Bad Company - Jörn Leogrande - E-Book
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Jörn Leogrande

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Beschreibung

Eine einzigartige Geschichte von Geld, Gier und Größenwahn - »Großes Kino.« Süddeutsche Zeitung

Eine spektakuläre Innenansicht der Wirecard AG und damit auch des größten Börsenskandals des Jahrzehnts, geschrieben von einem langjährige Mitarbeiter in leitender Position: Im Sommer des Jahres 2020 kollabiert das einstige DAX-Unternehmen und Fintech-Wunderkind Wirecard, nachdem Milliardenbeträge verschwunden sind und unauffindbar bleiben. Mitglieder des Vorstands sowie leitende Manager werden verhaftet. Schicht um Schicht enthüllt sich die Geschichte eines gigantischen Kriminalfalls. Wie gelang es dem Unternehmen über so viele Jahre, die Politik, die Börse und die Öffentlichkeit zu blenden? Jörn Leogrande berichtet über die Strukturen, die Arbeitsweisen und die schillernden Persönlichkeiten und zeichnet den Weg der Wirecard AG vom technologischen Vorzeigeunternehmen zum insolventen mutmaßlichen Betrugsfall nach.

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Seitenzahl: 312

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Über das Buch:

Es ist der Börsenskandal des Jahrzehnts: Im Sommer des Jahres 2020 kollabiert das einstige DAX-Unternehmen und Fintech-Wunderkind Wirecard, nachdem Milliardenbeträge verschwunden sind und unauffindbar bleiben. Mitglieder des Vorstands sowie leitende Manager werden verhaftet. Schicht um Schicht enthüllt sich die Geschichte eines gigantischen Kriminalfalls. Wie gelang es dem Unternehmen über so viele Jahre, die Politik, die Börse und die Öffentlichkeit zu blenden? »Bad Company« liefert eine spektakuläre Innenansicht der Wirecard AG. Jörn Leogrande berichtet über die Strukturen, die Arbeitsweisen und die schillernden Persönlichkeiten und zeichnet den Weg der Wirecard AG vom technologischen Vorzeigeunternehmen zum insolventen mutmaßlichen Betrugsfall nach.

Über den Autor:

Jörn Leogrande, geboren 1963, hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Germanistik studiert. Seit den frühen 90er Jahren ist er zunächst als freier Journalist und später als Webetexter und Marketingspezialist tätig. 2005 tritt Leogrande eine Stelle im Marketing der Wirecard AG an und wird in kurzer Zeit Head of Marketing. Nach weiteren Top-Positionen in der Produktentwicklung avanciert er 2017 zum Chef der globalen Innovationsabteilung von Wirecard. Im Laufe seiner Karriere berichtet er direkt an CEO Markus Braun und arbeitet über Jahre eng mit COO Jan Marsalek zusammen. Er ist bis zum August 2020 bei der Wirecard AG tätig. Zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern lebt Jörn Leogrande in der Umgebung von München. Er leitet heute eine führende Innovationsinitiative im Fintech-Bereich.

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JÖRNLEOGRANDE

BADCOMPANY

Meine denkwürdige Karriere bei der Wirecard AG

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Copyright © 2021 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.ISBN978-3-641-27659-1V002www.penguin-verlag.de

Inhalt

Prolog

Intro I see rainbows

1  The King has left the building

2  Memyselfandi007 und der talentierte Herr Marsalek

3  Codename Projekt Taurus

4  Vier Jahre mit Facebook und ein Systemausfall, der das Fürchten lehrt

5  Bijli und Blutsbrüder im Dengue-Fieber

6  Die Zukunft ruft an und niemand hebt ab

7  Keep calm and carry on with billions

8  It’s all over now, baby blue

Outro Willkommen in der Post-Apokalypse

Dank

Prolog

In diesem Text erzähle ich die Geschichte meiner Karriere bei der Wirecard AG, die sich über einen Zeitraum von 15 Jahren – von 2005 bis 2020 – abspielte. Ich habe meine Laufbahn bei der Wirecard zunächst als Marketingleiter begonnen und war ab 2013 als Executive Vice President verantwortlich für die Entwicklung aller Produktlösungen rund um das mobile Bezahlen. Im Jahr 2017 wurde ich schließlich Chef der globalen Innovationsabteilung der Wirecard. In dieser Position blieb ich, bis der Konzern 2020 in einem der weltweit größten Bilanzskandale Insolvenz anmeldete. Gegen Vorstände wie Markus Braun (CEO), Jan Marsalek (COO), Burkhard Ley (ehemals CFO) und führende Mitarbeiter wie Oliver B. oder Stephan von Erffa wurden im Zuge dieser Insolvenz Haftbefehle erlassen, die teilweise später wieder aufgehoben wurden.

Im Laufe meiner beruflichen Karriere habe ich intensiv mit den wesentlichen Protagonisten des Wirecard-Skandals, vor allem mit Jan Marsalek und Markus Braun, aber auch mit Oliver B. und Burkhard Ley, zusammengearbeitet.

Mit Jan Marsalek habe ich die mobilen Bezahlsysteme von Wirecard entwickelt und war maßgeblich in zahlreiche internationale Kernprojekte des Unternehmens involviert.

Für Markus Braun habe ich in meiner Rolle als Innovationschef der Wirecard die Zukunft einzelner Bereiche des Konzerns mitgestaltet. Ich entwickelte prototypische Umsetzungen und Konzeptpapiere, die einen Blick auf die nächsten Märkte und Technologien in der Zahlungsabwicklung eröffnen sollten. Darüber hinaus hatte ich die Aufgabe, dazu beizutragen, das Image von Wirecard als Technologieführer zu etablieren: Ich sprach im Auftrag des Vorstandsvorsitzenden mit Pressevertretern, Analysten und Investoren. Und ich sollte auf Tech-Veranstaltungen weltweit das innovative Markenbild der Wirecard kommunizieren.

Nunmehr, mit dem heutigen Wissen um die damaligen Vorgänge, denke ich, dass ein wesentlicher Teil meiner Aufgaben darin bestand, eine Fassade der Wirecard zu gestalten, während dahinter mutmaßliche Betrügereien in ungeahntem Ausmaß stattfanden. Und natürlich stellen sich auch Fragen nach meinem eigenen Wissen um den Bilanzbetrug, der Wirecard in den Medien und vonseiten der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird.

