Bandscheibengeflüster - Sigrid Lehrke - E-Book

Bandscheibengeflüster E-Book

Sigrid Lehrke

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Beschreibung

"Viele Menschen kennen ihr Auto wie ihre Westentasche und pflegen es auch gut, damit es länger hält und für einen vernünftigen Preis wieder verkauft werden kann. Würde eine Werkstatt den noch funktionierenden Auspuff erneuern wollen, gäbe es Protest. Man würde noch andere Fachleute dazu befragen, sich mehrere Angebote einholen, falls notwendig. Sagt aber ein Arzt, dass eine Operation notwendig ist, erkundigen sich die wenigsten, was es da noch auf dem Markt der Möglichkeiten gibt." Humorvoll und realistisch lebt die Protagonistin vor, wie sie die Volkskrankheit Nummer eins, Rückenschmerzen, für sich und ihre persönliche Ent-Wicklung nutzt. Der kleine stachlige Igel in ihr drin will nicht zerstückelt werden. Trotz Gesundheitsreform und unterschiedlicher schulmedizinischer Meinungen, lässt sich die Autorin einige Weisheiten von ihrer Bandscheibe flüstern und lebt ohne die empfohlene OP ein angenehmes Leben.

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Gewidmet Dr. med. Walther H. Lechler Begründer und ehemaliger Chefarzt der alten "Herrenalb Klinik"

Manchmal lese ich eine Widmung und überlege, was dahinter stecken mag. Vielleicht geht es Ihnen oder dir ähnlich?

Darum schreibe ich einen offenen Brief an Walther Lechler und lasse teilhaben an etwas, was mich erfreut und bewegt.

Lieber Walther,

als wir uns vor langer Zeit vor deiner Klinik in Bad Herrenalb kennen lernten, hast du mir in die Wange gekniffen und gefragt: "Bis du die kleene Berlinerin, die mir den langen Brief geschrieben hat?" Ich war es. Denn ich hatte euer Buch "Von mir aus nennt es Wahnsinn" gelesen. Dieses Buch sprach mir aus der Seele, denn es erzählt von einer Klinik, die anders war als alles was ich kannte. Mündige Patienten, die gleichberechtigte Gäste waren und aktiv an ihrer Gesundung mitarbeiteten.

Ich wollte diese Klinik kennen lernen und darum der Brief. Du hast mir an Ort und Stelle die Möglichkeit geboten, in deiner Therapiegruppe mitzuwirken. "Geh´ ins Büro und besorg dir einen Platz." In meinem Magen erhoben sich Scharen von "Schmetterlingen". Solche Spontaneität gibt es nur selten. Oh Gott, war ich glücklich! In den Sommerferien durfte ich dann mitarbeiten. Das hat mich geprägt!

Später habe ich dich dann noch näher kennen gelernt. Du warst schon in deinem unruhigen Ruhestand und hattest den FÖRDERKREIS FÜR GANZHEITSMEDIZIN in Bad Herrenalb gegründet, um weiterhin für ganzheitliche Medizin einzutreten. Natürlich bin ich Mitglied geworden und gebe meine Gedanken und Erlebnisse, die meine eigene Gesundung an Leib und Seele betreffen, gerne weiter.

Lieber Walther, du hast mich mit deiner unkonventionellen Art erfreut, unterstützt und bewegt. Irgendwann habe ich dich besucht, als du selbst "was am Rücken" hattest. Ich erzählte dir meine Idee von dem symbolischen Bild mit der Klopapierrolle: Innen die Papprolle steht für unseren unverfälschten, von der Schöpfung gegebenen, Wesenskern. Das drumherum gewickelte Papier soll die Fremdinformationen, mit denen wir teilweise "eingewickelt" wurden, symbolisieren. Auf vielen Blättern steht, was angeblich gut oder schlecht, modern oder unmodern, bekömmlich oder unbekömmlich sein soll, was wir zu tun oder zu lassen haben. Und dann wollen wir uns so dringend ent - wickeln, um zu uns selbst zurück zu finden Walther, ich sehe dich gerade ganz lebendig vor mir, deine ausdrucksstarken Augen und die Stimme, die ich so mag: "Dann braucht man aber viel "Scheiße", um möglichst schnell zu sich zu kommen!"

Volltreffer! Das war die Ergänzung, die noch fehlte. Natürlich träumst auch du von "Menschen-kindern", die ohne jede Not, voller Abenteuerlust und Neugierde, in den Seiten ihrer Rolle stöbern und wach für sich und unsere Welt werden.

Doch wenn´s uns gut geht, sind wir verführt an der Oberfläche zu bleiben. Bei Sorgen schauen wir meist tiefer. Du hast unzähligen Menschen geholfen, zu sich zurück zu finden. Deine Herrenalb Klinik hat viele "Ableger" bekommen, wo in deinem Geiste weitergemacht wird.

