Banken am digitalen Scheideweg - Dr. Udo Milkau - E-Book

Banken am digitalen Scheideweg E-Book

Dr. Udo Milkau

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Beschreibung

Digitalisierung ist ein inflationär verwendeter Begriff. Dabei wird "Digitalisierung" auf der einen Seite gerne im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie eingesetzt, um "alternativlose" Projekte durchzuführen, aber auf der anderen Seite genutzt, keine Entscheidungen unter Unsicherheit treffen zu müssen und nichts falsch zu machen. Die gute Nachricht ist, dass es Banken auch noch weiterhin geben mag – es gibt auch 25 Jahre nach Beginn des E-Commerce noch Buchhandlungen oder Reise­büros. Die schlechte Nachricht ist, dass dies verschiedenen Gegebenheiten geschuldet ist: Zum einen der nichtlinearen Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen, welche unterschwellig starten, dann nicht aufzuhalten sind, aber (begrenzte) Nischen für traditionelle Geschäftsmodelle offenlassen. Zum anderen einem dynamischen Nichtgleichgewicht, welches von traditionellen Marktmodellen nicht abgebildet werden kann. Und schließlich einer "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", da sich Konzepte der Vergangenheit, aktuelle Entwicklungen der Gegenwart und beginnende Entwicklungspfade überschneiden. In diesem Spannungsfeld der "Digitalisierung" werden für Banken zwei Faktoren ausschlaggebend sein. Ein Mut zur Zukunft muss sich in einer Entscheidungsbereitschaft der handelnden Personen widerspiegeln. Denn jede bewusst getroffene Entscheidung ist ein Schritt in die Zukunft und damit ein Fort"schritt", wohingegen eine Nichtentscheidung immer ein Verharren sein muss. Und ein Mut zum Wissen muss zu einer gezielten Aus- und Weiterbildung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch aller Führungskräfte führen. In diesem Sinne soll das vorliegende Buch die Digitalisierung von Banken ausgehend von den traditionellen Kernfunktionen über die Frage nach der Bedeutung von Daten und Künstlicher Intelligenz als Schlüsseltechnologie bis zum Prüfstein von Entscheidung unter Unsicherheit beleuchten und dabei herausstellen, dass Digitalisierung gerade nicht "Technik" ist, sondern die Neuinterpretation von vorausblickenden Kaufleuten im 21. Jahrhundert.

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Taschenbücher für GELD · BANK · BÖRSE

GBB

Udo Milkau

Banken am digitalenScheideweg

Verharren in der Vergangenheitoder Mut zur Zukunft?

FRANKFURT AM MAIN

Besuchen Sie uns auch im Internet: www.kreditwesen.de

ISBN 978-3-8314-1239-6

eISBN 978-3-8314-0906-8

© 2020 by Fritz Knapp Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Satz: Patricia Appel

Bildquelle Titelseite: Adobe Stock – fotomek

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1.Digitalisierung – der Versuch einer Definition

1.1„Digitization“ versus „Digitalization“

1.2Technologiewandel, die Dampfmaschine und das Beispiel der „Cutty Sark“

1.3Von der „analogen“ Wirtschaft zu „digitalen“ Herausforderungen

1.4Digitalisierung jenseits vom Gleichgewicht

1.5Faustformeln für „0“ oder „1“

1.6Literaturhinweise

2.Geld und Bezahlen – ein Prototyp für Digitalisierung

2.1Innovationen in China: vom Papiergeld zu „Mobile Money“

2.2Technologieunternehmen und Karten-Schemes in den USA

2.3Deutschland und Europa – gefangen in gutgemeinter Planung?

2.4Geschäftsmodelle und digitale Kundenprozesse

2.5Der Resourced-based View oder Realismus bezüglich von Grundlagen

2.6Blockchain, Crypto & Co. als Alternative?

2.7Herausforderungen zwischen Technologie und Regulatorik

2.8Literaturhinweise

3.Risiko – Kern des Bankgeschäfts oder Risikoaversion in Europa

3.1Die Erfindung des Risikos: Spieler, Händler, Spieler und Händler

3.2Kontrollillusion und wieder einmal Händler

3.3Digitalisierung zwischen Monitoring und Überwachung

3.4Extreme Ereignisse – von Schwarzen Schwänen und Grauen Rhinos

3.5Von Hedging zu Resilience

3.6Die Rolle von Banken als Risikospezialisten

3.7Literaturhinweise

4.Plattformen – neue/alte Spielregeln in der digitalen Ökonomie

4.1Strukturen und Regeln in der digitalen Ökonomie

4.2Von „analogen“ Intermediären zu „digitalen“ Intermediären

4.3Politische Tendenzen

4.4Eine Welt ohne Intermediäre?