Lassen Sie mich ehrlich antworten: Ich hatte wie viele Mitarbeiter immer wieder meine persönlichen Zweifel an der angeblich so enormen Profitabilität vor allem der ostasiatischen Auslandsgeschäfte der Wirecard. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass es in diesen auch für hochkarätige Bilanzierungsexperten kaum zu durchschauenden Unternehmensbereichen kriminelle Finanzaktivitäten gab, lagen mir jedoch zu keiner Zeit vor.

Zu Beginn der Unternehmensentwicklung war das Geschäftsmodell der Wirecard AG die Abwicklung von Bezahltransaktionen im zwar nicht illegalen, aber doch zumeist anrüchigen Bereich Porno und Glücksspiel. Im Laufe der Zeit sorgte der Vorstand vor allem in der Person von Jan Marsalek dafür, dass dieses hochprofitable Business nicht mehr unmittelbar mit dem Kerngeschäftsmodell der Wirecard in Verbindung gebracht werden konnte.

Mit einem kleinen Team etablierte Jan Marsalek das sogenannte Third-Party-Konzept. Im Wesentlichen geht es dabei darum, dass Wirecard gleichsam als outgesourcter Zahlungsabwickler für eine Reihe ausländischer Banken und Payment-Unternehmen agierte. Dieses Geschäft fand offenbar ganz bewusst nicht auf technischen Systemen der Wirecard statt, sondern wurde weitgehend unabhängig von der Kernorganisation abgewickelt.

Um welche Händler es hierbei ging, wie das Transaktionsvolumen zusammengestellt war und welcher Geschäftstätigkeit die Kunden am Ende nachgingen – all das war im Unternehmen nur einer sehr kleinen Gruppe von Mitarbeitern bekannt. Ich gehörte schon aufgrund meines ganz spezifischen Tätigkeitsbereichs dieser Gruppe nicht an.

Die meisten Wirecard-Manager gingen wie ich davon aus, dass Wirecard aus Reputationsgründen das hochprofitable Zahlungsgeschäft rund um Adult Entertainment und Online-Glücksspiel durch das Third-Party-Geschäft outsourcte. Für diese Logik gab es gute Gründe: Dem strahlenden DAX-Konzern hätte die Nähe zu zweifelhaften Transaktionen und zu Händlern, die in den Grauzonen des Internets agierten, in vielerlei Hinsicht geschadet.

Das gesamte Board investierte parallel große Anstrengungen in den Aufbau neuer Produktfelder und Märkte. Mit der Zeit geriet das Paralleluniversum des Third Party Business für uns Mitarbeiter immer stärker in den Hintergrund. Erschüttert wurde diese Entwicklung nur durch Blogbeiträge und die Berichterstattung der Wirtschaftspresse, die in regelmäßigem Turnus über angeblich aus diesem Umfeld herrührende Missverhältnisse in der Wirecard-Bilanz berichteten.

Am Ende konnten mehr als 1,9 Milliarden Euro auf den Konten der Wirecard nicht gefunden werden, obwohl sie ein wichtiger Bilanzposten waren. Deshalb wurden Zweifel laut, dass das Third-Party-Geschäft jemals wirklich stattgefunden hat.

In den letzten Wochen und Monaten habe auch ich die Entwicklungen bei Wirecard mit großer Spannung verfolgt und mich nicht selten gefragt: Habe ich mich persönlich schuldig gemacht? Ich möchte in diesem Punkt ganz klar sein: Ich habe in meiner Zeit bei Wirecard beruflich nie gegen geltende Gesetze verstoßen und wurde nie aufgefordert, illegale Handlungen auszuüben. Dazu eignete sich mein doch eher im öffentlichen Fokus stehender Zuständigkeitsbereich in keiner Weise. Und abgesehen davon war ich selbst auf meiner Ebene ein viel zu kleines Licht. Ein mutmaßliches Betrugsschema, das über Jahre relevant bleibt, kann am Ende ohnehin nur funktionieren, wenn der Kreis der Mitwisser absolut überschaubar bleibt.

Mit dem heutigen Wissen stelle ich mir natürlich die Frage, warum ich meinen Zweifeln nicht kritischer nachgegangen bin. Wie mir ging es vielen Kolleginnen und Kollegen. In Wahrheit hat sich nur sehr selten jemand in letzter Konsequenz bemüht, den eigenen Vorbehalten auf den Grund zu gehen. Was die Ursachen dafür sind und wie es einigen wenigen gelang, uns andere in Unwissenheit bzw. Nicht-wissen-Wollen über Wirecards Schattenseiten zu halten – das ist im Grunde das Thema von Bad Company.

Auf den Seiten dieses Buches werden Sie nicht die investigative Geschichte über Geldflüsse oder Ponzi-Schemes oder Hinweise auf den Verbleib von 1,9 Milliarden Euro finden, die im Jahr 2020 in der Bilanz der Wirecard fehlten. Ich versuche vielmehr, meinen Leserinnen und Lesern und mir selbst durch eine Rekonstruktion dessen, was ich in 15 Jahren bei der Wirecard erlebte, die Hintergründe jenes Hypes, jener Massenhysterie verständlich zu machen, die den groß angelegten mutmaßlichen Betrug von Wirecard erst ermöglichte.

Was in diesem Buch dargestellt wird, kann aus naheliegenden Gründen nicht die vollständige Historie der Wirecard sein. Es handelt sich um meine subjektiven Erlebnisse und Begegnungen im Wirecard-Universum. Alle Begebenheiten in diesem Text haben sich in meiner Erinnerung und nach den mir vorliegenden Dokumenten so abgespielt. Das gilt auch für sämtliche Gespräche, über die ich berichte. Diese haben wörtlich bzw. sinngemäß alle so stattgefunden. Aufgrund des zeitlichen Ablaufs wurden einzelne Dialoge aus der Erinnerung rekonstruiert und formuliert. Ich habe aber die manchmal vielleicht abenteuerlich wirkenden Abläufe weder ausgeschmückt noch künstlich überhöht. Sie waren in der Tat ohnehin so bemerkenswert, dass ich auf solche Stilmittel verzichten konnte. Ziel meiner Ausführungen ist eine authentische Innenansicht des Konzerns.

