Barbarotti und der schwermütige Busfahrer - Håkan Nesser - E-Book

Barbarotti und der schwermütige Busfahrer E-Book

Håkan Nesser

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Beschreibung

Inspektor Barbarotti ermittelt auf Gotland.

Gegen Inspektor Barbarottis Polizeikollegin - und neue Lebensgefährtin - Eva Backman wird in Stockholm intern ermittelt. Sie musste bei einem Einsatz zur Schusswaffe greifen, um Schlimmeres zu verhindern, was für einen der Beteiligten allerdings böse endete. Um Abstand zu gewinnen, beschließen Barbarotti und Backman, sich in die herbstliche Abgeschiedenheit Gotlands zurückzuziehen. Doch die Ruhe ist trügerisch. Barbarottis kriminalistische Instinkte werden geweckt, als er in einem Fahrradfahrer jenen rätselhaften Busfahrer zu erkennen glaubt, der vor sechs Jahren Opfer eines Verbrechens wurde, ohne dass man seine Leiche je gefunden hätte ...

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Zum Buch

Gegen Inspektor Barbarottis Polizeikollegin – und neue Lebensgefährtin – Eva Backman wird in Stockholm intern ermittelt. Sie musste bei einem Einsatz zur Schusswaffe greifen, um Schlimmeres zu verhindern, was für einen der Beteiligten allerdings böse endete. Um Abstand zu gewinnen, beschließen Barbarotti und Backman, sich in die herbstliche Abgeschiedenheit Gotlands zurückzuziehen. Doch die Ruhe ist trügerisch. Barbarottis kriminalistische Instinkte werden geweckt, als er in einem Fahrradfahrer jenen rätselhaften Busfahrer zu erkennen glaubt, der vor sechs Jahren Opfer eines Verbrechens wurde, ohne dass man seine Leiche je gefunden hätte …

Zum Autor

HÅKAN NESSER, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt in Stockholm und auf Gotland.

HÅKAN NESSER

Barbarotti und der schwermütige Busfahrer

Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Die schwedische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Den sorgsne busschauffören från Alster« im Albert Bonniers Förlag, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Håkan Nesser

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

2020 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Semper Smile

Covermotiv: © plainpicture/Hammerbacher; Jan Håkan Dahlström; © Shutterstock/Sabphoto

Covergestaltung: Semper Smile

Covermotiv: © plainpicture/Hammerbacher; Jan Håkan Dahlström; © Shutterstock/Sabphoto

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26429-1V002www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Einleitende Bemerkung

Sowohl Kommetjie als auch Alster und Fårö existieren in der sogenannten Wirklichkeit. Für Kymlinge oder ein gewisses Haus in Valleviken, Kirchspiel Rute, auf der Insel Gotland gilt dies jedoch nicht. Auch ansonsten ist die vorliegende Erzählung eine Mischung aus Fakten und Fiktion, und ob am 22. März 2013 tatsächlich ein Schiff der Viking Line von Stockholm ins finnische Turku fuhr, bleibt umstritten.

lernte des Schwermuts öde Höhle

des Lebenstumults brodelnden Kessel

zu wollen und leben, zu bezwingen und erdulden,

mich stark und klug zu stählen.

Gustaf Fröding Torborg aus Kleckse und Späne

Prolog

Kommetjie, Kapprovinz, Südafrika, Juni 2010

»Für den Holländer ist es also an der Zeit, in den Norden zurückzukehren?«

Sie hielt seine beiden Hände fest in ihren und sah ihn mit einem unsicheren Lächeln und feuchten Augen an. Ihre Trauer über seine Abreise war unübersehbar. Es war so viel Zeit vergangen. Fast fünf Jahre hatte er in ihrem von Bougainvilleen umwachsenen Haus gewohnt, mehr als fünfzehnhundert Tage mit seinem Frühstückskaffee auf ihrer großzügigen Terrasse gesessen und aufs Meer geblickt. Das immer Gleiche und doch niemals Gleiche.

Auch die frühen Abendstunden hatte er auf der Terrasse verbracht. Mit seinen Leinwänden und Farben. Oder schreibend an seinem Computer. Kein Wunder, dass es einem seltsam vorkam. Nicht nur ihr.

»Ich möchte dir etwas sagen. Ich bin eigentlich gar kein Holländer, ich bin Schwede.«

»Du kommst aus Schweden?«

»Ja.«

»Du hast fünf Jahre bei mir gewohnt und mir das nie erzählt?«

»Ich finde, Nationalitäten spielen eigentlich keine Rolle.«

Sie lachte. »Da hast du recht, so sollte es jedenfalls sein. Aber es ist ein Traum, dass wir alle Weltbürger sind. Ein sehr optimistischer Traum. Außerdem hast du einen niederländischen Pass.«

»Dafür gibt es Gründe. Aber morgen lande ich in Stockholm, nicht auf Schiphol.«

»Du fliegst über Addis?«

»Ja.«

Sie nickte. Es brachte nichts, ihn zu viel zu fragen, das hatte sie gelernt. Seine Privatsphäre war ihm heilig. So wie ihre eigene ihr selbst vielleicht auch.

»Ich werde dich vermissen.«

»Das geht mir mit dir genauso.«

»Und der Transport der vielen Bilder ist sicher?«

»Das will ich hoffen. Aber die Gemälde, die ich hierlasse, gehören dir. Verkauf so viele, wie du willst.«

»Das käme mir niemals in den Sinn.«

Er zuckte mit den Schultern. Sie ließ seine Hände los und umarmte ihn lange.