4.5Literaturhinweise

5.Daten – Statistik, Korrelationen und Klassifikationen

5.1Daten, Korrelationen und Muster

5.2Reversed Value Creation

5.3Ein Einschub: Banken und die Plattformökonomie

5.4Knowledge, Intelligence & Learning

5.5Literaturhinweise

6.Technologie – Naivität, Hybris und Fortschritt

6.1Der „Knowledge Graph“ und die Stärken von Google

6.2Die Missverständnisse um Artificial Intelligence

6.3Realistische Anwendungen von „Deep Learning“

6.4Die Crux von „vorhandenen“ Daten

6.5Was der Umgang mit „Artificial Intelligence“ über uns Menschen verrät

6.6Banken versus Landwirtschaft

6.7Korrelationen, Kausalität und Verantwortung

6.8Über „Machine Learning“ hinaus

6.9Literaturhinweise

7.Menschen – Mut zur digitalen Zukunft

7.1Mut zum Wissen

7.2Bescheidenheit bei beschränkten Möglichkeiten

7.3Mut zum Fortschritt

7.4Literaturhinweise

8.Strategien und Narrative

8.1Ein Beispiel als Vorbemerkung

8.2Gefahren eines mechanistischen Weltbilds

8.3Die Frage nach einer Strategie für die Digitalisierung

8.4Narrative

8.5Ein Beispiel zum Schluss

8.6Literaturhinweise

9.Zusammenfassung: Erfolgsfaktor Mensch

Vorwort

Jeder wünscht sich die Glaskugel für einen Blick in die Zukunft. Dies gilt umso mehr, wenn man an einem Scheideweg steht. Auf der einen Seite werden Banken seit Jahrzehnten totgesagt, erfreuen sich aber weiterhin ihrer Existenz. Auf der anderen Seite stellt das Zusammentreffen der aktuellen Entwicklungen – von der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken über die aktuelle Covid-19-Pandemie bis zum Klimawandel – fast einen „Perfect Storm“ dar. Und schließlich trägt die Entwicklung unter dem Schlagwort „Digitalisierung“ ihren Teil dazu bei, dass sich der Markt dynamisch verändert und gleichzeitig im Istzustand zu verharren scheint – die Parallelität von innovativen Bezahlformen und gestiegener Bargeldmenge in Europa mag nur ein Beispiel dafür sein.

In einem kürzlich erschienenen Beitrag1 auf www.mckinsey.com konnte man lesen [Zitat, Unterstreichung durch den Autor]: “Ask any dozen business leaders how they define ‘digital’, and you will probably get just as many different answers. For some, digital is just an upgraded term for what their IT function does. For others, digital refers to the use of online tools and technologies to make process changes, or performance improvements, or to pursue organizational transformation. For still others, it’s an excuse to question the how and the why of their core business.” Scheinbar dient „Digitalisierung“ eher als eine Entschuldigung für diverse Fragen als für eine klare Antwort auf die digitalen Herausforderungen der heutigen Zeit. Es scheint gar nicht so sehr darum zu gehen, Entscheidungen eines Kaufmanns/frau für die Zukunft – immer unter Unsicherheit – zu treffen, als sich als „Business Leader“ zu versichern, in der Fortführung des Vergangenen nichts falsch zu machen.

Die gute Nachricht ist, dass es Banken in der heutigen Form auch noch weiterhin geben mag – es gibt auch 25 Jahre nach Beginn des E-Commerce noch traditionelle Buchhandlungen oder Reisebüros. Die schlechte Nachricht ist, dass dies einer Kombination aus zwei Gegebenheiten geschuldet ist: Zum einen der nichtlinearen Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen, welche oft lange unterschwellig starten, dann nicht aufzuhalten sind, aber am Ende immer noch (begrenzte) Nischen für traditionelle Geschäftsmodelle offenlassen. Und zum anderen der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, wobei sich dieses Diktum2 ursprünglich auf gesellschaftliche Strukturen bezog, es aber für die Digitalisierung ebenso sehr passend ist. Denn es überschneiden sich auslaufende Modelle der Vergangenheit, aktuelle Entwicklungen der Gegenwart und beginnende Entwicklungspfade der Zukunft.

Mit etwas Mut – und dem Risiko der Fehleinschätzung – kann man dennoch versuchen, den Doppelsinn des digitalen Scheidewegs beleuchten zu wollen. Dabei muss man den (deutschen) Banken zugutehalten, dass diese immer gut in der strategischen Analyse3 waren, aber eher zögerlich in der operativen Umsetzung im Spannungsfeld von persönlichen Incentivierungen und unternehmerischen Zielen. Letztlich ist Digitalisierung die Herausforderung, unter Unsicherheit und trotz Ambiguitäten konkret handeln zu müssen, auch wenn dies dem oft anzutreffenden Glauben an stabile Gleichgewichte, an die Einhaltung definierter Prozesse und an stetige, lineare, planbare Entwicklungen entgegenläuft. Tritt man aber einen Schritt zur Seite, bietet sich die Chance, die Lage von Banken am digitalen Scheideweg weniger aus einer technologischen Perspektive heraus zu bewerten als hinsichtlich der strukturellen Entwicklung. Diskussionen über Kunde-Bank-Kanäle bzw. Zugang durch sogenannte APIs („Application Programming Interfaces“), Firmenkundenportale, fallabschließende und papierlose Workflow-Prozesse oder „robotisierte“ Datenüberleitungen findet seit über 20 Jahren statt und können heute bestenfalls noch bezüglich technischer Detailfragen angemessen sein.

Für die Digitalisierung stellt sich die grundsätzliche Frage, ob das Bankgeschäft auch noch in den kommenden Jahren das „analoge“ Universalbankmodell sein kann, oder ob Bankservices entkoppelt und via Amazon, Check24 oder Ant Financial/AliPay/Huabei/Yu‘e Bao, staatlichen Zentralbankkonten für alle oder von ganz anderen Plattformen wie Tiktok zur Verfügung gestellt werden. Dabei wäre es vermessen, eine Prognose für einzelne Dienstleistungen oder aktuelle Initiativen geben zu wollen, zumal die bedauerliche Entwicklung der Covid-19-Pandemie kurzfristige eine hohe Ungewissheit, aber auch eine geringere Priorität von originären Bankthemen mit sich bringt. Langfristig wird sich aber die Rolle von Banken analog zu den klassischen Bankfunktionen der Skalen-, Risiko- und Fristentransformation zwischen Technologieunternehmen, Risikospezialisten oder Plattformzulieferer bewegen, und dies wird die meisten Banken vor eine Richtungsentscheidung stellen. Dieser Hypothese zumindest wird dieses Buch nachgehen und sie zur Diskussion stellen.

