Baltische Begegnungen - Inka Schwand - E-Book

Baltische Begegnungen E-Book

Inka Schwand

4,7

Beschreibung

Im Baltikum findet man, was es im Westen so nicht mehr gibt: weiße Nächte, weiße Strände, weite Landschaften. Und ein reichhaltiges Erbe der Geschichte - mit Ordensburgen, mittelalterlichen Städten, mondänen Seebädern und moderner Architektur. Uwe Rada und Inka Schwand haben sich aufgemacht, Estland, Lettland und Litauen mit frischem Blick zu erkunden. Ihre Reportagen in Text und Bild führen nicht nur in die großen Städte und an die herrliche Ostseeküste, das baltische Meer, sondern auch dorthin, wohin sich kaum ein Tourist verirrt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 185

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
13
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Uwe Rada • Inka Schwand

Baltische Begegnungen

Unterwegs in Estland, Lettland und Litauen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2012

© der Originalausgabe:edition q im be.bra verlag GmbHBerlin-Brandenburg, 2008KulturBrauerei Haus 2Schönhauser Allee 37, 10435 [email protected]: Ingrid Kirschey-Feix, BerlinISBN 978-3-8393-2104-1 (epub)ISBN 978-3-8393-2105-8 (pdf)ISBN 978-3-86124-620-6 (print)

www.bebraverlag.de

INHALT

AUF IN DEN NORDEN

Mit der »FS Urd« nach Lettland

WIEDERENTDECKUNG DES WELTERBES

Jugendstil und Holzhäuser in Riga

ERINNERUNG UND IDENTITÄT

Die baltischen Staaten und die russische Minderheit

OSTSEEKÜSTE AUF ZWEI RÄDERN

Mit dem Fahrrad von Riga nach Tallinn

KOMMUNIST UND KOSMOPOLIT

Koguva und sein Dichterdenkmal

DER KURORT DER ZAREN

Haapsalu zwischen Russland und Afrika

TIGERSPRUNG NACH TALLSINKI

Die Boomregion der Ostsee

UNTER TAGE IN KOHTLA NOMME

Estland setzt weiter auf Ölschiefer

GRENZBURG

In Narva ist der Kalte Krieg noch nicht zu Ende

DIE EMAJOGI-ROUTE

Von Tartu zum Peipussee

JERUSALEM DES NORDENS

In Vilnius spricht man wieder Jiddisch

POLEN IN LITAUEN

Mit einer Reisegruppe in der alten Hauptstadt Trakai

LENINS WELT

Am Grutas Park scheiden sich die Geister

ZWISCHENKRIEGSHAUPTSTADT

Kaunas ist eine Stadt der Moderne

SARMATISCHE LANDSCHAFTEN

Bilder von der Kurischen Nehrung

AN DER MEMEL

Eine Flusslandschaft wartet auf ihre Entdeckung

IN DEN SÜDEN

Mit dem Zug von Litauen nach Berlin

ZU DEN AUTOREN

AUF IN DEN NORDEN

Mit der »FS Urd« nach Lettland

Das Baltikum beginnt in Rostock. Überseehafen. Am Skandinavienkai 15. Spätestens zwei Stunden vor Abfahrt der »FS Urd« müssen wir eingecheckt haben. Ein Glück, dass wir mehr Zeit mitgebracht haben. Der Weg zum Skandinavienkai – warum eigentlich Skandinavien? – ist nicht leicht zu finden. Vom S-Bahnhof Rostock Seehafen-Nord radeln wir über menschenleeres Industriegelände und verlassene LKW-Rampen zum Ro-Ro-Terminal, an dem Containerzüge auf Schiffe verladen werden. Dort führt ein Abzweig zum PKW-Terminal, an dem die »Urd« wartet.

Vor uns liegt ein wenig imposantes Fracht- und Passagierschiff, auf dem wir sechsundzwanzig Stunden zu Hause sein werden. Nach dem Umbau, hat uns ein Werbeprospekt der deutsch-dänischen Reederei Scandlines beim Kauf der Schiffspassage versprochen, verfügt die 1981 vom Stapel gelaufene »Urd« über eine Frachtkapazität von tausendsechshundert Lademetern sowie vierundvierzig Kabinen mit Platz für bis zu hundertachtzehn Passagieren und LKW-Fahrern sowie vierunddreißig Pullmannsitze. Während der Überfahrt stünden den Reisenden darüber hinaus ein Restaurant, eine Bar und ein Duty-Free-Shop zur Verfügung. Und das alles auf hunderteinundsiebzig Metern Länge und zwanzig Metern Breite. Luxusdampfer, raunen wir uns zu, sehen anders aus.