Bleibt zum Schluss die Frage, warum ich diesen Text verfasse: Ich schreibe dieses Buch, um die Wirecard-Story und meinen Anteil daran nachvollziehbar zu machen. Ich schreibe diesen Text auch, um persönlich mit meiner Vergangenheit bei der Wirecard AG abzuschließen.

Jörn Leogrande

Intro I see rainbows

18. 06. 20207.25 Uhr

Um kurz nach 7 Uhr an diesem Donnerstagmorgen bin ich mit meiner Kollegin Marie verabredet. Digital – im Chat des Messengers Telegram.

Telegram ist der Backbone der Kommunikation im Wirecard-Konzern. Denn der Chief Operating Officer, Jan Marsalek, liebt Telegram so sehr, dass er als wahrscheinlich einziger Mensch auf der Welt über seine eigene Sticker-Kollektion für den Messenger verfügt. Und was Jan liebt, das lieben auch wir – seine Führungskräfte. Und so geht es Top-down weiter, bis jeder im Konzern immer und überall diesen Kommunikationsweg nutzt.

Ich habe mich mit Marie verabredet, um die Entwicklungen rund um die für heute geplante Veröffentlichung des Wirecard-Jahresberichts 2019 auf Twitter live zu verfolgen. Big business binge watching.

Bei solchen Jahresberichten veröffentlicht das Unternehmen normalerweise seine Zahlen und Reports um 7.30 Uhr. Es ist jetzt 7.25. Im Forum des Börsenportals Wallstreet:Online schreibt ein Nutzer mit dem Namen »Banane50«: »Ist die Rakete beladen und startbereit? Der Countdown läuft.«

Der Kurs steigt tatsächlich vorbörslich. 101, 104, 107, 109. Das ist ein gutes Zeichen. Der Markt rechnet nicht mit einer Katastrophe – der Markt rechnet mit der Statistik. Und die besagt, dass dieser DAX-Konzern noch jede Krise überlebt hat in den letzten 20 Jahren.

Noch am Montag, also grade mal drei Tage zuvor, saß ich in meinem Reporting-Meeting bei Susanne Steidl, als Wirecard-Vorständin für die Produktentwicklung verantwortlich. Die Sache sieht gut aus, sagte Susanne. Es dürfte im Testat, das Ernst & Young für den Geschäftsbericht liefert, kleinere Ansatzpunkte für eine Verbesserung im Reporting geben. Hickups nannte sie das – minimale Durchhänger, nichts Ernstes. Aber das wird es dann gewesen sein. Bei einem uneingeschränkten Testat sind wir komplett reingewaschen, sagte Susanne und lächelte voller Optimismus.

Komplett reingewaschen – ein neuer Anfang. Genau darum geht es hier. Seit dem Jahr 2008 steht die Bilanz der Wirecard im Kreuzfeuer der Kritik. Am Ende gewinnen jedoch immer wir. Wir steigern den Umsatz jedes Quartal um 30 Prozent. Unsere Wachstumsentwicklung sieht aus, als wäre sie mit einem verdammten Lineal gezogen. Wir steigen in den DAX auf. Wir gehören zu den wertvollsten Unternehmen Deutschlands. Doch das verstehen die Neider und Hater aus den Blogs und der Wirtschaftspresse nicht, die mit den Shortsellern zusammenarbeiten, die von fallenden Kursen profitieren.

Um ein für alle Male Klarheit in die Bilanz zu bringen, hat der Aufsichtsrat der Wirecard die Beratungsgesellschaft KPMG damit beauftragt, die Umsätze zu prüfen. Doch die Consultants können in ihrem Bericht, der vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde, die größten Geldströme von Wirecard weder bestätigen noch ausschließen. Wirecard-CEO Markus Braun – unsere österreichische Eiche im dunklen Rollkragenpulli – nennt das lapidar ein Kommunikationsproblem. In Wirklichkeit ist es jedoch das Setting für den größten Showdown der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Es ist das Endspiel der Business-Bundesliga – live übertragen auf Twitter. So etwas hat es noch nie gegeben.

Doch alles ist neu in der wunderbaren Welt unseres jungen Tech-Konzerns. Die Commerzbank flog aus dem DAX – Wirecard zog mit großem Getöse in die Gruppe der 30 größten deutschen Unternehmen ein. Ein neuer Name, eine neue Technologie, ein neues Spiel: Endlich ein Konzern aus Deutschland, der das Potential hat, mit den milliardenschweren Start-ups aus den USA und China mitzuhalten. Das ist die Storyline. Hier und heute stellt sich nun ultimativ die Frage nach dem dazugehörigen Geschäftsmodell.

7.30 Uhr Die Bilanz müsste jetzt veröffentlicht werden. Ich refreshe Twitter inzwischen alle vier oder fünf Sekunden. Twitter ist der genaueste Seismograf der Wirecard-Entwicklung. Jedes Gerücht, jede News, ja jede banale Einschätzung – alles schlägt immer hier als Erstes ein.

»Früh aufstehen ist der erste Schritt in die falsche Richtung«, schreibt ein User namens »Einverstanden« unter #wirecard. Could not agree more.

Und Marie auf Telegram: »Ich seh’ noch nichts.«

7.35 Uhr Auf Twitter reden erste User ironisch von »Upload-Problemen bei Wirecard.« Einer schreibt: »Ich brauche heute eine halbe Blutdrucktablette mehr.« Superwitzig.

Schneller Check auf den Investor-Relations-Seiten: Ja, der Bericht ist weiterhin für heute angekündigt. Bilanzpressekonferenz ist dann auf 14 Uhr terminiert. Sogar mit Livestream.

Bin ich nervös? Ja und nein. Ich bin Executive Vice President Innovation – der »Mad Professor of Payments« auf den Keynote-Bühnen der Welt. Seit Jahren arbeite ich nun in vielen Bereichen mit Jan, mit Markus und Susanne zusammen. Totgesagt waren wir in der Vergangenheit bereits häufiger. Aber immer wieder kamen wir noch größer und noch selbstbewusster zurück. Pures Tech-Teflon – alles perlt an uns ab. So wird es auch heute sein. Natürlich. Aber wenn ich ganz tief in mich reinhöre, dann weiß ich, dass es irgendwann vorbei sein muss. Das ist mein Problem, dass ich immer etwas zu sehr auf die eigenen Zweifel fokussiert bin. Jan Marsalek hat mir das immer wieder vorgeworfen. Du musst super-aggressiv sein und alles andere ausblenden, auch wenn du weißt, dass es schiefgeht. So lautet sein Erfolgskonzept. Nun, er muss es wissen. Er ist schließlich Vorstand bei der Wirecard.