Nach dem einleitenden Versuch, die Herausforderungen der Digitalisierung knapp zusammenzufassen, wenden sich die folgenden Teile den verschiedenen Perspektiven des digitalen Scheidewegs zu: Im ersten Teil sollen analog den klassischen Bankfunktionen zuerst Geld und Bezahlen als Prototyp für die Digitalisierung von Skalen, Risiko als traditioneller Kern des Bankgeschäfts und Plattformen mit ihren Transformationsfunktion in zweiseitigen Märkte betrachtet werden. Dabei werden zwangsläufig verschiedene Aspekte zur Sprache kommen, wobei immer die Frage besteht, welche dieser Funktionen Banken auch in Zukunft noch übernehmen werden bzw. welche Voraussetzungen und Expertise dafür notwendig sein wird. Im zweiten Teil werden zum einen Daten als Kern jeder Digitalisierung und der „Data Economy“ des 21. Jahrhunderts sowie die Schlüsseltechnologie der Artificial Intelligence und zum anderen die Rolle der Menschen als Erfolgsfaktoren für die Umsetzung einer Digitalisierung in Banken näher betrachtet. Und im abschließenden Teil soll von der Illusion einer Planbarkeit gewarnt werden, da die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, der nichtlineare Verlauf von Technologie-Entwicklungen und die aktuelle Dynamik des Marktes fern von einem Gleichgewicht keine statische Planbarkeit zulassen. Dagegen wird es essenziell für Banken sein, sich flexible Handlungspositionen aufzubauen und situativ zu adaptieren, wobei Wissen, Weiterbildung und eine Neugier auf die Zukunft der Schlüssel für den künftigen Weg von Banken sein werden. Gerade hier zeigt sich, dass eine Notwendigkeit zum lebenslangen Lernen, umfassende Weiterbildungsmöglichkeiten durch die Unternehmen und entsprechende Angebote durch Schulen, Hochschulen und Universitäten zusammenspielen müssen.4

Insbesondere soll eine Einordnung der aktuellen Situation in die längerfristige und historische Entwicklung helfen, die genannten Aspekte der Dynamik jenseits vereinfachender Modelle zu erfassen und die Entscheidungssituation am „digitalen Scheidewegs“ auch bezüglich der Zeitabhängigkeit zu bewerten. Denn den langfristigen, teilweise schleichenden und sprunghaften Entwicklungen stehen die eher kurzfristigen Anreizstrukturen der handelnden Personen gegenüber (sozusagen ein temporales Principle-Agent-Problem der Digitalisierung). Erschwert werden diese Entscheidungssituationen durch die Zunahme von staatlicher Industriepolitik und Markteingriffen (wie z.B. Tendenzen zur Preisregulierung im Zahlungsverkehr in Europa), welche eher ein spieltheoretisches Abwarten fördern als ein kaufmännisches Handeln mit Verantwortung für eine getroffene Entscheidung. In diesem Spannungsfeld wird der ausschlaggebende Faktor für die Zukunft von Banken eher eine prinzipielle Entscheidungsbereitschaft als kurzfristig aktuelle Modethemen mit Dreibuchstabenakronymen sein.

Dabei ist jedem Entscheider5 – und jede Entscheidung fällt unter Unsicherheit, sonst wäre es eine Zwangläufigkeit – große Hochachtung zu zollen, denn er/sie setzt sich immer der Möglichkeit der Falsifikation i. S.v. Karl R. Popper aus. Aber Nichtentscheiden – und selbst dies stellt eine Entscheidung dar – oder (zu langes) Festhalten an als falsch erkannten Entscheidungen sind in jedem Falle die schlechtesten Abzweigungen am Scheideweg. Ebenso schlecht ist aber auch der erhobene Zeigefinger von Außenstehenden gegenüber den wortwörtlich „entscheidenden“ Personen. Und so sollen auch die Ideen in diesem Buch immer nur bescheidene Anregungen sein. Denn jede bewusst getroffene Entscheidung ist ein Schritt in die Zukunft und ein damit ein Fort“schritt“, wohingegen eine Nichtentscheidung immer ein bedenkliches Vorbeiwinken der Entwicklung sein muss.