Richtige Fährhäfen wohl auch. Von dort stechen die Passagiere auf schwimmenden Fünf-Sterne-Hotels in die See – moderne Kreuzfahrer, die Kurs nehmen auf New York oder Venedig. Rostock-Überseehafen dagegen ist ein Regionalhafen, der vor allem von LKW genutzt wird. Auch vor der »Urd« steht eine Brummischlange. Die Fahrer schenken uns keine Beachtung. Wir sind die einzigen Radfahrer.

Am Skandinavienkai angekommen, klärt sich auch die Frage nach dem Namen: Gedser in Dänemark, Trelleborg in Schweden, Helsinki in Finnland, das sind die skandinavischen Häfen, die die deutsch-dänische Reederei Scandlines mehrmals täglich ansteuert. Nach Ventspils in Lettland fahren nur drei Schiffe die Woche. So wird das Baltikum, das für uns an diesem Abend in Rostock beginnt, zum Symbol der neuen Geografie Europas. Nahe gerückt sei das Europa jenseits des Eisernen Vorhangs, heißt es immer wieder. Aber offenbar nicht nahe genug. Sonst würde man Lettland nicht einfach Skandinavien zuschlagen.

Baltikum also. Weiße Strände, helle Nächte, eine Region, die dem Baltischen Meer, wie die Ostsee dort heißt, den Namen gab – oder umgekehrt. Man weiß nicht allzu viel über das Baltikum hierzulande. Über die jungen Republiken Estland, Lettland und Litauen, die sich erst 1991 wieder ihre Unabhängigkeit erkämpften; über die Zeit der sowjetischen Besatzung, die dem Hitler-Stalin-Pakt und der Einverleibung in die Sowjetunion gefolgt war; über die erste Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten nach dem Zerfall des Russischen Zarenreiches, zu dem Estland und Lettland seit dem 18. Jahrhundert gehört hatten; über die Schwedenzeit in beiden Ländern, die noch heute vielen Esten und Letten als goldene Zeit gilt; über die litauisch-polnische Adelsrepublik, die bis zu den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert eine europäische Großmacht war und von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte; schließlich über die Burgen des deutschen Ritterordens, denen die Niederlassungen der deutschen Kaufleute und der Hanse folgten. »Liebes, friedliches (…) stilles, stilles Baltikum«, schrieb der russische Autor Anatoli Pristawkin, der 1991 auf den Barrikaden von Riga die Unabhängigkeit Lettlands gegen sowjetische Panzer verteidigte. Doch so lieb, friedlich und still ist es dort erst seit Kurzem. Und immer wieder rumort es, wie zum Beispiel die Zusammenstöße von jungen Esten russischer Herkunft mit den Sicherheitskräften während der Umsetzung eines sowjetischen Kriegerdenkmals im April 2007 in Tallinn zeigten. Wir sind neugierig, nicht nur auf die weißen Strände und die hellen Nächte im Sommer.

Langsam zittert die »Urd« aus dem Rostocker Hafen. Links von uns ziehen die Fischerhäuser am Warneufer, der Leuchtturm in Warnemünde und der »Teepott« vorbei, ein Ausflugslokal im Stil der sozialistischen Avantgarde. Was wird uns in Lettland, Estland und Litauen erwarten? Eine westliche Region im Osten oder eine östliche im Westen? Kulturmetropolen wie die Jugendstilstadt Riga, das mittelalterliche Tallin oder das magisch-barocke Vilnius, die nach den vielen Jahren der Gleichmacherei zu neuem Leben erwacht sind? Oder auch gesichtslose Trabantenstädte und entlegene Landschaften, in die sich kein Tourist verirrt? »Liebes, friedliches, stilles Baltikum«?

Wir wissen es nicht. Sicher ist nur, dass Fischerhäuschen, Leuchtturm und »Teepott« für viele Stunden die letzten Dinge sind, die wir an Land sehen. Erst in der darauf folgenden Nacht werden wir Ventspils, den kleinen Hafen im lettischen Kurzeme/Kurland anlaufen. Bis dahin sind wir umgeben von Touristen, die mit dem Auto nach Lettland tuckern, LKW-Fahrern, die es sich in ihren Pullmannsesseln bequem machen, und von der Ostsee.

