Banshee Livie (Band 3): Sterben für Profis - Miriam Rademacher - E-Book

Banshee Livie (Band 3): Sterben für Profis E-Book

Miriam Rademacher

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Beschreibung

Als Livies Herz von einem Moment zum anderen wieder zu schlagen beginnt, glaubt sie zunächst an eine Art Belohnung. Und auch ein Aufenthalt an der Küste Cornwalls klingt im ersten Moment eher verlockend als abschreckend. Doch schon bald wäre sie lieber wieder tot in ihrer Dachkammer als lebendig in Venice Garden. Denn an diesem Ort stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern wie viele ihrer Freunde sterben müssen.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Dank

 

Miriam Rademacher

 

 

Banshee Livie

Band 3: Sterben für Profis

 

 

Fantasy

 

Banshee Livie (Band 3): Sterben für Profis

Als Livies Herz von einem Moment zum anderen wieder zu schlagen beginnt, glaubt sie zunächst an eine Art Belohnung. Und auch ein Aufenthalt an der Küste Cornwalls klingt im ersten Moment eher verlockend als abschreckend. Doch schon bald wäre sie lieber wieder tot in ihrer Dachkammer als lebendig in Venice Garden. Denn an diesem Ort stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern wie viele ihrer Freunde sterben müssen.

 

 

Die Autorin

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Oktober 2018

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2018

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König

Korrektorat: Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

Druck und Bindung: Smilkov Print Ltd.

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

ISBN Taschenbuch: 9783038960041

ISBN E-Book epub: 9783038960034

 

 

 

 

 

In Erinnerung an Inga Wagner

Auch wenn du keines meiner Bücher mehr lesen konntest,

weiß ich doch, dass sie dir gefallen.

 

Prolog

 

England im Jahre 1230

 

Der Bärtige in dem teuren Zweireiher gehörte in diese Zeit und an diesen Ort wie ein Ferrari in die Renaissance. Doch er klopfte selbstbewusst an die schwere Holztür, die zu einer schlichten Behausung inmitten eines verwilderten Gartens gehörte.

»Wer da? Wir öffnen niemandem nach Einbruch der Dunkelheit. Es sei denn, er darf sich unser Freund nennen«, drang die kraftvolle Stimme eines Mannes zu ihm heraus.

Der Bärtige verzog das Gesicht und antwortete: »Ich bin kein Feind, so viel kann ich versprechen. Jedoch schimpfe ich mich auch keines Menschen Freund. Und der Ihre bin ich schon gar nicht, Scotus, Sie alter Spinner.«

Ein Riegel wurde zurückgezogen. Mit einem Ruck öffnete sich die Tür und ein etwa fünfzigjähriger Mann, mit einem umgedrehten Holzeimer auf dem Hinterkopf, der seine Stirn bis zu den Augenbrauen bedeckte, erschien auf der Schwelle. Er schien empört.

»Spinner? Spinner werde ich genannt? Ich bin ein Philosoph! Ein Alchemist und Astrologe! Und wer sind Sie, dass Sie mich ungestraft als Spinner bezeichnen dürfen?«

»Sylphus nenne ich mich ganz gern. Wie wollen Sie mich nennen?«, fragte der Bärtige gelassen.

»Allmächtiger«, entfuhr es dem Mann mit der seltsamen Kopfbedeckung, während er sich an die Brust griff, als hätte sein Herz angedroht, ihm den Dienst zu versagen.

»Allmächtiger? Ja. Das geht auch. Darf ich eintreten?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich der Besucher ins Innere des Hauses und sah im Schein der Feuerstelle auf zwei Gestalten, die an einem Holztisch vor vollen Suppentellern saßen. Die eine war ein schmächtiger Junge mit blondem Haar, den ein Betrachter auf höchstens zwölf Jahre schätzen würde. Der andere war ein kleinwüchsiger Mann mit eisgrauen Locken.

Der Bärtige nickte den beiden zu. »Und hier sitzt der großartige Alchemist, den ich gesucht habe. Hallo, Zach, du wächst wohl wirklich nicht mehr, oder? Und das ist also Liam. Der Junge, der die Welt ins Chaos stürzte und letztendlich doch zu ihrer Rettung beitrug. Hallo, Liam, wir kennen uns noch nicht. Fühlst du dich wohl im dreizehnten Jahrhundert? Keine Playstation vorhanden, nicht wahr? Sehr bedauerlich.«

»Diese Zeit ist der, in welche Liam hineingeboren wurde, ähnlicher als die der Spielekonsolen«, erwiderte der kleine Mann namens Zach und musterte den Neuankömmling mit wenig Begeisterung. »Ist es unter deiner Würde, dich den Gepflogenheiten und dem Kleidungsstil der Zeit anzupassen, in der du dich herumtreibst, Sylph?«

Im Laufe dieses Wortgeplänkels hatte der Mann mit dem Eimer auf dem Kopf die Haustür erneut verriegelt. Jetzt lief er wie ein aufgescheuchtes Huhn zur Feuerstelle und rief: »Eine heiße Suppe. Eine schöne heiße Suppe für den Dämon, die wird ihm schmecken.«

Der Bärtige runzelte die Stirn. »So werde ich nicht gern genannt. Sylph, meine ich. Dämon geht in Ordnung.«

Er zog einen dreibeinigen Hocker heran, setzte sich Zach gegenüber an den Küchentisch und ließ sich von Michael Scotus eine Schüssel Suppe servieren. Ohne den Eigentümer der Hütte eines Blickes zu würdigen, fragte der Dämon seinen Tischnachbarn: »Warum trägt unser Gastgeber einen Eimer auf seinem Kopf spazieren?«

»Vorhersehung. Er hat sich selbst geweissagt, dass ein kleiner Stein ihn am Kopf treffen und ihn das Leben kosten wird. Wann das sein wird, weiß niemand. Auch Michael nicht. Doch seitdem bastelt er an dem perfekten Kopfschutz, um seinem Schicksal zu entgehen«, antwortete Zach und zog den Jungen namens Liam, der verängstigt auf den Besucher starrte, näher zu sich heran.

»Dann fürchte ich, hat er noch eine Menge Arbeit vor sich. Sein Helm ist lachhaft, aber seine Suppe duftet köstlich.«

»Da die Suppe dich wohl nicht hergeführt hat, würde ich es begrüßen, wenn du gleich zur Sache kommen würdest, Sylph. Du machst den Jungen nervös.« Zach klang höflich, aber bestimmt.

»Oh, natürlich. Das ist schnell erzählt. Ich habe mir zwei Freunde von dir für eine Gefälligkeit ausgeliehen und denke mir, dass du ihnen vielleicht in den nächsten Tagen zur Hand gehen möchtest.«

Jetzt war es Zach, der die Stirn krauste. »Ausgeliehen? Wie kann man sich Freunde ausleihen? Und um was für eine Gefälligkeit geht es dabei?«

Der Bärtige lächelte herablassend. »Wer nicht einmal sich selbst gehört, kann natürlich verliehen werden. Du kennst Luzian, den schlecht gelaunten Feuerdämon, nehme ich an? Ich habe mir von ihm seinen Todesboten Walt geborgt und ebenso eine fidele Banshee namens Livie. Die beiden wissen noch nichts von ihrem Glück, doch das wird sich bald ändern. Und ich bin zuversichtlich, dass sie ihre neue Aufgabe meistern werden. Schließlich konnten sie ja auch die Welt retten.«

Der Bärtige deutete vielsagend auf Liam, der sich eng an Zach drückte und den Fremden nicht ansah.

