Bad Regina - David Schalko - E-Book

Bad Regina E-Book

David Schalko

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Beschreibung

Eine bitterböse und urkomische literarische Fantasie über den Untergang Europas. Eine Geisterstadt im Herzen der Alpen, ein mysteriöser chinesischer Immobilientycoon, der alles aufkauft und verfallen lässt, und 46 Verbliebene, die beschließen, den Kampf aufzunehmen – mit »Bad Regina« ist David Schalko eine brillante literarische Allegorie auf einen sterbenden Kontinent gelungen. Verstörend, grotesk, morbide, komisch – und äußerst spannend. Nur noch wenige Menschen leben in Bad Regina, einem einst glamourösen Touristenort in den Bergen, starren auf die Ruinen ihres Ortes und schauen sich selbst tatenlos beim Verschwinden zu. Denn ein mysteriöser Chinese namens Chen kauft seit Jahren für horrende Summen ihre Häuser auf – nur um sie anschließend verfallen zu lassen. Als er auch noch das Schloss des uralten örtlichen Adelsgeschlechts erwerben will, entschließt sich Othmar, der von Gicht geplagte ehemalige Betreiber des berühmtesten Partyklubs der Alpen, herauszufinden, was es mit diesem Chen auf sich hat und was dieser mit Bad Regina vorhat. Dabei erleben Othmar und die verbliebenen Einwohner eine böse Überraschung … In »Bad Regina« entwirft David Schalko eine faszinierende Geisterwelt, in der nicht nur die Bauwerke, sondern auch die wenigen verbliebenen Bewohner wankende Ruinen der Vergangenheit sind. Ein bitterböser und gleichzeitig urkomischer Roman über ein Europa, das immer und immer wieder moralisch versagt – und über dessen Zukunft nun andere entscheiden.

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Seitenzahl: 465

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David Schalko

Bad Regina

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über David Schalko

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Zweiter Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Dritter Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Vierter Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Wir weisen darauf hin, dass einige Figuren des Romans rassistische Sprache verwenden.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

 

 

 

Ich wünschte mir oft eine Operation – natürlich keine schmerzhafte oder gefährliche – nur, um noch eine Weile danach schonungsbedürftig zu sein.

– Eric Ambler, Topkapi

1

Othmar starrte auf das schwarze Display, in dem sich sein aufgedunsenes Gesicht spiegelte. Das Ding hatte einfach seinen Geist aufgegeben. Ohne Vorwarnung. Während er Selma eine Nachricht geschrieben hatte.

Ich sitze auf der Terrasse und beobachte dich. Ich halte meinen Schwanz in der …

Weiter war er nicht gekommen. Statt seines Schwanzes hielt er das tote Ding in der Hand. Er hatte das Gefühl, ausschließlich von toten Dingen umgeben zu sein. Der Kühlschrank, der Fernseher, der Geschirrspüler, die Kaffeemaschine, die Waschmaschine, die Mikrowelle, der Wasserkocher – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Wann hatte er aufgehört, Dinge zu kaufen? Es musste kurz vor der Jahrtausendwende gewesen sein. Damals war der Kühlschrank eingegangen. Seither gab es nur noch im Winter kaltes Bier.

Selma hatte gesagt, dass es ungesund sei, von so vielen toten Gegenständen umgeben zu sein. Das übertrage sich auf das Gemüt. Worauf Othmar entgegnete, dass die Dinge doch keinen Geist hätten. Dass man sich das nur einbilde. Und dass er sich weder Reparatur noch Neuanschaffung leisten könne. Eine leere Wohnung käme ihm allerdings noch ungesünder vor. Weshalb er beschlossen habe, nichts wegzuwerfen. Er hätte sonst das Gefühl, überhaupt nicht zu existieren. Schließlich gehörten all diese Dinge zu seinem Charakter. Was wiederum Selma als Einbildung bezeichnete.

Abgesehen davon wüsste er auch gar nicht, wer in Bad Regina noch irgendetwas reparieren sollte. Bei nur 46 Verbliebenen. So etwas ließ sich ja kaum noch Demografie nennen. Wenn etwas kaputt war, dann war es kaputt. Man hatte gelernt, damit zu leben. Auch die meisten verlassenen Häuser waren inzwischen von der Natur übernommen worden. Wenn der Wasserfall nicht so laut gewesen wäre, hätte man den Wildwuchs regelrecht wuchern gehört.

Othmar hatte sich oft gefragt, wie lange ein Haus ein Haus blieb und ab wann man es wieder Natur nennen müsste. War das alte Helenenbad noch ein Bad? Othmar hatte nie das Bedürfnis gehabt, dort schwimmen zu gehen. Zu viel Marmor. Zu viel Kurort. Erst als es zusperrte, spürte er das Verlangen danach. Ähnliches galt für das Grand Hotel, das Casino, das Sanatorium Kleeberg, die Radon-Bäder, das Kraftwerk – selbst das brutalistische Kongresszentrum, das sie in den Siebzigern in die Mitte des Ortes gestellt hatten, nahm Othmar erst richtig wahr, als es dem Verfall überlassen wurde. Als ob nur ein abgestürztes Flugzeug ein Flugzeug wäre. Oder eine gepflückte Blume eine Blume.

 

Othmar saß auf dem eiskalten Balkon und steckte das kaputte Telefon in die Tasche. Er öffnete sich trotz Gichtschubs das fünfte Bier. Sein Spitzbauch stand unter der Lederjacke hervor, als hielte er Ausschau. Das orangefarbene Licht in Selmas Haus. Sie würde sich bestimmt wundern, warum er nicht antwortete. Vielleicht sollte er hinuntergehen, auch wenn es gegen ihre Abmachung verstieße. Aber schließlich musste es auch Ausnahmen geben. Was, wenn ein Notfall eintrat? Othmar dachte nach. Es fiel ihm keiner ein, den ihm Selma glauben würde. Eine schriftliche Nachricht an ihrer Tür hinterlassen? Aber auch das würde Verdacht erregen. Charlotte, ihre Tochter, war alles andere als dumm. Im Gegenteil. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren.

Er könnte einen Weg ins Luziwuzi vortäuschen. Die bleichen Sparlampen und der gelbe Schriftzug schimmerten am Ende des Tals. Um diese Zeit trank der Wirt Tschermak meistens mit seiner Gattin Karin allein. Höchstens, dass ihm Zesch, der Bürgermeister, noch Gesellschaft leistete. Oder doch hinauf ins Hotel Waldhaus? Bei Moschinger würde er wenigstens Zesch nicht über den Weg laufen. Er hatte seine wehleidigen Parolen satt.

Ein Glück, dass zumindest der Plattenspieler noch funktionierte. Aus dem Zimmer dröhnte Joy Division. Eigentlich sollte er nach Alpha sehen. Er kam ihm heute besonders trübsinnig vor. Was genauso absurd war, wie in die Dinge einen Geist hineinzuprojizieren.

Alpha saß wie jeden Abend vor dem sich drehenden Plattenteller und starrte unbewohnt vor sich hin. Trotz der vollen Ladung Manchester. Othmar war davon überzeugt, dass die heimatlichen Klänge in seinem Inneren ankamen. Irgendein verlorenes Delay würde bestimmt durchdringen. Auch wenn es keine nachweislichen Ausschläge gab. Sein Blick wie eine ausgefädelte Tonbandkassette. Nur das wasserstoffblonde Haar zappelte über die schwarzhäutige Stirn.

Der eisige Wind, der von draußen hereindrang.

Die stehende Finsternis, die auf Einlass wartete.

Die unbewohnten Fenster – wie die Augen von Blinden.

Othmars Blick glitt von Alphas Rollstuhl zum Hospiz. Es war zu spät, seinen Vater zu besuchen. Abgesehen davon würde Schwester Berta merken, dass er getrunken hatte. Den Blick auf den Karlsstein vermied er. Zu schmerzlich der Gedanke, dass der Krake keinen Laut mehr von sich gab. Sein Krake! Der berühmteste Klub der Alpen. Im Berginneren schlägt das Partyherz Europas, hatte der Guardian einst geschrieben. Selbst die zwölf Meter Granit hatten es nicht vermocht, die Beats daran zu hindern, ins Freie zu dringen.

Heute war es still. Hätte man eine Bombe auf Bad Regina geworfen, es hätte nichts geändert. Was war bloß passiert? War es der Hochmut, der ihnen zum Verhängnis wurde? War es die Arroganz, die man schon den Häusern ansah? Wie Messer steckten sie in den steilen Bergwänden. Je unmöglicher, desto spöttischer standen sie da. Wer war auf die Idee gekommen, unter so widrigen Umständen zu bauen? Das Tal wie eine tiefe Schnittwunde. Der rauschende Wasserfall ein Aderlass, der die letzten Lebensenergien ausleitete. Tatenlos sahen sich alle beim eigenen Verschwinden zu.