Ostsee? Warum eigentlich Ostsee? Warum machen wir uns die germanische Bezeichnung für das kleine Meer im Norden Europas zu Eigen, obwohl es außerhalb des deutschen, dänischen und schwedischen Sprachraums überall Baltisches Meer genannt wird, und in Estland sogar Westsee? Stammt nicht sogar der lateinische Name Mare balticum von einem Deutschen, dem Historiker und Kleriker Adam von Bremen, der im 11. Jahrhundert das sagenhafte Vineta und die es umgebende Ostsee beschrieben hatte? Ostsee, das scheint ganz nach dem Geschmack derer, die wissen, wo die Mitte ist und damit auch der Rand. Das Baltische Meer dagegen schafft sich seine eigene Mitte. Auch wenn während des Kalten Krieges der Eiserne Vorhang mitten durch die Ostsee ging: Seit dem Fall der Mauer in Berlin und der Unabhängigkeit von Estland, Lettland und Litauen ist das Baltische Meer ein Mare Nostrum der Nord- und Mitteleuropäer. Und so wie das Mittelmeer als römisches Mare Nostrum einst ganz eigene Handels- und Wegenetze hervorbrachte, bringt auch das Baltische Meer im 21. Jahrhundert eigene Gravitationszentren hervor. Von seiner imaginären Mitte aus betrachtet, ist es nach Stockholm genauso weit wie nach Riga oder Rostock. Selbst der Mittelpunkt Europas soll, neuesten Berechnungen zufolge, in Litauen liegen. Ostsee? Von wegen Ostsee.

Unstrittig ist dagegen, dass es sich beim Baltischen Meer um ein junges Meer handelt. Im Grunde ist die Ostsee ein Schmelzwassersee, den die Gletscher zum Ende der Weichseleiszeit vor dreizehntausend Jahren auf ihrem Weg nach Norden zurückgelassen haben. Über tausend Meter dick war die Gletscherschicht, die auf die Skandinavische Platte drückte und das Harz der Kiefern, die es dort vor der Eiszeit gab, in Bernstein verwandelte. Als das Eis wieder weg war, hob sich die Platte und schenkte der Ostsee die Ostseeinseln. Wie aktiv die tektonischen Bewegungen in diesem jüngsten Teil Europas noch sind, zeigt sich an der estnischen Küste. Vor fünfzig Jahren gab es dort achthundert Inseln, heute sind es über eintausendfünfhundert.

»Eiszeit«, verrät uns ein LKW-Fahrer beim Abendbrot auf der »Urd«, »herrscht noch heute auf der Ostsee, manchmal sogar schon im Dezember«. Dann beginnt die Eisbildung im Bottnischen Meerbusen, erzählt er, später kommen der Finnische Meerbusen und die Buchten von Riga und Danzig dazu. Wir schauen nach draußen und sind ein bisschen froh. Die »Urd« muss sich auf ihrem Weg vom Skandinavienkai in Rostock nach Ventspils keinen Weg durchs Eis bahnen. Im Sommer ist die Ostsee kein Meer des Nordens, sondern des Südens. Zwar gibt es keine Palmen wie am Mittelmeer, dafür aber – vor allem an der Küste – Strandwetter pur. Kein Wunder, dass sich Thomas Mann auf der Kurischen Nehrung ein Sommerhaus bauen ließ. Jurmala, das fünfundzwanzig Kilometer lange Strandbad vor den Toren Rigas, war sogar schon im 19. Jahrhundert ein beliebtes Ziel der Sommerfrischler. Wer die baltische Küste dagegen in Tallinn verlässt und mit der Fähre ins sechzig Kilometer entfernte Helsinki übersetzt, hat auch den Süden verlassen. Selbst im Hochsommer misst das Wasser an den Seebädern Südfinnlands nicht mehr als fünfzehn Grad. »Kann sich bald ändern«, wirft uns der LKW-Fahrer ein viel sagendes Grinsen zu. »In Zukunft wird sich die Ostsee erwärmen wie noch nie in ihrer Geschichte.« Was wird dann mit dem Packeis?, wollen wir wissen. Er lässt die Frage offen und steht auf.