8.55 Uhr Kurz vor Beginn des Börsenhandels – noch immer keine News zum Report. Das ist ungewöhnlich: Börsennotierte Unternehmen veröffentlichen ihre Meldungen normalerweise nicht mitten in der Handelszeit. »Wirecard verunsichert seine Aktionäre«, titelt finanztreff.de. Der Kurs läuft jetzt in breiten Wellen auf- und wieder abwärts. Verunsicherung macht sich breit.

9.30 Uhr Es tut sich rein gar nichts auf Twitter, und auch auf Telegram stehen die Chats still. Ich beschließe, irgendetwas halbwegs Produktives zu machen und eine kurze Meldung zu meinem Innovations-Lab auf Twitter und LinkedIn zu veröffentlichen. »Wir gehen jetzt mal ins Vacuum der Wirecard-Kommunikation«, schreibe ich Marie auf Telegram. Die antwortet nur eine Sekunde später: »#norisknofun«.

Dieser Post ist eine schlechte Idee, das will Marie mir damit sagen. Aber ich höre schon lange nicht mehr richtig zu. Ich möchte relevant sein. Darum ist es mir im Grunde immer gegangen. Ich will Teil einer Erfolgsgeschichte sein. Nicht nur in der zweiten Reihe sitzen und abwarten. Deswegen drücke ich auf »Send« und jage über LinkedIn und Twitter meine völlig überflüssige Nachricht ins Internet.

10.40 Uhr Ich sitze jetzt seit 7 Uhr morgens vor dem Rechner und drücke Refresh auf Twitter. Keine Nachricht über den Geschäftsbericht, das Testat oder die Bilanz. Kein Like oder Comment auf meinen Post. Fuck. Nichts passiert. Deswegen beschließe ich, laufen zu gehen. Es ist die Post-Lockdown-Zeit: Es ist von allem Ungesunden viel zu viel gewesen in den letzten Monaten. Viel zu viele Team-Meetings, zu viel Zeit vorm Rechner und vor allem viel zu viel Alkohol.

Wieder einmal habe ich vor wenigen Tagen beschlossen, mein Leben zu ändern. Kein Alkohol für die nächsten drei Monate. Auf einem Kalender streiche ich mit einem neongelben Textmarker die Tage durch. Vier Kreuze stehen da am Donnerstag, den 18.06. Und die Zahl 100,9. Mein Gewicht. Ich habe Großes vor in diesen ersten Sommertagen im Jahr 2020. Doch ich habe eigentlich immer viel vor – und am Ende bleibt das meiste leider ziemlich konstant, wie es ist. Das ist mein Leben, und so läuft auch meine Karriere seit nunmehr anderthalb Jahrzehnten.

10.41 Uhr Also laufen. Ich ziehe meine Sportsachen an, als ich aus den Augenwinkeln auf meinem iPhone sehe, wie der Kurs der Wirecard implodiert. Minus 30 Prozent. Minus 40 Prozent. Minus 47 Prozent.

»Stürzt komplett ab«, schreibt Marie. »Es wird immer schlimmer.«

Um genau 10.43 Uhr beginnt der Anfang vom Ende. Der Veröffentlichungstermin für den Jahres- und Konzernabschluss 2019 wird offiziell erneut verschoben – zum vierten Mal in Folge. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young konnten keine ausreichenden Prüfnachweise über Bankguthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro erlangen. Kreditlinien in Höhe von 2 Milliarden Euro können nun fällig gestellt werden. Das wäre das Ende der Wirecard. Der Kurs stürzt ins Bodenlose. Das Armageddon hat begonnen.

Marie macht sich Sorgen. Sie ist noch nicht lange bei Wirecard. Seitdem geht es ständig hin und her wegen der Bilanz. Jetzt sind wir richtig down. Was werden ihre Freunde dazu sagen? Was sagt ihre Familie?

Ich antworte Marie, dass ich mir über so etwas keine Gedanken mache. Meine Mutter liest weder Handelsblatt noch Manager Magazin und schon gar keine Aktiennews im Internet. Für sie ist nur relevant, was auf der Startseite von Bild.de passiert und was am Abend in den Tagesthemen kommt. Zur Sicherheit öffne ich die Internetseite von Bild. Die erste News, der ganze verdammte Aufmacher, die halbe Page schreit »Wirecard«.

Es ist jetzt kurz vor Mittag. Ich habe immer noch meine beschissenen Laufsachen an. Alkohol wäre jetzt eine wirklich sehr gute Idee. Kein neongelbes Kreuz in meinem Kalender heute. Und kein neongelbes Kreuz in der nahen Zukunft. Dann klingelt das Telefon, und es hört nicht auf zu klingeln bis zum Abend.

19. 06. 202017.05 Uhr

Wir sind im totalen Krisenmodus angekommen bei Wirecard. Susanne Steidl als Vorstand hat nun – und an allen kommenden Tagen – ein Treffen mit ihren engsten Führungskräften angesetzt. Ich gehöre als »direct report« dazu.

Das Meeting ist eigentlich als Onlinebesprechung geplant. Aber weil sowieso alle im Unternehmen sitzen, um nichts zu verpassen, treffen wir uns im Konferenzraum Berlin. Corona-Regeln interessieren im Panikmodus nun wirklich niemanden mehr.

Susanne Steidl sitzt am Kopf des Konferenztisches. Sie redet mit einer Kollegin von mir. Ich verstehe nur Satzfetzen: »1,9 Milliarden … waren … nie da?«

Ich betrete gerade den Raum und bleibe stehen. Dann erhebt Susanne die Stimme, ganz der Boss dieser Veranstaltung, und sagt: »Das ganze Geschäft rund um die 1,9 Milliarden Euro hat es wahrscheinlich nie gegeben.«

Und nach einer langen Pause und sehr leise: »Das ist der dunkelste Tag meiner ganzen Karriere.«

Manchmal, ganz selten nur, bleibt die Welt stehen. Wir sind so im Schock gefangen, dass die Zeit stoppt. Und alle Gedanken werden von einem Blitzschlag überlagert. Alles drängt sich nun weg: die ständigen Diskussionen im Kopf, das ewige Für und Wider, das ganze eigene Durcheinandergelaber. »Das war es jetzt«, sagt der Blitz, als er bei mir einschlägt und grell aufglüht. Fünf Minuten nach 17 Uhr.