Es lag ein Fluch über Bad Regina. Und dieser Fluch hieß Chen. Niemand von den Verbliebenen kannte ihn. Niemand wusste, was er vorhatte. Aber alle nahmen sein Angebot an. Irgendwann stand er bei jedem vor der Tür. Othmar hatte sich darauf vorbereitet. Hatte sich jeden Tag einen anderen Satz zurechtgelegt, mit dem er den Verkauf seiner Wohnung ablehnen würde. Aber Chen kam nicht.

Er blies einen Rauchschwall durch die offene Balkontür. Die Schwaden umschlangen den reglos im Rollstuhl sitzenden DJ wie zu seinen besten Zeiten. Eine Rotzglocke löste sich geräuschlos und rann über die Lippen seines starren Gesichts. Kein Leben auf Alpha X.

Alpha X is not a DJ.

Alpha X is a planet.

Please welcome from Manchester.

Utz-Utz-Utz.

Othmar hatte ihm trotz seines würdelosen Zustands die Würde bewahrt. Alle zwei Wochen kam Selma und restaurierte ihn. Auftrittsreif, wie sie sagte. Othmar kannte niemanden, der zärtlicher mit Alpha umging als Selma. Ja, er wünschte sich oft, er wäre an seiner Stelle gewesen. Die Zärtlichkeit einer Pflege war für ihn allerhöchste Zärtlichkeitsstufe. Aber wenn Selma zu ihm kam, dann suchte sie etwas anderes. Dann war die Restaurierung von Alpha nur Teil ihres Vorspiels. Liebevoll schnitt sie ihm die Haare. Gemeinsam zogen sie ihn um. Selma rügte ihn dann dafür, dass Alpha schon wieder ranzig roch. Was Othmar reflexartig mit seinem schlechten Geruchssinn entschuldigte. Dass es der Faulheit geschuldet war, brauchte keiner zu erwähnen. Abgesehen davon nahm es Othmar bei sich selbst mit der Pflege auch nicht genau. Aber Selma störte das nicht. Sie hatte es gern, wenn ein Mann ein gewisses Aroma versprühte, und gab zu, sich selbst oft tagelang nicht zu waschen, um Othmar beim Masturbieren noch zu spüren.

— Aber warum können wir uns dann nicht öfter sehen? Das ist doch …

Othmar fiel das Wort nicht ein. Und Selma lächelte, wie nur Selma lächelte, wenn sie auf etwas nicht antworten wollte.

— Das haben wir doch schon zur Genüge besprochen.

Was insofern stimmte, als die Unterhaltung immer gleich vonstattenging, aber nichts daran änderte, dass sie nie zu Ende geführt wurde.

 

Das mit Othmar und Selma lief seit zwei Jahren. Es störte sie nicht, dass sein körperlicher Verfall inzwischen weiter gediehen war als der von Bad Regina. Umgekehrt hatte er aufgehört zu fragen, wann sie sich wieder die Haare wachsen lassen würde. Inzwischen fand er Gefallen daran. Der süßliche Geruch eines glatt rasierten Schädels war besonders intensiv. Er vergrub sich darin, wie andere an Klebstoff schnüffelten.

— Warum, hatte er so oft gefragt.

— Weil ich zu schön bin, hatte sie genauso oft geantwortet.

Das Weibliche habe den Blick auf ihr eigentliches Wesen verstellt. Die Männer, die immer nur ihre bezaubernde Fassade sehen wollten. Immer nur das Mädchen. Immer nur schön, schön, schön. Aber Selma war nicht schön. Sie war sogar ziemlich hässlich. Das hatte er ihr natürlich nie gesagt. Weil es keine Rolle spielte. Die Mankos spielten längst keine Rolle mehr. Vermutlich, weil es keine Alternativen gab. Man nahm, was man kriegen konnte. Man liebte, was vorhanden war. Vielleicht war das die Definition von Glück. Dass man sich exakt nach dem sehnte, was bereits vorhanden war.

Inzwischen störte es ihn auch nicht mehr, wenn Alpha dabei zusah. Wenn er ins Leere starrte, während sich Othmar sexuell abrackerte. Als ob es keinen Unterschied machte. Trotzdem hoffte er, wenigstens eine kleine Regung ins Gesicht seines Freundes zu zaubern. Denn sie waren Freunde. Mehr als vor dem Unfall. Da waren sie nur Geschäftspartner gewesen. Da war Othmar ein größenwahnsinniger Klubbetreiber gewesen, der sich seinen Traum erfüllte, indem er für eine horrende Summe den Star-DJ Alpha X aus Manchester einfliegen ließ. Da hatte sein Chef, der alte Schandor, ordentlich mit den Ohren geschlackert. Für das Geld könne man dutzendweise Lokalgrößen engagieren. Und den Melkkühen, so nannte er die Touristen, würde es scheißegal sein, zu welchem Utz-Utz-Utz sie ihre Hufe stampften. Er gab trotzdem seinen Segen. Weil er wusste, was er an Othmar hatte.

Was für ein Abend! Der Krake zum Bersten voll. Von überall kamen sie her, um auf dem Soundteppich von Alpha X bis an die Decke zu fliegen. Da war Othmar eine Nacht lang so, wie er sich sah. Und so wie ihn sein Vater nie haben wollte.

Was wohl aus dem alten Schandor geworden war? Warum hatte er alles verkauft? Und wohin war er verschwunden? Othmar mochte die Gerüchte nicht glauben. Wegen einer Frau schmiss man doch nicht alles hin. Noch dazu im Alter von neunzig. Aber das war zwanzig Jahre her. Vermutlich lag der alte Bastard längst unter der Erde. Und niemand würde je erfahren, warum ausgerechnet Schandor, dem neben dem Kraken diverse Hotels, das Casino, das Helenenbad und alle Skilifte gehörten, den Niedergang von Bad Regina einleitete.

Am Ende dieser glorreichen Nacht – Sommer 1998, das letzte gute Jahr in Othmars Leben und auch das letzte Jahr vor Chen – waren der große Alpha X und er auf dem Karlsstein gestanden und hatten ein Gerät geraucht, dass man unten im Ort hätte glauben können, sie hätten ebendort einen Fabrikschlot aufgestellt. In diesem Moment waren sie Freunde geworden. Stockdunkel war es gewesen. Wankend hatte er den dunkelhäutigen DJ immer wieder aus den Augen verloren. Ein solcher hatte ja kein Gespür für die Berge. Pechschwarze Luft. Vierhundert Meter Abgrund. Messerscharfer Rand. Und ein Wind, der selbst einem Hiesigen zu schaffen machte.

— Du bist nicht schuld, sagte Selma.

Othmar nickte.

— Wir hätten nicht so viel kiffen sollen.

— Ihr hättet nicht Ski fahren gehen sollen.

— Es war seine Idee.

— Eben.

— Eine Scheißidee.

— Aber seine Idee.

Othmar hatte gelernt, mit dieser Lüge zu leben. Denn natürlich war es nicht die Idee von Alpha gewesen. Um den Star-DJ an einer voreiligen Abreise zu hindern, hatte Othmar den unsportlichen Briten noch zu einer Skitour überredet. Schließlich gab es in England keine Berge. Und wer Wasserski fahren könne …

— Ski is Ski!

Und Schnee sei nichts anderes als gefrorenes Wasser. Und dann die fatale Idee. Der Monoski komme dem Wasserski am nächsten! Das mache quasi keinen Unterschied. Schon erstaunlich, wie konsequent das Marihuana die Gedanken an der Endfertigung hinderte. Denn der Monoski war selbst für routinierte Beine ein fahrendes Gefängnis.

Wobei Alpha durchaus elegant die Pisten hinunterglitt. Der rote Overall. Der weiße Schnee. Der blaue Himmel. Die schwarze Haut. Und die wasserstoffblonden Haare, die fröhlich im Fahrtwind zappelten. Der Star-DJ hatte es nicht bereut, einen Tag dranzuhängen. Und bis zu dem Moment, als die holländische Melkkuh über ihre Verhältnisse den Hang hinunterraste, hatte auch keiner damit gerechnet, dass es nicht sein letzter Tag in Bad Regina sein würde.

— Es war Schicksal.

— Er hat ihn im Windschatten kommen sehen.

— Er hat seinem Schicksal ins Auge gesehen.

— Mit einem normalen Ski hätte er ausweichen können.

— Es ist die Schuld von dem Holländer gewesen.

Aber ausgebadet hatte es Othmar. Die Querschnittslähmung und die chronischen Schmerzen aufgrund der vielen Brüche hätten Alpha X nicht daran gehindert, seinen Beruf weiter auszuüben. Die irreparablen Gehirnschäden schon. Daran änderten auch die monatlichen Schadenersatzüberweisungen des Holländers nichts, mit denen Othmar bis heute sein Auslangen fand. Kaum zu glauben, dass ein so berühmter DJ niemanden hatte, der ihn pflegen wollte. Als Vollwaise in Manchester aufgewachsen, hatte er sich in den 90ern in die Oberliga des DJ-Hypes hochgearbeitet. Nicht schlecht für einen, der weder Fußball spielen noch singen konnte. Leider hatte er sein ganzes Geld für Drogen ausgegeben und die langjährigen Weggefährten entpuppten sich als unzuverlässige Freunde. Um ehrlich zu sein, hatte keiner auf die verzweifelten Briefe von Othmar reagiert.