Zach seufzte. »Meiner Meinung nach hätten Walt und Livie dafür eine nettere Belohnung verdient, als für dich irgendeine Drecksarbeit zu erledigen. Ich vermute, es hat entweder mit viel Geld oder etwas mit einer hübschen Frau zu tun?«

»Wie kommst du denn darauf?« Der Dämon bemühte sich um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck.

»Eine Frau also? Ihr Dämonen seid so leicht zu durchschauen, wenn es um eure Schwächen geht. So seid ihr eben gestrickt. Ob Feuer-, Wasser- oder Erddämon, der verführerische Wimpernschlag einer hübschen Frau reicht aus und ihr verliert den Kopf.«

Der Bärtige beugte sich über seinen Suppenteller und schlug die Augen nieder, als fühlte er sich ertappt. Doch schon nach wenigen Löffeln nahm er das Gespräch wieder auf. »Wie steht es also mit uns? Wirst du dich deinen Freunden anschließen? Ihr wart bei der Weltrettung ein hervorragendes Team. Ich würde es begrüßen, dich wieder an ihrer Seite zu wissen. Und du willst doch auch nicht, dass Walt oder Livie zu Schaden kommen, oder?«

»Walt ist ein Todesbote und Livie ist eine Banshee«, meinte Zach schulterzuckend. »Die beiden sind so tot wie der Holzeimer auf Michaels Kopf. Wie sollten sie zu Schaden kommen? Wer könnte ihnen zufügen, was sie nicht schon überstanden haben? Und was willst du mir anbieten, damit ich mich ebenfalls in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang stürze? Oder kommst du mit leeren Händen?«

Der Dämon legte den Löffel beiseite. In seinem Teller begann es zu brodeln. Dampfwölkchen stiegen von ihm auf und verbreiteten einen aromatischen Duft. »Ich habe mich wohl unklar ausgedrückt. Ich eröffne dir die Möglichkeit, deinen Freunden beizustehen. Das erhöht für alle Beteiligten die Chance auf einen guten Ausgang dieser Geschichte. Und wenn du an deinen Freunden noch Interesse hast, sollte dir das Motivation genug sein.«

Zach hob eine Augenbraue. Doch als er bemerkte, wie sehr der Junge an seiner Seite nun vor Angst zitterte, gab er ein Seufzen von sich und senkte den Blick. »Aber natürlich werde ich meinen Freunden helfen. Da du es für nötig hältst, mich darum zu bitten, vermute ich, dass es sich um ein sehr gefährliches Abenteuer handelt. Auch wenn ich annehme, dass zwei tote Geistwesen nicht wirklich in Lebensgefahr geraten können. Wo und wann also führt mein Weg mich hin?« Er sah den Bärtigen fragend an.

In dessen Stimme war ein verschlagener Unterton deutlich hörbar, als er antwortete: »Tot? Eine Banshee und ihr Todesbote sind in deinen Augen einfach nur tot? Tja, das mit dem Tod ist eine seltsame Sache, Zach. Er wird so lange für das Schlimmste gehalten, bis uns noch Schlimmeres widerfährt. Aber ich bin hier nicht für das Philosophieren zuständig.«

Bei diesen Worten hob der Mann mit dem Eimer auf dem Kopf stolz das Kinn und machte Anstalten, etwas zum Gespräch beizutragen. Doch der Dämon brachte ihn mit einem einzigen Blick zum Schweigen, bevor er fortfuhr.

»Dein Weg führt dich wieder in das 21. Jahrhundert. Nach Cornwall. Direkt an der nördlichen Küste liegt ein Ort namens Fishing Falls. Es ist sehr hübsch dort, insbesondere die kleine Ansammlung von Ferienhäusern in der Bucht westlich des Dorfes verdient deine Aufmerksamkeit. Einer der Bungalows gehörte bis vor Kurzem mir. In dieser Bucht wirst du auf deine Freunde treffen.«

Der ungeladene Gast ließ den Löffel in die noch immer dampfende Suppe fallen, erhob sich und nickte allen Anwesenden noch einmal zu. Dann ging er zur Tür, die Scotus eilfertig für ihn öffnete. Kaum dass er gegangen und hinter ihm erneut verriegelt worden war, begannen alle gleichzeitig zu sprechen.

»Sylphus, der Elementargeist, der mächtige Dämon der Lüfte, besucht mich in meinem bescheidenen Heim. Was für ein Ereignis!«, rief Scotus und machte einen Luftsprung.

»Ein Elementargeist? Was ist ein Elementargeist? Ist er böse oder gut?«, wollte Liam wissen, dessen Miene sich mit dem Verschwinden des Besuchers wieder entspannt hatte.

Zach, der derweil ein paar deftige Flüche vor sich hin gemurmelt hatte, klopfte mit seinem Suppenlöffel auf der Tischplatte herum und antwortete dem Jungen bereitwillig, als alle still geworden waren: »Die Elementargeister sind so etwas wie die Politiker unter den Dämonen. Sie versuchen, die Geschicke aller zu lenken. Sie haben große Macht.«

»Aber sind sie gut oder sind sie böse?«, beharrte Liam auf der vollständigen Beantwortung seiner Frage.

»Das ist wie bei manchen Politikern. Das weiß man nicht immer ganz genau. Auf jeden Fall sind sie stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Und sie sind nie zu unterschätzen.« Zach umarmte Liam kurz und heftig. »Es ist besser, wenn du hier bei Michael bleibst und ich allein nach Cornwall aufbreche. Michael kann dir noch so vieles beibringen und mir scheint, dass mein Weg mich direkt in große Gefahr führt. Ich wüsste dich lieber hier in Sicherheit.«

Liam sah zu dem Mann mit dem Eimer auf dem Kopf hinüber, der schon wieder pfeifend in der Suppe rührte, lächelte und nickte. Ihm schien ein längerer Aufenthalt bei dem eigenartigen Mann mit dem Eimer auf dem Kopf sehr recht zu sein.

»Guter Junge. Ich komme zurück, sobald ich kann. Und wenn du bis dahin brav gelernt hast, was Michael Scotus dir zu bieten hat, verrate ich dir als Belohnung eines der großen Geheimnisse dieser Welt«, versprach Zach.

»Welches Geheimnis? Etwa, wie man Gold machen kann?«, rief Liam und riss die Augen auf.

»Nein, wie man niemals einen Schnupfen bekommt. Für dieses Wissen würde so mancher Mensch töten.«

Zach verabschiedete sich von seinen Freunden und brach noch in derselben Minute auf.

Und während Liam von Michael Scotus persönlich alles über den perfekten Kopfschutz lernte, erreichte der kleine Alchemist lange vor seinen Freunden den Ort Fishing Falls an der englischen Küste.

Kapitel 1

 

Ich finde deine neue Wandfarbe extrem scheußlich, Tante Ethel«, sagte ich und betrachtete die violette Pracht um mich herum.