Lieber Walther, ich möchte aufmerksam auf das machen, was aus meiner Sicht Aufmerksamkeit verdient hat. Darum widme ich dir, der sein Leben in den Dienst einer ganzheitlichen Medizin gestellt hat und unermüdlich ermuntert über gesteckte Grenzen konstruktiv nachzudenken, in Liebe und Dankbarkeit mein Buch BANDSCHEIBENGEFLÜSTER.

Berlin, im Juli 2004

Sigrid Lehrke

Am 22. Dezember 2013 hat Walther Lechler

INHALTSVERZEICHNIS

Schreck am Nachmittag

Stress am Arbeitsplatz

Bandscheibengeflüster

Die Qual der Wahl

Ein entscheidender Unfall

Leben als Abenteuer sehen

Die Entscheidung

Zweifelnde und rettende Gedanken

Es geht weiter

Unterwegs

Die Klinik

Der Speisesaal

Arzttermine

Akupunkturbehandlung

Verdauungszeit

Alltag in der Klinik

Zeit zur Entspannung

Oben und unten in Bad Wunderbar

Nichts muss so bleiben

Alles hat seine Zeit

Neue Zeiten - alte Zeiten

Chancen nutzen

Leben neu beginnen

Ein Rendezvous

Deutsche Küche - Chinesische

Küche Gegenwartsbezogene Planung

Abschied und Neubeginn

Auf eigenen Füssen

Leben neu ausprobieren

Die veränderte Haltung

DER SCHRECK AM NACHMITTAG

"Wann haben Sie Ihren nächsten Arzttermin?" Die Stimme der Röntgenärztin lässt nichts Gutes vermuten. "Warum, ist was?" Meine Mundhöhle wird trocken. Ihr Gesichtsausdruck macht mich nervös. Ich soll bald zu Dr. Stahlmann. Er wird mir alles erklären. Etwas zieht meinen Hals zusammen. Vorhin hatte ich einfach nur Rückenschmerzen. Darum die Computertomografie. Mein Arzt hatte es vorgeschlagen. Er ist Orthopäde. "Können Sie nicht vielleicht…?" Ich fühle mich wie ein bittendes Kind. Sie bleibt neutral. "Nein, das ist nicht meine Aufgabe. Wir schicken die Auswertung an Ihren Arzt. Er kann vorher anrufen. Wie in Trance verlasse ich die Röntgenabteilung des kleinen Krankenhauses, steige in mein Auto, fahre los.

Oh Gott, wenn es Krebs ist! Vorhin sah die Stadt ganz anders aus. Irgendwer hupt neben mir, zeigt mir einen Vogel. Ich könnte heulen. Sofort zu Dr. Stahlmann! Hoffentlich hat er Sprechstunde. Er hat. Die sieben Etagen bis zur Praxis hoch empfinde ich länger als sonst. Der Fahrstuhl fährt im Schneckentempo. Endlich bin ich da. An einem der Empfangsschalter sitzt die Sprechstundenhilfe, die ich als streng empfinde. Der andere Schalter ist leer. Ich versuche der jungen Frau mein Anliegen zu erklären. "Sie wollen einen Termin beim Doktor?!" Sie blickt auf das halbvolle Wartezimmer. "Und das jetzt?!" Schon wieder das Würgen im Hals. Ich erkläre noch mal und beginne zu stottern. Vor lauter Unsicherheit habe ich mich innerlich auf den Stand eines ängstlichen Kleinkindes gebracht. Am zweiten Schalter erscheint die freundliche Arzthelferin, Frau Hermann. Sie mischt sich in unseren Gesprächsversuch ein. Ich erzähle, was geschehen ist.

Sie versteht. Endlich darf ich mich setzen. Sie befragt den Computer, ruft die Röntgenabteilung des Krankenhauses an, fragt nach. Dabei lächelt sie freundlich und beruhigend zu mir herüber. Unendlich dankbar fühle ich mich langsam wieder erwachsener. Ich atme tief und gleichmäßig und kann gleich besser denken. Dann versuche ich mir klar zu machen, in welcher Situation ich mich befinde. Seit ungefähr drei Jahren habe ich ziehende Schmerzen im unteren Rücken. Mal mehr, mal weniger. Folgerichtig bin ich zum Orthopäden gegangen. Dr. Stahlmann gefiel mir. Er ist klassischer Schulmediziner, kann aber auch akupunktieren. Ich bin Kassenpatientin. Akupunktur ist keine Regelleistung, wird nur in bestimmten Fällen von der Krankenkasse bezahlt. Ärzte, die über die gängigen Methoden hinausschauen können, sind mir sympathisch. Anfangs checkte er mich mit seiner merkwürdigen Methode durch. Durch leichtes Kneifen, zum Beispiel an den Augenbrauen, erkannte er energetische Blockaden, die den Fluss meiner Körperenergie behinderten. Er renkte mit kurzen Bewegungen Gelenke und Wirbel ein, brachte Gestautes zum Fließen. Danach ging es mir lange richtig gut. Ich war begeistert. Nun sitze ich hier und mein früh erlerntes Misstrauen aktiviert sich. Gedanken schießen durch meinen Kopf. Wenn Dr. Stahlmann nun etwas verkehrt gemacht hat? Vielleicht haben doch die recht, die klassische Schulmedizin als das einzig wahre empfinden? Verdammt, ich hatte mir vorgenommen, sollte es einmal darauf ankommen, mich nicht ängstlich auf die "nur" Schulmedizin zu verlassen! Mein Name wird aufgerufen. Ich bin erstaunt, so schnell dranzukommen.