— Du hättest ihn in ein Pflegeheim geben können.

— Das brachte ich nicht übers Herz.

— Übers Herz, sah ihn Selma stirnrunzelnd an.

Im gleichen Jahr ging das Licht im Kraken aus. Othmar stand ganz plötzlich vor dem Nichts. Da fand er in der Pflege von Alpha ein sinnstiftendes Dasein. Und die Überweisungen des Holländers reichten bei maßvollem Lebenswandel kurzfristig auch für zwei. Kurzfristig dauerte jetzt schon über zwanzig Jahre. Mit keiner Frau hatte es Othmar so lange ausgehalten wie mit seinem schweigsamen Freund.

— Stimmt. Er beschwert sich nie, du hast stets das letzte Wort und immer eine Ausrede, das Haus nicht zu verlassen.

— Wo hätte ich hinsollen? Bald wirst du auch gehen.

— Aha. Und wohin?

— Keine Ahnung. Aber Charlotte ist bald siebzehn. Spätestens in einem Jahr ist sie weg.

— Dann bleibe ich doch erst recht hier. Oder glaubst du, ich reise meiner Tochter hinterher?

— Sie wird ihren Vater suchen gehen.

— Wird sie nicht.

Im Prinzip wusste er genauso wenig über Selma wie Charlotte über ihren Vater. In den zwei Jahren hatte sie Othmar kein einziges Mal zu sich nach Hause eingeladen. Es blieb bei den Dienstagabenden bei ihm. Weil sie da offiziell bei einem wöchentlichen Workshop in Salzburg war.

— Ich will nicht, dass Charlotte von uns weiß.

— Treibt sie es eigentlich noch immer mit dem jungen Zesch?

— Ein Wort zu irgendwem und ich komme nie wieder.

Dann wanderte ihre Hand seinen Spitzbauch hinunter und schaffte es, ihn mit einem Kunstgriff zum Schweigen zu bringen.

Wenn der Bürgermeister wüsste, dass es sein Sohn mit der Tochter der linkslinken Glatzköpfigen trieb, dann wären bei ihm alle rechtsrechten Sicherungen durchgebrannt. Wobei Othmar nichts gegen Zesch hatte. Schließlich kannte er den Herrn Bürgermeister auch anders. Da hatte er in Polizeiuniform auf der Bühne gestanden und sein Gesicht war mit Krätze, Schnitten und Fieberblasen übersät gewesen. Wenn die Zecke Zesch seine E-Gitarre bediente, dann war das, als ob er mit einer Motorsäge kopulierte. Aber Othmar hatte schon damals den Verdacht, dass er vor allem wegen der Uniform und nicht wegen der Zombieschminke dabei war. Zesch war kein Punk. Er war auch dagegen, die Band Sisters in Blisters zu nennen. Ihm schwebten eher Messerschmitt oder Black Sun vor.

Die Zeschs waren von jeher eine Nazibrut gewesen. Das war bei denen wie Herpes. Jeder von ihnen hatte es im Blut, aber nicht bei jedem brach es aus. Und bei seinem Schulkameraden Heimo, da kam es und ging es eben. Je nach Umständen.

Aber bei jedem blieb der Familienstaub hängen. Auch bei Othmar. Andererseits wusste er auch, dass man sich nur eines noch weniger aussuchen konnte als seine Verwandtschaft. Nämlich sich selbst. Von wegen freier Wille. Wenn es nach Othmar ginge, dann hätte er vieles anders entschieden. Im Nachhinein. Und in Zeiten wie diesen musste man über jeden froh sein, der dablieb.

— Warum bist du nie weggegangen, Othmar?

— Sie kommen alle zurück. Du wirst sehen.

— Du bist ein hoffnungsloser Romantiker.

— Warum hast du Charlotte nie gesagt, wer ihr Vater ist?

— Weil ich es nicht weiß.

Aber Selma hätte es wissen können. Sie hatte damals, als es gefährlich wurde, präventiv gleich mit fünf Männern geschlafen.

— Charlotte ist meine Tochter. Ich brauche keinen Mann. Außerdem war das in Weikersdorf üblich. Da hat man es mit dem Sex nicht so wichtig genommen.

Othmar hatte das mit dem Sex auch nie so wichtig genommen. Und hatte deshalb insgesamt mit nur neun Frauen geschlafen. Obwohl er im Kraken jede Nacht eine abbekommen hätte. Aber irgendwie wusste er nie, wann Schluss war. Hatte es schon immer mit Alkohol und Gras übertrieben.

Als Selma vor drei Jahren in Bad Regina aufschlug, hatte sich das schnell herumgesprochen. Damals waren sie noch 374 Verbliebene gewesen. Eine Verrückte habe das Haus der alten Baumgartner besetzt. Die Verrückte war die Tochter der alten Baumgartner, die schon im Jugendalter Zuflucht in einer Kommune gesucht hatte. Warum sie nach fünfzehn Jahren aus Weikersdorf wegwollte? Selma beantwortete auch das mit einem Lächeln und ihrem Kunstgriff.

— Das geht dich nichts an.

Und wenn er trotz der Kopfhaut, die sich an seinem Genital rieb, nachhakte, sagte sie nur:

— Wir sind das, was hier stattfindet. Und sonst nichts. That’s the deal. Okay?

Wie gesagt: Man nahm, was man kriegen konnte. Und die sieben Tage zwischen Selmas Besuchen verbrachte Othmar entweder auf seiner Terrasse, in der Luziwuzi-Bar oder im Hotel Waldhaus, um darüber nachzudenken, wie man diesem Chen das Handwerk legen könnte.

 

Müde gähnte er einen warmen Bierhauch in die kalte Luft von Bad Regina. Wie ein Häuptling, der über seinen Stamm wachte, saß er da. Von seinem Balkon aus hatte man den ganzen Ort im Auge. Die Straßen waren leer. Außer dem DHL-Lastwagen, der den sechsundvierzig Verbliebenen ihre wöchentlichen Rationen Lebensmittel brachte, war heute noch keine einzige Regung zu verbuchen. Weder in Bad Regina noch auf dem Planeten Alpha X.

Und dann blitzte eine weiße Bewegung in der Schneelandschaft auf. Man konnte den gleichfarbigen Toyota kaum erkennen. Aber niemand betrat das Reservoir unbemerkt von Häuptling Othmar. Unter dem Schwall des Wasserfalls vermochte er sein eigenes Flüstern kaum zu hören.

— Chen.

2

Es hatte noch die ganze A-Seite von Joy Division gedauert, bis Othmar den Entschluss gefasst hatte, den Weg hinunter zum Schloss auf sich zu nehmen. Genau genommen hatte es noch länger gedauert. Er hatte sich noch einen Joint gebaut, um den Gedanken zu erlauben, den richtigen Aggregatzustand anzunehmen. Ein solcher musste sich erst formieren. Die Gedanken ergriffen allesamt gleichzeitig die Flucht in unterschiedliche Richtungen. Geduldig wie ein Hirte sammelte er sie wieder ein, um sie schlussendlich auf den einen, gemeinsamen einzuschwören:

— Othmar. Du gehst jetzt hinunter zu Wegenstein und stellst diesen Chen.

Stolz auf die Armada seiner Gedanken, die entschlossener wirkten als sein humpelnder Gang, der einerseits der Gicht, andererseits dem letzten Bier geschuldet war, begab er sich hinaus. Alpha hatte er noch die Augenlider geschlossen. Nicht dass es für ihn einen Unterschied gemacht hätte, aber Othmar fühlte sich wohler damit, wenn er ihn allein ließ.

Die Kälte tat seinem angeschwollenen Fußgelenk gut. Das Gehen weniger. Er wankte über die vereiste Brücke an der heiligen Regina vorbei, die ihm lädiert hinterhersah. Es fehlten ihr das linke Ohr und Teile der Nase. Er hatte sich ausgerechnet, dass es 500.000 Jahre dauern würde, bis man kein Gesicht mehr erkennen würde.

Othmar ignorierte den ohrenbetäubenden Wasserfall, der sich durch die Häuserschluchten am Kongresszentrum vorbei in die Tiefen des stillgelegten Kraftwerks fallen ließ. Er ging bei Rot über die Ampel, die seit Jahren keiner mehr beachtete, und passierte die Schule. Mitten im Turnsaal stand noch immer der braune Lederbock, den nach der Schließung keiner weggeräumt hatte. Er hielt sich trotz des Schimmels unbeschadet, während die Holzstücke des Parketts vom Eis zersprengt herumlagen. Er spürte eine Sehnsucht nach Frühling, wenn das Grün durch die Asphaltrisse sprießte. Vor dem Helenenbad riss er im Gehen die Vermisstenanzeige für den beschissenen Kater vom Laternenmast. VERMISST WIRD UNSER EIN UND ALLES – ANGELO. Seit einem Jahr lief Doktor Schandor im Auftrag seiner Frau durch den Ort, um das Drecksvieh zu suchen. Kein Wunder, dass sich der Zahnarzt täglich in seiner leeren Ordination verschanzte. Es war sein einziger Zufluchtsort. Er hatte so gar nichts mit seinem Onkel gemein.