Am nächsten Morgen haben es sich die LKW-Fahrer gemütlich gemacht. Nur mit Badehose bekleidet, liegen sie auf dem Vorderdeck der »Urd« und zeigen der Sonne, dass auch Männer bauchfrei können. Einige Touristen sitzen im Schatten und lesen. Ein weiterer Radfahrer ist aufgetaucht. Er hat Frank Schätzings Meeresthriller »Der Schwarm« vor sich samt einer Nagelschere. »Wenn ich ein Kapitel gelesen habe«, erklärt er stolz, »schneide ich die Seiten aus dem Buch.« Dass er aufs Gewicht achten muss, nehmen wir ihm sofort ab, schließlich hat er bis zum Nordkap noch einen weiten Weg vor sich.

Wir sind vorerst auf Ventspils gespannt, den einzigen eisfreien Hafen Lettlands, den wir am Abend nach sechsundzwanzig Stunden Fahrt erreichen werden. Und auf Kurland, dieses von Menschen fast unberührte Fleckchen Erde rund um das Kap Kolka, das Kurt Tucholsky einmal seine »heimliche Liebe« nannte. »Es ist fast, als sei Deutschland eine Skizze, und Kurland, das sei erst das fertig gestellte Werk«, schrieb Tucholsky 1919 in einem Feuilleton für die Weltbühne über die Landschaft und die untergegangene Welt des baltischen Adels. »So blau der Himmel und grün die großen Wälder und klar die Luft – weit wellt sich das Land, Städte siehst du auf Meilen und Meilen nicht, nur hier und da Gehöfte, kaum Dörfer, und dann und wann eines dieser herrlich einfachen, vornehmen, versonnenen kleinen Schlösser. Das ist Kurland.«

Von grünen Wäldern und menschenleeren Landschaften keine Spur als wir um zweiundzwanzig Uhr in Ventspils ankommen. Stattdessen Hafenanlagen, Öltanks, schrottreife Tanker. Als Lettland nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion gefallen war, wurde das ehemalige Windau – im 13. Jahrhundert vom Orden der Schwertbrüder gegründet – in Windeseile zum Ölhafen ausgebaut.

Das Öl, haben wir aus unserer Reiselektüre erfahren, fließt noch heute, genauso wie die Lats, die einheimische Währung, in die Hände derer, die das Sagen haben in Ventspils. Zum Beispiel an den Bürgermeister der Stadt, Aivars Lembergs. Der hat Ventspils nicht nur gepflasterte Straßen und eine renovierte Altstadt hinterlassen, sondern auch einen Ruf im ganzen Land: Ventspils, das ist in Lettland ein Symbol für Korruption und alte wie neue Seilschaften. Mit Russland kann man zwar keinen Staat mehr machen, Geschäfte dagegen schon. In Ventspils rollt der Rubel noch immer, Kurt Tucholsky würde sich verwundert die Augen reiben.

Wir wundern uns über das Hotel, das wir noch in Berlin gebucht hatten. Das »Dzintarjura« ist nicht postsowjetisch, es ist sowjetisch geblieben. Neuzeitlich sind lediglich die Preise – sechzig Euro für ein Doppelzimmer, inklusive Sauna und Pool, auch wenn beides nicht in Betrieb ist. Das Restaurant lässt ebenfalls wenig vom Aufbruch nach Europa spüren, dabei heißt Dzintarjura Bernstein, das Gold des Baltikums. Eher verleihen die Sprelacart-Tische dem riesigen Raum die matte Eleganz einer Bahnhofshalle.

Dennoch ist der erste Abend im Kurland ein herrlicher Auftakt für diese Baltikum-Reise. Der Sonnenuntergang am Strand, die sanfte Brise, die uns der auflandige Wind zur Begrüßung schickt, die Flasche Rotwein aus dem Rucksack, der Nachklang der Schiffsreise über das Baltische Meer verscheuchen die Gedanken an Öltanker, Mafia und Sowjetkasten.