»Jetzt geh schon, bevor ich noch losheule. Und versprich mir wiederzukommen. The Cottage steht dir immer offen, das weißt du.«

»Danke. Du hast mich nicht zum letzten Mal gesehen, die Vorhersage wage ich.«

»Wenn wir am Leben bleiben.«

»Dann lass uns gemeinsam beschließen, dass wir das tun.«

Sie nickte ernst. »Ja, warum nicht? Leb wohl, mein schwedischer Holländer.«

Oktober – November 2012

1

Kleckse und Späne, fünfundzwanzigster Oktober

Ich sollte nicht leben. Der Meinung sind viele, und ich kann sie verstehen.

Manchmal brennt mein Lebenslicht so schwach, dass ich das Gefühl habe, mich vor einen Spiegel stellen und es auspusten zu können. Es ist ein seltsamer Gedanke, aber seit dem Unfall sieht es in meinem Kopf so aus.

Eigentümliche Bilder. Verwirrte Überlegungen. Ideen und Gedankengänge, die darin niemals auftauchten, bevor es passierte.

Natürlich nicht ständig, aber von Zeit zu Zeit. Vor allem nachts, in diesem unangenehmen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Vielleicht auch in meinen Träumen, aber das weiß ich nicht; in den allermeisten Fällen kann ich mich inzwischen nicht mehr daran erinnern, was ich geträumt habe. Auch das war früher anders, aber ich habe eine Reihe von Therapeuten und Psychologen aufgesucht, und alle scheinen der Auffassung zu sein, dass nach einem schweren Trauma letztlich alles normal ist. Dass sich Denken und Wahrnehmung im Grunde in jede Richtung verändern können, wenn man etwas erlebt hat wie das, was ich durchmachen musste.

Dass man in gewisser Weise ein anderer wird als der Mensch, der man vorher war. Aber das ist meine eigene Schlussfolgerung.

Ich schreibe, damit zumindest eine Erklärung zurückbleibt. Falls etwas passieren sollte. Will sagen, meine Erklärung, meine Erzählung. Vielleicht wird sich keiner dafür interessieren, sie zu lesen, und wenn das so ist, akzeptiere ich es. Mir ist bewusst, dass es schwerfällt, meinen Worten zu glauben, wenn ich von dem zu erzählen versuche, was tatsächlich vor sich geht. Womit ich mich konfrontiert zu sehen glaube. Bisher habe ich nur mit Karin darüber gesprochen, merke aber, dass sie mir nur aus Mitleid zuhört und eigentlich denkt, ich würde mir etwas einbilden. Oder zumindest, dass ich übertreibe; die Existenz der Briefe kann sie natürlich nicht leugnen, das ist unmöglich, aber sie findet, dass ich ihnen zu viel Bedeutung beimesse.

Die Welt ist voller bedrohlicher Irrer, hat sie einmal gesagt. Würde man etwas auf sie geben, man würde verrückt.

Das war im August, als ich ihr die beiden Mitteilungen gezeigt habe, die ich zu diesem Zeitpunkt erhalten hatte. Seither sind zwei weitere eingetroffen, die ich ihr allerdings nicht mehr vorgelegt habe. Ich habe sie nicht einmal erwähnt. Ich will nicht, dass sie denkt, ich würde allmählich paranoid. Paranoid und wahnsinnig. Unsere Beziehung ist auch so schon zerbrechlich genug.

Aber ich sollte von vorn anfangen. Oder zumindest ein gutes Jahrzehnt zurückgehen. Ja, das tue ich, denn hier bestimme ich.

Damals, in den Jahren um die Jahrtausendwende, wohnte ich mit meiner ersten Frau Viveka in einem Reihenhaus am Stadtrand von Uppsala. Wir arbeiteten beide an der Universität, sie als Theologin, ich als Ideenhistoriker; wir hatten uns im Studium kennengelernt und waren während unserer gesamten Laufbahn zusammengeblieben. Über den Magisterabschluss, die Doktorandenstellen, die Arbeit an unseren Dissertationen und schließlich unsicheren Stellen an unseren jeweiligen Instituten hinweg. Meine waren unsicherer als ihre. Sie promovierte, ich wurde niemals fertig.

Wir bekamen keine Kinder. Mitte der neunziger Jahre war Viveka einmal schwanger, erlitt jedoch in der vierzehnten Woche eine Fehlgeburt. Danach kam es nie wieder dazu, obwohl wir es versuchten, und als wir Anfang dreißig waren, akzeptierten wir den Stand der Dinge. Eltern zu werden ist kein Menschenrecht, dessen waren wir uns beide bewusst.

Meine Karriere als Ideenhistoriker war erheblich ins Stocken geraten, und nach ein paar Jahren verloren ein Kollege und ich die Forschungsmittel, die uns über Wasser hielten, seit ich meine Stelle am Institut angetreten hatte. Wir beantragten neue Mittel bei allen nur erdenklichen Geldgebern, gaben am Ende jedoch auf. Die einzige Chance, die akademische Laufbahn fortzusetzen und meine Dissertation zu beenden, hätte darin bestanden, eine schlecht bezahlte und befristete Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Oslo anzunehmen. Viveka und ich sprachen tatsächlich darüber, unsere Siebensachen zu packen, aber ihre Aussichten, dort eine Arbeit zu finden, die ihrer Qualifikation entsprach, gingen mehr oder weniger gegen null. Schließlich beschlossen wir, dass ich mich nach einer Stelle außerhalb der Universität umsehen würde.

So wurde ich Busfahrer.

Ich sehe, dass es kurz vor eins ist, aber Karin schläft wie immer tief und fest in unserem Schlafzimmer, deshalb mache ich noch etwas weiter.

Ich wäre natürlich niemals auf die Idee gekommen, einen Bus zu fahren, wenn die Umstände es nicht verlangt hätten. Die Umstände und Tommy. Er war Vivekas älterer Bruder, ich schreibe war, da er vor ein paar Jahren gestorben ist. 2002 lebte er allerdings noch, und ihm gehörten zwei Drittel eines erfolgreichen Busunternehmens mittlerer Größe, das Reisen innerhalb Skandinaviens und manchmal auch ins europäische Ausland anbot.