15 Jahre bin ich nun bei Wirecard. Ich habe 2005 im Marketing angefangen und übernahm eine Produktentwicklungsabteilung. Jan und Markus machten mich danach zum Innovationschef des gesamten Unternehmens. Ich gehöre dem Kreis direkt unter dem Vorstand an. Mittendrin statt nur dabei. Wenn jetzt wirklich 1,9 Milliarden auf einem Bankkonto auf den Philippinen fehlen, dann ist das kein Schönheitsfehler in der Bilanz oder ein Kommunikationsproblem. Es ist Betrug, von wem auch immer konkret begangen. Und das ist das Ende, verdammt noch mal. Und jeder hier im Konferenzraum Berlin in Aschheim am Rand von München, jeder weiß das. Deswegen ist es vollkommen still geworden.

26. 06. 20209.50 Uhr

Die weltweite Gemeinschaft der Wirecard-Mitarbeiter erreicht einmal wieder eine Nachricht von Interims-CEO James Freis. James übernahm in der Krise das Ruder von Markus Braun, und er hat sich offenbar auf die Fahnen geschrieben, sich vom nüchternen bis nicht vorhandenen Kommunikationsgebaren seines Vorgängers durch persönliche Botschaften nachhaltig abzusetzen. So haben wir in Messages von James Freis unter dem programmatischen Titel »Touching Base« in den letzten Tagen bereits erfahren, dass der neue CEO sich persönlich sehr am Rudern als sportivem Gemeinschaftserlebnis erfreut und dass er gerne in lokalen Brauereien einkehren würde, wenn der Stress mit der verdammten Insolvenz des Unternehmens ihn nicht Tag und Nacht beschäftigen würde.

Nachdem James in seiner neuesten Mail einmal mehr über den Prozess der Insolvenz bei Wirecard berichtet, das Engagement der Mitarbeiter lobt und auf das Insolvenzgeld hinweist, das am Monatsende ausgezahlt wird, nähert er sich einem poetischen Bild an.

James hat einen Regenbogen gesehen, vom Balkon seines Büros in Aschheim an einem ruhigen Sonntagnachmittag. Der neue CEO der krisengeplagten Wirecard erkennt im Regenbogen das biblische Symbol der Erneuerung, das auch die Reise von Noahs Arche begleitet hat. Der Ausbruch der Farben ist ein guter Indikator dafür, wie limitiert unsere Augen funktionieren, erklärt der CEO. Und ein doppelter Regenbogen ist das Resultat von zwei Reflexionen, die sich in einem Regentropfen zeitgleich spiegeln. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, schreibt James Freis am Schluss, aber ein guter Regen hilft, die Dinge sauber zu waschen. »Please keep looking ahead. Everyone of us can be part of a brighter future.«

Wenige Stunden später antwortet ein Mitarbeiter auf die Mail des Vorstands. Mit der gesamten Belegschaft in Kopie. Er schreibt: »Dear James, danke für das schöne Bild des Regenbogens. Ich werde es ausdrucken und versuchen mit diesem Bild im Supermarkt zu zahlen.«

14. 07. 20209.50 Uhr

Es ist viel passiert in den vergangenen Tagen und Wochen. Jan Marsalek, langjähriger Vorstand der Wirecard wurde gefeuert. Genauso wie Markus Braun. James Freis wurde schon am 18. Juni als neuer Vorstand eingesetzt. Markus Braun warnte noch unmittelbar vor seinem Rücktritt, dass der Aufsichtsrat mit der Entscheidung, ihm zu kündigen, sein Lebenswerk zerstöre und das Geschäft mit den datengetriebenen Services bedrohe, das gerade jetzt richtig anläuft. So etwas nenne ich einen narzisstischen Totalausfall.

Während ein Haftbefehl für Markus Braun erlassen wurde und die Wirecard Insolvenz anmeldete, floh Jan Marsalek mit unbekanntem Ziel. Und die Presse schießt sich auf ihn als ultimativen Superschurken ein und spekuliert wild vor sich hin: Jan organisierte angeblich Armeen, die in Syrien gegen Flüchtlinge agitierten, kümmerte sich um Deals rund um das hochtoxische Nervengift Nowitschok, verhandelte mit diversen russischen Geheimdiensten, war in die Ibiza-Affäre rund um Heinz-Christian Strache involviert und entwendete 1,9 Milliarden Euro, die er seither in einem Bitcoin-Wallet mit sich herumträgt. Jan taucht seit seiner Flucht jeden Tag auf der Titelseite von Bild.de auf.

Meine Mutter findet all das irgendwie doch ganz unterhaltend. »Dein Jan war ganz schön aktiv«, erklärt sie am Telefon, als sie mich an diesem Julimorgen anruft.

Mein Jan, mein Vorstand, manchmal so etwas wie mein Mentor, bisweilen auch mehr als nur Chef: Ich habe 15 Jahre meines Lebens mit dem Endgegner verbracht und es nicht gemerkt. Ich habe Jan immer aufrichtig bewundert für seine Manieren, für die Geschwindigkeit seiner Gedanken und für seinen Style. Und ich habe ihn auch gehasst: für seine ungeheure Arroganz, für seine ständige Nörgelei und die Art und Weise, wie er Kommunikation als Machtinstrument nutzte, das er nach Belieben an- und wieder ausschalten konnte.

Ich glaube, das wird den libyschen Söldnern ähnlich gehen, die von Jan angeheuert sein sollen, um an den Grenzen Flüchtlinge zu jagen. Sie sitzen wahrscheinlich heute noch da und starren auf ihre Telegram-Chats und warten in der gleißenden Mittagssonne auf eine Nachricht vom Meister. Willkommen im Club.