Nicht alle Themen zur Digitalisierung in Banken konnten in diesem Buch ihren Platz finden. Dies reicht von technologischen Fragen beim immer noch oft unterschätzten Aspekt der Cyber-Security bis hin zur Entwicklung im Quanten-Computing, welches ganz langsam die Labore zu verlassen beginnt, aber noch auf wenige und hochspezialisierte Anwendungsmöglichkeiten beschränkt ist. Ebenso liegt der Fokus auf dem klassischen Bankgeschäft (mit Skalen-, Risiko- und Fristentransformation), sodass der Kapitalmarkt, Asset-Manager, Cash-Management oder das Feld der digitalen Identitätsservices („eID“) nicht eigens in den Diskurs aufgenommen wurden. Und schließlich konnte auch das ganze Feld der „digitalen“ Arbeit mit einem „Co-Working“ von Menschen und Maschinen und einer sozialen Dynamik in neuen Kommunikationsformen nicht betrachtet werden. Außerdem zeigt sich die Entwicklung von Markt. Technologie und Regulatorik derzeit so dynamisch, dass viele Neuerungen nach dem Oktober 2020 keine Berücksichtigung finden konnten

Zwangsläufig baut dieses Buch auf meinen persönlichen Erfahrungen mit unterschiedlichen Aspekten der Digitalisierung seit den frühen 1990er Jahren und mit Digitaltechnik bzw. anderen Computertechnologien seit der Mitte der 1970er Jahre auf – aber ebenso auf meiner Lehrtätigkeit und der Diskussion mit vielen jungen Menschen in den vergangenen Jahren. Dabei habe ich (!) immer sehr viel gelernt.

Die im Folgenden dargestellten Hypothesen mögen an den Beschränkungen eines „digitalen Dinosauriers“ leiden und nur eine subjektive Zusammenfassung sein. Dabei steht die Entscheidungssituation im Kern der Betrachtung und technologische Aspekte nur soweit, wie es um den Einfluss auf wirtschaftliche Modelle und Aus- und Weiterbildung von Menschen geht. Auch wenn die Hypothesen sich – wahrscheinlich viel zu oft – als zu kurz gegriffen erweisen sollten, so können sie zumindest zum kritischen Diskurs beitragen, eine Neugier auf Wissen wecken und zu einem „Mut zum Fortschritt“ anregen.

Die Arbeit zu „Banken am digitalen Scheideweg“ ist in der Zeit der Covid-19-Pandemie entstanden und daher im Bewusstsein, dass es Wichtigeres in der Welt gibt als Digitalisierung. Daher sei all denen Dank gesagt, welche gerade im Gesundheitswesen den Menschen helfen, tagtäglich Entscheidungen unter Unsicherheit treffen und bei all dem größten Mut beweisen. Des Weiteren gilt mein Dank meiner Gattin, Ritva Tikkanen, speziell für deren Geduld mit mir als Autor, meiner Kollegin Marieke van Berkel für die Hinweise, gelassen zu bleiben, Wolfgang König, Bernd Skiera, Volker Lindenstruth und Jürgen Bott stellvertretend für viele anregende fachliche Diskussionen, meinem Freund Hans-Christian Boos für die Vermittlung ganz neuer Ideen und schließlich Philipp Otto für den Verlag und dessen Betreuung der Arbeit.

Udo Milkau

Frankfurt am Main, im November 2020

Nr.

Unternehmen

Börsenkapitalisierung in Mrd. $ 2020

1

Saudi-Aramco

1.733 (nur 1.768 am 5.8.2020)

2

Apple

1.581 (aber 1.876 am 5.8.2020)

3

Microsoft

1.543

4

Amazon

1.376

5

Alphabet (inkl. Google)

966

6

Facebook

647

7

Tencent

615

8

Alibaba

579

9

Berkshire Hathaway

433

10

Visa

375

11

Johnson & Johnson

371

12

Walmart

339

13

Nestlé

329

proforma

Ant Financial (AliPay)

ca. 313 (vor gestopptem IPO; 26.10.2020)

14

Roche Holding

297

15

Mastercard

297

17

JP Morgan Chase

287

24

Ind. & Com. Bank of China

243

31

Bank of America

206

33

Paypal

205

36

Tesla

200 (373 am 20.8.2020, d.h. vor Walmart)

52

Agricultural Bank of China

165

67

Bank of China

135

 

Pinduoduo

125 (am 2.9.2020)

78

China Merchant Bank

120

89

Citigroup

106

91

Wells Fargo

105

 

American Express

77 (aber 110 Mrd. $ am 19.2.2020)

Tabelle 1: Die größten Unternehmen der Welt nach Börsenkapitalisierung

(Quelle: Bloomberg, Stichtag 30.6.2020; Ant Financial anhand von Preisspanne gem. CNBC vom 26.10.2020 vor Aussetzen des IPO durch Shanghai Stock Exchange am 3.11.2020)

1Ericson, Liz and Tim Koller (2020) „Why, digital‘ is no different when it comes to valuation“, McKinsey & Company, October 2020 (verfügbar unter: https://www.mckinsey.com/business-functions/strategy-and-corporate-finance/our-insights/why-digital-is-no-different-when-it-comes-to-valuation)

2Schon beim Kunsthistoriker Wilhelm Pinder lässt sich eine „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ in dessen Buch von 1926 über „Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas“ finden. Der Philosophen Ernst Bloch prägte in den 1930er Jahren das Diktum der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zur Erklärung der damals aktuellen politisch-gesellschaftlichen Entwicklung und bezog es dann Anfang der 1960er Jahre auf den unterschiedlichen Fortschritt in der Moderne. Der Historiker Rudolf Schlögl wiederum nutzt die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ zur Charakterisierung einer Transformationsgesellschaft mit einem „Nebeneinander von tiefgreifender gesellschaftlicher Modernisierung und traditionalen sozialen Formen“.

3Ein aktueller Report beschreibt dies sehr bildhaft als „Paralysis by Analysis“ (Finn, Patrick, Mihir Mysore und Ophelia Usher (2020) „When nothing is normal: Managing in extreme uncertainty“, McKinsey & Company, Nov. 2020).