Im Ordinationszimmer geht Dr. Stahlmann mit verschränkten Armen auf und ab. Komisch, sonst ist immer eine Helferin dabei, gibt Befunde in den Computer ein. Kurzer Händedruck, er geht weiter auf und ab. "Tja, Sie haben tatsächlich einen Bandscheibenvorfall!" Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich bin froh, keinen Krebs oder Schlimmeres zu haben. "Stellen Sie sich doch mal auf die Zehenspitzen." Ich schlüpfe aus meinen Latschen, gehorche. "Das dürften Sie nicht schmerzfrei können!" Ich bin so begeistert von mir und meiner Merkwürdigkeit, dass ich strahle wie ein Honigkuchenpferd. Dr. Stahlmann ist sichtlich irritiert, rennt noch immer hin und her. "Legen Sie sich auf die Liege, aber vorsichtig!", setzt er hinzu. Er hebt ein Bein nach dem anderen, ist behutsam dabei. "Das hätte ich wirklich nicht gedacht, dass Sie einen Bandscheibenvorfall haben!" Vorausgegangen war ein kleiner Disput zwischen uns. Mir tat es im unteren Rücken mächtig weh. Er hatte mich erneut eingerenkt. Nur kurze Linderung, dann wieder Schmerz. Er gab mir Spritzen in die Region. Zur Entkrampfung. Es wurde nicht besser. Er meckerte freundlich, es habe aber besser zu werden. Ich meckerte zurück: "Ist aber nicht!". Darum die Computertomografie. "Operation muss nicht gleich sein", sagt er. "Operation?", frage ich erstaunt zurück. "Ich kann mich doch bewegen!" Er sieht mich mit Fragezeichen in den Augen an. Ich möchte jetzt ganz genau wissen, was ein Bandscheibenvorfall ist und wo er ist. Dr. Stahlmann wird richtig freundlich und holt eine Wirbelsäule aus Plastik aus dem Schrank. Über dem Steißbein zeigt er auf einen Wirbel. Meine Bandscheibe zwischen Steißbeinwirbel Nummer 1, genannt S1 und dem Ende der Lendenwirbelsäule, Name L5, ist Richtung linke Seite rausgehüpft. Im Stillen nehme ich mir vor, sie wieder reinhüpfen zu lassen und bin ganz beruhigt. "Die krieg' ich schon wieder rein, Operation ist nicht!", teile ich meinem irritiert schauenden Arzt mit. "Geht nicht mehr", kommentiert er. "An einer OP kommen Sie nicht vorbei!" Mir wird wieder flau im Magen. Er erklärt mir, dass der Faserring, der die Bandscheibe umgibt, zerstört sei, und das repariere sich nicht von allein. Wenn die teilweise herausgerutschte Bandscheibe Berührung mit den zum Rücken hin liegenden Nerven bekommt, entstehen in logischer Folge diese irren Schmerzen. Die Bandscheibe hat Wurzelberührung sagt man dazu. Weil ich ganz angespannt zugehört habe, tut mir die Region "Bandscheibenvorfall" richtig doll weh. Innere Anspannung lässt naturgemäß meine Muskeln nicht sehr elastisch sein. Also, wieder gut atmen und loslassen. Ich bin froh, schon vor Jahren meiner Neugierde gefolgt zu sein und jede Menge Kurse in Sachen gesund sein und bleiben gemacht zu haben. Dabei habe ich entdeckt, wie fein und differenziert meine kleinen bis großen Knochen, Muskeln und jede Faser in mir miteinander verwoben sind und wie ich sie durch gezielte Atmung beeinflussen kann. Wir können viel mehr tun, als naturwissenschaftlich orientierte Schulmedizin uns oft glauben machen will.

So atme ich also tief und hoffe auf schmerzlindernde Entspannung. Dr. Stahlmann hat mir inzwischen einen Stuhl hingeschoben und guckt mich sorgenvoll an. "Na, geht es wieder?" Ich bleibe lieber stehen und spüre in mich hinein. Das Atmen hat genutzt, meine Wirbelsäule wirft mir Kusshändchen zu. Ich lächle im Geiste zurück. Dr. Stahlmann schaut auf seine Uhr. Vermutlich freut er sich auf den nächsten ganz normalen Patienten. Er möchte mir eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen. Ich sage, dass ich das gar nicht möchte. Mein Beruf macht mir Freude, und darum bin ich bei meiner Tätigkeit meistens gut entspannt. Etwas erstaunt stimmt er zu. Ich soll jedoch bei jeder Verschlimmerung sofort zu Hause bleiben, die Sache ausliegen. Rückenlage, die Beine im rechten Winkel hochlegen. Er möchte starke Schmerzmittel aufschreiben. Für den Fall der Fälle nehme ich das gerne an. Wir verabschieden uns. Mein Orthopäde sagt sehr deutlich "bis bald!".