Tommy hatte die akademische Welt und den Mann, den seine Schwester geheiratet hatte, also mich, seit jeher verachtet. Er machte häufig Witze über uns »Klugscheißer«; so nannte er mit Vorliebe Menschen, die in theoretischen Berufen arbeiteten. Als es offensichtlich wurde, dass ich meine Stelle an der Universität verloren hatte, war er jedoch wirklich für mich da, das kann ich nicht anders sagen. Er bot mir an, für seine Firma zu fahren, sogar die erforderliche Ausbildung zu finanzieren, um den Busführerschein sowie die Lizenz dafür zu erwerben, Fahrgäste kreuz und quer durch unser langgestrecktes Land und jenseits seiner Grenzen befördern zu dürfen.

Viveka und ich besprachen die Sache natürlich eingehend. Sie hatte nie viel von ihrem Bruder gehalten, und natürlich war es in gewisser Weise demütigend, seinen Vorschlag zu akzeptieren. Dennoch schlug ich ein. Ein halbes Jahr später war ich bei ihm angestellt und fuhr meine erste Tour als geprüfter Busfahrer: eine Gruppe kunstinteressierter Rentner aus der Region um Stockholm auf einer viertägigen Reise nach Skagen in Dänemark.

Ich merkte praktisch sofort, dass mir meine neue Arbeit gefiel, die der etwas faden Wirklichkeit der akademischen Welt so fern war. Ich durfte Orte sehen, die ich sonst niemals besucht hätte: Tromsö, den Skiort Riksgränsen, Lugano, Krakau, Madrid, Sankt Petersburg, um nur einige zu nennen. Es war erstaunlich, aber so war es einfach. Es gefiel mir außerordentlich gut, Busfahrer zu sein, ein Beruf, den ich nur ein Jahr zuvor als Erwerbsmöglichkeit niemals ernsthaft in Betracht gezogen hätte.

Nun gleitet mir allerdings der Stift aus der Hand, und die Gedanken gleiten aus dem Kopf. Ich warte mit der Fortsetzung bis zur nächsten schlaflosen Nacht.

Kleckse und Späne, siebenundzwanzigster Oktober

Viveka und ich führten einige Jahre ein schönes Leben. Zumindest sehe ich das in der Rückschau so. Sicher, wir hatten die eine oder andere kleine Krise, aber im Großen und Ganzen durchlebten wir keine schwerwiegenden Konflikte in unserer Ehe. Charakterlich passten wir gut zusammen, keiner von uns jagte großen Erlebnissen im Leben hinterher, wie viele andere es tun. Uns reichte ein einigermaßen ereignisloses Dasein, dessen Leitsterne Ruhe und Ordnung waren. Unser Bekanntenkreis war nicht besonders groß, aber wir trafen uns regelmäßig mit einigen anderen Paaren, die wir in unseren ersten Jahren in Uppsala kennengelernt hatten. Hasse und Ingela, beide Ärzte. Ingvar und Paula, Pfarrer beziehungsweise Gymnasiallehrerin. Oliver und Katarina, Katarina war Psychologin und eine alte Schulfreundin Vivekas, Oliver pendelte nach Stockholm und arbeitete im Außenministerium.

Im Sommer reisten wir ins Ausland, jedes Jahr zu einem anderen Reiseziel, und im Februar oder März fuhren wir eine Woche in die Berge. Hasse und Ingela besaßen ein Ferienhaus in Vemdalen, das sie uns überließen, manchmal waren wir auch gemeinsam mit ihnen dort.

Natürlich brachte meine Arbeit als Busfahrer mit sich, dass ich eine Anzahl von Nächten nicht daheim war, aber es waren selten mehr als sechs oder sieben im Monat, und es beeinträchtigte unsere Beziehung nicht. Im Gegenteil, ich weiß noch, wie schön es war, sich nach einigen Nächten Trennung wiederzusehen, und bin mir sicher, dass Viveka es genauso empfand. Wenn ich ein paar Tage fort gewesen war, hatten wir in der ersten gemeinsamen Nacht fast immer Sex.

Ja, wenn ich heute zurückblicke, bin ich mir sicher, dass ich diese Jahre vor dem Unfall nicht falsch einschätze. Es ging uns gut, unsere Beziehung war harmonisch, wir führten ein anspruchsloses und geborgenes Dasein und waren zufrieden mit unserem Leben. Bekäme ich die Chance, einen Abschnitt meiner Zeitspanne auf Erden noch einmal zu leben, würde ich mit Sicherheit diese Zeit wählen. Ungefähr die Jahre zwischen 2003 und 2006; natürlich würde ich rechtzeitig die Notbremse ziehen und vor dem März 2007 aus dem Zug springen, aber solchen Gedanken gebe ich mich im Grunde nicht hin. Es ist mir einfach nur als denkbare Illustration dafür in den Sinn gekommen, dass mein Leben einmal völlig anders aussah als heute.

Bevor ich zu dem Unfall komme, muss ich allerdings noch etwas Trauriges erwähnen, das sich im Dezember 2006 ereignete, am dreizehnten Dezember, dem Tag des Luciafestes. Meine Mutter wurde von einem Motorradfahrer angefahren und dabei so schwer verletzt, dass sie am nächsten Tag im Krankenhaus starb. Es passierte in Karlstad, wo meine Eltern seit den achtziger Jahren lebten und wo ich meine Jugendzeit verbracht hatte. Ihr plötzlicher Tod war ein schwerer Schlag für meinen Vater, der gerade in Pension gegangen war, nachdem er sein ganzes Leben als Lehrer und Schulleiter verbracht hatte, und ich weiß, dass die beiden sich auf ihre Jahre als rüstige Rentner gefreut hatten, auf die Möglichkeit, zu reisen und in den Tag hineinzuleben. Meine Mutter hätte nur noch wenige Monate bei der Bank arbeiten müssen, die beiden waren fast vierzig Jahre verheiratet gewesen.