Vor Selmas Haus blieb Othmar kurz stehen. Der kalte Wind blies ihm in den Nacken. Er stellte den Kragen seiner Übergangslederjacke auf. Das orangefarbene Licht fiel durch den Vorhang auf den Schnee. Othmar verschränkte die Arme und zog sie fest zueinander. War es Liebe oder die Vorstellung von einem geheizten Zimmer? Sein Blick schwenkte zum Panoramafenster des Grand Hotels. Es war dunkel. Also war Charlotte zu Hause. Und Selma nicht allein. Seufzend humpelte er weiter und erreichte nach zehn Minuten Gehzeit das geschlossene Tor des Schlosses. Von dem weißen Toyota fehlte jede Spur. Betrunken kniff er seine Augen zusammen.

— Es wäre nicht Chen, wenn es nicht Chen wäre.

Er versuchte sich selbst eine Strategie vorzugaukeln. Hatte aber keine. Also schlug er mit aller Wucht gegen das Tor. Es ging auf. Auch ohne Hilfe des Grafen. Seufzend wankte Othmar in den Hof. Auch hier kein weißer Toyota. Warum hätte Wegenstein den Chinesen auch in den Hof lassen sollen? Schließlich hatte sein Geschlecht schon Napoleon daran gehindert. Seit fünfhundert Jahren waren die Wegensteins in Bad Regina ansässig. Da ließ man sich doch nicht von einem Chinesen ins Bockshorn jagen. Andererseits brauchte der Graf Geld. Seit ihn seine Frau verlassen hatte, bewohnte er nur noch ein Zimmer im Schloss.

— Weil ich nicht mehr brauche!

Weil er bankrott war. Wie es sich für einen Adeligen gehörte, hatte er sich nie in die Niederungen eines Berufslebens herabgelassen. Man war, was man war. Auch ohne Beruf. Da glichen sich Othmar und der Graf. Othmar hatte sich da gleichsam selbst geadelt. Ganz wie Napoleon.

— Wegenstein! Machen Sie auf!

Othmar wusste genau, welches Zimmer der Graf bewohnte. Er stand vor dem Fenster und konnte ihn sehen. Auch wenn er es abgedunkelt hatte. Vermutlich hatte er Othmar kommen gehört und schleunigst alle Lichter ausgeschaltet.

— Wegenstein! Ich kann Sie sehen. Es hat keinen Sinn!

Der alte Quadratschädel saß steinern in seinem Zimmer und mimte eine Statue. Er glaubte wohl ernsthaft, dass ihn Othmar zwischen dem ganzen Gerümpel nicht ausfindig machte. Wegenstein hatte das halbe Schloss in seinem Wohnzimmer untergebracht.

— Wegenstein! Seien Sie nicht so stur! Es ist kalt!

Aus der Pfeife des Grafen stiegen kurzatmige Rauchschwaden hoch. Dieser Kretin hatte sich doch nicht von Chen kaufen lassen? Othmar schlug so fest gegen das Fenster, dass Wegenstein schließlich hochfuhr, selbiges aufriss und brüllte:

— Was wollen Sie? Ich schlafe schon!

— Im Sitzen?

Othmar stieg ohne Einladung durch das Fenster. Sein Fußgelenk pochte. Aber der Schmerz drang alkoholbedingt nicht mehr durch.

— Sind Sie wahnsinnig? Wenn das Fenster kaputt ist, dann erfriere ich in der Nacht.

Der Graf setzte sich wieder in seinen Ohrensessel und zog trotzig an seiner Pfeife. Othmar suchte betrunken nach dem Lichtschalter.

— Dahinten. Neben dem Elefantenfuß.

Sein Spitzbauch rempelte einen ausgestopften Vogel Strauß, der quietschend umfiel. Dann spürte er unter seiner Fußsohle etwas Weiches. Othmar war sich nicht sicher, ob es bis dahin nicht noch gelebt hatte. Vermutlich eine Maus. Er tastete sich die Wand entlang. Und schnitt sich an einem mittelalterlichen Schwert.

— Verdammte Scheiße!

— Links. Nein. Ihr links.

Endlich Licht. Othmar kniff erneut die Augen zusammen. Dieses Mal, um zu fokussieren. Die gesamte Geschichte des Familiengeschlechts Wegenstein war in dieses Zimmer gepfercht. Neben dem Bett, das von alten Büchern gestützt wurde, stand eine Ritterrüstung. Über dem Schreibtisch, der als Hutablage diente, ein großer Löwenkopf, der stumm brüllte. Man wurde von allen Seiten angestarrt. Die meisten ausgestopften Tiere sahen aus, als wären sie einem Schlaganfall erlegen. An den Wänden hingen schief die Ölporträts von Wegensteins Ahnen. Frantz, der Heilige, der 1778 trotz eingängiger Warnungen das Wasser des Jordan trank und daran elendig zugrunde ging. Ferdinand, der Wütende, der 1809 die Franzosen vertrieb, dann aber von einer gekränkten Bauernliebschaft erschlagen wurde. Heidrun, die Stille, die in ihrem Leben angeblich nur einen Satz gesagt hatte:

— Sie haben vergessen, den Sarg zu schließen.

Dieser war im Rahmen der Beerdigung ihres Mannes gefallen, der gleich daneben hing. Karl, der Fröhliche, von dem man sagte, er sei vom Inzest besonders hart gestreift worden. Sein infantiles Gemüt soll die ganze Familie in den Wahnsinn getrieben haben. Wegensteins Vater, Günter, der Großzügige, hing direkt über dem Bett. Sein Name rührte daher, dass er diverse Ländereien verspielt hatte. Othmar bemerkte, dass sein Gesicht von Hunderten kleinen Löchern gestanzt war. Zuerst dachte er an Motten. Aber dann sah er die Dartpfeile neben dem Nachttisch liegen.

Nur Roland Wegenstein selbst hing nicht an der Wand. Er hatte sich noch keinen Beinamen verdient. Roland, der Pfeifen rauchende Quadratschädel, eignete sich schlecht. Genauso wenig wie Roland, der Gehörnte, oder Roland, der Verstoßene. Wegenstein war, nachdem er eine Bürgerliche geheiratet hatte, vom Rest des Geschlechts zur Persona non grata erklärt worden. Rosa, die Tochter des Hausbesorgers, hatte dem Grafen schon als Kind schöne Augen gemacht. Als sie ihm dann mitteilte, dass sie schwanger sei, heiratete er sie zwar, zwang sie aber trotzdem, traditionsgemäß an seiner linken Seite zu gehen. Für seine rechte Seite hatte er ohnehin niemanden gefunden, weil er den meisten adeligen Damen entweder zu arm oder zu langweilig war.

Rosa verlor das Kind in der elften Woche. Böse Zungen behaupteten, sie sei überhaupt nie schwanger gewesen, sondern habe den gutgläubigen Wegenstein damit zur Blitzheirat gezwungen. Roland, der Naive. Auch das kein Attribut, für das man an der Wand hängen mochte.

Die morganatische Ehe hielt länger, als viele dachten. Obwohl Rosa nicht mehr schwanger wurde. Die fünfzehn Jahre vergingen keineswegs wie im Flug. Vielmehr musste die Hausbesorgertochter zusehen, wie von Jahr zu Jahr weniger Zimmer bewohnt wurden. Es wunderte also niemanden, außer Wegenstein selbst, dass sie mit dem Elektriker durchbrannte, nachdem dieser sein Haus an Chen verkauft hatte. Bürgermeister Zesch scherzte einmal, dass er offenbar den Wackelkontakt ihrer Beziehung erkannt habe.

— Was wollen Sie?

Wegensteins Rauchschwaden vergrößerten sich zu dichten Wolken, die über seinem Quadratschädel zu stehen kamen. Othmar fiel auf, dass sogar die Frauen auf den Porträts mit der gleichen Kopfform gestraft waren.

— Wo ist er?

Othmar versuchte sich kurz zu fassen, damit Wegenstein seinen Zungenschlag nicht bemerkte.

— Sie sind betrunken.

— Wo er ist, habe ich gefragt.

— Wer?

— Stellen Sie sich nicht blöd!

— Sind Sie neuerdings bei der Polizei?

Wegenstein musterte den im Stehen wankenden Othmar. Bot ihm aber keine Sitzgelegenheit an.

— Werfen Sie bloß nichts um.

Othmar nickte, als würde es in seiner Macht stehen. Er hielt seinen Körper in Bewegung, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Und sah dabei aus wie eine zu groß geratene Ente, die fror.

— Ich habe den weißen Toyota gesehen.

— Den weißen Toyota? Handelt es sich peut-être um ein Einzelstück?

— Wie viel hat er Ihnen geboten?