4Ein europäisches Musterbeispiel ist hier Finnland: Beginnend mit der Veröffentlichung „Finland’s Age of Artificial Intelligence“ des finnischen Wirtschafts- und Arbeitsministeriums im Oktober 2017, in der u.a. „Education will support society in this time of change“ angesprochen wurde, hat sich Finland im nationalen Artificial Intelligence Programme das klare Ziel gesetzt, für die gesamte Bevölkerung inkl. älterer Personen (sic!) eine „artificial intelligence literacy“ zu garantieren, welche allen Bürgern und Bürgerinnen ein Grundverständnis von Artificial-Intelligence-Applikationen sicherstellt.

5Im Folgenden soll i.d.R. das inklusive Generikum ohne jede Diskriminierung verwendet werden.

1.Digitalisierung – der Versuch einer Definition

Digitalisierung ist ein mittlerweile inflationär verwendeter Begriff. Oft wird „Digitalisierung“ bewusst im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie6 eingesetzt, wie dies die Soziologin Stefanie Büchner (2017) auf dem Punkt brachte. Mit Digitalisierung als Schlagwort im Sinne eines fast schon alternativlosen Megatrends, lassen sich Produkte von Beratern, Bücher von selbsternannten Digitalisierungsgurus und Projekte in Unternehmen gut verkaufen. Es entsteht ein Perpetuum Mobile aus Jubelbotschaften, Angst etwas zu verpassen7, Absicherungsbestreben und Aktionismus. Im Diskurs – oder im Kampf um Projektbudgets – sind zurückhaltendere Meinungen oftmals nicht statthaft, denn wer möchte schon ein „analoger“ Ewiggestriger sein. Dennoch kann der Versuch nicht schaden, die Digitalisierung vom Anschein eines Naturereignisses zu befreien, auf dem Boden der Tatsachen zurückzuholen und im langfristigen Kontext zu betrachten.

1.1„Digitization“ versus „Digitalization“

Ein Grund für die unscharfe Verwendung von „Digitalisierung“ mag in einem sprachlichen Unterschied von deutscher und englischer Begriffsbildung liegen: Während Digitization für die Umwandeln von analogen Speichermedien (Texts auf Paper, Fotos, Audio- & Video-Bänder usw.) in digitale Formate steht, steht Digitalization für die private, öffentliche und unternehmerische Nutzung von digitalen Daten. Während Digitization einfach eine Technik bezeichnet, beschreibt Digitalization ganze soziotechnische Systeme von der App-Nutzung auf Smartphones durch Heranwachsende über den Einsatz von Artificial Intelligence in der medizinischen Diagnose bis zur „Tokenisierung“ von Wertpapiermärkten für Anleger.

Diese konzeptionelle Unterscheidung fehlt im Deutschen und macht Schreiben und Diskutieren über Digitalisierung schon fast analog – im Sinne der fehlenden Unterscheidung zwischen „0“ und „1“. Andererseits verweist dies auf eine kontinuierliche Entwicklung von der Digitaltechnik der 1950er Jahre bis zum aktuellen „Deep Learning“ oder „Machine Reasoning“. Im Folgenden soll daher Digitalisierung so verstanden werden, dass damit die Gesamtheit einer langen, pfadabhängigen und oft sprunghaften Entwicklung angesprochen wird, wie man sie auch von Kulturtechniken wie dem Buchdruck (bis zum E-Book) oder der Industrialisierung u.a. durch die Dampfmaschine (bis zu aktuellen Überlegungen für eine Quanten-Dampfmaschine von Nicole Yunger Halpern – kein Scherz!) kennt.

Daher steht Digitalisierung nicht für eine überraschend eingetretene Situation, sondern für einen Prozess, welcher mit der Proliferation von Technik im Alltag begann, sich mit gesellschaftlichen Auswirkungen in soziotechnische Systeme fortsetzte und heute primär im Sinne einer ubiquitären digitalen Wirtschaft zu verstehen ist. Natürlich – und diese Frage stellt sich sofort – gibt es eine „vor-digitale“ Wirtschaft, aber ein schneller Blick auf Tabelle 1 (vor Seite 1) mit einer Liste der wertvollsten Unternehmen der Welt zeigt, dass digitale Unternehmen heute diese Liste dominieren, d.h. dass Investoren in diesem Unternehmen trotz aller Unwägbarkeiten langfristig die Zukunft und einen nachhaltigen Unternehmenswert sehen.8

Zwar sind die globalen „digitalen“ Unternehmen facettenreich und umfassen Firmen mit klassischen Wurzeln in der Computertechnik über E-Commerce und Social Media bis zu Plattformen für den Zahlungsverkehr. Allen diesen Firmen ist aber mittlerweile gemeinsam, dass sie ganz oder teilweise das Geschäftsmodell von „Business Platforms“ verfolgen, welche später noch ausführlich betrachtet werden sollen. Unter der Gefahr der Simplifizierung, beruhen diese Plattform-Unternehmen nicht mehr auf Herstellung von Produkten (d.h. nicht mehr primär auf Boden, Maschinen und Arbeit), sondern auf der Schaffung von digitalen Marktplätzen für Transaktionen zwischen zwei Seiten eines Marktes.

Noch eines fällt in dieser Tabelle auf: Banken sind unter dem Top-100-Unternehmen nur noch in der zweiten Reihe zu finden; und wenn, sind es die Großbanken aus China und den USA. Die gleiche Duopol-Struktur findet sich auch bei den globalen digitalen Unternehmen, nämlich China und USA. Dieser globale Wettbewerb begleitet sowohl die Digitalisierung als auch die Entwicklung der führenden Banken weltweit und muss in die Frage nach der Rolle von Banken aus europäischer Sicht als ein weiterer Faktor einbezogen werden.