Zur Beerdigung und um meinem Vater beizustehen, reiste ich nach Karlstad. Ich habe keine Geschwister, was mir in dieser schwierigen Situation als großer Mangel erschien. Aber ich tat, was ich konnte, und in dem Winter besuchte Vater uns außerdem mehrere Male in Uppsala. Zum Beispiel zwischen den Jahren. Es war ihm deutlich anzumerken, wie traurig er war, und ich weiß noch, dass wir befürchteten, er könne vorhaben, sich das Leben zu nehmen. Viveka und ich sprachen darüber, und es gelang uns, ihn zu überreden, in Karlstad zu einem Therapeuten zu gehen, aber ob dies seinen Zustand verbesserte, ist unklar. Er hatte eine jüngere Kusine, die Psychologin war und im nahegelegenen Filipstad wohnte; sie versuchte, sich um ihn zu kümmern, aber die beiden hatten nie ein gutes Verhältnis zueinander gehabt, und ich glaube nicht, dass sie mit ihren Versuchen, ihn wieder auf die Beine zu bringen, besonders erfolgreich war.

Diese ersten Monate des Jahres 2007 waren alles in allem eine harte und sorgenvolle Zeit, aber das alles wurde bei mir persönlich noch von dem überschattet, was am zweiundzwanzigsten März geschah.

Kleckse und Späne, erster November

Es war eine Skireise.

Es fällt mir schwer, darüber zu schreiben. Alles andere wäre wohl auch seltsam. Über die Sache ist in praktisch allen Medien im Land ausführlich berichtet worden, aber ich kann sie natürlich auch nicht einfach überspringen. Es ist kurz nach ein Uhr nachts. Karin schläft, ich sitze in einem Korbsessel in dem Erker, der auf den kleinen Waldstreifen hinausgeht, der unser Grundstück von dem des Nachbarn trennt. Der Himmel ist finster, es wird bald regnen. Ich wappne mich, rücke die Stehlampe zurecht und beschließe, das Geschehene wiederzugeben, ohne Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Trocken und nüchtern wie ein Gerichtsprotokoll, ich habe das eine oder andere gelesen.

Wie gesagt, eine Skireise. Eine Gruppe von Neuntklässlern aus einer Schule in Stockholm, die gemeinsam mit zwei Elternvertretern und zwei Reiseleitern vom Verein für Sportförderung eine Woche in Duved verbringen sollte. Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass ich einen solchen Auftrag hatte. Zwei halbstündige Pausen mit eingerechnet musste man mit gut acht Stunden Busfahrt rechnen. Neun oder zehn, wenn das Wetter und die Straßenverhältnisse schlecht waren. Ich holte die Gruppe wie verabredet gegen neun Uhr morgens am Norra Bantorget ab, und eine Stunde später fuhren wir los. In Stockholm war schönes Wetter, Temperaturen um den Gefrierpunkt und ein aufklarender Himmel und abziehende Wolken, aber der Wetterbericht hatte vor Schnee und auffrischendem Wind weiter nördlich und später am Tag gewarnt. Gegen Abend sollten wir dennoch auf jeden Fall ankommen, es bestand also kein Grund zur Eile oder Sorge. Kein Grund, schneller zu fahren, als die Umstände es erlaubten.

Das tat ich auch nicht, und man hat es mir auch niemals vorgeworfen. Aber ein oder zwei unglückliche Sekunden reichen völlig, um ein Leben auf den Kopf zu stellen.

Oder enden zu lassen.

Es passierte zehn Minuten hinter Svenstavik. Es war dunkel und schneite. Nicht besonders stark, aber so viel, dass ich lieber etwas vom Gas ging. Als dieses Tier dann auf die Straße sprang, fuhr ich nicht mehr als knapp siebzig Kilometer in der Stunde, so stand es im Abschlussbericht, und es stimmt mit meiner Auffassung überein. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, lenkte ich nach links und geriet leicht ins Schleudern, und im selben Moment tauchte aus einer Kurve ein entgegenkommender Fernlaster auf. Ich versuchte, auf die richtige Straßenseite zurückzulenken, aber die Reifen fanden keinen Halt, und wir kollidierten mit dem schweren Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn. Nicht frontal, eher seitlich, aber mit so viel Wucht, dass ich die Kontrolle über den Bus verlor. Ich bremste, es war zwecklos. Wir rutschten ins Gelände und stürzten zwanzig Meter einen Verwerfungshang hinunter. Mehr als fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der wir von der Straße abgekommen waren, landeten wir zwischen massiven Felsblöcken, der Bus wurde bis zur Unkenntlichkeit zusammengedrückt und fing Feuer.

Später an jenem Abend erwachte ich im Krankenhaus und erfuhr, dass bei dem Unfall siebzehn Schüler und eine Mutter umgekommen waren. Vier weitere lagen mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus, nur ein halbes Dutzend hatte den Unfall ohne Blessuren überstanden.

Ich lege den Stift weg und schließe mein Notizbuch. Bleibe noch einen Moment sitzen und richte den Blick in die Dunkelheit. Es lassen sich keine Anzeichen eines Morgengrauens erspähen. Nein, ich sollte wirklich nicht leben.

2

Eva Backman betrachtete den Mann, der soeben ihr Büro betreten hatte. Er schien um die vierzig zu sein, vielleicht auch etwas älter. Mittelgroß und leicht gebeugt, dunkle, zerzauste Haare und eine Brille; er sah aus, als hätte er sich im Zimmer geirrt.