Was wir an diesem Abend noch nicht ahnten. Kurt Tucholsky sollte Recht behalten. Eine Woche später wissen wir, wie einsam es im Kurland werden kann. Wir sind mit dem Fahrrad die Küste hinauf nach Kolka gefahren, haben in Mikelbaka einen außerordentlichen Campingplatz mit einem außerordentlichen Campingplatzbesitzer entdeckt, haben in den Wäldern Autan versprüht, bis wir ebenso torkelten wie die Mücken, sind in Talsi bei einer wahrhaften Dame untergekommen, die im Sommerkleid und mit Strohhut über ihr Anwesen schritt, bis wir schließlich in Plienciems wieder auf die Küste gestoßen sind, samt einem Holzbungalow für ein paar Lats Miete und einsamen Strand gleich dazu.

Ja, es stimmt. In Kurzeme ist der Himmel immer noch so blau und die großen Wälder immer noch so grün und die Luft immer noch so klar wie in Kurland. Dass das so ist, ist auch das Werk der Sowjetunion. Die hat, erzählte uns Aizvert, der Aussteiger, der in Mikelbaka den außerordentlichen Campingplatz betreibt, ganz Kurland zur militärischen Sperrzone erklärt. Das war, meinte Aizvert, schlecht für die Fischer, die nach und nach aus ihren Dörfern vertrieben wurden, aber gut für die Natur.

Nun, da wir Kurland hinter uns haben und schon kurz vor Jurmala und Riga sind, ist es schwer vorstellbar, dass Rostock erst eine Woche zurück liegt. Ist das wirklich dieselbe See? Die, in die wir am Überseehafen, Skandinavienkai 15, gestochen sind, und die, die sich hier vor uns in Plienciems, vor kaltem Bier, Brot und Käse ausbreitet und dabei ganz zart ihre Wellen an den Strand haucht? Sind wir tatsächlich an unserem Mare Nostrum, das wir auch von Rostock, Usedom und Danzig kennen? Oder ist Kurland eine Ausnahme? Nicht nur ein »baltisches Bild«, wie es Tucholsky gezeichnet hat, sondern ein »Winkel der Welt für unbemerkte Sterbestunden«, wie Rainer Maria Rilke meinte? Eine vergessene Erinnerungslandschaft, in der der wiederentdeckte Eduard von Keyserling in seinen Erzählungen und Romanen den deutschbaltischen Adel in Würde sterben ließ?

Werden wir in Jurmala und Riga, in Narva und Tallinn, an der Daugava und auf dem Nemunas, im Lenin-Park in Grutas und in Vilnius, in Klaipeda und auf den estnischen Inseln ein anderes Baltikum finden? Weniger still und friedlich als das im Kurland?

Vorerst hat uns die Lektüre von Tucholsky gezeigt: Ein Jahrhundert mag für die Geschichte kurz sein. An einer Landschaft kann es spurlos vorbeigehen.

WIEDERENTDECKUNG DES WELTERBES

Jugendstil und Holzhäuser in Riga

Rigas faszinierendste Straße ist nicht auf jedem Stadtplan zu finden. Die Alberta-Straße liegt abseits der touristisch aufgehübschten Altstadt, die neuerdings nicht nur von Städtetouristen und Kulturreisenden bevölkert wird, sondern auch von britischen Junggesellen, die im Billigbierland Lettland dem Gang zum Traualtar entkommen wollen. Auch gehört sie nicht zu den großen Boulevards, die die Stadtväter rund um die Altstadt angelegt haben, nachdem ab 1856 die nutzlos gewordene Stadtmauer geschleift wurde. Vielmehr versteckt sich die Alberta-Straße im Norden der Rigaer Neustadt zwischen der Strelnieku und der Antonijas-Straße – knapp zwanzig Häuser, keine Seitenstraße, nicht einmal ein Café. Und doch hat es die Straße in sich, was jeder spürt, der in die Alberta einbiegt. Der Blick bleibt hängen, schweift, wandert, verliert sich, sucht nach Vergleichen und findet doch nur Einzigartiges. Als geschlossenes Jugendstilensemble ist die Straße nicht nur der unumstrittene Höhepunkt jedes Riga-Besuchs. Sie sucht auch in Europa mit seinen Jugendstilmetropolen, Wien, München, Paris und Brüssel ihresgleichen.