Die Geschichte der Wirecard – sie endet für mich im Sommer 2020 ebenso bizarr und verwirrt, wie sie vor 15 Jahren in Grasbrunn begonnen hat …

1 The King has left the building

Es begann in Grasbrunn. Hallbergmoos oder gar Icking hat mir das Schicksal erspart. Großstadtvorort-Monopoly – Münchner Umland. Mittelständische Tech-Welt. Wirecard-Welt.

Es ist das Universum der Gewerbegebiete. Zweckmäßige Gebäudeformationen: viel Beton, wenig Glas. Nicht ganz modern also und noch nicht vollständig outdated. Die ganz großen Geschichten fangen eigentlich immer woanders an. Hier, in der Peripherie, findet man Unternehmen, deren Namen keinem etwas sagen. Viel »Tec«, viel »Net«, viel »Components« und »Engineering«. In lockeren Einheiten gruppiert rund um den Rewe, den Bäcker, den Griechen und das Fitnesszentrum.

Und auf den Parkplätzen das stets gleiche Bild: viel A6, Q5, X3 – die Kürzel der Speckgürtelmenschen, die sich rund um ihre Arbeitgeber herum angesiedelt haben. Kurze Wege, pragmatische Entscheidungen, praktisches Erscheinungsbild. Zwischen 30 und Mitte 40 Jahre alt, schlank, gepflegt. Älter wird man in der Peripherie eigentlich nicht. So richtig verstanden habe ich das nie.

Speckgürtelmenschen waren sie gewiss nicht, die Herren der Wirecard-Welt. Paul, Alexander, Markus und Jan. Die CEOs, die CFOs und COOs der Wirecard AG. Die erste und die zweite Generation vom Dunklen Orden der Sith-Lords. Für sie konnte es nach der Arbeit in Hallbergmoos, in Icking, Vaterstetten und Aschheim nicht schnell genug in die Städte gehen. Zum Käfer-Restaurant, ins Matsuhisa, zum Brenner Operngrill oder in die First Class Lounge des Münchner Flughafens. Mit dem Taxi, später mit dem eigenen Fahrer. »Roy fahr schon mal das Auto vor« – und dann so schnell es geht über die Autobahn runter Richtung Prinzregentenstraße.

Paul zum Beispiel: der Legende nach Sohn eines erfolgreichen Geschäftsmannes aus Icking. Verdiente sein Geld gerüchteweise mit Dialern mit so klangvollen Namen wie openme.exe. Gab die deutsche Ausgabe der Porno-Zeitschrift Hustler heraus. Als ich bei Wirecard anfing, damals im Jahr 2005, fand man in den Schränken immer mal wieder stapelweise Hustler-Hefte. Klingt irgendwie cool, war dann aber doch eher abstoßend. Denn der Hustler war nicht der Playboy, sondern übler Porno.

Paul, also. Herr über ein verschachteltes Firmenimperium zu dem Unternehmen wie Max Mad House, die Vierte Century Projekt Immobilienmanagement GmbH oder die EBS, die ebs Electronic Billing Systems AG gehörten. Machte in Erwachsenenunterhaltung, kannte sich im Glücksspiel aus. Kein Bild im Web, erwähnt nur in ein paar Artikeln, aus dem Wirecard-Deal am Ende rausgegangen mit einem mutmaßlich dreistelligen Millionenbetrag. Der erste der Dark Sith.

Und Paul hat auch jenes Bild geprägt, das seine Nachfolger im Wirecard-Universum später perfektioniert haben. Das Image des beinahe autistischen Firmenbosses, der niemandem in die Augen schaut, der körperlichen Kontakt, ja jede Form von Berührung scheut, die Niederungen des Operativen meidet und am liebsten in seiner Blase agiert. Im Falle von Paul gehörten dazu die sorgfältig drapierten Kunstbücher im Office, die Designeranzüge, die schnellen Autos. Dieser Typus schlägt dir nicht auf die Schulter oder setzt sich bei Weihnachtsfeiern zu dir an den Tisch. Er wirkt immer entrückt und gehört hier in Wirklichkeit gar nicht hin. Das ist Blueprint für alles, was später kommt.

Da kommt dann auch Alex ins Spiel. Als Finanzvorstand der EBS, der Typ, der die ersten wirklich profitablen Modelle aufgebaut hat. Er war nur kurz wirklich dabei, aber hat lange am Rande mitgespielt und sich später unter englischem Namen als Rap-Star versucht. Mit über 40 auf den Pfaden von P. Diddy. Solche Karrieresprünge passieren bei einem gestandenen Siemens-Vorstand aus dem Finanzbereich doch eher selten.

Schließlich Jan Marsalek, der von Alex und Paul vor allem eines gelernt hatte: dass ein echter Sith-Lord auf so wenigen Fotos wie möglich unter seinem eigentlichen Namen auftauchen muss. Streichholzkurze Haare, besessen von militärischem Gehabe, für mich ein Zwangsneurotiker erster Güte, so etwa wenn es um die Anordnung der Stühle am Konferenztisch geht. Der Typ, der mir einmal sagte, dass er nie geheiratet hat, weil er zu konzentriert auf Perfektion und Symmetrie ist. Und Jan war es auch, der die Besessenheit des Wirecard-Managements für Business-Trips via Flugzeug perfektionierte. Welcher Status? Welcher Anzug, der nicht knittert? Welche Schlaftablette? Und am Ende hielt er den Rekord – mit vier Nächten hintereinander, die er im Flugzeug schlief. First Class natürlich, aber eine Höchstleistung immer noch.

Und endlich Markus. Von der Unternehmensberatung KPMG kommend, übernimmt er 2002 eine strauchelnde Wirecard AG – damals noch mit dem Leerzeichen zwischen Wire und Card geschrieben. All die umwerfenden Anglizismen, mit denen er damals wirbt, zeigen schon den Weg, den er nehmen will. Das »Corporate Trust Center«, das »Clearing Center« die »Risk Platform« als »Stand-alone Product«.