Das war ihr erster Gedanke. Dass dieser Besucher versehentlich an die falsche Tür geklopft hatte, dass er in einer völlig anderen Angelegenheit unterwegs war und darauf eingestellt, einen ganz anderen Behördenvertreter zu treffen als Kriminalinspektorin Backman.

Zum Beispiel einen Juristen oder eine Bezirkskrankenschwester. Oder einen Pfarrer.

»Entschuldigung«, sagte er. »Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich?«

Der Kollege vom Empfang hatte sie natürlich angerufen, allerdings nicht näher erläutert, worum es ging. Er hatte nur gesagt, ein gewisser Albin Runge warte darauf, mit einem Polizeibeamten sprechen zu dürfen. Am liebsten mit einem Kriminalpolizisten, es gehe um eine etwas spezielle Angelegenheit.

»Man hat mir schon mitgeteilt, dass Sie kommen«, sagte sie. »Ich habe Zeit. Bitte, nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?«

So leitete sie eigentlich immer das Gespräch ein, aber ihr Besucher strahlte eine außergewöhnliche Zerbrechlichkeit aus. Als würde er augenblicklich kehrtmachen und den Raum verlassen wollen, wenn man ihn eine Spur zu forsch ansprach. Er nickte und setzte sich vorsichtig auf die äußerste Kante des einen Besucherstuhls, zog den Reißverschluss seiner abgetragenen Windjacke auf und holte etwas aus der Innentasche. Ein paar Briefumschläge, wenn sie recht sah, aber er gab sie ihr nicht. Stattdessen legte er sie auf seinen Knien ab und platzierte seine gefalteten Hände darauf, als wollte er sie so ihrem Blick entziehen.

Dann atmete er tief durch und entschuldigte sich nochmals.

»Ich möchte ihre Zeit wirklich nicht unnötig in Anspruch nehmen. Aber es gibt da etwas … ich heiße Albin Runge.«

Auch jetzt, als sie den Namen zum zweiten Mal hörte, verband sie nichts mit ihm. Später, als sie zu Hause war und mit Gunnar Barbarotti über die Angelegenheit sprach, fragte sie sich, ob es überhaupt möglich gewesen wäre, den Namen wiederzuerkennen. In der Presse war über den Mann berichtet worden, aber das lag Jahre zurück, und sie konnte sich nicht daran erinnern, ob seine Identität in den Medien überhaupt enthüllt worden war. Vielleicht, vielleicht auch nicht; es war manchmal nicht ganz leicht nachzuvollziehen, wann die verantwortlichen Redakteure und andere Instanzen der Auffassung waren, dass ein sogenanntes öffentliches Interesse vorlag. Und wann nicht.

»Ich verstehe«, sagte sie, ohne das Geringste zu verstehen. »Und warum sind Sie zu uns gekommen?«

»Ich glaube, mein Leben ist bedroht.«

Seine Stimme war tonlos, geradezu desinteressiert. Als ginge es ihn im Grunde nichts an, dass sein Leben in Gefahr war. Und sein Blick hinter den dünnen Brillengläsern drückte das Gleiche aus. Er war irgendwie ziellos, sie wusste nicht zu sagen, ob er sie ansah oder über ihre Schulter hinweg aus dem Fenster schaute.

»Ihr Leben ist bedroht?«

»Ja.«

»Und was veranlasst Sie, das zu glauben? Sie dürfen mir die Lage gern in groben Zügen skizzieren.«

»Es geht vor allem um diese Briefe«, sagte er und stupste vorsichtig mit einer Hand den kleinen Stapel weißer Umschläge an. »Und um einen Telefonanruf …«

»Aha? Und was steht in diesen Briefen? Sind Sie damit einverstanden, dass ich sie lese?«

»Selbstverständlich«, antwortete er, gab sie ihr aber immer noch nicht. »Deshalb habe ich sie ja mitgebracht. Es steht in ihnen nicht, dass man die Absicht hat, mich zu töten, jedenfalls nicht explizit, aber es fällt mir dennoch schwer, ihren Inhalt anders zu interpretieren.«

Sie nickte und dachte, dass er recht gebildet klang. Ausdrücke wie »explizit« und »schwer, ihren Inhalt zu interpretieren« deuteten darauf hin.

»Und warum sollte Ihnen jemand drohen?«

»Dafür gibt es gute Gründe.«

»Verzeihung, aber was für Gründe sollen das bitte sein?«

Drogenhandel?, schoss ihr durch den Kopf. Schulden bei einer Rockerbande? Er sah beim besten Willen nicht so aus, als gehörte er in diese Kategorie, aber man konnte natürlich nie wissen. Er schien einen Moment zu zögern, rückte seine Brille zurecht und seufzte.

»Viele Menschen sind der Meinung, dass ich es nicht verdiene zu leben. Ich habe volles Verständnis für diese Auffassung.«

Eva Backman faltete die Hände auf der Schreibtischplatte und überlegte, ob bei dem Mann möglicherweise eine Schraube locker war. Ob sie es mit einem Mythomanen oder irgendeiner anderen Variante eines armen Teufels zu tun hatte, der den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte.

»Ich denke, Sie müssen mir schon ein bisschen genauer erklären, was Sie meinen«, sagte sie. »Wenn Sie wirklich glauben, dass jemand Ihr Leben bedroht und Sie aus diesem Grund zu uns gekommen sind, müssen Sie mir die Sache etwas ausführlicher erläutern. Bitte, erzählen Sie.«

»Sie wissen nicht, wer ich bin?«

»Nein, ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wer Sie sind.«

»Mein Name sagt Ihnen nichts?«

»Albin Runge? Nein, leider nicht.«

»Okay.« Er seufzte erneut und schien sich zu entscheiden. »Vor fünfeinhalb Jahren ereignete sich oben in Jämtland ein schweres Busunglück. Achtzehn Menschen verloren ihr Leben, siebzehn von ihnen Jugendliche. Sie waren auf dem Weg zu einer Skifreizeit in Duved. Sie haben bestimmt davon gehört, es stand in allen Zeitungen. Ich habe den Bus gefahren.«

Er verstummte und rückte erneut seine Brille zurecht. Eva Backman merkte, dass sie die Luft anhielt.

