Bangen um ein Kinderherz - Patricia Vandenberg - E-Book

Bangen um ein Kinderherz E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Nun gibt es eine Sonderausgabe – Dr. Norden Aktuell Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. Dr. Daniel Norden hatte nach Been­digung der Vormittagssprechstunde noch zwei Krankenbesuche gemacht. Er ver­ließ gerade die Wohnung der alten Frau Bringezu, die so schwer unter ihrem Rheuma litt, daß sie schon seit Tagen ihre Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Dr. Norden überlegte noch, wie man ihr am besten beibringen könnte, daß sie in einem Pflegeheim jetzt besser aufgehoben wäre, da vernahm er mehr­stimmiges Sirenengeheul. Ein Funkstrei­fenwagen kam die Straße entlanggerast, ein Notarztwagen folgte, dann wieder ein Streifenwagen, und dann auch noch die Feuerwehr. Ein Feuer oder ein schwerer Unfall mußten die Ursache sein. Dr. Norden setzte sich hinter das Steuer seines Wa­gens und fuhr in die gleiche Richtung. Vielleicht wurde mehr Hilfe gebraucht, als jetzt schon zur Stelle sein konnte. Weit brauchte er nicht zu fahren, und Entsetzen ergriff ihn, als er sehen mußte, daß es der Schulbus war, der mit einem Lastwagen zusammengesto­ßen war. Schon mehrmals war ihm auf­gefallen, wie riskant der Fahrer den Schulbus durch die Straßen steuerte, und einmal hatte auch seine Frau Fee schon die Polizei darauf aufmerksam ge­macht. Doch jetzt dachte Dr. Daniel Norden, selbst Vater zweier kleiner Söhne, nur an die Kinder, die wohl eben erst von der Schule abgeholt worden waren. Er sah dann auch gleich, wie schon Kinder herausgehoben wurden. Er hörte Jam­mern und Weinen. Wie immer waren die Neugierigen schon in Mengen zur Stelle, obwohl sonst die Straßen um diese Zeit meist wie ausgestorben lagen. Um sich einen Weg zu bahnen, mußte er mehrmals energisch und auch zornig erklären, daß er Arzt sei. Einige erkannten ihn und wichen dann doch verlegen zur Seite. Auch die Polizisten kannten ihn, und der Notarzt Dr.

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Dr. Norden Aktuell – 22 –

Bangen um ein Kinderherz

Patricia Vandenberg

Dr. Daniel Norden hatte nach Been­digung der Vormittagssprechstunde noch zwei Krankenbesuche gemacht. Er ver­ließ gerade die Wohnung der alten Frau Bringezu, die so schwer unter ihrem Rheuma litt, daß sie schon seit Tagen ihre Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Dr. Norden überlegte noch, wie man ihr am besten beibringen könnte, daß sie in einem Pflegeheim jetzt besser aufgehoben wäre, da vernahm er mehr­stimmiges Sirenengeheul. Ein Funkstrei­fenwagen kam die Straße entlanggerast, ein Notarztwagen folgte, dann wieder ein Streifenwagen, und dann auch noch die Feuerwehr.

Ein Feuer oder ein schwerer Unfall mußten die Ursache sein. Dr. Norden setzte sich hinter das Steuer seines Wa­gens und fuhr in die gleiche Richtung. Vielleicht wurde mehr Hilfe gebraucht, als jetzt schon zur Stelle sein konnte.

Weit brauchte er nicht zu fahren, und Entsetzen ergriff ihn, als er sehen mußte, daß es der Schulbus war, der mit einem Lastwagen zusammengesto­ßen war. Schon mehrmals war ihm auf­gefallen, wie riskant der Fahrer den Schulbus durch die Straßen steuerte, und einmal hatte auch seine Frau Fee schon die Polizei darauf aufmerksam ge­macht.

Doch jetzt dachte Dr. Daniel Norden, selbst Vater zweier kleiner Söhne, nur an die Kinder, die wohl eben erst von der Schule abgeholt worden waren. Er sah dann auch gleich, wie schon Kinder herausgehoben wurden. Er hörte Jam­mern und Weinen.

