Wir lassen uns gehen - David Schalko - E-Book

Wir lassen uns gehen E-Book

David Schalko

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Beschreibung

Surreal, verstörend und von irrer Komik. David Schalkos Erzählband »Wir lassen uns gehen« führt durch eine abgründige und doch schaurig vertraute Parallelwelt voller schräger Figuren und Verwicklungen. Egal ob bitterböse Satire, grelle Gesellschaftsstudie oder absurdes Alltagsdrama: Jede der in diesem Band versammelten Erzählungen hat ihren ganz eigenen Twist. Da ist der abgehalfterte Tennistrainer Horniczek, der nach einer Ohnmacht drei Sekunden in die Zukunft sehen kann und es schnell bereut; da ist der Mann, der nichts ein zweites Mal tun kann; das ist Hermann »Jeff« Kanter, der letzte Cowboy Deutschlands; ein amerikanischer Spitzenkoch, der am Weihnachtstag plötzlich mit den zu bratenden Papageien diskutiert; oder die Sonne, die sich in den Weltenbummler Johnny Weissmüller verliebt und seine Nähe sucht, was an Johnnys Urlaubsort zu einem nie gesehenen Rekordsommer führt. Mit dem ihm eigenen Humor und Sound erzählt David Schalko in neunzehneinhalb Kurzgeschichten von den seltsamen Träumen, täglichen Krisen und bizarren Obsessionen dieser eigenartigen Spezies Mensch.

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Seitenzahl: 205

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David Schalko

Wir lassen uns gehen

Erzählungen

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über David Schalko

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über David Schalko

David Schalko, geboren 1973, lebt als Autor und Regisseur in Wien. Bekannt wurde er mit revolutionären Fernsehformaten wie der »Sendung ohne Namen«. Seine Filme und Serien »Aufschneider«, »Braunschlag«, »Altes Geld«, »Ich und die Anderen« und das Remake von »M – eine Stadt sucht einen Mörder« wurden mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen seine Romane »Schwere Knochen« und »Bad Regina«.

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Über dieses Buch

Surreal, verstörend, irre komisch oder alles zugleich. Jede der in diesem Band versammelten Erzählungen hat ihren ganz eigenen Twist: Da ist der legendäre Talkmaster Conny Franke, dem nicht nur ein brisanter Flohmarktfund zum Verhängnis wird, da ist ein amerikanischer Spitzenkoch, der am Weihnachtstag plötzlich mit den zu bratenden Papageien diskutiert, ein Blind Date mit eigenartigem Ausgang, oder Hermann »Jeff« Kanter, der letzte Cowboy Deutschlands, den bei einem kleinen Wohnzimmerkonzert großes Unheil erwartet.

In Wir lassen uns gehen erzählt David Schalko von den seltsamen Träumen, täglichen Krisen und bizarren Obsessionen der eigenartigen Spezies Mensch.

 

»Sprachlich einmalig ausgefeilte Geschichten.«

Die Presse

Inhaltsverzeichnis

Wir bedauern

Max nimmt sich Zeit

Stille Wasser

Vorteil Hornicek

Der Fall Prottiwensky

God

Das Paradies

Rekordsommer

Das Weihnachtsdinner

Cowboys

Mottenfänger

Der Andere

Das erste Mal

Das letzte Mal

Blind Date

Was Kratzer schmeckt

Das Wunder von Böheimkirchen

Schweiß

Die Revolution der Faulen,die dann doch nicht stattfand

Gute-Nacht-Geschichte

Wir bedauern

Demokratisch gesehen war Conny Franke ein Arschloch. Kaum einer, der ihn kannte und nicht für ein Arschloch hielt. Seine Co-Moderatorin hielt ihn für ein frauenfeindliches, die Produktionsassistentin für ein vertrotteltes, der Regieassistent für ein überschätztes, der Kameramann für ein hässliches, die meisten Gäste für ein arrogantes, die Maske für ein selbstgefälliges, die Redakteure für ein intrigantes, sein Manager für ein egoistisches, ja, sogar der Senderchef, der selbst ein Arschloch war, hielt Franke für ein noch viel größeres Arschloch als sich selbst. Und wenn Franke in einem Interview behauptete, dass ihn die Leute nicht für ein Arschloch hielten, weil sie ihn kannten, war das eine Lüge, denn selbst seine Frau und seine 15-jährige Tochter empfanden ihn als unheilbares Arschloch. Statistisch gesehen war es also durchaus legitim, Conny Franke als handfestes Arschloch zu bezeichnen.