»Livie findet deine Wandfarbe scheußlich, Ethel«, wiederholte Gina artig meinen Satz und brachte meine Tante damit zum Lachen.

»Sie muss ja auch nicht dir, sondern mir gefallen, Livie-Maus.«

Da waren sie wieder. All die stümperhaften Versuche, meinen Namen zu verniedlichen.

»Livie-Maus fand ich schon immer furchtbar, und das weißt du auch«, sagte ich, woraufhin Gina meine Worte wiederholte.

Es nervte zwar etwas, ein lebendiges Echo neben sich sitzen zu haben, aber es war der einzige Weg, auf dem ich mich mit meiner Tante unterhalten konnte. Denn ich war tot und meine schräge Tante Ethel dafür quicklebendig.

Als Banshee hatte ich die Wahl, stumm zu erscheinen, um vor drohenden Gefahren zu warnen, oder aber unsichtbar zu jammern, zu schreien und zu klagen. Auf diese Weise ließ sich keine sinnvolle Unterhaltung mit meiner Tante führen, der ich eigentlich gar nicht erscheinen durfte, da sie schlichtweg nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fiel.

Aber dafür hatte ich ja Gina mitgebracht. Gina, Medium und Hobbyhexe, konnte mich sowohl sehen als auch hören und war somit mein Ticket zurück in die Welt der Lebenden. Wir hatten uns bei einem gefährlichen Abenteuer vor einigen Monaten in London kennengelernt. Die damaligen Ereignisse hatten Gina ihren linken Arm gekostet, weswegen sie ihren Beruf als Floristin nicht mehr ausüben konnte. Nachdem sie sich von diesem Schock erholt hatte, hatte sie den Entschluss gefasst, ein professionelles Medium zu werden, und ich hatte ihr meine Tante als ersten zahlenden Kunden ans Herz gelegt.

Tante Ethel, von jeher von der Existenz von Geistern überzeugt, fand es kein bisschen seltsam, dass ich nun wieder in ihrem Leben aufgetaucht war. Ziemlich tot zwar, aber dafür gut gelaunt. Meine Tante amüsierte sich königlich darüber und ihr altes Gesicht blühte bei jedem unserer Treffen auf.

»Erzähl mir doch noch einmal von der Familie, für die du jetzt arbeitest, Livie-Schatz. Das müssen ja ganz seltsame Leute sein«, sagte Tante Ethel und brachte ungerührt einen weiteren Kosenamen an.

Oh ja. Das waren sie. Die Harrowmores, Bewohner eines gleichnamigen Landsitzes nahe der schottischen Grenze, deren Banshee zu sein ich die Ehre hatte, waren sehr speziell.

Und so erzählte ich bereitwillig von Lady Claire, die nachts den Mond ansang, und von ihrem Gatten Lord Alistair, der sich zwar redlich bemüht hatte, aus seinen Kindern Millicent und Cameron vernünftige Menschen zu machen, aber auch dort versagt hatte. Millicent, als Wiedergeburt eines Druiden namens Badria, war meine beste Freundin geworden und leider zog sie Katastrophen an wie ein Magnet.

Auch die dritte Generation der Harrowmores, Camerons Kinder Jonathan und Patrick, brachten sich immer wieder in lebensgefährliche Situationen und hielten mich damit auf Trab.

Sie waren der Grund, warum ich Tante Ethel in ihrer Londoner Wohnung nur selten besuchen konnte. Ich war für die ganze Bande verantwortlich, verhinderte Unfälle und hatte stets ihr Schicksal im Blick. Nun, Letzteres erledigte Walt für mich. Mein Todesbote.

»Livie-Hase, ich möchte dich so gern noch einmal sehen. Nur ganz kurz. Kannst du das machen?«

»Ich weiß nicht, Tante Ethel. Ich möchte keinen Ärger kriegen. Und Walt sieht es gar nicht gern, wenn ich dich besuche. Ich glaube, er lässt mir das nur durchgehen, weil ich ihm erzählt habe, dass du schon immer an Geister geglaubt hast, und weil Gina dazwischengeschaltet ist.«

»Livie sagt, sie hält das für keine gute Idee, weil …«

Gott, wie sehr mich Ginas ewige Wiederholungen nervten. Es war schlimmer als eine schlechte Telefonverbindung, bei der man das Echo der eigenen Stimme ertragen musste.

»Nur ganz kurz, Livie. Es bleibt unter uns. Dein Walt muss es ja nicht erfahren«, bettelte Tante Ethel weiter.

»Hast du eine Ahnung. Der kriegt irgendwie alles raus und schwupp, steht er plötzlich neben mir. Der hat eine besondere Antenne für mich. Nichts ist schwerer, als ein Geheimnis vor Walt zu bewahren. Wenn ich ihn nicht so abgöttisch lieben würde, würde ich ihn dafür hassen«, antwortete ich düster.

Gina sah mich fragend an. »Soll ich das wirklich so weitergeben?«

Anstelle einer Antwort fasste ich einen spontanen Entschluss.

Warum ließ ich mich eigentlich immer von Walt bevormunden? Selbst wenn er nicht einmal anwesend war? Was war schon dabei, einmal kurz für Tante Ethel sichtbar zu werden? Ich musste nur ein paar Muskeln anspannen und mich dabei konzentrieren. Dann würde ich ihr mein sanftestes Lächeln schenken und zum Abschied damenhaft winken. Keine große Sache.

Gesagt, getan. Ich konzentrierte mich, spannte meine Muskeln an und setzte mein Sonntagslächeln auf. Und schon erschien ich. Mitten in Tante Ethels pinkfarbener Polstergarnitur. Und Tante Ethel riss augenblicklich Mund und Augen auf und stieß einen lauten und durchdringenden Schrei aus.

Vor Schreck wurde ich gleich wieder unsichtbar und fragte Gina: »Was ist los? Habe ich mich in ein Monster verwandelt? Fällt mir das Fleisch von den Knochen?«

»Nichts Derartiges, ehrlich nicht«, stotterte Gina. »Du siehst aus wie immer, ganz genau wie immer.«

Ich sah an mir hinunter. Noch immer trug ich das weiße Fetzenkleid, in dem ich wie das Model des Vorher-Fotos in einer Diät-Werbung aussah. Ein neues Banshee-Kleid, welches ich mir mit unserem letzten Abenteuer redlich verdient hatte, würde ich bald selbst aussuchen dürfen, das hatte Walt versprochen. Doch aus unerfindlichen Gründen musste für meinen Einkaufsbummel Vollmond sein, und der war eben noch nicht wieder gewesen.

Weiter davon ausgehend, dass Gina die Wahrheit sagte und auch mein Gesicht noch immer jugendlich und frisch unter meinen dunklen Locken wirkte, gab es keinen Grund zur Aufregung.

»Was ist dann mit meiner Tante los?«, wollte ich wissen und deutete auf Tante Ethel, die jetzt die Hände vor ihr Gesicht geschlagen hatte und leise wimmerte.

Gina gab meine Frage weiter. Doch es dauerte eine volle Minute, bis wir eine Antwort erhielten, die wir beide nicht verstanden.