Aus Wegensteins Pfeife stiegen die Gedankenbläschen hoch. Othmar konnte sie aber nicht deuten. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Graf einen Pelzmantel trug. Und fragte sich, wie viele Biber dafür ihr Leben lassen mussten. Früher hatte man in Bad Regina zur Fastenzeit massenweise von ihnen gegessen. Weil sie die Kirche für Fische erklärt hatte. Fische durfte man auch zur Fastenzeit verspeisen. Wegensteins Vater war nicht nur großzügig, sondern auch ein passionierter Jäger gewesen. Er sorgte dafür, dass der Biber in allen Gourmettempeln serviert wurde, und beförderte damit dessen Aussterben – Othmars Gedanken schweiften ab. Er holte sie mit einem betrunkenen Seufzen zurück.

— Wohin gehen Sie?

Wegenstein sah ihn fragend an.

— Wohin soll ich gehen? Ein Wegenstein bleibt, wo er ist. Wir sind keine Nomaden. Contrairement à tous les traîtres.

Othmar ignorierte seinen Standesdünkel und deutete mit dem angeschwollenen Zeigefinger auf den Grafen.

— Weil Sie den Mantel anhaben.

— Den trage ich immer, wenn ich nicht will, dass jemand zu lange bleibt. Une vieille habitude.

Othmar verstand zwar nicht, warum so ein Gehabe ungebetene Gäste vom Bleiben abhalten sollte, wertete es aber als zusätzlichen Beweis für die Ankunft Chens.

— Sie konnten nicht wissen, dass ich komme. Also: Was wollte der Chinese?

Othmar kniff die Augen zusammen, weil ein Detektiv immer die Augen zusammenkniff, wenn er jemanden überführte.

— Er ist kein Chinese.

— Und woher kommen dann die Schlitzaugen?

— Aus Hallstatt.

— Aus Hallstatt?

— Aus Hallstatt.

Wegenstein lächelte überheblich. Und blies ihm den Rauch entgegen, als könne er ihn damit wegzaubern. Othmar wedelte die Schwaden zurück.

— Auch in Hallstatt gibt es Chinesen, konstatierte Othmar. Schließlich war er kein Hinterwäldler. Die ganze Welt hatte in seinem Klub gastiert. Während Wegenstein in seinem inzestuösen Gengehege gefangen war.

— Er ist aber ein Hiesiger, antwortete Wegenstein trocken.

— Ein hiesiger Chinese, lallte Othmar.

— Er hat den gleichen Pass wie Sie.

— Wollen Sie ihn jetzt verteidigen?

— Ich will nur korrekt bleiben.

— Diese Scheißchinesen glauben, sie können die ganze Welt kaufen.

Othmar schmiss den Satz in die Richtung von Wegensteins Ahnen, in der Hoffnung, Verbündete zu rekrutieren. Wenn diese noch gelebt hätten, dann wäre jetzt aufgebrachtes Gemurmel zu hören gewesen. Ein Chinese sei nicht mehr als Chinese erkennbar. Ein Schwuler nicht mehr als Schwuler. Und ein Nazi nicht mehr als Nazi. Selbst dieser nichtsnutzige Nachkomme sehe nicht mehr wie ein Adeliger aus. In was für einer Welt leben wir eigentlich!

Es blieb aber still. Und Wegenstein machte keine Anstalten, ein Geständnis abzulegen.

— Ich habe alles, was ich brauche.

— Nichts haben Sie.

— Alles habe ich.

Wenn Othmar diesen Chinesen wenigstens beschreiben könnte. Er würde ihn ausschließlich am weißen Toyota erkennen. Der reiche Chen im weißen Dreckskübel. Stillos. Erniedrigend. Widerlich. Aber sparen lernte man von den Reichen. Wie würde er schon aussehen? Wie alle gottverdammten Chinesen. Othmar überlegte, ob er sich jemals das Gesicht eines Chinesen gemerkt hatte. Selbst die Visage des Restaurantbesitzers, wo er wöchentlich seinen Glutamatspiegel aufgefrischt hatte, war ihm in Vergessenheit geraten. Auch der Chinese hatte am Ende an den Chinesen verkauft. Ratlos sah er Wegenstein an. Dann flüsterte er:

— Ich will Ihnen doch nur helfen.

— Ich brauche Ihre Hilfe nicht.

— Wir müssen jetzt zusammenhalten.

— Wir kennen uns kaum, knurrte Wegenstein.

— Wenn Sie gehen, ist es aus.

— Es ist schon längst aus.

Auch wenn Wegenstein nicht wusste, was er mit es genau meinte. Für ihn hatte es nie begonnen. Sein Leben lang war er in einer Schachmattposition gewesen. Er war in dieses Geschlecht hineingeboren worden, um am Ende zu den anderen, die unten in der Schlossgruft lagen, dazuzusterben. So war es vorgesehen. Und die warnenden Blicke der Ahnengalerie sorgten dafür, dass er sich daran hielt.

— Keinen Deut wirst du dich rühren.

— Ein Wegenstein hat seine heilige Pflicht.

— Roland, der Wankelmütige.

— Roland, der Verräter.

— Dieser Chen wird unsere Gebeine auf den Müllplatz werfen.

In seinem Kopf murmelten sie ständig. Sie hatten mit ihrem Gezeter schon seine Frau vertrieben. Konnte er es ihr übel nehmen? Wie oft hatte Rosa ihn zum Weggehen bewegen wollen? Wie oft hatte sie gesagt, dass ihr an alldem nichts liege? Dass sie woanders glücklicher sein würden. Dass sie die gaffenden Blicke der Toten nicht mehr ertrage.

Wäre alles anders gekommen, wenn Chen ein paar Jahre früher aufgetaucht wäre? Könnte er sie zurückholen, wenn er das Angebot jetzt annehmen würde? Roland, der Eroberer. Die anderen Wegensteins hatten stets nur ihre Stellung gehalten. Aber Roland würde aufbrechen, um Neuland zu erobern. Das hätte seit Jahrhunderten keiner von ihnen zuwege gebracht.

Die Rauchschwaden waberten in alle Richtungen. Zwei Millionen! Davon ließe sich in seinem Alter ein lebenslanges Auskommen finden. An einem Ort, wo man mit sechzig kein alter Sack wäre. Sondern ein Sack mit Geld. Abgesehen davon müsste er dann nicht mehr solchen Ruinen wie Othmar ins Antlitz blicken. Er war keiner von ihnen. Es war seine letzte Chance.

Aber was war dieses Es? Wäre es für einen wie ihn überhaupt möglich, kein Wegenstein mehr zu sein? Und was sollte er mit dieser neuen Freiheit anfangen? Rosa hatte er unwiederbringlich verloren. Als sanierte Elektrikergattin ließe sie sich von zwei Millionen nicht mehr beeindrucken. Vor allem dann nicht, wenn sie ihn insgeheim Roland, den Langweiligen, oder Roland, den Geschlechtsarmen, nannte. Er hatte doch niemanden. Außer den anderen Quadratschädeln an der Wand. Mit wem sollte er sprechen? Stirnrunzelnd musste er zur Kenntnis nehmen, dass die Pfeife ausgegangen war.

— War’s das?

Er klopfte sie aus. Und stopfte sie neu.

— Fürs Erste ja, nickte Othmar lallend.

— Dann gute Nacht, sagte Wegenstein und schloss die Augen, um wieder an seiner Pfeife zu ziehen. Die Rauschschwaden deuteten Othmar den Weg zum Ausgang.

3

Die Sterne leuchteten, als wäre der Nachthimmel ein löchriger Fetzen. Als ob dahinter ein Fest stattfände, zu dem Othmar nicht eingeladen war. Betrunken stolperte er über die eisige Straße. Er musste es die anderen wissen lassen. Diese Sache konnte er unmöglich allein regeln. Wie ein maroder Leuchtturm schimmerte das Luziwuzi am Ende des Ortes. Die anderen Lebensgeister flackerten vereinzelt wie niederbrennende Kerzen über die Schlucht verteilt. Nur eine Frage der Zeit, bis man alle ausgeblasen haben würde.

Den meisten konnte man nicht trauen. Die meisten warteten nur darauf, von Chen ein Angebot zu erhalten. Aber wenn der Graf sein Schloss verkaufte, dann war es aus! Dann bliebe außer dem Hotel Waldhaus, der Kirche, der Luziwuzi-Bar und ein paar Häusern nichts übrig. Die dann nichts mehr wert wären. Was so einer wie Chen natürlich wusste. Was war sein Plan? Es gab einen. Das war offensichtlich. Einen, der erst aufgehen würde, wenn …

Vor dem Haus von Rebekka blieb Othmar kurz stehen.

— Ach, Rebekka.

Er musste an einen Satz seiner Großmutter denken:

— Das einzige Haus, in dem noch nie jemand gestorben ist.

Was vermutlich daran lag, dass es der einzige Neubau war. Und als solcher der Natur noch weniger standhielt. In der ehemaligen Gärtnerei wucherte der Wildwuchs besonders ungestüm. Eine riesige Birke ragte aus dem Treibhaus. Sie hatte schon vor langer Zeit das Glas aufgebrochen. Triumphal streckte sie die Äste nach oben. Sieg der Natur! Nein. Als ob Tiere in einen verfallenen Zoo zurückkehrten. Paradox, dachte Othmar. Auch wenn er das Wort paradox niemals gebraucht hätte.