 

Und wäre Frankes Mutter nicht Frankes Mutter, hätte sie ihn nicht nur für ein Arschloch gehalten, sondern auch wie ein solches behandelt. Aber sie war schließlich die Mutter und fühlte sich dazu verpflichtet, dieses Arschloch so zu lieben, als wäre es keines. Andernfalls wäre sie tatsächlich nicht nur die Mutter des Arschloches Conny Franke, sondern auch noch die Ursache für dessen Arschlochdasein. Das liegt in der Natur der Sache. Ein Arschloch bringt das nächste Arschloch hervor. Über Generationen! Die endlose Fortpflanzung der Arschlöcher, die zu einer unaufhaltsamen Verarschlochisierung der Welt führt. Und wer ist schuld? Naturgemäß das erste Arschloch, auf das sich alle anderen Arschlöcher herausreden. Schließlich kann niemand etwas für das Arschloch, aus dem man herausgeboren wird. Aber in Conny Frankes Familie gab es sonst kein Arschloch – weder Vater noch Mutter, noch Bruder – die Frankes waren eine richtig arschlochfreie Familie. Der Nachzügler Conny war damit das erste Arschloch einer bevorstehenden Arschlochdynastie, die in seinem Sohn, der bereits mit seinen acht Jahren ein riesengroßes Arschloch war, ihre Fortsetzung fand.

 

»Lauter Arschlöcher«, kam es hinter der Klotüre geflüstert, während das Kokain in Conny Frankes Nase brannte. Sogar sein Dealer musste ihn für ein blödes Arschloch halten. Sonst würde er ihm nicht ständig diesen miesen Stoff andrehen. Niemand ist 24 Stunden am Tag ein Arschloch. Das geht nur mit Hilfsmitteln. Er brauchte das Zeug, um Claudia Färber besser zu ficken, als Herbert Färber dies tat.

Noch vor einer Stunde hatte sie Conny Frankes Namen gewimmert, während ihn ihr Mann, der Zeitungstycoon, groß auf das Cover seines armseligen Boulevardmagazins druckte, um darüber zu spekulieren, mit wem Conny Franke ins Bett ging. Aber darauf wäre er nicht gekommen, der große Zeitungsmacker, dass seine Frau Claudia einmal die Woche Frankes Namen stöhnte, ja schrie, als würde man ihren Körper mit purer Geilheit spalten.

 

»Conny Franke«, flüsterte er in den Spiegel. Er war sich mit diesem Namen immer fremd vorgekommen. Als handelte es sich nicht um ihn selbst. Als würde er diese Witzfigur aus dem Fernsehen nur flüchtig kennen. Conny Franke. Hatte er mit diesem Namen eine Chance, etwas anderes als ein Arschloch zu werden?

»Conny Franke!«

»Ja!«

»Noch sieben Minuten!«

Die Schlampe von Aufnahmeleiterin wusste immer, wo sie ihn fand. Täglich vor diesem Spiegel. Sie wussten es alle.

 

»Noch fünf Minuten!«

Franke betrat das Wohnzimmer der Nation. Das heutige Thema: Frühlingsbeginn. Hunderttausende Hausfrauen und Altersheiminsassen warteten auf 90 Minuten Gesundheits- und Gartentipps, einen belanglosen Gast, der sein neues Kochbuch bewarb und jede Menge beunruhigender Chronik, die in beruhigendem Ton für Schwerhörige vorgetragen wurde. Dazwischen Anrufe von medikamentös benebelten Witwen und Gewinnspiele für Infantile. Frühlingsbeginn. Er musste an Claudia denken. Sie hatte seinen Schwanz mit dem Zeug eingerieben. Er stand wie Beton unter dem Sakko hervor. Franke musste lachen. Und überlegte sich, wie er die ersten Minuten im Sitzen bestritt. Schweigen. »Noch 30 Sekunden!« Er konnte den Ekel der gesamten Mannschaft fühlen.