»Der Schatten des Todes. Ich kann ihn sehen. Er steht hinter dir«, presste Tante Ethel hervor und wedelte dazu mit den Händen in der Luft herum. Sie hatte schon immer einen Hang für Dramatik.

Schatten des Todes? Ich drehte mich im Sofa um. Kein Schatten. Hinter mir war nur die grässliche violette Wand.

»Deine Aura, Livie! Sie ist schwarz wie Tinte. Wie bei einem Todgeweihten!«

Jetzt dämmerte es mir. Meine Tante hatte sich schon immer für alle möglichen Formen von Aberglauben erwärmt. Stets hatte sie behauptet, die Aura eines Menschen sehen zu können. Und zu meinen Lebzeiten war meine Aura angeblich smaragdgrün gewesen.

Gina schien ebenfalls verstanden zu haben, denn sie sagte: »Vielleicht sieht Livies Aura jetzt immer so aus. Schließlich ist sie eine Banshee.«

Aber Tante Ethel schüttelte energisch den Kopf. »Als ich Livie das letzte Mal sah, war sie auch schon eine Banshee und ihre Aura war nicht schwarz. Tatsächlich habe ich damals überhaupt keine Aura an ihr bemerkt. Aber dieser Vorbote des Todes, der jetzt an ihr klebt, ist kaum zu übersehen. Du befindest dich in Lebensgefahr, Livie!«

»Ich kann mich nicht in Lebensgefahr befinden, Tante Ethel. Ich bin schon tot«, ließ ich Gina sagen und rollte genervt mit den Augen.

Doch Tante Ethel war nicht zu beruhigen. »Eine Aura kann nicht lügen. Du wirst sterben, Livie-Maus. Es tut mir so leid für dich.«

»Gina, erklär ihr doch bitte, dass man nicht zweimal sterben kann«, sagte ich und gab meiner Freundin einen kleinen Stoß mit der Stiefelspitze gegen ihr Schienbein.

»Bist du dir da auch ganz sicher, Livie?«, erwiderte Gina und sah mich zweifelnd an.

»Ob ich mir da sicher bin? Natürlich bin ich mir sicher. Hast du schon mal von jemandem gehört, der zweimal gestorben ist? Ganz davon abgesehen, dass mir einmal wirklich gereicht hat. So toll war es nun auch wieder nicht, dass ich das mehrfach machen muss.«

»Und da bist du dir wirklich ganz sicher? Ich meine, was wissen wir denn schon groß über den Tod? Sollten wir nicht lieber Walt fragen?«

Gina schien nicht überzeugt. Sie gestikulierte ein wenig mit ihrem verbliebenen Arm in der Luft herum und verriet mir damit, wie sehr Tante Ethels Entdeckung sie beunruhigt hatte.

Ich spürte, wie ich langsam ärgerlich wurde. »Das ist doch albern. Man muss lebendig sein, um sterben zu können. Und ich bin nicht lebendig. Möchtest du meinen Puls fühlen?«

Ich hielt Gina mein Handgelenk unter die Nase und sie betrachtete es wie ein seltenes Insekt. Nach meinem Puls tastete sie nicht.

Stattdessen sagte sie nur: »Ich kann keinen schwarzen Schatten erkennen«, und wandte sich Tante Ethel zu, die sich gerade ein Glas Portwein zur Stärkung einschenkte. »Wie macht man das eigentlich? Auren sehen?«

»Na, du guckst einfach ganz genau hin und schon sind sie da«, verkündete Tante Ethel und trank ihren Port in einem Rutsch aus. »Deine Aura, liebe Gina, ist übrigens weinrot. Sie ist voller Leidenschaft und Energie. Die von meiner Livie-Maus ist völlig ausgebrannt. Eine Ruine. Der Schatten einer Aura.«

»Ich hab überhaupt keinen Schatten! Nicht mal im Sonnenlicht!«, protestierte ich ein weiteres Mal.

Aber keine der beiden Grazien beachtete mich. Bei Tante Ethel konnte ich das entschuldigen, aber nicht bei Gina.

»Sag ihr gefälligst, was ich gesagt habe«, fauchte ich sie an.

Doch Gina musterte mich stattdessen aufmerksam und meinte schließlich: »Doch. Ich glaube, jetzt kann ich es auch sehen. Ein rußig-schwarzer Schatten. Gleich hinter dir.«

Ich zeigte ihr einen Vogel, erstarrte jedoch in der Bewegung, als Tante Ethel die Hände faltete und in beschwörendem Ton sagte: »Du musst auf dich aufpassen, Livie. Du musst dem Tod davonlaufen. Versuch es zumindest. Tu es für mich. Ich will dich nicht noch einmal begraben müssen.«

Ihre eindringliche Stimme machte mir klar, wie groß ihre Sorge um mich war. Um mich. Ihr totes Patenkind.

»Sag ihr, dass ich auf mich aufpassen werde, Gina. Sag ihr, dass alles gut wird«, soufflierte ich meinem Medium. Dann blickte ich erneut misstrauisch hinter mich.

 

Am Abend desselben Tages stand ich in meiner Dachkammer auf Schloss Harrowmore vor dem Spiegel und drehte mich immer wieder um die eigene Achse. Sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine Aura und keinen Schatten entdecken.

»Was machst du da?«, fragte eine tiefe Stimme.

Walt war gekommen. Mein Todesbote, das Gesicht wie stets verborgen unter der Kapuze einer rotbraunen Kutte, lehnte neben dem Rundfenster, welches mir einen traumhaften Ausblick auf die Gärten des Schlosses bescherte.

Dass ich ihn nicht hatte kommen hören, war nicht verwunderlich. Walt teleportierte sich bei Bedarf munter durch Raum und Zeit. Auch ich hatte kürzlich gelernt, auf diese Weise zu reisen, musste aber noch mit kleinen Pannen bezüglich der Zielorte leben. Nicht immer landete ich dort, wohin ich gewollt hatte. Aber ich wurde immer besser.

»Was ist eine Aura, Walt?«, fragte ich und drehte mich erneut um mich selbst, um meine Kehrseite im Spiegel zu betrachten. Kein rußig-schwarzer Schatten klebte an meinem Hintern. Natürlich nicht.

»Eine Aura ist eine Art Fußabdruck deiner Seele«, sagte Walt.

Enttäuscht löste ich die Anspannung und mein Spiegelbild verschwand. »Das verstehe ich nicht. Kann ich nicht einmal eine Antwort bekommen, die ich verstehe? Nur mal so zur Abwechslung.«

»Es ist außerdem eine Sehstörung zu Beginn einer Migräne und ein finnischer Käse. Von welcher Aura sprechen wir gerade?«, fragte Walt.

»Von der, die bei mir angeblich schwarz geworden ist. Tante Ethel sagt, das bedeutet, dass ich bald sterben werde.«

»Deine Tante Ethel hat nicht rein zufällig vergessen, dass du bereits seit geraumer Zeit tot bist?«

»Natürlich nicht.«

»Dann müsste sich dir die Lächerlichkeit ihrer Aussage geradezu aufdrängen.«

»Ich werde also nicht noch einmal sterben?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Sehr unwahrscheinlich.«

Ich war noch nicht ganz beruhigt. »Würdest du als mein Todesbote wissen, ob ich noch einmal sterben werde?«

»Ich sehe das Schicksal der Harrowmores in meinen Visionen, nicht das deine oder das meine. Aber wenn es dich beruhigt, verspreche ich dir, dass du kein weiteres Mal sterben musst, in Ordnung?« Er nahm meine Hand und küsste meine Fingerspitzen, wie er es oft zu tun pflegte. Dann hielt er inne. »Wieso hat deine Tante dich überhaupt gesehen? Ich denke, du kommunizierst mit ihr dank Ginas Hilfe. Von Live-Auftritten war keine Rede, Livie. Das wird Ethel nur aufwühlen.«

Mist, schon wieder verplappert.