Er hatte Selma angelogen, als er sagte, er hätte Bad Regina nie verlassen. Es gab eigentlich keinen Grund dafür. Selma und Rebekka waren sich nie begegnet. Selma war bis vor drei Jahren in Bad Regina eine Unbekannte gewesen. Ihre Mutter hatte sich von ihrem widerlichen Schönheitschirurgen getrennt und Selma in ein Internat gesteckt. Von dort war diese dann direkt in die Kommune geflohen. Viele sagten, das hätte die Baumgartner frühzeitig ins Grab gebracht. Aber sie hatte ohnehin kein großes Talent fürs Glück gehabt. Den Hang, immer zu den falschen Männern zu greifen, hatte Selma von ihr geerbt. Wobei sie Sedrick niemals als Fehlgriff bezeichnet hätte. Vielmehr als Retter aus einem Internat, wo man drauf und dran war, ihre Seele zu zerstören. Wobei Othmar nicht verstand, was sie an dem australischen Fettwanst fand. Für ihn sahen erwachsene Männer mit Sommersprossen immer bizarr aus. Er fand auch seine kindlichen Bilder lächerlich. Alles an dem Typen war behindert. Trotzdem hatte er es geschafft, auf seinem Vierkanthof in Weikersdorf ein Dutzend Eiferer zu versammeln. Alles unter dem Motto: Kunst als Religion.

— Es ist sein Charisma, Othmar.

Vermutlich hatte er einfach einen großen Schwanz. Oft waren es solche Kleinigkeiten.

— Er hat das Kind in mir beschützt.

— Er hat euch daran gehindert, erwachsen zu werden.

Aber das hatte Othmar nicht gesagt. Er wollte Selma nicht kränken. Nein. Er versuchte, seine Eifersucht zu verbergen. Er wollte vor Selma souverän dastehen. Was lächerlich war. Souveränität gehörte definitiv nicht zu seinen Stärken. Trotzdem hatte er ihr so gut wie nichts über Rebekka erzählt. So wie sie ihm kaum etwas über Weikersdorf erzählt hatte.

— Alles vor uns zählt nicht mehr.

Für Othmar zählte ausschließlich die Vergangenheit. Als ob die Dinge erst existierten, wenn man sich an sie erinnern konnte.

Er stand vor Rebekkas Haus. Seit ihrer Geburt hatten sie sich gekannt. In der Volksschule waren sie nebeneinandergesessen. Hatten sich nicht nur ein Baumhaus, sondern auch die ersten Platten geteilt. Jeden Nachmittag hatte er Tennis gegen die Wand ihrer Garage gespielt. Sie saß auf dem Balkon und sah ihm dabei zu. Wie eine Spielerfrau in Wimbledon. An seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er sie das erste Mal geküsst. Ein Jahr später hatten sie miteinander geschlafen. Sie hatte bei den Sisters in Blisters gesungen. Er hatte die Songs geschrieben. Ohne ein Instrument zu spielen. Seine Gitarre. Alles nur Play-back. Außer den anderen Sisters hatte es keiner gewusst. Das war astreiner Punk. Die Pose wichtiger als das Handwerk. Er hörte ihre dunkle, hallende Stimme.

I’m drunk – this is Paris.

I’m drunk – this is Oslo.

I’m drunk – this is Kabul.

Als ihm Rebekka eröffnete, Bad Regina zu verlassen, um sich in der weiten Welt zu verlieren, bekam Othmar die Panik.

— Wenn du mich verlässt, dann komme ich mit.

Sie sagte nicht Nein. Sie sagte nicht Ja. Sie sagte gar nichts.

Erst ein Jahr später schickte sie ihn heim. Aber Los Angeles wäre ohnehin nichts für ihn gewesen. Eine Stadt ohne Zentrum. Nicht wie Bad Regina, das ein einziges Zentrum war. Vielleicht begann der Niedergang, als sie in die Mitte des Kurorts das brutalistische Kongresszentrum stellten. Wie ein klobiger Fremdkörper stand es beleidigt in der Gegend herum. Ganz wie Othmar in Los Angeles.

— Sardinen schwimmen immer im Kreis. Als ob es ein unsichtbares Zentrum gäbe. Sardinen sind wie diese Stadt, Othmar. Und deshalb liebe ich L. A. so sehr.

Rebekka hatte recht. In Los Angeles fuhren alle ständig im Kreis. Ein Zentrum konnte Othmar trotzdem nicht ausmachen.

Sie hatten sich bei einem schwulen Schauspieler einquartiert, den sie in einer Bar in Westhollywood aufgegabelt hatten. Sie waren neu in der Stadt und Jonathan ließ sie bei sich wohnen. Rebekka schien ihm zu imponieren. Er nannte sie Odessa, weil er keine traurigere Stadt kannte. Er war zwar noch nie dort gewesen. Aber in dem Gesicht von Rebekka ließ sich von allem träumen. Je länger man es ansah, desto fremder erschien es einem.

— You always look like someone who just arrived, sagte Jonathan.

Rebekka war besessen davon, Amerikanerin zu werden. Der schwule Schauspieler bot ihr an, sie zu heiraten. Dann bekäme sie nach zwei Jahren den ersehnten Pass. Sie müsste nur bei ihm wohnen. Und einem Mann von den Behörden glaubhaft versichern, dass die Liebe echt sei. Die Amerikaner seien da penibel, um Scheinehen zu verhindern. Othmar hielt das alles für einen Scherz. Und genau während dieser Befragung sei es passiert, sagte Rebekka. Als sie dem Beamten von Jonathan vorschwärmte und beteuerte, wie groß ihre Liebe sei, da sei sie wahrhaftig entstanden, die Liebe zu Jonathan. Aufgestiegen in ihr wie ein Phönix. Sie sei völlig überwältigt gewesen.

— Aber er ist schwul, hatte Othmar gesagt.

— Das ist mir egal. Es ändert nichts an meiner Liebe.

Othmar wurde in ein kleines Zimmer ausquartiert. Er war sich inzwischen auch nicht mehr sicher, ob Jonathan nicht doch bi war. Drei Monate später war der Schauspieler tot. Überdosis. Rebekka hatte ihn gefunden. Und musste daraufhin noch einmal zu dem Beamten, um sich als glaubhafte Witwe zu deklarieren.

Als die Mutter von Jonathan aus Texas kam, um die Leiche ihres Sohnes zu sehen, war sie überrascht, dass dieser verheiratet war. Sie wusste weder etwas von seiner Homosexualität noch von seiner Ehe. Rebekka versicherte ihr, dass die Liebe echt war. Verschwieg ihr sein Geheimnis, wegen dem er vermutlich nach L. A. geflohen war. Und blätterte mit ihr das Fotoalbum durch.

— At least I’m glad he had such a wonderful wife.

Dann reiste die Mutter ab und die beiden Sisters aus Bad Regina standen verloren in der Wohnung eines Fremden.

— Und jetzt?

— Du fährst zurück.

— Du nicht?

— Nein. Ich will Amerikanerin werden.

Othmar schüttelte den Kopf.

— Das ist doch Scheiße!

Er begann zu schreien.

— Du hast mich die ganze Zeit verarscht!

Er fasste sie an. Rebekka wehrte sich nie. Weder beim Sex noch gegen seine Wut. Diese Kapitulation machte ihn rasend. Als ob sie ihren Körper evakuierte. Je lauter er schrie, desto ungreifbarer wurde sie. Dann verschwand das Spöttische aus ihrem Blick. Und wich dem einer Statue. Kein Fokus. Verdammte Leere. Er riss an ihren dicken Strähnen. Ein Dschungel. Den er roden musste. Er kratzte über ihre hochmütigen Lider. Eine Bergwand. An der er abrutschte. Er würgte ihren Hals. Sie hielt die Luft an. Schwerelosigkeit. Er drückte sie zu Boden. Nicht wegfliegen jetzt. Er drang in sie ein. Kein Laut. Näher konnte er ihr nicht kommen.

Als er ging, saß sie am Fenster und starrte auf die Sardinen von Los Angeles.

— Immer, wenn ich zu Hause bin, dann ist mein Heimweh am größten.

— Ich bin doch dein Chronist.

— Du bist der Kieselstein in meinem Schuh.

Dann verließ er die Welt. Und kehrte nach Bad Regina zurück.

 

— Ich schreibe an jedem Ort einen Song über dich.

Das hatte er gesagt, als sie daheim am Bahnhof gestanden hatten. Bereit für die weite Welt. Damals hatte er noch geglaubt, dass sein Zuhause überall dort war, wo Rebekka schlief.

— Ich brauche keine Songs mehr, hatte sie geantwortet.

Erst später begriff er, dass zu Hause dort war, wohin man immer wieder unfreiwillig zurückkehrte.

— Was findest du an einer, die nichts an dir findet?