 

Die Signation lief. Er hatte noch vor dem Stundenhotel Orient einer älteren Dame ein Autogramm gegeben. Moderation. Ankündigung des Themas. Seine Frau meinte am Telefon, dass ihre 15-jährige Tochter vermutlich Sex hatte. Sie regte sich fürchterlich darüber auf. Noch mehr brachte sie aber seine Gleichgültigkeit in Rage. Was hatte sie geglaubt? Selbst er nahm seine Tochter inzwischen als Frau wahr. Der Gast betrat das Studio. In seiner Hand das sinnlose Kochbuch. Franke begrüßte ihn und stellte sich eine Szene mit seiner Tochter vor. Er hatte zu viel von dem Zeug erwischt. Es arbeitete noch immer in seiner Nase, die sich jetzt seltsam warm anfühlte. Was gaffte ihn der sinnlose Koch an, als wäre er ein Außerirdischer? Wenigstens im gewohnten Umfeld des Fernsehstudios könnte man seine reale Existenz ohne Staunen akzeptieren. Der Koch starrte auf seine Oberlippe. Franke spürte den warmen Schweiß, der dort stand und tropfenweise über seine Lippe rann. Dabei war Franke dafür bekannt, niemals zu schwitzen. Selbst in der Sauna konnte er seine Sekrete unter Kontrolle halten. Conny Franke war schließlich Profi. Aber die achte Line am Klo war wohl die eine zu viel gewesen. Unauffällig versuchte er in einem längeren Satz des irritierten Koches den Schweiß mit der Zunge zu beseitigen. Seltsamer Geschmack. Wie … Blut. Es lief regelrecht aus ihm heraus. Und der Umstand, dass er es mit seinen kreisenden Zungenbewegungen auffing, machte es für den Fernsehzuseher nicht besser. Das Blut lief aus der Nase, als hätte er zu viel davon im Körper. Und die Arschlöcher vom Team sahen tatenlos zu. Keiner rührte einen Finger. Wahrscheinlich genossen sie diesen Augenblick. Franke spürte, während der warme Saft aus ihm herausquoll, die Wut in ihm hochsteigen. Und als der Koch höflich meinte: »Entschuldigen Sie, Herr Franke, Sie bluten aus der Nase«, musste er so etwas wie: »Ich weiß, du blödes Arschloch« gesagt haben, im Glauben, dass sie den Beitrag schon eingespielt hätten. Selbst der Live-Regisseur hielt ihn für ein Arschloch.

 

Die empörten Anrufe beim Kundendienst wären nicht so schlimm gewesen. Nasenbluten kann jedem passieren, da muss noch lange kein Kokain im Spiel gewesen sein. Auch sein Tobsuchtsanfall nach der Sendung wäre nachvollziehbar gewesen. Franke war als empfindliches Arschloch bekannt. Ja, und selbst den Umstand, dass er die Sitzung des Programmdirektors unterbrach, um lautstark Konsequenzen zu fordern, die ihm der verängstigte Prozacschlucker auch sofort in die Hand versprach, hätte man noch hinnehmen können. Aber als der Assistent von Färber gegen 19 Uhr in dessen Büro trat, um ihm zu sagen: »Wir haben eine Coverstory«, kam die Sache so richtig ins Rollen.

 

Fragender Blick von Färber, der noch immer über die blutende Nase von Franke lachte. Er konnte dieses eitle Arschloch noch nie ausstehen. Kommentarlos legte der Assistent ein großes Kuvert auf den Tisch. Färber sah ihn schweigend an. Das Gesicht des Assistenten war steinern. Jede zuordenbare Geste hätte ihn ab jetzt in massive Schwierigkeiten gebracht. Langsam öffnete Färber den Umschlag. Jetzt standen zwei versteinerte Gesichter im Büro. Denn wenn Färber seinen wahren Gefühlen Ausdruck verliehen hätte, als er es da Conny Franke mit seiner Frau treiben sah, noch dazu im Zusammenhang mit dem Konsum von Kokain, hätte auch das zu massiver Irritation geführt. Denn Färber versuchte schon die längste Zeit einen Weg aus dieser Ehe zu finden, der ihn nicht sein halbes Vermögen kostete. Ehebruch, noch dazu im Zusammenhang mit Drogen – ist in einer solchen Situation ein wahrer Segen. »Drucken!«, sagte er. »Drucken?« Schließlich war das Ganze nur als kleine Intrige gedacht, um Färber bedingungslose Loyalität zu demonstrieren. »Drucken!«, sagte Färber, bevor er seinen Anwalt anrief.