»Ich verstehe.«

Zum zweiten Mal innerhalb von drei Minuten. Diese idiotischste aller Bemerkungen. Was behauptete sie eigentlich zu verstehen?

»Ich wurde weder wegen Gefährdung des Straßenverkehrs noch wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Nicht einmal wegen fahrlässiger Körperverletzung. Ich wurde ohne Wenn und Aber freigesprochen, obwohl bestimmt viele der Meinung waren, dass ich eigentlich lebenslänglich hinter Gitter gehörte. Oder, wie gesagt, tot sein sollte.«

Ein flüchtiges Lächeln. Schief und deplatziert. Eva Backman lehnte sich zurück und versuchte, sich zu konzentrieren. Irgendetwas am Auftreten des Mannes störte sie. Etwas an seiner Art zu sprechen und seiner offensichtlichen Verletzlichkeit ging ihr vermutlich gegen den Strich. Unabhängig von seiner Geschichte, die auf die Schnelle wirklich nicht so leicht zu verdauen war. Wie lebt man nach einer solchen Erfahrung weiter? Wenn man den Tod von achtzehn Menschen zu verantworten hat? Was war geschehen? Wegen zwei Sekunden Unaufmerksamkeit? War er am Steuer kurz eingenickt? Aber er war ja freigesprochen worden.

Mein Gott, dachte sie. Die Frage lautete nicht, wie man weiterlebte, sondern warum. Kein Wunder, dass er so zerbrechlich und seltsam wirkte.

»Das hört sich ganz furchtbar an«, erklärte sie schließlich. »Ich erinnere mich, aber seither sind ja … was haben Sie gesagt? Fünf Jahre vergangen?«

»Gut fünfeinhalb Jahre.«

»Das kann für Sie nicht leicht gewesen sein.«

»Nein, leicht war es nicht.«

Er zögerte. Sie ließ ihm Zeit.

»Mein Leben war natürlich ein Scherbenhaufen«, fuhr er mit einem Anflug von Widerwillen in der Stimme fort. Widerwille dagegen, von etwas berichten zu müssen, was er tunlichst zu vergessen versuchte. »So würde es wahrscheinlich jedem gehen. Ich hätte bei dem Unfall ums Leben kommen sollen, aber aus irgendeinem Grund ging es anders aus. Aber ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um Hilfe bei der Bewältigung meiner Schuldgefühle zu erhalten, damit muss ich selbst zurechtkommen. Mein Grund, zur Polizei zu gehen, ist, dass …«

Er verstummte. Zog ein Taschentuch aus der Jacke und putzte sich die Nase.

»Entschuldigen Sie. Der Grund dafür, dass ich hier sitze, ist also, dass mein Leben bedroht wird. Wie ich schon sagte … hm.«

Jetzt gab er ihr endlich die Briefe. Platzierte sie auf der Schreibtischkante und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab, als wäre er etwas Schmutziges losgeworden. Eva Backman betrachtete den dünnen Stapel; vier Stück hatte er gesagt, mehr waren es nicht.

»Der Inhalt dieser Briefe lässt Sie glauben, dass jemand Ihr Leben bedroht, habe ich das richtig verstanden?«

»Ja. Und ein Telefonanruf.«

»Okay. Fangen wir mit den Briefen an, was können Sie mir zu ihnen sagen? Ich möchte sie nicht anfassen, bevor wir sie näher untersucht haben … auf Fingerabdrücke und so weiter. Ich möchte Sie außerdem bitten, Ihre Fingerabdrücke abnehmen zu dürfen, bevor Sie gehen.«

»Natürlich.«

»Wann haben Sie die Briefe bekommen, und wissen Sie, wer der Absender ist? Wenn es sich um denselben Absender handelt …«

»Der erste kam im Sommer, in der Woche vor Mittsommer, und seitdem sind sie im Abstand von jeweils gut einem Monat gekommen. Einer im August, einer im September, einer im Oktober.«

»Aha? Sprechen Sie weiter.«

»Bei den beiden letzten habe ich mir das Datum notiert … neunter September und zwölfter Oktober. Ich weiß nicht, wer sie mir geschickt hat, aber es scheint ein und dieselbe Person zu sein.«

Eva Backman nickte. »Ich werde sie natürlich lesen, aber wir lassen wie gesagt vorher die Kriminaltechniker einen Blick auf sie werfen. Weshalb glauben Sie, dass es immer derselbe Absender ist?«

»Wegen des Stils und des Tonfalls. Es sind jedes Mal nur ein paar kurze Sätze, und es ist immer die gleiche Unterschrift. Nemesis.«

»Nemesis?«

»Ja, die Göttin der Rache. Der Rest ist ein Computerausdruck.«

Eva Backman schwieg einen Moment und dachte nach. Albin Runge änderte die Sitzhaltung und wirkte verlegen.

»Ich würde gerne noch einmal mit Ihnen sprechen, nachdem ich die Briefe gelesen habe und sie analysiert worden sind. Könnten Sie morgen noch einmal vorbeikommen?«

»Ich arbeite nicht mehr. Schon seit damals nicht mehr, als … nun ja. Ich kann kommen, wann immer es Ihnen recht ist.«

»Schön. Sagen wir morgen Nachmittag um zwei. Aber erzählen Sie mir doch bitte noch von dem Telefonat.«

Er putzte sich erneut die Nase.