Ich antwortete ihm nicht, ließ ihn ein bisschen schimpfen und dachte derweil noch einmal über die jüngsten Ereignisse nach.

Tante Ethel war eben Tante Ethel. Ein bisschen durchgeknallt und inzwischen auch schon ein bisschen alt und wohl nicht mehr ganz auf der Höhe. Und wer konnte besser über Leben und Tod Bescheid wissen als mein Todesbote, der immer noch mit mir schimpfte?

Na also.

Ich nickte zweimal demütig, obwohl ich von Walts Predigt gar nichts mitbekommen hatte, und suchte nach einem Themawechsel, der ihm gefallen könnte. Doch darum kümmerte sich nur einen Augenblick später eine andere.

»Wie findet ihr dieses Kleid?«, rief in diesem Moment eine Frauenstimme und schon drehte sich Millicent wie ein Kreisel vor uns und ließ dabei einen Traum aus cremeweißer Seide mit passendem Schal flattern.

»Hör mal, Millie, ich finde es ja ganz toll, dass du teleportieren kannst, aber könntest du nicht auch mal wieder zur Tür reinkommen, wenn du mich besuchst? Die Tür birgt nämlich den Vorteil, dass man anklopfen kann, bevor man irgendwo reinplatzt«, sagte ich statt einer Begrüßung und hüstelte, weil Millie und ihr Kleid reichlich Staub aufwirbelten.

»Oh, tut mir leid, habe ich euch bei irgendetwas gestört?«, rief sie und zwinkerte mir zu.

Millicent Harrowmore war nicht gerade das, was man unter einer klassischen Schönheit verstand. Ihre Augen waren zu groß, die Lippen zu voll, die Nase zu lang. Ihr ganzes Gesicht wurde geprägt durch das kleine Wörtchen »zu«. Aber ihr langes rotes Haar, das ihr über den Rücken fiel, und ihre schlanke Gestalt gaben ihrem Aussehen einen ganz besonderen Reiz.

Die Tatsache, dass sie die Wiedergeburt eines Druiden namens Badria war, ermöglichte es ihr nicht nur, Walt und mich zu sehen und zu hören, es gab ihr auch die Möglichkeit, sich selbst per Teleport in jeden Teil ihres Elternhauses und auch durch Raum und Zeit zu schicken. Und jetzt tanzte sie in ihrem eleganten Fummel durch meine Dachkammer.

»Wofür ist das Kleid? Willst du darin vielleicht ausreiten oder im Garten Rosen hochbinden? Oder willst du eurer Perle Ruthie in diesem Aufzug beim Kartoffelnschälen helfen?«, fragte ich und blickte kopfschüttelnd auf den glänzenden Stoff.

»Sei nicht albern, Livie. Das Kleid ist natürlich für die Gartenparty.«

»Natürlich. Wie hatte ich das vergessen können«, säuselte ich und ließ mich auf mein Sofa sinken. Das gute Stück aus längst vergangener Zeit diente mir seit meinem Tod als Schlafstelle.

Millie überhörte meinen Tonfall und plapperte einfach weiter: »Ich habe das gleiche Kleid auch in Blau anprobiert, was zu meinen Haaren wirklich spektakulär aussah. Aber dieser Farbton erschien mir dann doch edler. Was wirst du tragen, Livie?«

»Dasselbe wie immer«, erwiderte ich und wies vorwurfsvoll auf den Modeunfall, in dem ich noch immer steckte. »Walt vertröstet mich ja ständig.«

»Ich kann dir jederzeit ein Banshee-Kleid anschnippen«, verteidigte er sich und machte eine entsprechende Bewegung mit Daumen und Mittelfinger. »Aber ich denke, dass du dir mit deinem letzten Abenteuer ein ganz besonderes Kleid verdient hast. Und die Samtriesen darf man nur in Vollmondnächten bemühen, das ist nun einmal so.«

»Samtriesen?« Ich riss die Augen auf. »Was sollen denn das für Kerle sein? Die Lagerfelds unter den magischen Wesen etwa?«

Zu meiner Überraschung begann Walt leise zu singen. Nie zuvor hatte ich ihn singen gehört.

»Wer kommt zur Vollmondnacht, bekommt ein Kleid gemacht,

wer kommt zur Neumondnacht, der wird wohl umgebracht,

wer kommt zum halben Mond, der wird vielleicht verschont.«

Der Gesang brach ab und Millie und ich warfen uns irritierte Blicke zu. Es tröstete mich, zu wissen, dass auch sie noch nie von Samtriesen gehört zu haben schien.

Walt war so freundlich, uns aufzuklären.

»Nun, wir können natürlich auf unser Glück hoffen und zum halben Mond auf den Ben Nevis teleportieren, aber ich persönlich würde mich bei Vollmond sicherer fühlen. Samtriesen fertigen in Vollmondnächten mit ihren riesigen Pranken kleine Kunstwerke aus Samt und Seide. Nur so zum Vergnügen. Aber mit demselben Vergnügen können sie dir in einer Neumondnacht den Kopf abreißen und damit Pingpong spielen.«

»Klingt für mich nach einer Art PMS«, murmelte ich und sagte laut: »Na gut, dann bleibe ich noch eine Weile in diesem Fetzen stecken und warte auf den Vollmond. Und eigentlich ist es doch auch egal. Mich sieht ja niemand. Offiziell bin ich nicht einmal eingeladen.«

Ich ärgerte mich darüber, wie belegt meine Stimme klang. Schon hing Millie an meinem Hals, um mich zu trösten.

»Ich lade dich hiermit ganz offiziell ein und ich werde dich auch sehen. Und Walt wird dich sehen, nicht wahr, Walt? Du kommst doch auch?«

Mein Todesbote gab einen verhaltenen Laut der Zustimmung von sich, der Millie nicht zu genügen schien.

»Ihr müsst kommen! Ihr gehört doch zur Familie. Irgendwie.«

»Lieb von dir«, schniefte ich und konnte nicht anders, als noch unglücklicher auszusehen. »Aber was sollen wir beide denn auf einem Gartenfest? Alle werden ungeniert durch uns hindurchlaufen. Essen und trinken können wir auch nichts, weil eure Gäste die schwebenden Gläser und Teller bemerken würden. Und tanzen konnte ich noch nicht einmal zu meinen Lebzeiten besonders gut, daran wird mein Tod wohl nichts geändert haben.«

»Aber es ist Papas sechzigster Geburtstag. Alles, was Geld oder Titel hat, wird kommen, um sich bei uns kostenlos satt zu essen. Vermutlich wird Papa versuchen, mich jedem ledigen Mann auf der Feier als Schnäppchen anzudrehen. Und das kann nur wirksam verhindert werden, indem ich den ganzen Tag für alle sichtbar mit meinen unsichtbaren Freunden spreche. Schwachsinnige werden mit deutlich weniger Begeisterung verkuppelt, weißt du?«

Ich musste lachen. »Das hast du dir ja fein ausgedacht.«

»Das ist reiner Selbstschutz. Papa gibt nicht auf und ich will weder Geld noch Titel heiraten. Obwohl Geld gerade mal wieder sehr willkommen wäre. Mir ist schleierhaft, wovon der Caterer für die Party bezahlt werden soll.« Millie zog eine Grimasse und setzte sich zu mir aufs Sofa.