Einer, der den Jugendstil in Riga kennt wie kein anderer, ist der Architekturhistoriker Janis Krastins. »Musik in Stein«, nennt er die Jugendstilbauten in der Alberta-Straße und den umliegenden Straßen der Rigaer Neustadt. »Dekorative Reliefs, plastische Details, Kombinationen von verschiedenen Materialien, Farben, Fresken«, schwärmt Krastins, »sind beim Jugendstil in künstlerischer Synthese angewendet.« Der Professor an der Technischen Universität Riga ist überzeugt: »Es war gerade das, wonach der Jugendstil strebte – Schönheit für jeden und an jedem Ort zu schaffen.«

Was die Alberta-Straße für Janis Krastins so faszinierend macht, ist, dass man in der kurzen Straße die verschiedenen Stadien des Rigaer Jugendstils studieren kann. Zum Beispiel den »dekorativen Jugendstil«, für den der Architekt Michail Eisenstein, Vater des legendären russischen Filmemachers Sergej Eisenstein (»Panzerkreuzer Potemkin«), steht. Oder den Stil der »nationalen Romantik«, in dem Architekten wie Konstantins Peksens und Eizens Laube gebaut haben. »Der Aufschwung der nationalen Romantik begann nach den blutigen Ereignissen während der Revolution von 1905«, erklärt Jugendstilexperte Krastins. »Zu dieser Zeit mussten die Gedanken, die nicht direkt und offen geäußert werden konnten, durch andere Mittel, Symbole und Gestalten zum Ausdruck gebracht werden.« Vor allem lettische Architekten suchten in der westlichsten Stadt des Russischen Reiches nun Zuflucht in lettischen Traditionen und regionaler Baukultur. Heute aber ist es gerade diese Vielfalt, die die Alberta-Straße zur Pilgerstätte für Architektur- und Kulturtouristen aus aller Welt macht.

Wie aber ist es überhaupt dazu gekommen, dass das achthunderttausend Einwohner zählende Riga zur europäischen Jugendstilmetropole wurde? Und was unterscheidet die größte Stadt des Baltikums von Wien, München, Paris und Brüssel? Der Jugendstil, das zeigen allein schon die Begriffe, die in der europäischen Kunstgeschichte kursieren, hat viele Gesichter. Der Art Nouveau in Frankreich bescherte Paris nicht nur neue Motive in Design und Möbelkunst, sondern auch die unvergleichlich geschwungenen Eingänge, die der Architekt Hector Guimard den Pariser Metrostationen verpasst hat. Auch Brüssel brachte der Aufbruch von Künstlern und Architekten nach dem Fin de Siècle neuen Schwung, wie der Bau des Jugendstilstadtteils Saint Gilles beweist. Dass die neue Epoche gleichsam eine Zäsur war, zeigte sich am Begriff, den man für Jugendstil und Art Nouveau in Wien und in der Habsburger Monarchie gebrauchte – Sezession. Die Abwendung vom bisherigen sollte die Kunstgeschichte programmatisch in ein »Vorher« und »Nachher« teilen. Vorher war der Eklektizismus mit seinen Neostilen des Historismus – Neogotik, Neorenaissance, Neobarock, Neoklassizismus – in der Architektur beherrschend. Nachher, das war die Zukunft, nicht mehr streng und symmetrisch, sondern ungezwungen und verspielt.

In Riga fiel diese architektonische Zäsur zusammen mit einem bis dahin nicht gekannten Wachstum der Stadt. Zwischen 1900 und 1914, der goldenen Epoche des Jugendstils in Europa, war aus der Stadt an der Daugava auch eine rasant wachsende Wirtschaftsmetropole geworden. Zählte Riga zur Jahrhundertwende noch dreihunderttausend Einwohner, war es am Vorabend des Ersten Weltkriegs bereits eine halbe Million. Riga wurde die fünftgrößte Stadt Russlands und sein nahe gelegenes Seebad Jurmala ein beliebtes Ziel für russische, lettische und deutsche Sommerfrischler.

Doch das Wachstum alleine hat Riga noch nicht zur Metropole des Jugendstils gemacht. Auch Berlin hat zwischen 1900 und 1920 seine Bevölkerungszahl von 1,8 auf 3,2 Millionen fast verdoppelt. Das Einzigartige an Riga ist, dass es seine Bevölkerungsexplosion nicht wie in Berlin durch den Bau gesichtsloser Mietskasernen bewältigte. Vielmehr waren sich Bauherren und Architekten einig, mit dem Aufschwung im Rücken auch neue Ausdrucksformen in der Architektur von Wohn- und Geschäftshäusern zu finden. Entscheidend dafür, sagt Janis Krastins, war die Jubiläumsausstellung für Industrie und Gewerbe anlässlich des 700-jährigen Bestehens von Riga im Sommer 1901. Tausende pilgerten in die Ausstellungshallen und staunten über den neuen Kunststil. Nach Paris mit seiner Weltausstellung 1900 war auch Riga vom Jugendstilfieber erfasst.