Ich fühle mich viel besser, bin froh, dass ich sofort in die Praxis gefahren bin und dass ich mich nicht habe abweisen lassen. Man muss für sich selbst kämpfen können, jeden Tag bringe ich das Menschen bei.

Ich bin Diakonin und unterrichte Religion. Nachdenklich steige ich in mein Auto, merke, dass ich das vorsichtiger tue. Die Diagnose "Bandscheibenvorfall" beeinflusst mich nachhaltig. Auch zu Hause bewege ich mich schonender als früher. Was hat meine Bandscheibe veranlasst, ihren gemütlichen Stammplatz zu verlassen? Direkt über dem Kreuzbein, man sagt auch Sacrum, die heilige Mitte dazu, ist sie rausgehüpft. Ich stelle es mir bildlich vor.

Ein kleines, weiches Etwas hebt mit beiden Pfötchen vorsichtig die Wirbel hoch und lugt hinaus. Irgendwie rührt mich das. ES möchte Aufmerksamkeit von mir. Das kleine Etwas zieht alle Register, um nicht übersehen zu werden. Offensichtlich würde ich es sonst nicht bemerken. Es zwingt mich, meine Aufmerksamkeit auf meine Mitte zu richten. Das stimmt, wenn ich sehr wach für mich bin, für meine Gedanken und Gefühle, nehme ich automatisch die richtige Haltung ein, bei der nichts weh tut. In letzter Zeit habe ich mich wirklich sehr viel um andere und anderes gekümmert, habe mir wenig Zeit für mich selbst genommen.

Dabei rede ich jeden Tag mit meinen Schülern darüber, wie wichtig es ist, bei sich selbst zu sein, sich seiner selbst bewusst zu sein, gleich Selbstbewusstsein. Nur wer mit sich selbst verantwortlich und liebevoll umgehen kann, kann das auch mit andern. "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." So steht es seit Jahrhunderten in der Bibel geschrieben. Manchmal sage ich meinen Schülern, sie sollen das Leben als ein großes Abenteuer begreifen, das angemessen begangen werden will. Unser Körper könnte der Raumanzug für diesen Planeten sein, mit begrenzter Haltbarkeit. Also, pflegebedürftig. Wo gibt es die Pflegeanleitung? Religion als Führerschein für das Leben? Das war vielleicht mal so gedacht, gelingt aber nur manchmal. Das Schulfach Biologie?

Wieder einmal wird mir klar, wie wichtig das Erlernen einer angemessenen Umgangsform mit uns selbst ist. Und das möglichst schon in jungen Jahren. In meiner eigenen Schulzeit habe ich viel geträumt und mit Sicherheit viel zu lernen versäumt. Sowas muss man später schmerzlich nachholen! Ich verspreche meiner Bandscheibe, mir Mühe zu geben und stelle mir vor, dass sie ein wenig misstrauisch bleibt.

STRESS AM ARBEITSPLATZ

In der Folgezeit macht sich meine Bandscheibe öfter bemerkbar. Manchmal wache ich nachts auf und stelle fest, dass mein linkes Bein eingeschlafen ist. Das Aufstehen am Morgen fällt mir schwerer als gewohnt. Einige Schüler bemerken, dass ich plötzlich langsamer gehe. Ich erzähle ihnen von meiner verschobenen Bandscheibe, erkläre es kindgemäß. Unser Rektor erteilt Biologie und greift das Thema auf. Eine Sechstklässlerin kommt aufgeregt angerannt, ruft schon von weitem: "Wegen Ihnen habe ich in Bio eine Eins bekommen!" Auf die Frage des Schulleiters, wer denn wisse, was eine Bandscheibe sei, habe sie geantwortet: "Eine Scheibe zwischen den Wirbeln, damit sie nicht aneinander reiben, ähnlich wie Gummibärchenmasse." Sie strahlt mich an, erzählt weiter: "Ich sagte ihm auch, so hat unsere Religionslehrerin das erklärt." Zu unserem Raumanzug gehört, um aufrecht zu sein, eine Wirbelsäule mit sieben Halswirbeln, zwölf Brustwirbeln, fünf Lendenwirbeln, das Kreuzbein und das Steißbein. Warum und wieso ab und an eine Bandscheibe verrutscht, darüber streiten sich angeblich die Gelehrten. Natürlich sind mangelnder Sport, falsche Ernährung und Unfälle Hauptverursacher. Aber es gibt Menschen, die sich ungesund ernähren, keinen Sport treiben und keine Bandscheibe hüpft heraus! Da ist ja noch das Unsichtbare, was eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Religion nennt es Seele, Psychologie spricht von dem Unbewussten und der Psyche, was auf griechisch auch Seele heißt. Jedenfalls steht fest, dass es mehr gibt, als wir sehen können. Und dieses "Mehr" macht sich bemerkbar, wenn wir es nicht bemerken wollen.