Der spätere Tech-Papst, über den geschrieben wurde, er lese selbst nachts noch aktenweise Material zu Artificial Intelligence. Doch die wenigen Menschen, die Markus je getroffen haben, wissen, dass das nur Legendenbildung war. Markus hatte von Technologie oft erstaunlich wenig Ahnung. Er war eigentlich immer ein Freund des eher Oberflächlichen. Für einen CEO geht das ok. Für einen Tech-Gott jedoch nicht.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem er mich ganz im Ernst bat, ihm das mathematische Prinzip eines Algorithmus zu erklären. Ihm, dem promovierten Wirtschaftsinformatiker aus dem beschaulichen Lehrerhaushalt im schönen Wien. Damals, als er uns auf die Höhepunkte der Wirecard-Entwicklung geschossen hat. Am Zenit des Börsenkurses. 100 Euro, 150 Euro, 199 Euro – und Jörn, warum nicht bald auch 500 Euro je Aktie? Und ich war mittendrin im Jazz. Wenn Markus und Jan die Dirigenten waren, war ich einer der Musiker. Immer vorne dabei. Auf Videos, auf Konferenzen, auf Socials – der Mann, der die Vision von Wirecard in die Welt trägt. So etwas macht man eben, wenn man Executive Vice President Wirecard Innovation ist.

Doch es begann für mich in Grasbrunn. Ganz banal mit einem Anruf im Sommer des Jahres 2005 …

Aber bevor wir zu mir und meiner Rolle im Unternehmen kommen, müssen wir zuerst verstehen, welche Firma die Wirecard damals war. Das Unternehmen hatte im Jahr 2005 bereits eine überaus wechselvolle Geschichte hinter sich. Und vieles, was seit der Gründung des Unternehmens geschehen war, hatte für die Zukunft Relevanz.

Die Geschichte des Unternehmens hatte in der ersten Internet Bubble Economy begonnen. Detlev Hoppenrath, natürlich ein Österreicher, gründete das Unternehmen zu Beginn des Jahres 1998, um Händlern im E-Commerce die Komplexität der Zahlungsabwicklung abzunehmen. Im Mittelpunkt der Nutzenargumentation des Start-ups stand die damals konkurrenzlose Verschlüsselungstiefe von 2048 Bit. Im Jahr 2000 startete der spätere COO Jan Marsalek als Developer beim Unternehmen. Und ein Jahr später schlug die Stunde von Dr. Markus Braun, der zunächst zum Technikvorstand berufen wurde. So weit, so gut. Hoppenrath wechselte im Mai 2001 in den Aufsichtsrat – und der Weg für Markus Braun als CEO war frei.

Jetzt ist die Zeit gekommen, um über Paul Bauer-Schlichtegroll zu reden, dem Mann, der sich gerne nur Paul Bauer nannte, vielleicht, weil das nicht googlefähig ist. Dem ersten echten Mastermind der Wirecard-Welt. Comandante Número Uno. Dem initialen Dunkelmann, wenn man so will.

Paul war ein überaus verplant wirkendes unternehmerisches Multitalent, das in diverse Bereiche und unterschiedlichste Branchen investierte. Seine Mittel und Methoden bei seinen Management-Entscheidungen waren in erster Linie profitorientiert. In zweiter Linie aber war Paul schon seit jeher fasziniert von den eher dunklen Seiten des Geschäftslebens. Sagen wir es ganz offen: Paul zeigte stets einen gewissen Hang zur Halbwelt, die an den gräulichen Rändern des klassischen Business operierte.

Fassen wir doch mal kurz zusammen, was Paul so alles war oder zu sein schien. Anschnallen, zurücklehnen, entspannen: Jetzt wird es eventuell ein wenig kompliziert. Paul Bauer-Schlichtegroll, Jahrgang 1963, ging nach dem Abitur nicht mal eben auf ein Auslandssemester nach Neuseeland oder in die USA. Nein, er verbrachte seine Auslandsaufenthalte an so ungewöhnlichen Orten wie Nairobi oder São Paulo. Nicht jedermanns Ding. Er gründete nach diesen Erfahrungen eine Eventagentur, die er jedoch wenig später wieder verkaufte. Irgendwann in jener Zeit muss er die Chancen erkannt haben, die das globale Import-Export-Geschäft eröffnet. In jenen Jahren – wir sprechen über die 1980er – war der Welthandel noch nicht so vernetzt wie heute. Nicht alles war im Prinzip immer und jederzeit über Online-Shops käuflich erwerbbar. Da war zum Beispiel das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Chucks, Levis 501, Nike – alles schien billiger und besser zu sein in den USA. Warum also nicht ein wenig Profit aus fehlendem Angebot und hoher Nachfrage schlagen, wird sich Paul gedacht haben, und er importierte Sneaker der Marke Vans aus den USA nach Deutschland. Zunächst – so geht die Legende – verkaufte er die Schuhe aus dem Kofferraum seines Autos heraus, dann baute er Strukturen auf. Die Max Mad House Textil Handels GmbH mit Sitz in Icking vor den Toren Münchens war geboren. Gegenstand des Unternehmens: der Im- und Export von Textilien und der Handel mit Waren aller Art.

Vans liefen ganz gut, waren jedoch Trendartikel, die schnell wieder von der Bildfläche verschwinden würden. Deswegen vielleicht fiel Paul Bauers unsteter Blick auf ein anderes Importprodukt aus Amerika, das eher langfristigen Return on Investment versprach: den guten, alten Porno – einen wahrhaftigen Klassiker mit Potential.

So erwarb Paul in den USA die deutsche Lizenz für den Hustler. Für all jene unter unseren Lesern, die mit dem Titel allein nichts anfangen können, hier eine kurze Einführung: Der Playboy war nach heutigen Maßstäben sozusagen die »Brigitte« unter den Magazinen der Erwachsenenunterhaltung. Nackt, ja ok, aber mit Profil, guten Interviews und klaren Grenzen. Der Hustler dagegen war der Evil Twin des Playboy – purer, reiner, unverfälschter Porn. Keine Lifestyleprodukte, keine langweiligen Gespräche mit Formel-1-Größen oder unnötige Diskussionen über die neue Männlichkeit. Vielmehr »All-In« – in allen möglichen und unmöglichen Dimensionen.

Der Hustler, gegründet von Larry Flynt im Jahr 1974. Eine amerikanische Ikone. Hierzulande jedoch eher das Lieblingsmagazin der Fernfahrer. Das Hochglanz-Feuer, an dem die Cowboys der Landstraßen sich wärmen konnten, wenn am Rastplatz mal wieder Zeit totzuschlagen war. Dieses Business lief ganz gut, skalierte jedoch aus nachvollziehbaren Gründen nur im begrenzten Umfang. In Fahrt kam die Hustler-Sache erst im Internet – in den Jahren 1999 und 2000 das erste echte digitale Neuland, in dem alles möglich zu sein schien.