Wie immer waren die Neugierigen schon in Mengen zur Stelle, obwohl sonst die Straßen um diese Zeit meist wie ausgestorben lagen. Um sich einen Weg zu bahnen, mußte er mehrmals energisch und auch zornig erklären, daß er Arzt sei. Einige erkannten ihn und wichen dann doch verlegen zur Seite.

Auch die Polizisten kannten ihn, und der Notarzt Dr. Hausmann nickte ihm erleichtert zu.

Es wurden nicht viel Worte verloren. Dr. Norden holte nacheinander drei be­wußtlose Kinder aus dem Bus. Die auf den hinteren Sitzen schienen mit dem Schock davongekommen zu sein, doch zwei Buben und ein Mädchen hatte es ziemlich schwer erwischt.

Der Fahrer mußte unter Mühen aus dem Bus herausgeschweißt werden. Er gab nur noch schwache Lebenszeichen von sich.

Ein zweiter Krankenwagen kam. Dr. Norden ließ die drei Kinder hineinbetten und leistete Erste Hilfe. Draußen hatten sich auch schon einige Mütter eingefunden, die nach ihren Kindern riefen und weinten, und dann doch manch eines wohlbehalten in die Arme schließen konnten.

Dr. Norden ordnete an, daß man die drei Kinder, die er versorgt hatte, sofort in die Behnisch-Klinik bringen sollte, denn einen der Buben hatte er erkannt. Es war der kleine Henrik Farenhorst. Dr. Norden wurde ganz elend bei dem Gedanken, wie dessen Mutter die Hiobsbotschaft aufnehmen würde, denn Verena Farenhorst war eine übersensible Frau, die schon ein Kind gleich bei der Geburt verloren hatte. Aber nicht allein dem kleinen Henrik durfte seine Fürsorge gelten, auf die anderen warteten auch angstvolle Eltern!

Als er seinen Wagen bestieg, sah er eine junge Frau, blutleer war ihr Gesicht, weit aufgerissen ihre angstvollen Augen. »Corry«, rief sie mit bebender Stimme, »Corry, wo ist mein Kind?«

Ein Polizist sprach auf sie ein. Dr. Norden fuhr dem Krankenwagen nach. Jeder Unfall brachte Grauen und Schrecken mit sich, wenn es aber um Kinder ging, war es Dr. Daniel Norden ganz schwer ums Herz, denn er wußte um die Angst der Mütter.

Eine, die in ständiger Angst lebte, bis ihr Junge daheim war, war Verena Farenhorst. Die ersten Jahre hatte sie Henrik immer selbst zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Als er dann, vor zwei Wochen, in die dritte Klasse kam, hatte er selbst gesagt, daß er jetzt kein kleiner Bub mehr sei und wie die anderen Kinder mit dem Schulbus fahren wolle.

Sie hatte es nicht erlauben wollen, aber er hatte bei seinem Vater Rückhalt gefunden. Vinzenz Farenhorst meinte, daß er selbständiger werden müsse und außerdem würde er kontaktarm werden, wenn man ihn ständig von den anderen Kindern fernhielte.

Es war wieder einmal zu Spannungen zwischen dem Ehepaar gekommen, wie schon so oft, nachdem Verena vor drei Jahren das heißersehnte Töchterchen bei der Geburt verloren hatte. Vorher hatte man sich kaum eine glücklichere Ehe vorstellen können, aber seither kapselte sich Verena immer mehr ab.

Die Farenhorsts lebten in einem wunderschönen Haus, dicht am Wald, ziemlich weit entfernt von der Fabrik, die Vinzenz Farenhorst gehörte. Mittags kam er jedoch fast immer nach Hause, wenn er nicht gerade mal dazu verpflichtet war, mit wichtigem Besuch zu essen. Er war auch meist pünktlich, und an diesem Mittag war er schon sehr pünktlich gewesen.

»Wo Henrik nur bleibt«, sagte Verena bebend. »Er müßte doch längst da sein.«

»Er wird sich wieder mal mit seiner kleinen Freundin verschwatzt haben«, sagte Vinzenz. »Reg dich doch nicht gleich wieder auf.«

»Ich habe vorhin Sirenen gehört«, flüsterte sie. »Mir ist so bange, Vinzenz.«

Er seufzte in sich hinein. Was soll das nur noch werden, dachte er. Verena war nur ein Schatten ihrer selbst. Nichts war geblieben von ihrer Lebensfreude, ihrem bezwingenden Charme. Er spielt in ihrem Leben nur noch eine Nebenrolle. Alle ihre Gedanken drehten sich um Henrik. Sie hätte ihn am liebsten in ein Glashaus gesetzt, und er wollte doch so gern mit anderen Kindern spielen und herumtollen.

