kein kleines Mädchen, ich kriege das alleine hin. Also, zur Hölle, hör endlich auf, mich wie eines zu behandeln.«

»Du wolltest doch unbedingt, dass ich dich begleite, oder?«, blaffte er zurück.

Ich erstarrte. »Tut mir leid, dass ich dich um deine Hilfe gebeten habe. Wird nicht mehr vorkommen.«

Wütend, verwirrt und voller widersprüchlicher Gefühle beschleunigte ich meine Schritte so sehr, bis ich immer mehr Abstand zu Samuel bekam. Ich verließ den verregneten Campus und zuckte leicht zusammen, als ein heftiger Windstoß die Baumkronen über mir durchschüttelte, sodass sich ein kräftiger Schauer über mich ergoss. Ich fluchte und lief Samuel direkt in die Arme, der offenbar eine Abkürzung über die andere Seite genommen hatte.

»Ich bin mit dem Auto da.«

»Schön für dich.« Ich schüttelte mich, und ein paar Tropfen flogen aus meinen inzwischen völlig durchnässten Haaren.

»Tut mir leid, Eliza, das war dumm. Es kotzt mich nur an, dass Finn immer noch rumläuft und denkt, er könnte dich anfassen. Ich komm mir wie der letzte Trottel vor, dass ich ihm überhaupt mal vertraut habe, und ach, es ist gerade sowieso alles beschissen.«

Ich warf ihm noch einen bösen Blick zu, ließ dann aber zu, dass er mich am Arm nahm und in die entgegengesetzte Richtung zu den Parkplätzen führte.

»Sorry, dass ich ihm eine mitgegeben hab«, nuschelte er und rieb mir kurz über den Rücken, weil er sah, wie ich fror. »Ich war einfach nicht gut drauf, und als ich euch so gesehen und mich an Samstag erinnert hab … Ich schätze, da ist ’ne Sicherung bei mir durchgebrannt.«

Ich erwiderte nichts, und schließlich seufzte er laut, als wir beim Auto angekommen waren und er den Schlüssel aus seiner Hosentasche zog.

»Okay, vielleicht musste ich einfach meine Wut an jemandem auslassen, weil ihr alle geht und ich nicht damit klarkomme«, gab er zu.

Mein Blick zuckte zu ihm, und ich zog die Brauen zusammen. »Samuel, du weißt, dass ich gehen muss, und von allen kann hier nicht die Rede …«

»Wusstest du, dass Jenny geht?«, unterbrach er mich mit bitterer Stimme, und meine Augen weiteten sich.

»Was?«

»Ja. So hab ich auch reagiert, als sie mir davon erzählt hat. Du bist wohl nicht die Einzige, die abhauen will.« Er stieg ins Auto, und ich schlüpfte ebenfalls hinein und ließ mich schnell auf den Beifahrersitz fallen, bevor ich die klappernde Tür auf meiner Seite zuschlug. Ich sah ihn auffordernd an, aber er starrte stur geradeaus. »Sie will nach Brasilien. Schön, nicht?«

»Brasilien?« Schlagartig wurde mir bewusst, wie wenig Zeit ich in den letzten Wochen mit meinen Freunden verbracht hatte. Ich war kaum mehr Teil ihres Lebens.

»Jap. Auslandssemester. Weil man dort so tolle Bilder machen kann und das Angebot in den USA natürlich nicht ausreicht«, fügte er mit triefendem Sarkasmus hinzu.

»Wieso weiß ich nichts davon?«

Er warf mir einen eindeutigen Blick zu. »Wieso weiß sie nicht, dass du nach England willst?«

»Hmpf.«

»Weißt du, Liz, sie kann gehen, wohin sie will. Sie soll Spaß haben und ihr Leben leben. Ich wollte sie nie daran hindern. Aber dann soll sie mir nicht sagen, dass sie nicht weiß, was aus uns wird. Dann soll sie wenigstens den Mut haben, mir ins Gesicht zu sagen, dass sie keinen Bock mehr auf mich hat.«

Ich lehnte mich langsam in meinem Sitz zurück und starrte nun genauso nach vorne. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir alle miteinander reden, Sam. Es ist so viel passiert, und … Bring mich einfach ins Apartment, okay?«

Er zuckte nur die Achseln und startete den Motor, während ich den Kopf in meine Hände stützte und mich fragte, wann zum Teufel alles, was als sicher gegolten hatte, so dermaßen aus den Fugen geraten war.