Insgesamt kann man Digitalisierung als Phänomen der Entwicklung eines soziotechnischen Systems beschreiben, welches (i) weder über Technologie zu verstehen ist noch (ii) zeitlich auf das hier und heute begrenzt ist. Zum Verständnis sind vielmehr die beteiligten Menschen (als ökonomische Akteure in verschiedenen Rollen von Entscheidern über Verhinderer bis zu Betroffenen sowie Ausgegrenzten) und die wirtschaftlichen Strukturen und deren dynamische Veränderungen ausschlaggebend.

Die Digitalisierung schreibt nicht Gesetze der Ökonomie neu. Aber grundsätzliche Gesetzmäßigkeiten werden durch sie in extremer Form und mit teilweise erstaunlichen Folgen ausgeprägt. Wie noch später diskutiert werden soll, führt beispielsweise die (fast) kostenfreie Verfügbarkeit von Informationen zu radikal veränderten „Transaction Costs“ (im Sinne des Nobelpreisträgers O. E. Williamson) und in der Folge aber nicht zu einer Desintermediation, sondern zu „natürlichen“ Monopolen und den Strukturen einer „Plattformökonomie“.

Wie schon Friedrich August von Hayek auf den Punkt brachte, gibt es in der Ökonomie weder die „eine“ Wahrheit, noch setzen sich erkannte oder historisch erfahrene Zusammenhänge ein für alle Mal durch, sondern jede Generation muss aufs Neue von den Zusammenhängen überzeugt werden. Um die Rolle der Banken am digitalen Scheideweg zu beschreiben, sind langfristigen Zusammenhänge wichtig und nicht technologische Details.

1.2Technologiewandel, die Dampfmaschine und das Beispiel der „Cutty Sark“

In der öffentlichen Diskussion zur Digitalisierung werden gerne Analogien zur industriellen Revolution gezogen, und der heutige Wandel in Unternehmen und Gesellschaft wird mit der Zeit der „ersten“ Dampfmaschine von 1769 verglichen. Dies mag zwar als Vergleich eingängig sein, ist aber mehrfach falsch. An der Historie der Dampfmaschine und am Beispiel des Segelklippers „Cutty Sark“ lassen sich charakteristische Strukturen eines vermeidlich plötzlichen Wandels illustrativ darstellen.

Auch wenn der folgende Ausflug in die Industriegeschichte auf den ersten Blick nicht viel mit der Digitalisierung zu tun haben mag, so lässt sich vieles auf die heutige Situation übertragen, wenn man von unterschiedlichen Zeitskalen her verallgemeinert. Der Wandel damals wie heute hängt von Zufällen, Vorarbeiten und speziellen Konstellationen ab. Menschen sind für Durchbrüche wichtiger als Technik: d.h. der Kaufmann anstelle des Technikers. Und Ängste sind ebenso wichtig wie Erfindungen. Insbesondere aber bestimmt eine Pfadabhängigkeit die Erfolgsgeschichte: innovative Ideen + Fortschritt in der Stahlbearbeitung + Technologietransfer aus anderen Bereichen + Eröffnung der Suez-Kanals + unternehmerischer Mut. Daher mag die Dampfmaschine viel über die heutige Digitalisierung und den digitalen Scheideweg erkennen lassen.

Basierend auf Vorüberlegungen im 17. Jahrhundert entwarf der französischer Physiker Denis Papin die erste atmosphärischen Kolbendampfmaschine schon 1690. Dennoch gilt die kolbenlose Dampfpumpe (als „The Miner’s Friend: Or, an Engine to Raise Water by Fire“) von Thomas Savery aus dem Jahr 1698 gilt als erste praktische Anwendung von Dampfkraft (zur Entwässerung von Bergwerken). Eine besser atmosphärische Dampfmaschine mit einem Kolben-Zylinder-System wurde 1712 von Thomas Newcomen konstruiert, der aber noch anfangs mit Thomas Savery aufgrund von Patentschutz zusammenarbeiten musste. Auch wenn der Wirkungsgrad magere 0,5 Prozent betrug, wurden diese Ungetüme erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch die verbesserten Dampfmaschinen von James Watt verdrängt.

Aus der Beschäftigung mit Maschinen von Thomas Newcomen heraus gelang es dann James Watt den Wirkungsgrad zu steigern und den Einsatzbereich zu erweitern. Er patentierte 1769 den separaten Kondensator als erstes Kernelement. Aber es dauerte bis 1776, um die erste Dampfmaschine nach dem Prinzip James Watt auch zu bauen, da erst John Wilkinson einen Zylinder aus Eisen in der erforderlichen Qualität fertigen konnte und dabei ein von ihm entwickeltes Verfahren für Kanonenrohre nutzte. Die Firma Wilkinson liefere dann diese Zylinder direkt an den Aufstellungsort, während die Firma Boulton & Watt für den Zusammenbau beim Kunden verantwortlich war und zuerst auch die Dampfmaschinen keineswegs verkaufte, sondern gegen ein Nutzungsentgelt vermietet.9 Als Benchmark für diese innovative Bezahlmodell diente die Einsparung an Brennstoffkosten ggü. „alten“ Newcomen-Dampfmaschinen, wozu James Watt eigens einen manipulationssicheren Zähler für die Zahl der Kolbenhübe entwickelte.10 Außerdem konstruiert die Firma Boulton & Watt ein Planetengetriebe zur Umsetzung der Kolben- in eine Drehbewegung, und James Watt führte den bereits bekannten Fliehkraftregler zur Regelung der Dampfmaschinen bei. Trotz aller technischen und kaufmännischen Innovationen verbreiteten sich in England die Dampfmaschinen aber erst ab Mitte des 19. Jahrhundert als Standard, während in Ländern mit gut verfügbarer Wasserkraft als Ressource die Verbreitung erst später einsetzte.