Wie die meisten Menschen, die einen uralten Familiensitz unterhalten mussten, waren die Harrowmores chronisch pleite. Millie trug diesen Umstand wie immer mit Fassung.

Ich betrachtete das Kleid jetzt genauer. Es war gar nicht aus Seide. Es handelte sich um Polyester. Millies langes Haar hatte sich durch die Berührung mit dem Material bereits statisch aufgeladen. Vermutlich stammte das Stück aus den Beständen eines fliegenden Händlers und hatte kaum mehr gekostet als ein belegtes Brötchen.

Und schon plagte mich mein schlechtes Gewissen. Wer war ich denn, dass ich Millie mit meinen Launen den Spaß am Gartenfest verdarb? Sie hatte ein Fest mehr als verdient, bot Harrowmore doch nur wenig Abwechslung für eine Frau Anfang zwanzig.

Ich sah ihr dabei zu, wie sie ihre Hand in das neben dem Sofa platzierte Goldfischglas tauchte und den Mummel hinter den Ohren kraulte.

Mein Mummel, ein magisches Wesen mit dem Aussehen einer plüschigen Karotte, flatterte mit seinen kleinen Quasten und schloss genießerisch die Augen.

Ich fand, dass es Zeit für eine Entschuldigung meinerseits war.

»Tut mir leid, dass ich so mies gelaunt bin. Natürlich kommen wir zum Gartenfest. Nicht wahr, Walt?«

Walt, der uns vom Fenster aus beobachtet hatte, nickte bedächtig mit seiner Kapuze und sagte: »Leider rundet sich der Vollmond erst nach dem Fest. Aber ich könnte deine derzeitige von dir so ungeliebte Dienstkleidung vielleicht mit einer silbernen Stola aufpeppen. Sie wird kaum so zauberhaft sein wie eine Stickerei der Riesen, aber ich denke, das wird sich trotzdem machen lassen. Was meinst du dazu, Livie?«

Ich strahlte vor Glück und vergaß augenblicklich die schwarze Aura in meinem Rücken. Das Gartenfest würde großartig werden.

Kapitel 2

 

Mücken tanzten in der warmen Luft und der Rosenduft lag schwer über den Gärten von Schloss Harrowmore. Ich flanierte mit einem debilen Lächeln auf dem Gesicht über den gründlich gemähten Rasen und beobachtete die Gäste der Gartenparty bei ihrem heiteren Treiben. Dabei strich ich mir immer wieder über meine silberne Stola, die im Sonnenlicht schimmerte.

Sie war aus echter Seide und so unglaublich schön, dass ich wünschte, alle hätten mich darin bewundern können. Der Stoff umspielte meine Schultern, verhüllte einen großen Teil des Fetzenkleides und verlieh den dunklen Locken, die um mein Gesicht hüpften, einen zarten Schimmer.

Ich war perfekt. Dieser Tag war einfach perfekt. Das Gartenfest war perfekt. Die Augustsonne brannte auf die Partygesellschaft herab und versprach, dass noch ein langer warmer Sommertag vor uns lag.

Neugierig blickte ich mich um und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Genau so hatte ich mir die Adel- und Geld-Freunde von Lord Alistair vorgestellt: hagere, langnasige Damen in Spaghettiträger-Kleidchen, die am Arm eines rundlichen Glatzkopfes im edlen Zweireiher ihre Camilla-Parker-Bowles-Frisur spazieren führten. Hier und dort war der Glatzkopf bereits durch den einen oder anderen Pudel oder Pekinesen ersetzt worden. Ja, wie das Leben halt so spielte.

Ruthie, die gute Seele des Hauses, huschte in ihrem besten schwarzen Kleid mit weißer Schürze herum, servierte Sekt aus Kristallschalen und ermahnte alle Anwesenden, die Spargelröllchen auf dem Buffet unbedingt zu probieren.

Lord Alistair und seine Gattin Claire hatten unter einem aufgestellten Pavillon Schutz vor der Sonne gesucht und fächelten sich gegenseitig Luft mit ihren Taschentüchern zu.

Millie erstrahlte wie ein cremefarbener Stern an der Seite ihres Bruders Cameron, der seine Söhne Jonathan und Patrick zur Feier des Tages in etwas zu weite Smokings gesteckt hatte. Beide sahen nicht sehr glücklich aus und ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis die beiden Jungen die Gelegenheit zur Flucht ergriffen, um irgendwo, fern von den Blicken Erwachsener, das nächste Unheil auszuhecken.

Um einen Stehtisch drapiert, entdeckte ich Deborah. Sie war die Schwester des Lords und beobachtete ihre Tochter Jennifer dabei, wie diese mit einem freundlich lächelnden Asiaten flirtete.

Alle Harrowmores schienen heiter und entspannt. Sie sahen aus, wie ich mich fühlte.

Da entdeckte ich Walt.

Unsichtbar für fast alle Anwesenden, hatte mein Todesbote sich ebenfalls unter die Feiernden gemischt. Er stand ein ganzes Stück von mir entfernt in seiner unvermeidlichen Kutte an den Stamm einer Japanischen Kirsche gelehnt und schien einer Unterhaltung zwischen zwei beleibten Herren mit Monokel zu lauschen.

Ich winkte ihm zu. Er winkte zurück.

Während ich gemächlich in seine Richtung schlenderte, überlegte ich, wie ich es anstellen könnte, für uns zwei Sektschalen zu organisieren. Schließlich hatten auch Walt und ich etwas zu feiern! Unser letztes Abenteuer war wider Erwarten gut ausgegangen. Liam, der Junge aus einer anderen Zeit, war gerettet und sicher an der Seite des Alchemisten Zach ins Mittelalter abgereist. Zu einem angeblich berühmten Mann namens Scotus, von dem ich natürlich noch nie zuvor gehört hatte.

Ich hatte in den turbulenten Tagen nicht nur das Schloss gegen das Grauen verteidigt und die Welt gerettet. Ich hatte auch viele neue Freunde gewonnen. Seltsame Freunde, wie ich mir eingestehen musste. Freunde, die noch seltsamere Aversionen gegeneinander hatten.

Obwohl ich jetzt schon fast ein Jahr lang Banshee war, wollte ich noch immer nicht wahrhaben, dass beispielsweise ein Inkubus unter einem Todesboten rangierte. Ich war völlig frei von Vorurteilen in mein Leben nach dem Tod gestartet und manches fiel mir schwer zu akzeptieren. Aber es gab ja auch noch so viele Dinge, die ich einfach nicht wusste.