Das Ergebnis ist in Europa ohne Vergleich. Schon 1904 befand der lettische Kunstkritiker Janis Asars, dass jeder, der durch die Rigaer Straßen geht, die großen Veränderungen nicht übersehen kann, die in den letzten Jahren stattgefunden haben. Von 1904 bis 1914 sollte in keinem anderen Stil mehr gebaut werden als im Stil des Art Nouveau. So kommt es, dass mehr als achthundert Häuser, das ist ein Drittel des Bestandes in der Neustadt, den verschiedenen Epochen des Rigaer Jugendstils angehören. Die »Musik in Stein«, wie Janis Krastins den Jugendstil nennt, ist in Riga zu einer Partitur geworden. Ein vielstimmiges Konzert der Ornamente und Plastiken, von denen viele, wie die beiden traurigen Frauengesichter auf dem Giebel der Elisabeth-Straße 10b, zu den am meisten fotografierten Motiven Rigas gehören.

Gleich um die Ecke der Alberta-Straße sind wir im Café »Al Cappuccino« mit Ilze Martinsone verabredet. Die Mittvierzigerin ist Direktorin des lettischen Architekturmuseums und als Kunsthistorikerin eine ausgewiesene Kennerin des architektonischen und kulturellen Erbes ihrer Stadt. Schließlich steht Riga seit 1997 auf der UNESCO-Weltkulturerbeliste. Anders als Janis Krastins blickt Martinsone aber auch mit Sorge auf den Zustand der Baudenkmale in Riga. Das gilt weniger für die Jugendstilbauten in der Neustadt als für das andere architektonische Erbe der Stadt, weswegen die UNESCO Riga ausgezeichnet hatte.

»Riga ist die Stadt mit den meisten Holzhäusern im Baltikum«, sagt sie. »Über zweitausend von ihnen findet man hier, mitten in der Stadt.« Im Gegensatz zu den meisten Jugendstilbauten, ärgert sich Martinsone, sei der Zustand der Holzhäuser miserabel. »Viele Eigentümer wissen nicht einmal, welche Schätze sie ihr Eigen nennen. Schauen Sie es sich an, am besten in der Kalnciema-Straße. Das müssen Sie gesehen haben.«

Der Weg in die Kalnciema-Straße führt uns vom Jugendstil-Riga auf die andere Seite der Daugava, und damit mitten durch die Baugeschichte der Stadt. Der Kronvald-Park zum Beispiel war einst Teil der mittelalterlichen Befestigungsanlage, die die Hansestadt Riga vor feindlichen Belagerern schützen sollte. Als Lettland und Estland nach dem Nordischen Krieg von Schweden an Russland gefallen waren, erließ Zar Peter I. 1710 eine folgenreiche Anordnung. Vor den Toren der befestigten Stadt, also auf dem Gebiet der heutigen Neustadt und am andern Daugava-Ufer, durften nur noch Holzhäuser gebaut werden. Den Grund für diese außergewöhnliche Maßnahme hatte uns Ilze Martinsone beim Cappuccino verraten: »Es war die Erfahrung des Krieges. Vorstädte aus Holz können schnell abgebrannt werden, und die Verteidiger haben freie Schussfläche.«

Heute besteht der ehemalige Befestigungsgürtel aus Parks und Grünanlagen, die sich wie ein Halbkreis um die Innenstadt legen. Aus dem Wassergraben um die Feste wurde ein Stadtkanal, auf dem Tret- und Ruderboote schaukeln. Nur an einer Stelle, an der ehemaligen Bastei, ist die alte Befestigung noch erkennbar – eine Reminiszenz an den Beschluss des Stadtrats, der 1856 den Befehl gegeben hatte, die Wälle zu schleifen. Dem Bau der Neustadt von Riga stand nun nichts mehr im Wege und auch nicht der Jugendstilmetropole, die gleich hinter dem neoklassizistischen Boulevardring beginnt.