Kommen wir aber zurück zu Denis Papin, dem Konstrukteur der ersten atmosphärischen Kolbendampfmaschine. Schon 1707 baute er diese in ein Flussboot ein – das erste Dampfboot. Unglücklicherweise wurde das Schaufelraddampfboot bei der Jungfernfahrt auf der Weser von einer Schiffergilde aufgehalten und zerstört (ob nun wegen Passagerechten und/oder aus Angst vor einer neuen und arbeitsplatzgefährdenden Technologie ist unklar). Erst 1783 – und mit einer verbesserten Dampfmaschine nach James Watt – fuhr mit der von Marquis Claude François Jouffroy d’Abbans in Frankreich gebauten Pyroscaphe wieder ein Dampfschiff und verkehrte 16 Monate lang auf der Saône. Schon 1807 errichtete in den USA Robert Fulton einen Schiffspassagierdienst mit dem Raddampfer Clermont auf dem Hudson River, und 1817 wurde in Berlin Raddampfer „Prinzessin Charlotte von Preußen“ in Dienst gestellt – noch vor der ersten Eisenbahnlinie in Deutschland 1825. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen – nach den legendären Mississippi-Raddampfern – auch Dampfschiffe auf See zum Einsatz, doch waren sie den Segelschiffen von der Geschwindigkeit und bzgl. der notwendigen Kohleversorgung (noch) unterlegen.

Rund 100 Jahre nach James Watt wurde der Segelklipper „Cutty Sark“ im Jahr 1869 in Schottland gebaut – einer der schnellsten und einer der letzten Teeklipper. Obwohl im Teehandel Segelschiffe schon nicht mehr kommerziell mit Dampfschiffen konkurrieren konnten, bestanden gegenüber der „neuen“ (wenn auch eigentlich schon über hundert Jahre alten) Technologie in den Köpfen vieler Reeder immer noch falsche Vorstellungen. Aber auch die Angst vor einem radikalen Wandel von „Wind zu Dampf“ führte zu einem Festhalten am Althergebrachten und Bewährten. Dabei mag auch mitgespielt haben, dass zeitgenössische Dampfschiffe im direkten technischen Vergleich langsamer waren als ein hochgezüchteter Klipper. Wie aber schon bei der Entwicklung des kommerziellen Konzeptsder Dampfmaschine ermöglichten die Eröffnung des Suez-Kanals (ebenso 1869) und die weltweile Einrichtung von Kohlebunkern in Häfen wortwörtliche Netzwerkeffekte. Mit dieser Synergie der technologischen, logistischen und wirtschaftlichen Entwicklungen konnte auch eine Cutty Sark nicht mehr mithalten, wurde nur kurz im Teehandel eingesetzt und dann als Bedarfsfrachtschiff verwendet. Ein anderes Beispiel kann das 1911 vom Stapel gelaufene Segelschiff „Peking“ der Reederei F. Laeisz sein. Selbst Anfang des 20. Jahrhunderts war die Viermast-Stahlbark mit voller Besegelung unter besten Bedingungen immer noch schneller als damalige Dampfschiffe. Als Frachtschiff für den Transport von Chilesalpeter war sie auf der langen Strecke um Kap Horn nach Chile – der Panama-Kanal wurde erst Mitte 1920 freigegeben (!) – noch effizienter als Dampfschiffe, zumal im Salpetertransport es nicht unbedingt auf Einhaltung von Lieferzeitpunkten ankam. Implizit nutzte die Peking aber doch schon Dampfkraft, da sie ohne eigene Hilfsmotoren beim Ein- und Auslaufen sowie bei Sturm im Ärmelkanal auf Schlepperhilfe angewiesen war.

Ironischerweise überlebte die Cutty Sark die Ära der Dampfschiffe als Schulschiff bis 1954 und damit bis in die Zeit der modernen Schiffsmotoren (welche sich heute als umwelt- und klimabelastend zeigen). Letztlich ist technologischer Wandel ein langfristiger, pfadabhängiger, sprunghafter und keineswegs linearer Prozess. Auch wenn er dies auf das Geschichtsbild der Moderne bezog, so passt Ernst Blochs Diktum von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ durchaus auf die moderne Technologieentwicklung11. Die Cutty Sark oder die Peking wurden parallel zu Dampfschiffen vom Stapel gelassen, konnten sich in Nischen halten und überlebten sogar – wenn auch als Schulschiffe – das Dampfschiffzeitalter.

1.3Von der „analogen“ Wirtschaft zu „digitalen“ Herausforderungen

Lässt sich die Digitalisierung mit solchen historischen Entwicklungen von „analogen“ Industrien beschreiben? Ändern sich doch Grundregeln der Ökonomie? Oder führen nur andere – eben digitale – Rahmenbedingungen wie minimale Kosten für digitalen Informationsaustausch zu neuen Geschäftsmodellen?