2. KAPITEL: HIGHER PLACES

2. KAPITEL

HIGHER PLACES

Eliza

Samuel ließ mich am Bürgersteig aus dem Wagen und weigerte sich, mit hochzukommen, also nahm ich alleine den Aufzug in den zwanzigsten Stock.

Ich lief den Flur bis zu unserer Wohnungstür entlang und zog meinen Schlüssel aus der Tasche, nachdem ich mich innerlich gewappnet hatte. Aber wenigstens war ich jetzt nicht mehr die Einzige, die etwas zu beichten hatte. Na ja, was hieß schon beichten, immerhin war ein Auslandsbesuch im Studium nichts Ungewöhnliches, richtig?

Zu meiner Überraschung musste ich Jen und Ally nicht aus ihren Zimmern zu einer Krisensitzung in unser kleines Wohnzimmer rufen – meine Mitbewohnerinnen saßen unter einer Decke aneinandergekuschelt auf dem Sofa vor dem Fernseher und richteten sich beide auf, als sie mich entdeckten. Ich konnte eine angebrochene Tafel Schokolade und zwei Tassen Kakao auf dem Tisch vor der Couch erkennen. Mein Blick wanderte zum Bildschirm, wo eine Selbsthilfegruppe für sterbenskranke Teenager zu sehen war.

Na klasse. Sie waren in genau der richtigen Stimmung.

Ich schälte mich aus meiner Jacke, lehnte mich gegen unsere hohe Theke und verschränkte meine Arme. »Ihr schaut euch an einem Samstagabend nicht ernsthaft The Fault in Our Stars an.«

Jenny brummte nur etwas vor sich hin, das wie »Wir haben noch Nachmittag« klang, aber Ally nahm mich genauer ins Visier.

»Wie war dein Treffen? Wieso bist du so durchnässt?«

Eine halbe Sekunde lang wägte ich ab, ob ich lügen sollte, dann entschied ich, dass alles sowieso schon am Arsch war und es daher keinen großen Unterschied machte. »Super. Finn ist aufgetaucht, und wir hatten ein nettes Gespräch über Romeo und Julia. Dann hat Sam ihm eine reingehauen, als er mich selbst nach meinem lächerlichen Betteln nicht loslassen wollte.«

»Finn hat dich belästigt?«, rief Ally wütend.

Jetzt hatte ich auch Jennifers ungeteilte Aufmerksamkeit. »Samuel hat ihn geschlagen?«

Ich zuckte betont gleichgültig die Achseln und begann, Wasser in unseren Wasserkocher laufen zu lassen, um mir einen Tee zu machen, den ich gerade bitter nötig hatte. »Liegt wohl daran, dass er so wütend war, weil du dich von ihm trennen willst, Jenny, um nach Brasilien zu verschwinden.« Ich biss mir auf die Lippe, als mir auffiel, wie vorwurfsvoll das klang, und drehte mich um. Als ich mich schon entschuldigen wollte, fiel mir auf, dass Jenny schuldbewusst den Blick senkte und Ally kein bisschen überrascht aussah. »Du wusstest es?«, rief ich empört aus und schaute sie beide verblüfft an. »Und wann hattet ihr vor, mich einzuweihen?«

Eine Weile herrschte Stille, dann schaute Jen zu mir auf. »Vielleicht wenn du von London angefangen hättest«, murmelte sie und brachte ein kleines verständnisvolles Lächeln zustande.