Doch an diesem Tag sollte es Vinzenz Farenhorst bereuen, seiner Frau, wenn auch nur in Gedanken, Unrecht getan zu haben.

Das Telefon läutete. Dr. Norden war am anderen Ende der Leitung.

»Gut, daß Sie da sind, Herr Farenhorst«, sagte er. »Kommen Sie doch bitte in die Behnisch-Klinik. Der Schulbus ist verunglückt. Lebensgefahr besteht für Ihren Jungen nicht, aber er wird einige Wochen in der Klinik bleiben müssen.«

Vinzenz Farenhorst stand wie erstarrt. Angstvoll sah ihn seine Frau an. »Was ist?« schrie sie auf. »Was ist mit Henrik? Oh, meine Ahnungen. Es ist etwas passiert!«

»Bitte, Verena, verlier die Nerven nicht. Er lebt. Es besteht keine Lebensgefahr, hat Dr. Norden gesagt. Der Bus ist verunglückt. So nimm dich doch zusammen…« Rauh stieß er es hervor, da er selbst schwer erschüttert war.

»Du bist schuld!« schrie sie auf, »hätte ich ihn weiter selbst abgeholt...«, ihre Stimme erstickte im Schluchzen. Vinzenz umfaßte ihre Schultern und schüttelte sie.

»Rena, ich bitte dich, meinst du, mir geht es nicht nahe? Laß uns in die Klinik fahren. Dr. Norden ist bei Henrik. Er selbst hat angerufen, es sind noch mehr Kinder verletzt.«

»Was gehen mich andere Kinder an«, wimmerte sie. »Mein Junge, mein Henrik, alles, was mir geblieben ist...«, und dann sackte sie zusammen.

Wally, das Hausmädchen, kam aufgeregt herbeigelaufen.

»Der Schulbus ist verunglückt«, erklärte Vinzenz heiser. »Ich nehme meine Frau gleich mit in die Klinik. Machen Sie bitte die Türen auf.«

Wally zitterte auch am ganzen Körper und murmelte nur immer: »Ach Gott, ach Gott«, und Vinzenz trug seine Frau zum Wagen.

Er handelte völlig instinktiv. Denken konnte er augenblicklich gar nicht. Er bettete Verena auf den Rücksitz und steuerte dann seinen schweren Wagen ganz vorsichtig durch die stillen Straßen zur Behnisch-Klinik, die ihm wohlbekannt war. Erst vor einem Jahr war Henrik dort am Blinddarm operiert worden, und er durfte jetzt gar nicht daran denken, daß Verena auch da schon einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen war.

Jetzt konnte er wirklich nur beten und hoffen, daß ihn Dr. Norden nicht barmherzig getäuscht hatte.

*

Franziska Biegler bangte auch um ihre Tochter. Sie war die junge Frau, die Dr. Norden vorhin an der Unfallstelle gesehen hatte. Man hatte ihr inzwischen gesagt, daß ihre Corry auch in die Behnisch-Klinik gebracht worden war.

Franziska verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihr uneheliches Kind recht mühsam als Verkäuferin in einem Textilgeschäft. Es war die einzige Stellung, die sie in diesem Vorort finden konnte. Hier hatte sie ihre kleine Wohnung, und in die Stadt wollte sie nicht fahren, da dann Corinna zuviel allein gewesen wäre.

Franziska liebte ihre kleine Tochter, die gerade erst eingeschult worden war. Sie hatte auch deren Vater geliebt, voller Illusionen und Träume, sie war sehr jung gewesen, voller Hingabe und Vertrauen. Er hatte sie schmählich im Stich gelassen, als sie das Kind erwartete.

Zuerst hatte sie gemeint, nicht mehr leben zu können, dann hatte sie für das unschuldige kleine Wesen leben wollen, dem sie ihre ganze Liebe schenkte. Trotz mancher Entbehrungen hatte Corry eine glückliche Kindheit und eine sehr liebevolle Mutter.