 

Gegen 22 Uhr stand Conny Franke an der Bar. Er hatte mit dem Chef in der Küche noch ordentlich nachgelegt. Doch die Wut wollte nicht nachlassen. Und als sein Manager Hermann Brandl neben ihm Platz nahm, wurde sie noch größer. »Ich möchte, dass sie das ganze Team entlassen, hörst du?« Brandl kannte die Kokainlaunen von Franke und wusste, dass jede Diskussion nur Zeitverschwendung war. Also ließ er ihn reden, nickte in regelmäßigen Abständen und nippte lustlos an seinem Bier. Er hatte seiner Frau versprochen, um Mitternacht wieder zu Hause zu sein. Er war pünktlich. Denn gegen 23:30 Uhr hatte Conny Franke Brandl bereits entlassen.

 

Und dieses Mal endgültig. Zumindest aus Brandls Sicht. Als er sich kurze Zeit später neben seine Frau legte, stieß er einen erleichterten Seufzer aus. Das Arschloch Franke war aus seinem Leben verschwunden, auch wenn das mit großen finanziellen Einbußen verbunden war. Sie würden vermutlich ihr Haus verkaufen müssen. Der Ruf in der Branche würde nachhaltig beschädigt sein. Ein privater Konkurs war wahrscheinlich. Aber all das nahm er in Kauf. Fünfzehn Jahre Schlucken waren genug. Als Franke kurz vor 23:30 Uhr meinte, er erwarte sich, dass Brandl seine Honorare um mindestens 30 % kürze, hatte der Manager das erste Mal »Nein« gesagt. »Du bist entlassen.« Brandl war wortlos aufgestanden und ohne zu zahlen gegangen.

 

Während sich Franke die Niederlage des Tages wegzutrinken versuchte, hielt Andrea Franke eine Videokassette in der Hand, auf der stand: »Die Fickinger kommen!« Sie kannte das Machwerk, das ihr die Tochter vor 30 Minuten vorwurfsvoll in die Hand gedrückt hatte. Allerdings hatte sie gehofft, dass es für immer in der Versenkung verschwindet. Der Freund der Tochter hätte es auf einem Flohmarkt ausgegraben und sie wisse nicht, ob sie ihrem Vater jemals wieder in die Augen schauen könne. Die Mutter legte die Kassette ein. Der junge Conny Franke bearbeitete in schlechter Wikingermontur die geile Tanja. Rundherum ein dilettantisch inszeniertes Gelage, das an eine triste Faschingsparty in einem Swingerclub gemahnte. Andrea wusste nicht, was sie ihrer Tochter sagen sollte. Der ohnehin minimal vorhandene Respekt ihrem Vater gegenüber war für immer verspielt. Zusätzlich legte die Kassette einen großen Schatten über ihre erste große Liebe, denn als der experimentierfreudige Student zu den Ausschnitten bumsen wollte, gab sie ihm den Laufpass. Eine Frage der Würde. Es war schon erniedrigend genug, den eigenen Vater im Wikingerkostüm beim Geschlechtsverkehr zu sehen.

 

Während im Haus der Frankes die Wikinger geil aus dem Fernseher grunzten, stieg Conny wankend ins Auto. Er stieg aufs Gas, stolperte durch den Vorgarten und fand im Wohnzimmer eine apathisch vor sich hinstarrende Ehefrau, die ihm schweigend die Kassette vor die Füße warf. Sie war es gewohnt, dass ihr Mann betrunken nach Hause kam. Auch rechnete sie damit, dass er fremdging. All das war ihr egal, solange es ihren Alltag nicht streifte.

»Ich habe dir gesagt, wenn das jemals rauskommt, werde ich dich verlassen.«

Franke starrte sie an.