Ich drehte mich schleunigst wieder um, damit sie mein Gesicht nicht sehen konnten. Mechanisch suchte ich die Darjeeling-Verpackung hervor und nahm einen Teebeutel heraus, bevor ich das dampfende Wasser in meine dunkelrote Lieblingstasse goss. Sie wussten es also. Und ich benahm mich wie die letzte Idiotin, indem ich eine große Sache daraus machte.

Als ich eine ganze Weile nichts von mir gab, ergriff Ally das Wort. »Wir haben die Prospekte in deinem Zimmer gesehen, und du hast ja vor ein paar Monaten schon was davon erwähnt, also …«

»Nach dem, was auf diesem Ball passiert ist, ist es klar, dass du nicht hierbleiben willst«, fügte Jenny hinzu, und ich drehte mich zögerlich um.

»Wieso habt ihr nichts gesagt?«

»Weil wir dir Zeit geben wollten.«

»Okay«, seufzte ich. »Dann können wir uns das mit den Geheimnissen jetzt wohl sparen.« Ich griff nach meiner Tasse und schlenderte zum Sessel neben der Couch, während Alison sich die Fernbedienung schnappte und auf Pause drückte. »Wer will zuerst anfangen?«

All die Dinge, die ich eine Woche lang für mich behalten hatte, sprudelten aus mir heraus, und mit einem Mal war es einfach, darüber zu sprechen. Es machte sogar Spaß, und wie heute Morgen bei Sam bahnte sich eine Vorfreude in mir an, als ich ihnen von dem Programm erzählte, von der traumhaft schönen Universität, dem Campus und den Angeboten … Als ich fertig war, machte Jenny weiter, und als wir schließlich einen Blick auf die Uhr warfen, fiel uns auf, dass es schon nach sieben war.

Ich grinste. »Das war so was von überfällig.«

Jenny lachte zustimmend und Ally seufzte. »Ich hab mich ernsthaft gefragt, wie lange wir dieses Schweigen noch aushalten wollen, das war nicht zu ertragen.«

»Aber Jen …«, begann ich, nachdem Alison im Badezimmer verschwunden war. »Was hast du Samuel erzählt? Der dreht durch, glaub mir.«

Sie fuhr sich durch die roten Locken und stöhnte. »Sam … Ich weiß, ich hab’s vermasselt. Aber ich kann nicht von ihm verlangen, dass er sechs Monate hier auf mich wartet, während ich mich in Brasilien vergnüge, oder?«

»Ist es dir immer noch ernst?«

Sie biss sich auf die Lippe und erwiderte dann fest meinen Blick. »So ernst wie nie zuvor. Aber ich hatte schon mal eine Fernbeziehung, erinnerst du dich? Das endet immer böse.«

Ich dachte daran, wie sie mir von diesem Typen aus Italien erzählt hatte. Sie waren drei Jahre zusammen gewesen, in denen sie sich kaum getroffen hatten. Aber das hier war anders. »Jen, ich denke, wenn du ihn liebst, dann solltest du es versuchen. Und ein halbes Jahr ist kein ganzes Leben.«

Sie guckte genauso ungläubig wie Ally damals, als ich Toms Heiratsantrag verteidigt hatte. Schließlich brachte sie ein Lächeln zustande. »Was hat Finn nur aus meiner zynischen, sarkastischen Eliza gemacht?«

Ich verdrehte die Augen und versuchte den Gedanken, wie er meine Hand in seine genommen und mich zurückgedrängt hatte, in den hintersten Winkel meines Kopfes zu verbannen. »Nur mein Weltbild zerstört. Aber das heißt nicht, dass wir alle dazu verdammt sind.«

Ally kam zurück, und wir beschlossen, Pizza zu bestellen, als mein Handy in meiner Tasche zu vibrieren begann – ich hatte es seit dem Vorfall in der UW-Bibliothek nur noch auf lautlos, da ich mich nicht dazu überwinden konnte, den verfluchten Klingelton zu ändern – und ich verwirrt in mein Zimmer verschwand, um das Gespräch anzunehmen, nachdem ich den Anrufer auf dem Display gesehen hatte.