»Entschuldigen Sie. In dieser Jahreszeit erkälte ich mich immer so leicht. Zu dem Anruf habe ich eigentlich nicht viel zu sagen.«

»Aber ein bisschen vielleicht schon?«

»Ja. Es war letzte Woche, am Donnerstag. Jemand rief mit unterdrückter Nummer an. Als ich mich meldete, ist es erst still geblieben, und dann hat eine Stimme gesagt: Hier spricht Nemesis. Wir fragen uns, warum du immer noch lebst. Hast du es nicht kapiert?«

»Das war alles?«

»Ja, das war alles.«

»Mann oder Frau?«

»Ein Mann.«

»Können Sie mir etwas zu seiner Stimme sagen?«

»Sie klang dumpf. Als spräche er durch einen Schal oder so.«

»Haben Sie die Stimme erkannt?«

»Nein.«

»Dass er eventuell durch einen Schal gesprochen hat, haben Sie das sofort gedacht?«

»Nein, erst als der Anruf vorbei war.«

»Und es war ein ziemlich kurzes Telefonat?«

»Nicht länger als zehn, fünfzehn Sekunden.«

»Und Sie haben nichts gesagt?«

»Nein. Was hätte ich sagen sollen?«

Eva Backman dachte einen Augenblick nach.

»Haben Sie mit jemand anderem über die Briefe und den Anruf gesprochen?«

»Nein … oder doch, über die beiden ersten Briefe. Mit Karin.«

»Wer ist Karin?«

»Karin ist meine Frau. Ich habe ihr von den Briefen erzählt, die ich im Sommer bekommen habe, im Juni und im August, aber nicht von den beiden anderen.«

»Und warum nicht? Warum nicht von den anderen?«

»Ich wollte sie nicht beunruhigen.«

»Aber Sie sind beunruhigt?«

Er zuckte mit den Schultern und lächelte erneut flüchtig und genauso gezwungen wie beim ersten Mal.

»Nein, nicht beunruhigt. Ich finde die Sache eher unangenehm. Aber ich kann verstehen, wenn jemand so empfindet.«

»Und wer? Wer, meinen Sie, soll so empfinden?«

»Die Eltern natürlich. Die ihre Kinder verloren haben, weil ich von der Straße abgekommen bin.«

»Sie glauben einer oder mehrere von ihnen stecken hinter diesen Drohungen?«

»Wer denn sonst?«

Gute Frage, dachte sie, als er gegangen war.

Nein, umgekehrt. Es war eine Frage, auf die es keine Antwort gab. Hatte man achtzehn Menschen auf dem Gewissen (siebzehn von ihnen noch Jugendliche, als sie starben, hatte er das nicht gesagt?), brauchte man sich wirklich nicht zu fragen, wo auf der Welt man am wenigsten geliebt wurde.

Und als das Wort geliebt in ihrem Kopf auftauchte, tauchte unmittelbar auch Inspektor Barbarotti auf. Sie sah auf die Uhr. Viertel nach fünf, er war vermutlich schon nach Hause gegangen.

Also zu sich.

Und nun würde Inspektorin Backman zu sich nach Hause gehen.

Das kam ihr falsch vor. Fürchterlich falsch.

Doch bevor sie das Präsidium an diesem Tag verlassen konnte, mussten natürlich noch die besagten Fingerabdrücke in Angriff genommen werden. Sie telefonierte, zog Plastikhandschuhe an und fischte mit Hilfe einer Pinzette die vier Briefe aus ihren Umschlägen. Fotografierte sie, bugsierte sie wieder hinein und deponierte alles in einer durchsichtigen Plastiktüte.

»Hier«, sagte sie, als Inspektor Klausen im Türrahmen erschien. »Schaffst du das bis morgen?«

»Selbstverständlich, meine Schöne«, versicherte Klausen. »Kein Problem.«

»Und Herr Runge ist bei dir gewesen?«

»Schon erledigt. Ein komischer Kauz, was hat er verbrochen?«

Eva Backman konnte es nicht lassen.

»Nichts Besonderes. Nur achtzehn Menschen umgebracht.«

Das hätte ich nicht sagen sollen, dachte sie, als sie sich auf ihr Rad schwang und in die Pedale trat. Aber Klausen ist so ein verfluchter Macho.

3

»Schön, dich zu sehen. Es ist lange her.«

»Mehrere Stunden«, sagte Gunnar Barbarotti. »Fast schon unerträglich lange.«

Er umarmte sie, und sie blieben eine Weile stumm im Flur stehen. Sie musste daran denken, wie vertraut sich seine Umarmung anfühlte. Dabei waren sie erst seit zwei Monaten zusammen und hatten sich noch nicht richtig geliebt. Es war ihre Entscheidung gewesen, und sie würde vermutlich bald Geschichte sein. Allerdings nicht an diesem Abend, vorerst musste die Vertrautheit reichen.

Denn sie hatten es nicht eilig. Sie waren beide um die fünfzig, er knapp darüber, sie knapp darunter, und kannten sich seit fast fünfundzwanzig Jahren. Ein halbes Leben als Kollegen und Freunde, das bedeutete natürlich einiges. Wahrscheinlich hatte es Vor- und Nachteile. Sie dachte, dass es keinen Menschen auf der Welt gab, den sie besser kannte als Gunnar Barbarotti. Nicht ihre Kinder. Nicht ihre Schwester. Nicht ihren früheren Mann … nein, den ganz bestimmt nicht.

Und im Polizeipräsidium wusste niemand, wie es um sie stand. Dass die Inspektoren Barbarotti und Backman gerade dabei waren, ein Paar zu werden. Dass sie zum Beispiel im September eine zweiwöchige Reise durch Europa gemacht hatten. Um nach seinem Vater zu suchen; das war ihr erklärtes Ziel gewesen, und sie hatten sein Grab im italienischen Varese gefunden. Das hatte völlig ausgereicht, dadurch hatte sich eine Art Kreis geschlossen.