»Ich will, dass du sofort deine Sachen packst. Du hörst von meinem Anwalt.«

Er konnte nicht glauben, dass sie in dieser schweren Stunde nicht zu ihm hielt.

»Aber Andrea, du hast keine Ahnung, was für einen Tag ich hinter mir habe!«

Andrea stand schweigend auf und verließ das Zimmer. Sie konnte alles ertragen. Nur eine öffentliche Demütigung nicht.

Drei Minuten später saß Franke wütend im Auto. Die Staubwolke hatte im Rückspiegel den Blick auf das Haus verdeckt. Noch vom Auto aus versuchte er seine Tochter zu erreichen. Vergebens. Nach der rasenden Fahrt zurück in die Stadt fühlte er sich wieder nüchtern. Gleichzeitig spürte er eine ungewohnte Gleichgültigkeit. Er war geil und versuchte über die Rezeptionistin des Hotels Nummern von Callgirls aufzutreiben. Es war ihm egal, was sie von ihm dachte. Als er nach einer Stunde noch immer in den Warteschleifen hing, legte er auf. Er wählte die Nummer der Rezeption. Die junge Dame versuchte sich professionell zu geben.

»Haben Sie noch andere Nummern?«

»Tut mir leid, Herr Franke, ich habe Ihnen alle gegeben.«

Pause.

»Wie lange haben Sie Dienst?«

»Bis acht Uhr, Herr Franke.«

»Könnten Sie sich vorstellen, um einen Betrag Ihrer Wahl danach mein Zimmer aufzusuchen?«

Pause.

»Wenn ich Sie richtig verstehe, dann …«

»1000 Euro.«

»Nein, wirklich …«

»2000 Euro.«

»Herr Franke, ich muss jetzt wirklich auflegen.«

»3000 Euro.«

Besetztzeichen.

Die Rezeptionistin atmete tief durch und hoffte, diese prekäre Angelegenheit im Sinne der Firmenphilosophie gelöst zu haben. Franke nahm seinen Schwanz in die Hand und begann, daran zu werken.

Als die Putzfrau das Zimmer betrat, hielt er sein Glied noch immer in der Hand. Sein Schlaf war tief und laut. Peinlich berührt verließ die junge Dame das Zimmer. Als Franke aufwachte, hatten es bereits alle gelesen. Die Rezeptionistin, die Putzfrau, der Manager, die Ehefrau, die Tochter, seine Geliebte, der Programmdirektor, der Sender, das Land. »Die Kokainexzesse des Conny Franke – exklusiv!« Färber hatte sich alle Mühe gegeben, die Scheidungsanwälte seiner Frau Schachmatt zu setzen und das Arschloch Conny Franke in die Hölle zu schicken. Als dieser gegen zwölf Uhr im Hotel Mirage mit dem Schwanz in der Hand aufwachte, ahnte er von all dem nichts.

 

Seine Haut fühlte sich speckig und geborgt an. Noch nie hatte er sich so sehr gewünscht, jemand anderer zu sein. Er duschte sich. Meistens half das, den seelischen Schmutz des Vorabends abzuwaschen. Er schlüpfte in die Kleidung von gestern, was den Effekt völlig zunichte machte. Weder seine Frau noch seine Tochter reagierten auf die Anrufe. Er musste zum Sender. Gott sei den Wichsern gnädig, dass sie auf die gestrige Sendung mit einem Köpferollen reagiert haben. Er lief an der Rezeption vorbei und hoffte, der jungen Dame von gestern nicht über den Weg zu laufen. Gut, er kannte ihr Gesicht ohnehin nicht. Aber sie seines. Das gesamte Personal starrte ihn an. Die wartenden Leute an der Rezeption ebenso. Die Passanten! Eine Kleinfamilie in der Tiefgarage! Eine Hausfrau an der Ampel! Die alte Frau am Gehsteig! Der Senderportier! Die Arschlöcher am Gang! Die Arschlöcher in der Kantine! Das Arschloch von Koch! Die Frau an der Kassa! Die Trafikantin, die ihm die Zeitung verkaufte. Sie durfte Zeugin des Moments werden, als Conny Franke all die Blicke begriff. Er sah sich um. Selbst die Trafikantin wandte sich ab. Er flüchtete in den Aufzug und lief ferngesteuert ans Ende des Ganges, wo Programmdirektion stand.