Ich schaltete das Licht an, schloss meine Tür hinter mir, warf meine Tasche aufs Bett und mich hinterher, bevor ich den grünen Button anklickte. »Tom?«, murmelte ich kritisch.

»Hey, Eliza, wie läuft’s?«

»Ernsthaft?«, entgegnete ich und lehnte mich gegen die Wand unter meinem Fenster, während ich die Beine anzog und mein Kinn dann auf den Knien ablegte.

»Lust, heute noch was zu unternehmen?«, fuhr er fort, als wäre ihm die Ironie in meiner Stimme vollkommen entgangen.

Ich spürte, wie ich wieder wütend wurde. »Klar, Tom, ich komm gleich vorbei. Dann können wir vielleicht bei dir abhängen, oder weißt du was, ich hab eine bessere Idee. Wieso gehen wir nicht gleich eine Etage höher und schmeißen eine Party bei deinem kleinen Bruder? Soll ich Snacks mitbringen?«

Er seufzte unüberhörbar. »Ich rufe nicht seinetwegen an.«

»Klar. Glaub ich dir aufs Wort.«

»Eliza, bitte …«

Langsam, aber sicher kotzte es mich wirklich an, meinen Namen in Verbindung mit diesem Wort zu hören. »Ich hasse es, deine Illusionen zu zerstören, aber Finn ist ein Psychopath und soll sich einliefern lassen, bevor ich es tun muss. Das ist kein Spiel für mich, Tom, und es ist auch nicht wie damals vor San Francisco, obwohl das gestört genug war. Ich lass mich nicht mehr vom Westwood-Clan verarschen, ist das klar?«

»Tut mir wirklich leid.« Er hörte sich ehrlich betroffen an, aber ich vertraute inzwischen nicht mehr besonders auf mein Bauchgefühl, also sagte ich erst mal gar nichts, während er weitersprach. »Ich schwöre dir, ich rufe nicht an, um irgendetwas zu rechtfertigen, was Finn getan hat. Ich will auch keine tiefgründigen Gespräche mit dir darüber führen oder so ’nen Scheiß, ich wollte dich einfach fragen, ob du Lust hast, heute mit mir auszugehen.«

Verblüfft richtete ich mich auf. »Was?« Er blieb stumm, und ich runzelte die Stirn. »Tom, nichts für ungut, aber du bist der Ex meiner besten Freundin und …«

»Das soll kein Date sein«, seufzte er deutlich resigniert. »Komm schon, Liz, wann war das letzte Mal, dass du dich richtig amüsiert hast?«

Ich musste keine Minute darüber nachdenken. Deutlich sah ich die Umrisse der Suite im Palace Hotel vor mir. Die Nachtclubs und die überfüllten Straßen, auf denen wir zu Enjoy The Silence getanzt hatten … Plötzlich wurde mir bewusst, dass Tom und ich uns in gewisser Weise in der gleichen beschissenen Situation befanden: Wir waren beide verlassen worden. Und wie es aussah, waren wir beide nicht darüber hinweg. »San Francisco«, gab ich schließlich zu.

»Wie es der Zufall will, ist es bei mir genauso. Erkennst du Parallelen?«

Ich musste unwillkürlich lächeln. »Was ist dein Plan?«

»Drinks und ein bisschen tanzen. Einfach so – weil wir immer noch ein Leben haben und nicht auf die Liebe angewiesen sind.«

Es klang verbittert, und ich wog meine Möglichkeiten ab. Alison würde sicher nicht begeistert sein, und ich fragte mich, ob es Verrat wäre, mit Tom feiern zu gehen. Aber auf einmal fühlte ich ein Kribbeln in mir, als ich daran dachte, dass ich tanzen konnte … loslassen … ein wenig Spaß haben. Einfach weil ich am Leben war. Die kleine Hoffnungsflamme vergrößerte sich, und bevor ich einen Rückzieher machen konnte, sprach ich es aus: »Okay.«

»Perfekt, Liz, danke. Du wirst es nicht bereuen, glaub mir. Ich hol dich in zwei Stunden ab, geht das klar?«