Da der Werkzeugkasten der Betriebswirtschaft stark von jeweils aktuellen Beispielen und damit den Modellen der Vergangenheit geprägt wird, soll noch einmal ein Blick zurück auf die Automobilindustrie als Aushängeschild und als Gegenstand vieler Fallstudien, aber auch als persistiertes Denkmuster geworfen werden.

Nach den Anfängen der Automobilproduktion mit vielen Kleinstserienherstellen wird als Geburtsstunde der modernen Produktion – und Produktionstheorie – i.d.R. die Einführung des Fließbands bei den Werken von Henry Ford 1914 und die damit einhergehende Anwendung der von Frederick Winslow Taylor formulierten „Principles of Scientific Management“ von 1911 gesehen (Taylorismus). Ähnlich wie bei der Dampfmaschine war dies aber nur eine Momentaufnahme in einer langen Entwicklung, auch wenn diese durch einen plötzlichen Sprung der praktischen Umsetzung gekennzeichnet ist.

Die Arbeitsteilung wurde schon von Adam Smith gewürdigt, und Charles Babbage arbeitet dies in seinem Buch „On the Economy of Machinery and Manufactures“ von 1832 bis hin zu dem aus, was heute als Skaleneffekte (Economies of Scale) bezeichnet wird. Die praktische Umsetzung findet sich mit den Fließbändern in den Schlachthöfen von Cincinnati um 1870. Bis heute prägt die Idee der Berechenbarkeit12 (Taylor) als Grundlage der wirtschaftlich erfolgreichen Produktion (Ford) die Gedankenwelt der Stückkostenrechnung und der Soll-Planung mit fixen Prozessen – bis zu weltweit arbeitsteiligen und redundanzfreien Lieferketten.

Ein Gegenentwurf ist das von ca. 1950 bis in die 1980er Jahre aufgebaute Toyota Production System (TPS, japanisch ), welches maßgeblich von Taiichi Ohno entwickelt und von Eiji Toyoda eingeführt wurde. Es setzt im Kern am realen, nicht optimalen Ist-Zustand an, vermeidet die Kontrollillusion einer Planbarkeit am grünen Tisch, stellt eine stetige, kontinuierliche Nach- und Verbesserung „an der Quelle“ in den Vordergrund und begleitet dies mit einer angemessenen Weiterbildung aller Mitarbeiter/innen.

Nun ein Zeitsprung: zuerst Elon Musk und danach die Covid-19-Pandemie. Beides kann man zurecht als „digitale“ Herausforderung beschreiben, da jeweils Abstufungen oder Zwischentöne fehlen und es sozusagen „0“ oder „1“ Situationen sind.

Beginnt man mit Elon Musk, so hat er bildhaft als Landratte das Dampfschiff gebaut; bzw. ein fahrbares Stück Software mit einer großen Batterie aus vielen kleinen Lithium-Ionen-Batteriezellen, wie diese auch in Laptops oder Smartphones zu finden sind. Wie er in einem Interview mit der WirtschaftsWoche 2013 eingestand, hatte er – vor Tesla – keine Ahnung von Autos und – vor SpaceX13 – keine Ahnung von Raketen.

Elon Musk ist aber ein charismatischer Visionär, ein erfolgreichen Gründer (vom X.com als einer der PayPal-Wurzeln) und ein durchhaltefähiger Entrepreneur, der davon überzeugt ist, dass Autos oder Raketen auch anders und besser gemacht werden können, wenn Visionen und nicht eine Fortschreibung der Vergangenheit der Ansatzpunkt sind. Und im diesem Sinne reiht sich Elon Musk bei anderen (und keineswegs unumstrittenen) Entrepreneurs des Digitalzeitalters ein: von Bill Gates, Steven Jobs, Larry Ellison, Jeff Bezos, Sergey Brin/Larry Page, Jack Ma, Pony Ma/Tony Zhang bis zu Mark Zuckerberg.

Auch wenn Elon Musks Tesla oft als „disruptive Innovation“ bezeichnet wird, so stimmt dies nicht – zumindest nicht im Sinne des Begriffs, wie er von Clayton M. Christensen und Joseph L. Bower 1995 in einem Artikel über „Disruptive Technologies: Catching the Wave“ eingeführt wurde. Denn im ursprünglichen Sinne sind „disruptive“ Technologien einfachere (d.h. abgespeckte), billigere (für eine Einstiegszielgruppe) und kundenorientierte (statt technologiefokussiert) technische Produkte. Der Originalartikel beschreibt daher detailliert die Entwicklung im Festplattenmarkt für Computer und die „Disruption“ der hochtechnologischen High-End-Platten durch kleine, einfache, billige Festplatten für PCs. Ein Tesla ist dagegen ein teurer Sportwagen oder zumindest ein Mittelklassefahrzeug.

Insgesamt ist Tesla aber ein gutes Beispiel für „Digitalisierung“. Denn Tesla ist keine Neuauflage der „großen Zeit“ der Elektroautos von 1896 bis 1912, als diese Verbrennungsmotoren überlegen waren – aber eben als Kutschen mit Elektromotor. Ebenso ist Tesla keine „analoge“ Weiterentwicklung vorhandener Autotypen mit ausgetauschtem Antrieb. Zugespitzt formuliert, repräsentiert Tesla die Digitalisierung im Sinne einer Neukonzeption der Mobilität um einen Kern aus Software, Update-Fähigkeit und Konnektivität, großem Flachbildschirm und skalierender Batterieleistung.