Die Nutzer in Deutschland suchten in jenen ersten digitalen Pionierjahren, was sie auch heute noch bevorzugt im Internet suchen: den einfachen Zugang zu multimedialer Erwachsenenunterhaltung. Und eine Marke wie der Hustler war hilfreich bei der Orientierung in den unüberschaubaren ersten Weiten des World Wide Web. Das Problem war nur: Kaum jemand wollte für all die entspannenden Stunden zahlen, die er mit heruntergelassenen Hosen vor seinem massiven 17-Zoll-Röhrenmonitor verbrachte. Ja, noch schlimmer: Kaum jemand konnte hierzulande zahlen, denn anders als zum Beispiel in den USA fehlten in Deutschland die Kreditkarten.

Und genau da setzte Paul Bauer-Schlichtegrolls nächste Geschäftsidee an: Er gründete die Electronic Billing Systems AG – kurz die EBS. Geschäftszweck: Abwicklung digitaler Zahlungsströme.

Die Kernidee der EBS war dabei der Dialer. Das allgegenwärtige Schreckgespenst der ersten Internet-Jahre. Worum ging es dabei? Nun, der Name Dialer leitet sich von dem englischen Verb dial für wählen ab. Ursprünglich wurden damit Programme bezeichnet, die den User bei der Einwahl in ein Computersystem oder Netzwerk unterstützten. So ist etwa das »DFÜ-Netzwerk« der ersten Windows-Versionen nichts anderes als ein Dialer. Ein sauber strukturiertes Einwahlprogramm für den Start ins World Wide Web.

Auch die Idee, den Dialer als Zahlungsmittel zu nutzen, war damals wirklich nicht neu. Wenn Nutzer auf bestimmte Services – etwa so sinnige Dinge wie Wettervorhersagen, Horoskope oder Gewinnspiele – zugreifen wollten, konnten sie über einen definierten Einwahlpunkt via Telefonrechnung bezahlen. Das war insofern praktisch, als man weder Karten noch PayPal brauchte und alles schön sauber im Hintergrund ablief.

Soweit die Theorie: In der Praxis jedoch verbreiteten sich sogenannte Premium-Rate-Dialer, die nach der Internet-Einwahl permanent teure 0190-Nummern aufriefen, in Deutschland in den Nullerjahren gleichsam wie die erste Virenpest des Internets. Und die EBS, Paul Bauers neues Venture, war, wenn man den Aussagen von Geschäftspartnern und Nutzereinträgen in Foren Glauben schenken darf, richtig dick im Geschäft.

So stößt man in den weit zurückliegenden Foreneinträgen aus jenen Pioniertagen auf viele warme Wortmeldungen zum Beispiel über einen Dialer mit dem Namen openme.exe. Wenn es einem nach etwa vier Stunden schließlich gelungen war, »den Mist endlich zu entfernen«, und dann noch Kraft zu eigener Recherche blieb, dann stellte man schnell fest, dass laut den von openme.exe geöffneten Porno-Werbungen der Urheber des Dialers die EBS Billing Systems AG war. Und suchte man dann im Bundestelefonbuch – ja, so etwas gab es damals noch – , gelangte man zwangsläufig zur Max Mad House GmbH. So schließt sich der Kreis im weitverzweigten Business-Network von Paul Bauer.

Berühmt und berüchtigt war auch der Crosskirk-Dialer. Dieser fand sich – so geht die Legende – praktischerweise auf vielen der CDs, die dem Hustler damals beilagen. Wer einen solchen Datenträger nutzte, installierte den Autodialer der mallorquinischen Firma Crosskirk, die zum weitreichenden Imperium von Paul Bauer-Schlichtegroll gehörte. Und von nun an glühte die Telefonrechnung mit immer neuen Abbuchungen. Das gleiche Spiel wiederholt sich mit der OD-Teen.exe oder Xlook für Freunde der gleichgeschlechtlichen Unterhaltung. Viel seltsamer Content und viele wirre Links nahmen ihren Ausgang im Münchner Umland rund um den Firmensitz der EBS in jenen Jahren. Willkommen in den Pionierjahren des digitalen Payments.

Doch Paul war clever genug, um zu verstehen, dass das Dialer-Business nicht ewig weiterlaufen würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die staatlichen Regulierer und die großen Telcos dem Geschäft einen Riegel vorschieben würden. Und genau das geschah im Jahr 2002. Paul war eben durch und durch ein Visionär.

Gleichzeitig hatte Herr Bauer-Schlichtegroll jedoch verstanden, welches ungeheure Potential im Payment, in der elektronischen Zahlungsabwicklung, steckte. Und schon im Jahr 2001 wollte er Nägel mit Köpfen machen und sein Payment-Business durch eine halb-freundliche Übernahme neu aufstellen. Sein Blick fiel dabei auf eine Unternehmung namens Wirecard. Ein Hervorkömmling der ersten Internet Bubble Economy – spezialisiert auf die Abwicklung von Kreditkartenzahlungen im Internet über eine zentrale Plattform. Klingt irgendwie ganz zeitgemäß – war es aber nicht wirklich. Denn die erste Version der Wirecard stand im Jahr 2001 eigentlich unmittelbar vor der Pleite. Dennoch lehnte das Management um den jungen und noch neuen Technikvorstand Markus Braun bestimmt, aber freundlich das erste Angebot zur Übernahme ab, das sie per Fax von Paul Bauer erhalten hatten.

Jetzt gehen die Dinge jedoch sehr schnell, und sie werden unangenehm hemdsärmelig. Ende des Jahres 2001 kommt es zu einem Einbruch bei der Wirecard AG. Die Diebe sind bei ihrem Beutezug überraschend wählerisch. Sie entwenden ausschließlich die Laptops von Markus Braun und seinem Software-Entwickler, einem sehr jungen Mann aus Wien mit Namen Jan Marsalek. Wichtige Geschäftsgeheimnisse, Software-Code, Verträge und Planung – für immer verschwunden. Cloud-Backups gab es damals noch nicht.