Die anderen Sisters hatten Rebekka schon immer als die Fieberblase empfunden, die ihre Männerrunde infizierte. Die Band war für sie nur der Kitt ihrer Freundschaft. Für Othmar war es umgekehrt. Die Sisters waren das Beiwerk. Und die Fieberblase der Main Act.

Mag sein, dass sie nichts an ihm fand. Othmar liebte Rebekka. Und Rebekka die Welt. Offenbar war es sein Muster, das festhalten zu wollen, was er nicht greifen konnte. Er liebte nur die Geister. Jene, die durch sein Leben spukten. Und nie Anker warfen. Letztlich war die Geschichte mit Selma nichts anderes. Alles nur Play-back. Ein: So tun, als ob. Alles nur Ablenkung. Alles nur Täuschung. Alles nur eine Imitation. Sie spielten Liebe. Weil kein anderer verfügbar war.

Er wünschte, Selma würde öfter bei ihm schlafen. Aber er wollte nicht mit ihr zusammen sein. Er wollte mit niemandem zusammen sein. Niemand kannte ihn wie Rebekka. Und niemand kannte Othmar wie sie.

Sie brauchte einen, der auf sie wartete. Und er brauchte eine, die nicht da war. Vor allem aber hasste sie ihre Mutter, die darauf bestanden hatte, dass aus ihrer Tochter ebenfalls eine unglückliche Gärtnerin wurde. So wie ihre Mutter und die Mutter davor.

— Warum sollte ich in einem Treibhaus die Pflanzen ziehen, die woanders unter freiem Himmel wachsen?

 

Letztlich hatten auch ihre Eltern an Chen verkauft. Zumindest waren sie von einem Tag auf den anderen verschwunden. So wie alle plötzlich verschwunden waren. Keiner hatte sich je verabschiedet. Alle waren sie über Nacht gegangen. Als ob das eine Bedingung wäre.

Othmar spürte seine Berufung. Vermutlich, weil es keine andere Berufung mehr gab. Nur er konnte Chen aufhalten.

Sein Blick fiel auf das Hospiz, das abgedunkelt neben dem alten Sanatorium stand. Bald würde sein Vater sterben. Auch wenn er dort schon seit zwei Jahren dem Tod trotzte. Als letzter Patient. Othmar hatte ihn schon seit einem Monat nicht mehr besucht. Sich selbst hatte er noch länger nicht im Spiegel angeschaut. Zu groß die Angst, den Ruinen, die sich nicht mehr restaurieren ließen, ins Auge zu sehen. Würde er seinen Vater genauso vermissen wie seine Großmutter? Es war nicht so, dass er ihn nicht liebte. Er wusste nur nicht, wer er war. Als ob man einen Fisch im Aquarium anstarrte. Ein Fisch war für Othmar der Beweis, dass totes Leben möglich war. Andererseits hatte er Mitleid mit seinem Vater. Denn gewiss schlummerte hinter seinem lethargischen Gemüt ein Mensch mit Gefühlen. Seine Leblosigkeit war keine verunfallte wie bei Alpha. Eher eine Maßnahme, um mit den Anforderungen der Welt nicht umgehen zu müssen.

Alles an Othmar hatte er mit seinem Kopf weggeschüttelt. Seine Ambitionen. Seine Pläne. Seine Träume. Seine Freunde. Seine Musik. Als dürfe es Othmar nicht geben. Als könne man ihn mit dem Kopf abschütteln, um ihm ja keinen Zugang zum Herzen zu ermöglichen. Immer wieder hatte er Anlauf genommen. Aber an den Türstehern seines Vaters war kein Vorbeikommen möglich.

Vermutlich hatte er es ihm nie vergeben, dass seine Frau bei Othmars Geburt gestorben war. Eklampsie, hatte der Arzt gesagt. Schwangerschaftsvergiftung, der Vater.

Während Othmar sich in das Licht der Welt presste, gingen bei seiner Mutter die Lichter aus. Sein Vater musste zusehen dabei und danach Othmar in den Armen halten. Da seien bei ihrem Schwiegersohn die Lebenskerzen erloschen, hatte die Großmutter gesagt, die ab dem Tod ihrer Tochter deren Mutterrolle übernommen hatte.

— Man kann allen verzeihen, Othmar. Nur sich selbst nicht.

Großmutter hatte ihm nie einen Vorwurf daraus gemacht. Ließ ihn im Gegensatz zum Vater nie spüren, dass die Falsche gestorben war. Ein Kind könne man noch mal zeugen. Eine Frau, die einen so liebe, finde man nur einmal im Leben. So dachte der Vater. Und dieser Gedanke war die Hand, die seine Flamme versengte.

Im Gegensatz zu sich selbst und Alpha pflegte Othmar das Grab seiner Großmutter regelmäßig. Was ihr bestimmt nicht recht gewesen wäre. Denn sie glaubte nicht an gepflegte Gärten. Sie glaubte an gar nichts, was vom Menschen gestaltet wurde. Glaubte, dass alles vom Menschen Gemachte irgendwann von der Wahrheit eingeholt wurde. Ja, dass der Mensch stets an der Wahrheit vorbeigestaltete, sie niedergestaltete, gleichsam niederplanierte, es aber immer nur eine Frage der Zeit war, bis sich der darunter wuchernde Wildwuchs seinen Weg bahnte. Das galt für Gräber und Gärten genauso wie für den Katholizismus, den Nationalsozialismus, den Sozialismus, den Kapitalismus, den Kommunismus, die Demokratie, die Kunst, das Geld, die Ehe im Allgemeinen – ja, für alle sogenannten zivilisatorischen Errungenschaften. Und weil die Großmutter Lücken und Risse schön finden konnte, war sie ein glücksbegabter Mensch gewesen. Das hatte er von ihr gelernt.

— Sag jetzt bloß nicht, dass du deshalb so bist, wie du bist. Denn fröhlich bist du nicht, du Hirnrissiger, hatte Selma zärtlich in sein Ohr geflüstert.

— An irgendetwas muss sie doch geglaubt haben.

— An das Heilwasser von Bad Regina. In ihren Augen konnte es alles heilen. Jede Wunde, jede Krankheit, jede Traurigkeit, jeden Irrtum. Im Winter hat sie mir oft die Eiszapfen aus der Quelle zum Schlecken gegeben.

— Eine fröhliche Nihilistin! Ich glaube, ich hätte sie gemocht.

Trotz ihrer Freundlichkeit war die Großmutter nicht besonders beliebt gewesen. Zumindest konnte sich Othmar an keine Freundschaften erinnern. Obwohl sie eigentlich gesellig war. Oft kochte sie zu viel, in der Hoffnung, es würde noch jemand zum Abendessen dazustoßen. Es kam aber niemand. Es wurde trotzdem aufgegessen. Obwohl sie keine gute Köchin war.

Mit Männern hingegen konnte sie gut. Vermutlich, weil sie diese nicht ernst nahm. Die Großmutter war zweimal verheiratet gewesen. Als ihr erster Mann starb, heiratete sie dessen Bruder, der davor mit ihrer Schwester verheiratet gewesen war, die aber ein Jahr nach dem ersten Mann der Großmutter gestorben war und von der man munkelte, sie habe ein jahrelanges Verhältnis mit ihm unterhalten. Die beiden Schwestern waren eine Symbiose. Es gab keinen Groll zwischen ihnen. Und Othmar hielt es für gut möglich, dass sie sich wissentlich die Brüder teilten, ja, dass sie im Grunde genommen alle vier miteinander verheiratet gewesen waren.

Als die Schwester starb, brach nicht nur eine Welt zusammen, sondern auch eine ständige Verbindung. Die Großmutter und ihre Schwester, die nur hundert Meter entfernt voneinander wohnten, hatten über ein Babyfon eine Standleitung installiert. Mehr als dreißig Jahre lang fand so eine ständige Unterhaltung statt. Selbst in der Nacht wurde die Leitung nicht gekappt. Und als sich die Schwester eines Tages nicht gleich zu Wort gemeldet hatte, da hatte die Großmutter nur trocken gesagt:

— Sie ist tot.

Als ihr zweiter Mann starb, hatte sie noch trockener gemeint:

— Hätten wir das auch.

Als ob sie das Drehbuch ihres Lebens schon vorher gelesen hätte.

Kurz vor ihrem Tod hatte Othmar sie gefragt, ob sie das Gefühl habe, ihr Leben gelebt zu haben. Sie antwortete noch trockener als nach dem Tod ihres Mannes:

— Vermutlich hatte sogar Hitler am Ende das Gefühl, etwas versäumt zu haben.

Bis zu ihrem vierundneunzigsten Lebensjahr fuhr sie mit dem Auto ihre Einkäufe erledigen. Durch Chen vergrößerten sich allerdings die Entfernungen, weil selbst der letzte Lebensmittelladen irgendwann das Handtuch geworfen hatte. Insofern hatte es wenig mit James Dean zu tun, als sie ein Sekundenschlaf das Leben kostete. Vierzig Kilometer waren einfach zu viel für sie. Ein Überschlag hätte gereicht. Es waren drei gewesen.