Plötzlich stand Millie neben mir, in der einen Hand eine begehrenswert blubbernde Sektschale, in der anderen einen Fächer, mit dem sie eifrig wedelte. Dicht neben ihr hielt sich eine ältere Dame und erzählte Millie begeistert von einer neuen Trennkostdiät.

Meine Freundin hörte höflich zu, schenkte mir aber ein gequältes Lächeln. Für Diätpläne hatte sie nun wirklich keine Verwendung.

Ich deutete auf ihre Sektschale und imitierte ein Hundehecheln, woraufhin Millie unmerklich den Kopf schüttelte. Ich zog einen Schmollmund. Irgendwie musste es doch möglich sein, zwei Gläser für mich und Walt zu erbeuten, ohne dass jemand die schwebenden Schalen bemerkte.

Noch während ich darüber nachdachte, überkam mich ein seltsames Gefühl, das ich nicht einzuordnen wusste: Ein Ruck ging durch meine Glieder.

Zuerst glaubte ich, jemand sei einfach durch mich hindurchgelaufen, doch ich konnte niemanden entdecken. Und da war auch noch etwas anderes: Etwas klopfte in meiner Brust. Zuerst ganz leise, dann immer deutlicher. Mit geneigtem Kopf lauschte ich auf das lauter werdende Geräusch, das aus mir selbst herauszukommen schien.

Was konnte das nur sein?

Nur Sekunden später gesellte sich ein zweites Geräusch dazu und diesmal hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, es wiederzuerkennen.

Mein Magen knurrte. Ich hatte Hunger.

Das war völlig unmöglich. Zwar konnte ich auch als Banshee essen und trinken, doch ich brauchte es nicht mehr. Mein Körper war tot. Es bestand keine Notwendigkeit, ihn zu ernähren.

»Walt?« Unsicher hob ich den Kopf und begegnete dem fassungslosen Blick meiner besten Freundin.

»Gute Güte. Diese jungen Dinger heutzutage haben einfach keinen Stil«, sagte die ältere Dame neben ihr und rümpfte die Nase. Dabei blickte sie direkt auf die losen Enden meines Fetzenkleides hinab, die meine Knie und Waden umspielten.

Diese Frau sah mich an!

Jetzt erhob sich ein Gemurmel um mich herum und ich stellte mit einem Anflug von Panik fest, dass alle Blicke der Umstehenden auf mich gerichtet waren. In ihren Augen las ich eine Mischung aus Neugier, Ungläubigkeit und Entrüstung.

Was hatte ich denn getan? Meinten diese Leute überhaupt mich?

Nein, das war ja gar nicht möglich.

Ich sah wieder zu Millie, wollte sie um eine Erklärung bitten, doch statt etwas zu sagen, drückte meine Freundin der älteren Dame Sektschale und Fächer in die Hand und umarmte mich kräftig. »Olivia, meine Liebe! Wie schön, dass du kommen konntest. Das war ja ein toller Auftritt. Ist das ein brandneuer Trick? Wo hast du den gelernt?«, rief sie laut aus und es war offensichtlich, dass ihre Worte nicht für mich, sondern die Umstehenden gedacht waren.

Leider war ich zu verwirrt, um eine passende Antwort zu geben.

»Trick? Was denn für ein Trick?«, fragte ich stattdessen.

»Immer so bescheiden, die liebe Olivia«, rief Millie lauter als notwendig und lachte ein gekünsteltes Lachen. Jetzt griff sie nach meinem Arm und zog mich heraus aus dem Kreis der umstehenden Gaffer. »Du bist einfach auf dem Rasen erschienen, Livie. Wie zum Teufel konnte das geschehen? Die alte Dame neben uns hätte der Schlag treffen können. Glücklicherweise fand sie dein Kleid noch schockierender als deinen plötzlichen Auftritt«, klärte Millie mich auf und zupfte an meiner Stola herum, um so viel wie möglich von meiner Banshee-Dienstkleidung zu verbergen.

Während ich fassungslos vorwärts stolperte und Millie tat, was in ihrer Macht stand, hörte ich besagte Dame hinter mir rufen: »Dies ist doch kein Kostümfest, meine Lieben. Und was fange ich jetzt mit diesem Fächer an?«

»Immer kräftig wedeln, das ist gut gegen Hitze und stärkt die Armmuskeln«, rief Millie ihr zu und machte keine Anstalten, ihren Fächer wieder in Besitz zu nehmen. Stattdessen zerrte sie mich weiter über den Rasen und flüsterte mir zu: »Wir müssen Walt finden. Vielleicht hat er eine Erklärung für dieses Missgeschick.«

Doch mein Missgeschick, wie sie es nannte, war noch viel größer, als Millie ahnte. Ich atmete! Nicht aus reiner Gewohnheit, sondern weil ich musste! Und das, was jetzt ganz ungeniert in meiner Brust hämmerte, war zweifelsohne mein Herz.

Ich blickte an mir hinunter und legte eine Hand auf mein mit Seide verhülltes Dekolleté. Das Klopfen in meiner Brust nahm an Geschwindigkeit zu.

Es gab keinen Zweifel. Mein Herz hatte seinen Dienst wieder aufgenommen, den es vor fast einem Jahr quittiert hatte.

»Mein Herz«, flüsterte ich. »Mein Herz schlägt wieder.«

Es laut auszusprechen, die eigene Stimme zu hören, gehört zu werden, wieder da zu sein – das alles war so überwältigend, dass mein Herz vor Überraschung fast gleich wieder stehen geblieben wäre.

Doch es war Millie, die stehen blieb und mich anstarrte, als wäre ich ein Weltwunder. »Aber das ist doch völlig unmöglich. Niemand, der tot ist, kann einfach so wieder lebendig werden«, protestierte meine Freundin leise.

Anstelle einer Antwort nahm ich ihre Hand und legte sie auf meine Brust. Millies Augen wurden kugelrund, als sie mein vor Aufregung heftig klopfendes Herz fühlen konnte.

»Hier geht etwas vor. Etwas sehr Seltsames. Wo ist überhaupt Walt?«

Das war eine berechtigte Frage. Hastig blickte ich mich nach meinem Todesboten um. Unter der Japanischen Kirsche lehnte er nicht mehr.

»Dort drüben hat er gestanden, als es passierte. Aber jetzt ist er weg«, sagte ich und wies ihr die Richtung.

Millie ließ meinen Arm los und marschierte mit entschlossenen Schritten auf die Kirsche zu. Ich wandte mich derweil mit suchendem Blick zur Partygesellschaft um, konnte Walt aber auch im allgemeinen Trubel nicht entdecken. Dafür löste sich Cameron jetzt aus einer Traube von Anzugträgern und kam zu mir herüber. Ich begrüßte ihn mit einem hilflosen Lächeln.

Dem Beispiel seiner Schwester folgend, hakte er mich unter, sobald er mich erreicht hatte, und verkündete laut: »Wie schön, dass du es doch noch einrichten konntest! Was für eine einmalige Performance. Daran erkennt man die wahre Künstlerin.«

Seine Worte hatten immerhin zur Folge, dass ich augenblicklich anders wahrgenommen wurde. Das Getuschel hinter vorgehaltener Hand ließ nach und jemand lachte höflich.