Wie das Leben so spielt, schleicht sich in der Schule Stress ein. Einige Kollegen sind krank, andere müssen sie vertreten. Auch ich. Klassen, in denen ich sowieso unterrichte, machen mir keine Probleme. Es ist ein verregneter Montag, tief hängen die Wolken über dem Schulhof. Eigentlich wäre die dritte Stunde für mich frei. Der Vertretungsplan grinst mich böse an. Die Freistunde ist gestrichen, dafür muss ich in die 6b! Jeder von uns Lehrern fürchtet sich vor dieser Klasse. Mit zwölf Jahren können Kinder in einer turbulenten Großstadt ziemlich nervig sein. Mein Rücken tut mir heute besonders weh. Das mag an dem Tiefdruckwetter liegen. Und jetzt noch Vertretungsunterricht in dieser Klasse, deren Schüler ich nur aus Erzählungen und durch Beobachtungen in der Pause kenne! Ich versuche mit dem Kollegen zu verhandeln, der für die Gestaltung des Stundenplans zuständig ist. Verständlicherweise ist der an so einem Tag auch schwer genervt. Ich bekomme eine kurze und knappe Auskunft: "Wer zur Arbeit kommt, muss voll einsatzfähig sein." Mir ist zum Heulen zumute. Er hat ja Recht.

Trotzdem bräuchte ich jetzt eine liebe verständnisvolle Mama, die mich in den Arm nimmt und mir den Unterricht in der 6b erspart. Immer muss man im Job so schrecklich erwachsen sein! Also nehme ich mich zusammen und mache mich auf den Weg in die Klasse. Das Zusammennehmen bringt meine herausgehüpfte Bandscheibe an ihre nervige Ecke. Das hat mir gerade noch gefehlt!! Die Kinder sind in Hochform. Ich höre sie schon von weitem. Innerlich flehe ich den lieben Gott an, er möge sich etwas einfallen lassen. Nun ist dieser kein Zauberer, sondern der, welcher mir eigenes Gehirn und Entscheidungsfreiheit mitgegeben hat. Meine Bandscheibe sendet stechende Signale, mein linkes Bein ist nicht nur eingeschlafen, sondern tut' jetzt gleich an mehreren Stellen weh.

Ich betrete die Klasse und gelange irgendwie vorn an den Lehrertisch. Die Kinder nehmen mich gar nicht wahr. Ich bin so wütend, dass ich laut brülle: "Ruhe! Das ist ja wohl das allerletzte Verhalten!" Augenblicklich ist es totenstill. Erstaunte Augenpaare schauen mich an. Ein Junge ruft aus der letzten Reihe: "Ich denke, die soll nett sein!" Sofort quasseln alle wieder los. Ich brülle in die Menge: "Nett kann ich nur sein, wenn ihr es auch seid." Ein Mädchen ruft laut: "Seid doch mal still, mal hören was wir machen." Ich nehme mich zusammen, nutze die eintretende Ruhe, versuche tief zu atmen, um mich zu entspannen und sage, dass wir ein Spiel machen werden. Die Klasse johlt vor Freude. Gleichzeitiges Zusammennehmen und Entspannen kriegt kein Mensch hin. Also versuche ich meine Schmerzen zu ignorieren und erkläre das Spiel. Man muss bei diesem Spiel ganz leise sein, sonst ist es völlig sinnlos. Gott sei Dank verstehen die Kinder das und sind wirklich ziemlich ruhig. Die Hälfte der Klasse soll nach vorn kommen, sich in einer Reihe an die Tafel stellen. Die andern legen ihren Kopf in ihre verschränkten Arme auf den Tisch, Augen zu. Dann schleichen die von vorn jedes zu einem Kind und streicheln es über den Rücken. Buchstaben malen, leichtes Massieren im Genick ist gestattet. Keiner darf auf die Wirbelsäule gehen! Zum Schluss streicht man mit beiden Händen von oben nach unten den Rücken aus. Dann kommen die Streichelkinder wieder in eine Reihe nach vorn und die Gestreichelten heben ihre Köpfe. Wer es angenehm fand, meldet sich, als Rückmeldung für die, die "behandelt" haben. Ich frage jedes Kind, was es denkt, wer gestreichelt hat. Erst zum Schluss sagen die vorne stehenden Schüler, wer wen so schön berührt hat. Dann wird getauscht. Egal ob richtig oder falsch geraten. Jeder soll seine Streicheleinheiten bekommen.