 

Dieses Mal unterbrach er keine Sitzung. Und der Programmdirektor wirkte unangebracht selbstbewusst. Das Drecksmagazin lag aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch. Franke spielte in fünf Sekunden seine Optionen durch. Und endete bei einem gemeinsamen Bordellbesuch vor drei Jahren. Oder besser: Bei einer unfreiwilligen Begegnung, die seither zusammenschweißte.

»Machen Sie jetzt bloß keinen Fehler«, fing Franke großkalibrig an.

»Sie meinen einen solchen.«

Süffisant hielt ihm der Programmdirektor das Schundblatt vors Gesicht.

»Jeder hat mal einen Ausrutscher. Selbst Sie.«

Das sollte gesessen haben. Der Programmdirektor sah ihm lang in die geschwollenen Augen.

»Wollen Sie mir drohen?«

»Ich appelliere an Ihre Loyalität.«

»Franke, ich bin seit einem Jahr geschieden. Meine Frau hat es von ganz allein herausbekommen. So wie Ihre auch.«

Alles verspielt. Franke erwog weinend zusammenzubrechen. Der Programmdirektor kam ihm zuvor.

»Sie werden verstehen, dass ein solches Verhalten für unseren Sender untragbar ist. Wir bedanken uns für die guten Jahre. Viel Glück.«

Das Telefon läutete. Der Programmdirektor hob ab. Gespräch beendet.

 

Ohne zurückzusehen, ergriff Franke die Flucht. Auf seiner Mobilbox befanden sich bereits jetzt alle Boulevardjournalisten des Landes. Wenn sein Umfeld mitspielte, konnten sie die Geschichte mindestens drei Wochen in den Medien halten. Danach hatten sie ihn so zugerichtet, dass er das Land verlassen musste. Die Scheidungsanwälte seiner Frau waren bereits jetzt in einer unbezwingbaren Lage und würden ihn finanziell ruinieren. Seine Tochter würde bis zu seiner Beerdigung kein Wort mit ihm reden. Seinen Sohn würde er ebenfalls nie wieder sehen. Man würde ihn mit Drogentests und Psychotherapien öffentlich demütigen. Wenn er Pech hatte, würde er im Gefängnis landen. In seiner Panik würde er die halbe Promiszene verpfeifen, was zu einem Abbruch aller sozialen Kontakte führen würde. Es gab keinen Ausweg. Er hatte niemanden. Sein Manager. Seine Ehe. Seine Geliebte. Alles verspielt. Ein paar Stunden. Spätestens dann hatte die kleine Rezeptionistenschlampe von gestern die Information an das Drecksblatt verkauft. Und dass der kleine Stümper von Ex-Freund der Tochter wahrscheinlich dort auch schon angerufen hatte, lag auf der Hand. »Conny Franke am Ende!« Tanja!

 

Er legte die Videokassette ein. Als er die Bilder seiner Jugend sah, überkam ihn eine warme Welle der Sentimentalität. Er hatte das Gefühl, damals noch nicht seine Unschuld verloren zu haben. Auch wenn sie sich ihr Geld mit einem Porno verdienten. Es war das erste und letzte Mal. Und schließlich waren Tanja und er damals ein Paar. Und was für eines. Es war eine unbekümmerte Zeit voller Möglichkeiten und Träume. Es war für noch nichts zu spät. Man hatte sich für nichts entschieden. Außer für ein paar halbherzige Inskriptionen, die den Müßiggang rechtfertigten. Tanja und er planten eine Weltreise. In dem Angebot eines abgehalfterten Regisseurs, der sich auf diversen Partys herumtrieb, erkannte man eine bequeme Möglichkeit der Finanzierung. Doch dieser Dreh hatte etwas bewirkt. Die Beziehung der beiden war nicht mehr die gleiche. Tanja vertiefte sich ernsthaft in ihr Studium. Und Franke zog es zum Fernsehen. Ein Jahr später war von Weltreise keine Rede mehr. Und Conny Franke begann eine Redakteurin des Senders zu bumsen. Kurze Zeit später heiratete er die Frau, der er seine gesamte Karriere verdankte. Auch das würden die Anwälte ins Rennen führen.