Ja, eine Künstlerin durfte natürlich urplötzlich wie aus dem Nichts zwischen den Gästen erscheinen. Eine Künstlerin durfte auch ein schlecht sitzendes Kostüm tragen. Hier und dort wurde jetzt sogar wohlwollend geklatscht. Der Kunst verzieh man nahezu alles.

Leise und nur für meine Ohren hörbar, sagte er: »Okay, okay, okay. Ganz ruhig bleiben. Erkläre mir, warum du sichtbar bist.« Dabei fuhr er sich mit den Fingern durch das schüttere Haar und machte einen kaum weniger nervösen Eindruck als ich selbst. »Hat das hier irgendetwas mit meiner Familie zu tun? Droht uns Gefahr?«

»Keine Ahnung!«, rief ich und warf theatralisch die Hände in die Luft.

In einiger Entfernung zuckte eine Dame in einem grünen Sommerkleid erschrocken zusammen und warf mir einen pikierten Blick zu.

Ich lief leicht rosa an und ergänzte lahm: »Keine Ahnung, warum man mir auf dieser Party nichts zu trinken anbietet.«

Die Dame in Grün hob eine Augenbraue und wandte sich demonstrativ von uns ab. Alles durfte ich mir als Unterhaltungsprogramm der Gartenparty wohl doch nicht erlauben.

»Aber ich kann dich sehen. Und wenn die Banshee unserer Familie sichtbar ist, bedeutet es üblicherweise Ärger. Moment mal.« Jetzt stutzte Cameron und griff sich an die Ohrläppchen. »Ich kann dich auch sprechen hören. Das ist das erste Mal, dass ich dich etwas Vernünftiges sagen höre. Leidlich vernünftig, aber immerhin. Du heulst gar nicht mehr.«

»Mein Herz schlägt«, stieß ich hervor und wusste, dass ich dabei ein absolut jämmerliches Gesicht zog.

In diesem Moment erreichte uns eine schwer atmende Millie. Sie war gerannt. »Dort drüben liegt ein Mann in einer Kutte im Blumenbeet und redet mit dem blauen Himmel«, sagte sie und deutete auf das Blumenbeet hinter dem Kirschbaum. »Er klingt genau wie Walt. Da ich Walts Gesicht aber noch nie zuvor gesehen habe, bin ich mir nicht ganz sicher. Für den Fall, dass das alles irgendein dämonischer Trick ist, bin ich gleich wieder umgedreht, um ihm bloß nicht zu nahe zu kommen.«

»Walt!«, schrie ich und wollte losrennen, doch Cameron hielt mich zurück.

»Nicht noch ein spektakulärer Auftritt, bitte. Wir begeben uns jetzt langsam und gesittet zu besagtem Blumenbeet und sehen uns den Mann einmal an. Und dann werden wir klären, wer er ist und was hier vor sich geht.«

Millie auf der einen und ihren Bruder auf der anderen Seite untergehakt, entfernte ich mich immer weiter von den anderen Gästen und ihren noch immer neugierigen Blicken. Hätten die Harrowmores sich doch nur wirklich um ein hübsches Rahmenprogramm für Lord Allistairs Geburtstagsparty gekümmert, dann wäre mein Auftritt weniger spektakulär gewesen.

Wir schlenderten zu dritt aufreizend langsam auf die Rabatten hinter der Japanischen Kirsche zu. Dabei plauderten die beiden Geschwister über meinen Kopf hinweg über allerlei Nichtigkeiten.

Ich trug nichts dazu bei, um diese Scharade aufrechtzuerhalten. Ich lauschte meinem Herzen. Und dem Rauschen in meinen Ohren, das verriet, in welch beeindruckende Höhen mein Blutdruck abgerauscht sein musste.

»Ist Walt etwa auch wieder lebendig?«, fragte ich Millie unvermittelt und konnte nicht verhindern, dass ich zitterte.

»Wir wissen doch noch nicht einmal, ob es Walt ist«, erwiderte meine Freundin. »Ich habe ihn im Gegensatz zu dir noch nie ohne diese blöde Kapuze gesehen. Ich weiß nur, dass dieser Mann eine Mönchskutte trägt, seine Augen aber nicht blau leuchten. Seine Haare sind dunkel. Er schien mir ganz hübsch zu sein, aber für ein exaktes Urteil müsste ich ihn doch etwas genauer in Augenschein nehmen.«

»Hübsch? Dann muss es Walt sein. Wer soll es denn auch sonst sein?«, sagte ich und ging unwillkürlich schneller, wurde aber von den beiden Geschwistern gebremst.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis ich endlich in den Schatten eines Baumes eintauchte und den Namen meines Geliebten rief. »Walt?«

Ein Kopf hob sich aus den Lupinen. In der Rabatte lag tatsächlich, lang ausgestreckt, ein Mann in einer Mönchskutte. Er hatte kurzes braunes Haar, das am Hinterkopf leicht abstand, ein schönes Gesicht, das mir bestens bekannt war, und darin: haselnussbraune Augen.

»Walt, was machst du in diesem Beet?« Fassungslos sah ich auf ihn hinab.

»Ich bin hineingestoßen worden. Und hier liege ich nun und versuche zu begreifen, was passiert ist.«

»Hineingestoßen worden? Von wem denn, um Himmels willen?«, rief ich und sah mich um. Instinktiv suchte ich nach einer Art Monster, einem gefährlichen Wesen, das die Party des Lords heimgesucht hatte, konnte aber nichts entdecken.

»Ein älterer Herr mit Monokel hat mir den Stoß versetzt«, erklärte Walt. »Nachdem er mich einfach angesprochen hatte, glaubte ich, in ihm einen Moder-Elf zu erkennen. Wie sonst hätte er mich sehen sollen? Aber er war kein Moder-Elf. Zumindest wollte er keiner sein. Ich muss ihn mit meinen Worten ziemlich beleidigt haben. Dabei roch er wirklich ganz genau wie ein …«

»Dann war es Onkel Richard«, sagte Cameron grinsend und Millie begann zu kichern. »Der wohnt in einem feuchten Kellerloch, das sich Souterrain nennt, irgendwo hinter Carlisle. Der riecht immer etwas nach Moder und Schimmel, aber niemand erwähnt es ihm gegenüber, weil er ein ziemlicher Choleriker ist und keiner ihn verärgern möchte.«

Walt, der auf den Ellenbogen aufgestützt Camerons Worten gelauscht hatte, erwiderte: »Ich werde mich bei ihm entschuldigen. Aber woher sollte ich wissen, dass euer Onkel Richard Todesboten sehen kann?«

»Das kann er vermutlich gar nicht!«, rief ich und raufte mir die Haare. »Walt, mein Herz schlägt wieder. Und ich habe einen Bärenhunger und bekomme bereits einen Sonnenbrand auf der Nase. Wir sind wieder lebendig, du und ich!«

»Das ist völlig unmöglich, Livie. Niemand wird einfach so wieder lebendig. Und wenn ich es wäre, hätte ich das wohl inzwischen bemerkt.«

»Und warum kann Cameron dich dann sehen und hören?«, protestierte ich. »Und warum hast du braune Augen und merkst nicht einmal, dass dir deine Kapuze vom Kopf gerutscht ist?«