Die Kinder sind begeistert und sehen offensichtlich ein, dass zu diesem Spiel unbedingte Ruhe nötig ist. Die Aufmerksamkeit der Schüler nutzend, erkläre ich ihnen, wie wichtig ein angemessenes Maß von An- und Entspannung ist. Darüber hatten alle noch nie nachgedacht. Ich erzähle, dass häufiges sich Zusammennehmen krank macht, auf diese Weise Verspannungen im Genick entstehen, dass richtiges Atmen notwendig ist. Ja, wirklich die Not der Schmerzen wenden kann. Fast alle Kinder in dieser Klasse haben ein verspanntes Genick! Sie gehen bei diesem Spiel wirklich behutsam mit ihren Klassenkameraden um. So gut es geht gehe ich zwischen den sich gegenseitig "gut tuenden" Schülern umher, gebe Hilfestellung, wo es nötig ist und entspanne mich jetzt wirklich selbst ein wenig mehr. Irgendwann ist die Stunde um. Die Schüler hätten gerne noch weiter gemacht. Nachdenklich gehe ich ins Lehrerzimmer und freue mich auf meine Pause. Ich werfe einen Blick in den Vertretungsplan für den nächsten Tag.

Die erste Stunde in der 2a fällt morgen früh aus. Ein Geschenk des Himmels! Morgen kann ich also etwas später aufstehen. Der Gedanke allein tut unendlich gut. "Morgen früh hast du etwas weniger Stress", teile ich meiner Bandscheibe mit und hoffe, sie dankt es mir mit einem Millimeter Rückzug von der Schmerzstelle. Die nächste Stunde will unterrichtet werden. Ich mache mich auf den Weg in die 4c. Freundliche Kinder erwarten mich, fragen gleich, wie es meinem Rücken geht. Mein kleiner Quälgeist im unteren Rücken ist wirklich friedlicher geworden. Die Schulstunde verläuft sehr angenehm. Trotzdem freue ich mich auf die große Pause. Ich habe ein hohes Maß an Ruhebedürfnis. Weil es regnet wird abgeklingelt! Das heißt für mich, in der 4c bleiben und die Kinder die nächsten zwanzig Minuten beaufsichtigen, und dann sofort in die nächste Klasse. Kinder brauchen Bewegung und Austausch. Da geht es recht lebendig zu. Einige freuen sich auch, mir für sie wichtige Dinge zu erzählen. So wird die Regenpause anstrengend. Eine Kollegin betritt mit einem Zettel in der Hand den Raum, kommt zu mir. "Den soll ich dir geben, musst morgen irgendwas vertreten." Die Mitteilung betrifft die erste Stunde. Ich soll die 6b vertreten. Schon wieder! Verzweiflung greift nach mir. Ich werde ablehnen. Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr! Von mir aus soll meine Bandscheibe wüten und rutschen wohin sie will. Ich bin so maßlos überfordert, dass ich dem Organisator des Vertretungsplans, der mir später über den Weg läuft, mitteile, dass ich das nicht tun möchte. Fassungslos guckt er mich an, versteht vermutlich kein Wort. Wir zanken uns richtig. Schmerzen lassen unsachlich werden, soviel steht fest. Ganz offensichtlich bin ich nicht mehr in der Lage freundlich auf Eigenarten anderer einzugehen. Das heißt, ich bin gar nicht mehr so diplomatisch wie sonst. Natürlich ist jeder für sich selbst verantwortlich. Ich kann nicht andere für meine Krankheiten büßen lassen. Man sollte es schon früh genug mitteilen, wenn man eine Tätigkeit nicht mehr ausüben kann. Die Stunde am nächsten Morgen erteile ich nicht. Die Kinder und ich dürfen eine Stunde später kommen. Doch ich kann das kaum genießen. Die folgenden Tage in der Schule erlebe ich spannungsgeladen. Ich freue mich auf das Wochenende.

BANDSCHEIBENGEFLÜSTER

Bandscheibe hin, Bandscheibe her. Am Samstag bin ich zu einer Geburtstagsparty bei einer Freundin eingeladen. Claudia ist in der Lage, mit ihrem Lachen ein Haus zum Einstürzen zu bringen. Eine heitere Stimmung und fröhliche Menschen könnten mir sicher gut tun. Also fahre ich hin. Claudia freut sich. Ihr Ehemann wird fünfzig Jahre alt. Er ist Studienrat an einem Gymnasium und hat auch einige Kollegen eingeladen. Man stellt sich gegenseitig vor, plaudert, trinkt, und freut sich über das leckere Buffet.

Die Fleischbällchen schmecken einfach köstlich. Neben mir sitzt Klaus, Studienrat für Latein und Deutsch. Er ist ungefähr zweiundvierzig Jahre alt und ein Frauentyp. Wir tauschen uns gerade etwas aus. Hinten, am Buffet, stimmt Claudia einen ihrer infernalischen Lachkrämpfe an. Wir lachen alle mit. Klaus krümmt sich plötzlich nach vorn, zwingt sich mit dem Lachen aufzuhören, schreit laut: "Aua, Mensch, ick hab' doch 'ne Bandscheibe!" Claudia stellt ihr Gelächter ein. Ihr Ehemann sagt schmunzelnd: "Du bringst mit deinem Gegacker den Klaus noch in die Frühpensionierung!" Nur sehr langsam kommt Klaus in seine alte Sitzhaltung zurück. Die Feier geht normal weiter. Ich bin neugierig geworden, spreche Klaus auf seine Bandscheibe an. Er weiß so gut wie nichts über das, was in ihm vorgeht. Über das Außen der Welt weiß er mehr als ich. Sein Arzt hat bei Ihm vor kurzem einen Bandscheibenvorfall diagnostiziert. "Irgendwo im unteren Rücken”. Wo und was das genau ist, weiß er nicht. "Muss operiert werden", teilt er noch achselzuckend mit, und trinkt sein Bierchen mit Genuss. Er ist echter Berliner und setzt diesen Dialekt voller Freude ein. Das macht ihn sympathisch. Er wirkt wie ein großer Junge.