Als Franke den Videorekorder ausknipste, sah er im Fernsehen die gleichen Ausschnitte noch mal. Sie waren verdammt schnell. Wahrscheinlich versammelten sie sich schon in der Hotelaula. Es musste einen Ausweg geben. Franke konzentrierte sich. Er dachte an ein offensives Outing. Der Schritt nach vorne.

 

»Herr Franke, was ist passiert?«

»Ich leide an einer unheilbaren Krankheit.«

»Und deshalb koksen Sie.«

»Ich habe vor einer Woche erfahren, dass ich nur noch acht Wochen zu leben habe. Es war ein panischer Affekt. Ich wusste nicht, was ich tat.«

»Acht Wochen. Woran sind Sie erkrankt?«

»Krebs.«

»Wie werden Sie jetzt damit umgehen?«

»Ich fühle mich geläutert. Ich will die letzten acht Wochen nutzen, Gutes zu tun. Ich will den Menschen nützlich sein. Ich will ein Bad in der Menge nehmen. Ich will, dass mich alle lieben.«

»Die Chancen stehen nach dieser Offenbarung nicht schlecht. Es ist eine menschliche Reaktion. Und acht Wochen sind nicht allzu lang. Das hält die Öffentlichkeit durch. Auch wenn es schwerfällt, in Ihrem Fall die Sympathien aufrechtzuerhalten. Wie haben Sie sich vorgestellt, dass Sie damit durchkommen?«

»Ich werden einen Arzt bestechen.«

»Und nach acht Wochen? Es wird sich herausstellen, dass alles nur Betrug war. Man wird Sie noch mehr verachten als jetzt.«

»Aber diese acht Wochen wären die besten meines Lebens.«

»Wären Sie bereit, nach diesen acht Wochen Selbstmord zu begehen?«

Conny Franke überlegte.

»Ich könnte meinen Tod vortäuschen und unauffällig verschwinden.«

»Und so an Ihrer eigenen Beerdigung teilnehmen.«

»Das funktioniert nicht.«

»Nein, das funktioniert nicht.«

 

Das Telefon läutete. Franke hob ab. Es war der Manager des Hauses.

»Herr Franke, es ist mir sehr unangenehm. Aber wir müssen Sie leider bitten, unser Haus zu verlassen.«

»Was? Warum?«

»Ich glaube, dass Ihnen die Umstände bekannt sind. Wir sind ein renommiertes Haus und können unseren guten Ruf keinesfalls aufs Spiel setzen. Außerdem entspricht es unserer Firmenpolitik, menschlich hinter unseren Mitarbeitern zu stehen, und entschuldigen Sie mich, aber Ihr Verhalten gestern Nacht war inakzeptabel. Selbstverständlich übernehmen wir Ihre Rechnung, würden Sie aber bitten, das Zimmer innerhalb einer Stunde zu räumen.«

Die kleine Schlampe hatte ihn nicht verraten. Sie hatte ihn, Conny Franke, aus dem Mirage katapultiert. Wohin? Seinen Eltern konnte er unmöglich in die Augen sehen. Erst jetzt im Liegen merkte er das Schwindelgefühl, das am Rande der Bewusstlosigkeit balancierte. Er schloss die Augen. Sendeausfall. Wir bedauern.

 

Fünf Minuten später notierte er Tanjas Adresse auf den Notizblock des Hotels. Die zwei Stunden Autofahrt waren wie ein kurzer Befreiungsschlag. Auch wenn er wusste, dass sie ihn im ganzen Land suchten.

 

Er hatte sie seit damals nicht gesehen. Aber seine jahrelange Fantasie, sie doziere an einer angesehenen internationalen Universität Vergleichende Literaturwissenschaft, sollte nicht der Realität entsprechen. Der marode Vorort im Osten war von universitären Eliteprojekten so weit entfernt wie Franke vom beliebtesten Moderator des Jahres. Relativ schnell fand er die Adresse. Glücklicherweise ohne sich durchzufragen. Seine Anwesenheit konnte größere Wellen schlagen. Der Motor des Wagens starb ab. Und mit ihm auch das Bild, das er von dieser Begegnung vor sich hatte. Was sollte er hier? Nach all den Jahren. Wohin sollte er sonst? Rauschen.