Franziska war kopflos aus dem Geschäft davongelaufen, als sie hörte, daß der Schulbus verunglückt war. Immer kam Corry nach der Schule zu ihr ins Geschäft. Die Bushaltestelle lag von diesem nur zwei Minuten entfernt. Sie gingen dann gemeinsam nach Hause und aßen. Um halb drei Uhr mußte Franziska wieder im Geschäft sein. Dann wurde Corry von einer netten, kinderlosen Nachbarin betreut.

Heute war Mittwoch. Da hatte Franziska nachmittags frei. Sie wollte mit Corry in den Tierpark fahren. Einmal im Monat gönnte sie sich das und dem Kind, denn Corry liebte Tiere über alles.

Nun war dieser Mittwoch zu einem schrecklichen Tag in Franziska Bieglers Leben geworden. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie zur Behnisch-Klinik lief. Nur wenig später als Vinzenz Farenhorst kam sie dort an und sie sah noch, wie er seine Frau in die Klinik trug. Franziska kannte ihn nicht. Reich und arm traf sich in der Halle der Klinik, aber Vinzenz Farenhorst nahm keine Notiz von Franziska Biegler. Verena war noch immer bewußtlos. Sie wurde auf eine Trage gelegt. Dr. Norden und Dr. Jenny Behnisch bemühten sich um sie. Franziska stand einsam und zitternd da, bis Dr. Hausmann auf sie zutrat, der auch die anderen sechs verletzten Kinder hierhergebracht hatte, da die Behnisch-Klinik der Unfallstelle am nächsten lag.

Dr. Hausmann war jung und ein wenig schwerfällig, wenn es darum ging, besorgte Mütter zu trösten. Er hatte ein gutes Herz, aber reden konnte er nicht so gut wie Dr. Norden.

»Sie sind eine Mutter?« fragte er unbeholfen, als Franziska ihn so hilflos bittend anblickte. Sie nickte wortlos.

»Corinna Biegler heißt meine Tochter«, erwiderte sie mit versagender Stimme. »Sie ist sechs Jahre, blond und hat blaue Augen.«

»Dann wird es wohl das kleine Mädchen sein, das mein Kollege Dr. Norden herbringen ließ«, sagte Dr. Hausmann. »Bitte, regen Sie sich nicht zu sehr auf, Frau Biegler. Für keines der Kinder besteht eine akute Lebensgefahr.«

»Aber Corry ist rhesus-negativ«, stammelte Franziska. »Das Blut...«, wieder wurde sie von Schluchzen geschüttelt.

»Warten Sie«, sagte Dr. Hausmann und eilte davon. Er traf Dr. Behnisch, der gerade aus dem Operationssaal kam.

»Da ist ein Kind mit Blutgruppe rhesus-negativ«, sagte Dr. Hausmann. »Corinna Biegler, sechs Jahre, blond –.«

»Ja, ist schon gut«, fiel ihm Dr. Behnisch ins Wort. »Da brauchen wir keine Blutübertragung zu machen. Das Kind hat nur Brüche. Die Mutter ist hier?«

»Ja«, erwiderte Dr. Hausmann.

»Ist gut, soll warten«, erwiderte Dr. Behnisch rasch. »Am schlimmsten steht es um den Kleinen, von dem wir noch nicht mal den Namen wissen. Ich habe jetzt keine Zeit. Beruhigen Sie die Mutter von dem Mädchen. Sie kann bald zu ihr.«

Dr. Hausmann ging zurück und versuchte nun, Franziska zu beruhigen. Sie war dann ganz still und saß mit gefalteten Händen da. Sie wartete.

*

Der kleine Junge, dessen Namen man noch nicht wußte und den bisher auch niemand zu vermissen schien, war auch sechs Jahre. Er hieß Johann Meisel und wurde Jonny genannt, doch in der Klinik war das noch nicht bekannt. Nach ihm hatte noch niemand gefragt. Das war auch nicht möglich, denn sein Vater saß auf dem Arbeitsamt und wartete, daß man vielleicht doch eine Stellung für ihn hätte, und wenn es nur eine Aushilfsstellung wäre. Er wollte so gern seiner Frau Erika eine Freude bereiten, die im Kreiskrankenhaus auf die Geburt ihres zweiten Kindes wartete.