Ich bohre nach, ob er wirklich keine Ahnung hat. Klaus wird richtig ernst, bekommt eine fast belegte Stimme und richtiges Interesse am Thema "Bandscheibe". Er hat wirklich noch nie darüber nachgedacht, dass man seine Gesundheit selbst beeinflussen kann! Viele Menschen kennen ihr Auto wie ihre Westentasche und pflegen es auch gut, damit es länger hält und für einen vernünftigen Preis wieder verkauft werden kann. Würde eine Werkstatt den noch funktionalen Auspuff erneuern wollen, gäbe es Protest. Man würde noch andere Fachleute dazu befragen, sich mehrere Angebote einholen, falls notwendig. Sagt aber ein Arzt, dass die Bandscheibe operiert werden muss, erkundigen sich die wenigsten, was es da noch auf dem Markt der Möglichkeiten anderes gibt. Oft stimmen sie dem ersten Operationsvorschlag zu. Das kann unter Umständen richtig sein. Es kann aber auch fatale Folgen haben. Bei einer Reise vor wenigen Wochen traf ich in einem Zeitungsgeschäft Adele. Wir haben uns vor Jahren in der Türkei kennen gelernt. Sie unterrichtete an einer deutschen Schule im Ausland und wurde meist als Klassenlehrerin eingesetzt. Nach dem was sie erzählte, machte sie das richtig gut. Gemeinsam lernten wir Surfen und hatten viel Spaß miteinander. Nach diesem Urlaub schrieben wir uns noch eine Zeit lang, dann verlor sich die Spur. Ich betrete also das Zeitungsgeschäft, sehe vorn an der Kasse eine Frau die mich an Adele erinnert. Von der Seite erkenne ich, sie ist es! Ich rufe ihren Namen aus, bin ganz erfreut. Müde dreht sie sich zur Seite, sagt nichts, winkt ab. "Adele was ist los?!" gebe ich fast etwas zu laut von mir.

"Alles Scheiße!", sagt sie mitten in den kleinen Laden hinein und geht raus. Ich rufe ihr hinterher, sie solle doch warten, bezahle schnell meine Zeitung und folge ihr. Draußen steht sie, sieht eigentlich aus wie damals. Schlanke Figur, schöne braune Haare, gut gekleidet. Ich frage noch mal was los sei. "Ach, ich bin voller Morphium", sagt sie müde. Ich bin entsetzt. "Gegen die Schmerzen", sagt sie. "Adele, was ist geschehen?" Das schreie ich fast.

Adele beginnt zu erzählen. Vom Auslandsaufenthalt nach Deutschland zurückgekehrt, wurde sie an einem anderen Schultyp als gewohnt eingesetzt. Weil sie so flexibel ist. Nach und nach tat ihr immer mehr der untere Rücken weh. "Hexenschuss oder so was, dachte ich", sagt sie grinsend. Sie sei zu Professor… gegangen. Ihre Augen leuchten auf als sie seinen Namen nennt. Mir ist klar, dass man Professor… kennen müsste, wenn man was auf sich hält. Fast schäme ich mich, als ich nachfrage, wer das sei und wo er tätig ist. Sie klärt mich auf und zeigt dabei ihr spitzbübisches Lächeln, das sie beim Surfen hatte, wenn sie besser war als ich. Sie gerät ins Schwärmen über ihn, teilt mir mitten im Erzählen mit, dass er einen Bandscheibenvorfall diagnostizierte, ihr zur Operation riet, diese durchführte und versaute. Sie benutzt wirklich dieses Wort. Irgendwie merkwürdig begeistert erzählt sie von der verpfuschten ersten Operation. Es folgte nämlich noch eine zweite. Dann Morphium gegen die unerträglichen Schmerzen, ein wenig später die Zwangspensionierung. "Ich bin jetzt Schmerzpatientin", sagt sie mit einem trotzigen Blick in den Augen. "Die werden schon sehen, was sie davon haben!"

Ich muss den Kloß runterschlucken, den ich im Hals habe. Wer, um Himmels Willen, sind denn "Die?" Ich frage, ob sie Professor… verklagen will. "Nein" sagt sie fast empört. "Die halten doch alle zusammen." Adele wusste wenigstens, wo ihr Bandscheibenvorfall sitzt. Genau an der gleichen Stelle wie bei mir, was ich nun seit einigen Tagen weiß. Warum fragt so eine kluge Frau nicht nach anderen Möglichkeiten, lässt sich vom Ruhm eines Namens verführen? Sicher hat Professor… Hunderte von erfolgreichen Operationen vollzogen, doch nachdenklich hat mich das Wiedersehen mit Adele schon gemacht. Was würde ich tun, wenn meine Schmerzen unerträglich würden?