 

Er machte kurzen Prozess. Ohne sich umzusehen, stieg er aus dem blickdichten BMW. An der Tür ihr alter Name. Verheiratet? Geschieden? Fixer Lebenspartner? Er läutete. Ohne nachzufragen wurde geöffnet. Zögerlich betrat er das kalte Treppenhaus. Stock für Stock suchte er nach einer geöffneten Tür. Außer Atem stand er kurze Zeit später vor ihr.

»Conny Franke. Durch dich werde ich doch noch berühmt.«

Sie sagte dies völlig neutral und abwartend. Sie hatte sich kaum verändert. Aber wer hatte das schon auf den ersten Blick?

 

Natürlich kannte sie Conny Franke gut genug, um seine plötzlich eintretende Sentimentalität richtig einschätzen zu können. Aber sie war eine einsame Frau, die seit Jahren zurückgezogen lebte. Daher schätzte sie seine Anwesenheit. Es passierte ihr selten, dass sie in eine derart aufwühlende Geschichte hineingezogen wurde. Auch wenn die Filmausschnitte im Fernsehen ihrer selbst gewählten Zurückgezogenheit schadeten. Die Einwohner sprachen hinter ihrem Rücken darüber. Ihr Job als Volksschullehrerin brachte nicht viel ein und stand voraussichtlich ab nächster Woche zur Disposition.

»Dann machst du halt etwas anderes. Ist doch egal.«

»So wie bei dir.«

»Sehr witzig.«

 

Tanja kochte. Sie tranken Wein. Redeten über die ganze Fickingergeschichte. Über das Kokain. Über Frankes Ehe. Über Frankes Karriere. Über Frankes Pläne. Über Frankes Träume. Über Franke. Und über Franke. Aber auch über Frankes alte Zeiten mit ihr. Franke wurde sentimental. Denn Franke war schon wieder sturzbesoffen. Und als Franke sie küsste, gab sie nach. Er flüsterte auf sie ein. Dass sie es noch einmal probieren könnten. Dass er ständig an sie denken musste. Dass ihm gerade klar wurde, dass er sie noch immer liebte. Franke küsste ihr Ohr, streichelte ihr Haar, roch an ihrem Nacken. Er beschwor all ihre mütterlichen Gefühle. Machte ihr einen Heiratsantrag. Öffnete ihre Bluse. Brach weinend zusammen. Verkroch sich in ihren Armen. Flehte sie an. »Franke. Franke. Franke«, sagte Tanja, bevor sie ihn ins Schlafzimmer zog und er sich erleichtert fallen ließ.

 

Langsam zog sie ihre Bluse aus. Die Brustwarzen richteten sich wie zwei Tentakel auf ihn. Tanja hatte die Brüste einer jungen Frau. Sie öffnete ihr Haar, das leichtfertig über ihren Nacken fiel. Langsam zog sie den langen Rock über ihre Hüfte. Er glitt geschmeidig über ihren Schenkel, über ihr Knie bis zur Ferse.

Ohne den ernsten Blick von Franke zu wenden, nahm sie die Prothese ab und legte sie sorgfältig neben das Bett. Sie stand vor ihm auf einem Bein. Franke starrte sie an. Sagte kein Wort und fing sie auf, als sie sich fallen ließ. Er küsste sie am ganzen Körper. Streichelte vorsichtig den Beinstumpf, als handelte es sich um eine offene Wunde. Das kurze Bein hob sich zitternd. Spreizte sich. Ihre Hand zog Franke zu sich und er drang ein. Während das linke Bein seine kreisenden Bewegungen umklammerte, zuckte das rechte orientierungslos in der Luft. Es endete kurz vor dem Knie. Als der betrunkene Franke schreiend kam, versuchte er sich am zuckenden Beinstumpf festzuhalten, doch er rutschte jedes Mal ab. Es fühlte sich an, als wäre bei rasender Geschwindigkeit die Beifahrertür offen.