Jonny wußte das. Er wußte auch, daß der Vater eine Stellung suchte. Man hatte ihm an diesem Tag den Wohnungsschlüssel gegeben, damit er nicht auf der Straße warten mußte.

Aber als Heinz Meisel deprimiert heimkam, weil er wieder keine Stellung bekommen hatte, sondern nur das Arbeitslosengeld, von dem er nur eine geringe Summe für den Lebensunterhalt abzweigen konnte, wenn er die nicht gerade billige Miete für die Wohnung bezahlt hatte. Er war schuldlos in dieses Unglück gestürzt worden. Seine Firma hatte Konkurs anmelden müssen. Als technischer Zeichner bekam man jetzt nicht mehr so schnell eine neue Stellung. Die Sorgen wuchsen ihm mit der Zeit über den Kopf. Und nun kam auch noch das Baby.

Aber im Augenblick machte er sich noch mehr Sorgen um Jonny, der sonst immer pünktlich war und auf den man sich verlassen konnte, so jung er auch noch war.

Heinz Meisel lief die Treppe hinab, der Hausbesitzerin, einer üppigen blondierten Vierzigerin, in die Arme.

»Na, was ist mit der Miete?« fragte sie sogleich gereizt.

»Die bekommen Sie«, erwiderte er rasch. »Haben Sie unseren Jonny gesehen?« Er war zu aufgeregt, um so höflich zu sein, wie sie es wohl erwartete. Differenzen schwelten schon lange, weil sie die Wohnung ihrer Meinung nach längst weit teurer vermieten könnte und nur darauf wartete, daß wieder mal die Miete von den Meisels schuldig geblieben wurde.

»Vielleicht war er in dem Bus, der verunglückt ist«, sagte sie nun gleichmütig.

»Der Bus ist verunglückt?« stotterte Heinz Meisel. Und dann rannte er schon los. Er sah den schwer beschädigten Bus an der Kreuzung, er sah den Lastwagen, die Polizisten, die noch immer mit Messungen beschäftigt waren.

Er stürzte auf sie zu. »Wo sind die Kinder?« fragte er. »Wo ist mein Sohn?«

»Nur keine Aufregung«, erwiderte ihm ein Polizist. »Die verletzten Kinder sind in der Behnisch-Klinik.«

»Und Sie wissen nicht mal die Namen?« fragte Heinz Meisel.

»Wir sind froh, daß es noch so ausgegangen ist«, wurde ihm erwidert. »Die Ärzte waren gleich da. Dr. Norden sogar.«

Dr. Norden! Der Name erschien Heinz Meisel als Lichtblick. Er kannte Dr. Norden. Der machte keine Unterschiede zwischen arm und reich. Der war auch zu ihnen immer gleich gekommen, wenn einem von ihnen etwas fehlte.

Er hatte vergessen, daß ihm eben noch schlecht vor Hunger gewesen war. Er rannte zur Behnisch-Klinik. Selbst bei dem Tempo, das er vorlegte, brauchte er eine Viertelstunde, und er konnte kaum noch atmen, als er dort angelangt war. In seiner Brust stach es, sein Herz drohte zu versagen.

»Ist mein Sohn hier?« konnte er nur mühsam über die Lippen bringen. »Jonny Meisel.«

Und dann brach auch er zusammen. Es war gut, daß Dr. Norden ihn kannte, denn den Namen hatte die Krankenschwester schon gar nicht mehr verstanden.

»Das ist der Vater von Jonny«, erklärte er. »Von Jonny Meisel. Ja, der braucht nun auch ärztliche Hilfe.«

Ein halbes Jahr hatte Dr. Norden von der Familie Meisel nichts mehr gehört. Jonny hatte er erst erkannt, als das kleine Gesicht von dem Blut befreit worden war. Er war tatsächlich am schlimmsten dran von allen Kindern, während Vinzenz Farenhorst sich schon davon überzeugen konnte, daß sein Sohn verhältnismäßig gut davongekommen war.

Henrik war sogar schon wieder bei Bewußtsein, wenn auch noch sehr verwirrt.

»Es hat gekracht, Papi«, sagte er, als er seinen Vater erkannte. »Was ist denn passiert? Wo ist Corry? Wo bin ich denn überhaupt?«

»In der Klinik, mein Junge«, erwiderte Vinzenz.