Aber das waren sie bei Adele ja gar nicht! Nur ab und an so doll "Hexenschuss". Genau wie jetzt bei mir. In Dr. Stahlmanns Praxis gibt es als andere Möglichkeit noch die Akupunktur zur Schmerzlinderung. Das kann zwar teuer werden, doch es ist ein Weg. "Ich lass' mich jedenfalls nicht operieren!", sage ich zu Herrn Studienrat Klaus, der sich geduldig meine Geschichten anhört und inzwischen das fünfte Bierchen trinkt. Meine langjährige Freundin, Neurologin, viele Jahre in eigener Praxis, sagte zu mir: "Vergiss nicht die gelungenen Operationen." Sie erzählte von einer ehemaligen Klassenkameradin, die vor einundzwanzig Jahren an der Bandscheibe in der Lendenwirbelregion operiert wurde und außer Skifahren ihren Lebensstil unverändert fortsetzte. Trotzdem unterstützt mich meine Freundin sehr, meinen individuellen Weg zu gehen und auf meine innere Stimme zu hören.

Klaus will wissen was eine innere Stimme ist. "Frage deine Bandscheibe, ob sie zerstückelt werden will", sage ich. Mein Gesprächspartner bittet mich grinsend, ihm dieses vorzumachen. Ich beuge mich zu ihm, frage in Richtung Lendenwirbelsäule : "Du Kleine da drinnen, möchtest du operiert werden?" "Nein, ich möchte von dir gestreichelt werden", flüstert Klaus als Antwort, und wir beide brechen in schallendes Gelächter aus. Ich habe einige Gläser Rotwein getrunken und bin auch nicht mehr ganz nüchtern. So wird es ein vergnüglicher Abend. Wir lauschen gegenseitig an unseren Bandscheiben und erfinden die tollsten Geschichten. Klaus' Bandscheibe bekommt die erbetenen Streicheleinheiten, wobei er wie ein Kater schnurrt. In seiner Kindheit gab es wenig Zärtlichkeit. Kinder würden viel für ein bisschen wirkliche Zuwendung geben, auch wenn sie keine hervorragende Leistung erbringen. Sie erzählen mir das täglich. Es ist "kalt" in vielen Elternhäusern. Und wer selbst nichts hat, kann auch nichts geben. Darum muss man sich selbst kennen und mögen lernen. Klaus erzählt von seiner Kindheit. Lob gab es nur für gute Zensuren oder wenn er der Mutter half. Sein Vater war ein harter Mann, dem Geld und Macht die wichtigsten Anliegen waren. Über sich selbst hat Klaus nie nachgedacht. Nur was seine abfragbaren und sichtbaren Leistungen anbelangt. Unsichtbare Dinge wurden nie bedacht. "Die Luft kann man auch nicht sehen, und trotzdem wären wir schnell tot, würde sie entzogen", gebe ich oberschlau von mir.

Klaus beugt sich zu meinem Bauch herunter und sagt zu meiner Bandscheibe: "Du hast eine schlaue Mama." Wir lachen beide. "Psst" sagt Klaus, "meine Bandscheibe will dir was flüstern". Ich gehe mit meinem Ohr zu seiner Bandscheibe. "Du bist lieb!" kommt es zärtlich von Klaus' Lippen. Es klingt fast so, als ob ein ganz kleiner Junge spricht. Claudia kommt zu uns, fragt nach, welche Spielchen wir machen. "Bandscheibengeflüster", sagt Klaus und trinkt sein neues Bierchen in einem Zug aus. Claudia bleibt bei uns sitzen. Wir wechseln das Thema, reden über die Geschenke, das Essen und die Arbeit, die sie mit dem Buffet hatte. Klaus bestellt sich ein Taxi, er will nach Hause zu seinem homosexuellen Partner. Viele Gäste gehen jetzt. Ich helfe Claudia noch ein wenig bei den Aufräumarbeiten und fahre auch nach Hause. Unterwegs überlege ich, ob ich eine Kur machen sollte. Warme Bäder, vielleicht etwas Massage, Radfahren, und mich wirklich nur um mich selbst und meine Gesundheit kümmern. Ach ja, Zeit für das Abenteuer Leben haben!

DIE QUAL DER WAHL

Manchmal gehen mir meine Gedanken auf die Nerven. Dann will ich nur noch diese Rückenschmerzen loswerden und fertig! Ab und an erwische ich mich schon bei dem Gedanken an eine schöne, einfache Operation, nach der alles im besten Lot ist und ich wie eh und je durch die Welt hüpfen kann. Ich entschließe mich zu einem Besuch bei meinem alten anthroposophischen Arzt, Dr.V. Irgendwie hilft er mir immer weiter. Er ist Schulmediziner mit eben der Ausrichtung, den Menschen in seiner Ganzheit und im Zusammenklang mit dem Übersinnlichen zu betrachten.