Eigentlich hätte man sie in der Havarie beerdigen sollen. Stattdessen kam die Urne mit der Post. Othmar stellte sie monatelang zu den Marmeladengläsern, weil er nicht wusste, wohin damit. Schließlich entschied er sich doch für eine Beerdigung. Auch wenn es der Großmutter nicht recht gewesen wäre, dass das Begräbnis vom Pfarrer ausgerichtet wurde. Othmar hatten einfach die Worte gefehlt. Und Pater Helge war sein Freund.

— Weißt du, was Helge bedeutet?

— Keine Ahnung.

— Heilig.

— Wie passend.

— Es gibt noch keinen heiligen Helge.

— Aha.

— Deshalb habe ich mich Helge genannt.

— Genannt?

— Das erzähle ich dir später. Wenn wir uns besser kennen.

Er hatte es ihm all die Jahre nicht erzählt. Obwohl er mehrmals die Woche bei ihm saß, um den Messwein zu leeren. Natürlich wunderte sich auch einer wie Othmar, was so ein gut aussehender Priester in so einem Kaff verloren hatte. Außer der alten Zesch und dem Tschermak ging keiner mehr zur Kirche. Die alte Zesch, weil sie täglich dafür betete, endlich sterben zu dürfen. Und Tschermak, weil sein Sohn wegen einer Frau zum Islam konvertiert war. Da hatte der Luziwuzi-Wirt seinen Glauben, den er eigentlich schon mit acht Jahren verloren hatte, wiedergefunden.

— Dieser gottverdammte Bengel hat sogar die Firmung verweigert, weil er kein Heuchler sein wollte. Und dann wird er ein Muselmane, damit er diese verschleierte Göre heiraten kann.

Tschermak hatte daraufhin jeden Kontakt abgebrochen. Und betete abwechselnd für die Rückkehr seines Sohnes und einen Blitzschlag, der diese arabische Mischpoche auslöschen würde.

 

Othmar humpelte am Haus der Großmutter vorbei, das für immer leer stehen würde. Und weil Chen das wusste, machte er kein Angebot. Othmar hatte alles unberührt gelassen. Weil er glaubte, dass sie noch als Geist darin wohnte.

— Max, du musst nach Hause gehen! Es ist spät!

Am Spielplatz legte Othmar eine Pause ein. Der Fuß begann wieder zu schmerzen. Der zehnjährige Max war das einzige Kind im Ort. Wenigstens gehörte ihm der Spielplatz allein. Nie musste er darauf warten, dass die Schaukel frei wurde. Nie musste er sich an der Rutsche anstellen. Und selbst die Sandkiste gehörte nur ihm, wenn sie nicht gerade zugefroren war.

— Aber es ist erst acht, rief der kleine Max zurück.

Othmar hatte offenbar das Gefühl für die Zeit verloren. Er nickte und winkte ihm zu. Dann humpelte er weiter.

Max war vom langweiligen Grün. Von wem er wirklich stammte, wusste jeder. Aber das schien den Bahnhofsvorsteher nicht zu stören. Sie hatten ihn damals bei den Sisters gefeuert, weil er selbst für einen Bassisten zu langweilig war. Außerdem ließ sich mit dem feisten Tschermak besser trinken. Grün war ein Lauch. Zumindest nannte ihn Zesch so. Wegen seiner Statur.

Heute saß er täglich am Gleis und sah den Zügen dabei zu, wie sie durch Bad Regina fuhren. Wenn einer stehen blieb, stieg nie jemand aus. Grün pfiff und deutete dem Lokführer weiterzufahren. Er hielt den Normalbetrieb aufrecht. Alle hielten den Normalbetrieb aufrecht. Für den Ernstfall.

Wankend kam Othmar vor der Luziwuzi-Bar zu stehen. Die gelben Buchstaben aus den Fünfzigerjahren leuchteten trüb in der eisigen Kälte. In der Vitrine hingen Fotos des hässlichen Kaiserbruders, nach dem die Bar benannt worden war. Dekadent posierte er mit einem Gehstock vor einem überzüchteten Hund, dem die Haare über die Augen standen. Auf einem anderen saß er affektiert unter einem Regenschirm. Ein weiteres zeigte ihn in bizarrer Schwimmkleidung inmitten seiner schwulen Getreuen. Ein Verstoßener, der am Ende nur noch von seinem Bruder, Kaiser Franz Josef, protegiert wurde. Und weil er das wusste, hatte er sich wie einer verhalten, dem nichts passieren konnte. Auch in Bad Regina, wo der Kaiserbruder oft zu Gast war, soll er im Helenenbad berüchtigt für seine Zudringlichkeiten gewesen sein. Der Luziwuzi war ein durch und durch verdorbener Charakter, der es außer mit sich selbst mit niemandem gut meinte. Warum Tschermak das Lokal, das er von seinem Vater geerbt hatte, nie umbenannt hatte, war Othmar ein Rätsel. Vielleicht schlummerte in dem alten Punk doch sein Alter, der ein eiserner Monarchist gewesen war.

In der Vitrine daneben das Cover ihrer einzigen Platte.

Sisters in Blisters. Contagious Songs.

Sie posierten in Polizeiuniform und Zombieschminke.

Rebekka, die als Einzige einen roten Trenchcoat trug, wurde auf dem Bild von Othmar verhaftet. Während sich ihr Gesicht steinern hinter einer Sonnenbrille verschanzte – man hatte den Eindruck, sie würde sich ob der Inszenierung schämen –, versuchte Othmar mit hochgezogener linker Oberlippe die rotzige Pose von Sid Vicious nachzuahmen. Er wirkte zwar eher wie ein rabiater Dorfpolizist, der an einem Gangbang teilnehmen durfte, versprühte aber aufgrund seiner Jugend einen gewissen Randalierercharme, dem besonders Mädchen mit mütterlichen Wesenszügen verfielen, weil sie ihre sexuelle Begierde hinter einer pädagogischen Ästhetik verstecken konnten. So hatte es zumindest Moschinger formuliert, der – obwohl Schlagzeuger – schon immer der Philosoph der Gruppe gewesen war. Jammerschade, dass seine Texte so sperrig waren.

— Punk ist wie Scheißen.

Das hatte nicht Moschinger gesagt, sondern Othmar. Und deshalb schrieb auch er die Texte für die Sisters. Der lange Moschinger hatte sich mit seiner ungelenken Denkerpose schon immer selbst im Weg gestanden. Da konnte der Lackel archaisch trommeln, was er wollte. Auch seine gastronomischen Misserfolge waren diesem Umstand geschuldet. Sein vegetarisches Restaurant Falscher Hase zum Beispiel. Ein verunglücktes Wortspiel. Aber auch sein After-Hour-Klub namens Nachtapotheke. Ein einziger Reinfall. Das weiße medizinische Interieur war nach kürzester Zeit zum Wegwerfen, weil ihm die Touristen alles vollgekotzt hatten.

Er ließ sich aber nicht beeindrucken, benannte den Laden in Eisvogel um, organisierte ein Dutzend Königspinguine und stellte sie als Attraktion auf das Dach. Jedes Mal, wenn ein Flugzeug vorbeiflog, drehten die menschengroßen Tiere ihre Köpfe so stark, dass sie im Stand umfielen. Unglücklicherweise konnten sie von allein nicht wieder aufstehen, worauf das Personal nach wenigen Wochen die Nerven schmiss und sich weigerte, die Viecher wieder aufzustellen. Moschinger kapitulierte und übernahm das Hotel Waldhaus von seinem Vater. Er restaurierte es im Sinne junger Hipsterfamilien im Wes-Anderson-Stil. Die ebenfalls ausblieben, weil es solche Hotels auch an geselligeren Orten gab.

Heute beherbergte das Waldhaus vor allem Skurrilitätenjäger, die dem Ruinentourismus frönten.

— Wenn die Leute nach Tschernobyl fahren, warum nicht auch nach Bad Regina!

Die Dark Tourists blieben aber aus, weil ihnen die Darkness fehlte. Und den Lost-Places-Fotografen wurde aufgrund von »Sicherheitsrisiken« der Zugang zu den Ruinen verwehrt. Chen unternahm wirklich alles, um jede Geschäftsidee im Keim zu ersticken. Er wollte Bad Regina einfach vernichten.

Der lange Moschinger ging von Jahr zu Jahr gebückter durchs Leben. Und seine unbändig gelockten Haare waren inzwischen schlohweiß geworden. Auf dem Plattencover waren sie blond und Moschi sah aus wie eine Alpenversion von Roger Daltrey. Daneben der uniformierte Tschermak, der einen vollbeschmierten Bass vor dem Wanst hielt. Er sah schon damals wie ein Exfußballer aus. Und natürlich Sunnyboy Zesch, der versuchte, seine Zombieschminke wegzugrinsen.

Zusammen waren sie die Sisters in Blisters. Leider hatte es nur ein Album gegeben.

— Schade eigentlich, dachte Othmar und seufzte.

An der Tür des Luziwuzi stand: Geschlossene Gesellschaft.