»Und Corry?«

»Ich weiß es nicht, Henrik.«

»Frag doch, Papi. Ich möchte wissen, wo Corry ist. Sie hat doch neben mir gesessen.«

»Wie heißt sie noch?«

»Biegler. Sie holt ihre Mami doch immer vom Geschäft ab.« Er machte eine kleine Pause. »Und was sagt meine Mami?« fragte er dann beklommen. »Hat sie sich sehr aufgeregt?«

»Ziemlich, Henrik, aber nun kann ich ihr sagen, daß es dir schon besser geht.«

Verschwollen war das schmale Gesichtchen, Schrammen und sich schon grünlich und bläulich färbende Flecken wies es auf. Aber wie durch ein Wunder hatte Henrik nichts gebrochen. Nur Prellungen, die würden ihm sicher noch Schmerzen bereiten, doch selbst um eine Gehirnerschütterung war er herumgekommen.

»Ich möchte, daß es Corry auch gutgeht«, flüsterte Henrik. »Bitte, Papi, kümmere dich um sie. Sie haben nicht viel Geld. Versprich es mir.«

»Ja, ich verspreche es dir, mein Kleiner«, erwiderte Vinzenz.

»Und sag Mami auch, daß sie sich nicht aufregen soll.«

*

Fee Norden war unruhig geworden, als ihr Mann auch um zwei Uhr noch nicht zu Hause war. Dann erst hörte sie von dem Unfall. Und wenige Minuten später rief Daniel an und sagte ihr, daß er erst später kommen würde.

Er hatte zwar keine Sprechstunde mehr, aber selbstverständlich war er für seine Patienten, die ihn nötig brauchten, immer erreichbar.

An diesem Nachmittag schien ihn niemand dringend zu brauchen. Im ganzen Viertel hatte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, daß der Schulbus verunglückt war, und das schien alle so zu beschäftigen, daß sie die eigenen Leiden vergaßen.

Viele hatten an dem Fahrer schon oft etwas auszusetzen gehabt. Viele sagten nun, daß wohl erst dies geschehen mußte, damit etwas unternommen würde, um die Kinder sicherer zu befördern. Diejenigen, die direkt beteiligt waren, mußten mit ihren Sorgen fertigwerden. Keiner von ihnen wollte mit anderen sprechen.

Vinzenz Farenhorst saß jetzt am Bett seiner Frau. Franziska Biegler saß am Bett ihres Kindes. Heinz Meisel stand vor dem Operationssaal und wartete.

Verena war bei Bewußtsein, aber völlig geistesabwesend.

»Henrik geht es schon wieder recht gut«, sagte Vinzenz. »Du brauchst dich nicht zu sorgen, Rena.«

»Du lügst, du belügst mich. Ihr wollt mich nur schonen«, wimmerte sie.

»Sei doch bitte vernünftig. Es ist die Wahrheit. Steigere dich nicht in schlimme Vorstellungen hinein. Du kannst zu ihm gehen, wenn du dich einigermaßen fühlst.«

»Du bist so hart«, sagte sie leise. »Du verstehst mich nicht.«

»Doch, ich verstehe dich sehr gut. Ich hatte auch Angst, Rena. Aber andere Kinder sind schlimmer dran als Henrik.«

»Ist dir das wichtig?« fragte sie. »Genügt es nicht, daß ich ein Kind verloren habe? Kannst du mich denn nicht begreifen, Vinzenz?«

»Mein Gott, wie oft soll ich es dir noch sagen, daß ich deinen Schmerz begreife, Liebes«, erwiderte er. »Aber Henrik werden wir behalten. Ich möchte, daß du nicht alles nur negativ siehst. Ich möchte, daß es bei uns wieder so wie früher wird, daß wir miteinander lachen, und wir können doch noch Kinder haben, Rena. Wir sind beide jung genug. Du mußt nur eine andere Einstellung gewinnen. Mach es dir doch nicht selbst so schwer.«

Sie wandte ihr Gesicht ab. »Ich möchte jetzt noch ein wenig ruhen, und dann werde ich zu Henrik gehen«, sagte sie tonlos. »Du mußt doch wieder in die Fabrik.«