Vor ein paar Tagen erst waren sie von einer anderen Reise zurückgekehrt: in die neblige Stadt Maardam. Das war allerdings eine Dienstreise gewesen. Und jetzt, an diesem verregneten Novemberabend, war er zu ihr gekommen, um sie eine Stunde zu sehen, ehe er wieder zur Villa Pickford und seinen drei noch zu Hause wohnenden Kindern fuhr. Zwei eigene und eins von seiner verstorbenen Frau. Es war, wie es war, das Leben schrieb seine eigenen Regeln, es kam nur darauf an, sie lesen zu können und nach ihnen zu handeln.

Seine verstorbene Frau Marianne hatte ihn ermutigt, sich Eva zu nähern. In einem hinterlassenen Brief und vom Himmel aus. Auch das war, wie es war. Es blieb ein wenig unverständlich, aber es war zweifellos ein Rat, den man sehr ernst nehmen musste.

Was er auch getan hatte. Gott sei Dank.

»Wie geht es dir?«

»Gut. Komm rein, wir setzen uns auf die Couch. Möchtest du ein kleines Glas Wein?«

»Tee«, antwortete Gunnar Barbarotti. »Wenn du willst, kann ich dir die Füße massieren.«

»Das will ich«, sagte Eva Backman.

Es dauerte nicht lange, bis sie ihm von Albin Runge erzählte.

»Heute Nachmittag ist etwas Seltsames passiert. Ich bin bei dir vorbei, aber du warst schon nach Hause gegangen.«

»Nicht nach Hause«, wandte Barbarotti ein. »Ich war mit Sorgsen unterwegs, um einem Verdacht auf Brandstiftung nachzugehen. Draußen in Tystberga.«

»Wie schön«, sagte Eva Backman.

»Geht so. Und was ist jetzt also passiert?«

»Ich habe Besuch bekommen. Von einem Herrn mit einem recht speziellen Anliegen.«

»Aha?

Eva Backman trank einen Schluck Tee und erzählte ihm die Geschichte. Von dem zurückhaltenden Busfahrer, der achtzehn Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Von dem diffusen Unbehagen, das sie während des Gesprächs beschlichen hatte, ein Unbehagen, das nicht ausschließlich seiner schrecklichen Geschichte geschuldet war.

Von den Briefen, die er als Morddrohung verstand.

»Und was steht in ihnen?«, erkundigte sich Barbarotti. »Du hast sie doch gelesen?«

Das hatte sie. Mehrere Male im Laufe des Nachmittags und Abends. Es waren ja nur ein paar Zeilen. Insgesamt neun Sätze, um genau zu sein, verteilt auf vier Briefe. Sie suchte sie auf dem Handy heraus und zeigte sie ihm.

Du lebst, während andere tot sind. Soll das wirklich so sein? Nemesis

Das war der erste. Abgeschickt und empfangen im Juni, wenn Albin Runges Angaben korrekt waren. Der Inhalt des zweiten, vom August, war fast identisch.

Andere Menschen sind gestorben. Du lebst, ist das wirklich gerecht? Nemesis

In Nummer drei und vier, die im September und Oktober gekommen waren, hatte sich der Ton verschärft.

Immer noch am Leben? Man scheint dir auf die Sprünge helfen zu müssen. Nemesis

Das ganze Leben lag noch vor ihnen. Du hast jetzt fast dein ganzes Leben hinter dir. Hast du verstanden oder müssen wir noch deutlicher werden? Nemesis

Gunnar Barbarotti schüttelte den Kopf.

»Merkwürdig. Und das ist alles?«

»Abgesehen von einem Anruf vor ein paar Tagen. Jemand hat sich gemeldet, als Nemesis, und Runge gefragt, ob er schwer von Begriff sei. Genauso wortkarg wie die Briefe, wenn wir seinen Angaben Glauben schenken wollen … und das sollten wir wohl.«

»Gibt es irgendeinen Grund, ihm nicht zu glauben?«

»Nein, ich wüsste nicht, warum er sich so etwas ausdenken sollte. Außerdem hat er ja volles Verständnis dafür, dass er so angegangen wird. Er findet es nicht seltsam, dass sein Leben bedroht wird.«

»So versteht er die Briefe? Dass jemand es wirklich auf ihn abgesehen hat?«

Eva Backman zuckte mit den Schultern. »Wie siehst du es?«

Barbarotti dachte eine Zeitlang nach. »Na ja, es geht schon in die Richtung, oder? Und in Frage kommen …?«

»Die Eltern. Einer oder mehrere von denen, die bei dem Unfall Kinder verloren haben und sich jetzt rächen und den Schuldigen bestrafen wollen. Vor Gericht wurde er freigesprochen, nicht einmal wegen Gefährdung des Straßenverkehrs ist er verurteilt worden, irgendjemand könnte also durchaus finden, dass der Tod eines Kindes etwas Strengeres verlangt … oder der Tod von achtzehn Menschen, um genau zu sein, von siebzehn Kindern und einem Erwachsenen. Die Eltern sind laut Runge die einzige Möglichkeit, und … nun, es fällt einem weiß Gott nicht schwer, ihm in dem Punkt zuzustimmen. Oder siehst du es anders?«

»Nein, da kann man ihm kaum widersprechen«, erklärte Barbarotti und wechselte vom linken zum rechten Fuß. »Was für eine seltsame Geschichte. Und eine unangenehme noch dazu. Hast du einen Plan? Ich meine, wie geht man in einem solchen Fall vor?«

»Gute Frage«, seufzte Eva Backman. »Ich habe leider nicht einmal ansatzweise einen Plan. Aber wenn Stigman mir vorschlägt, siebzehn Elternpaare anzurufen, die bei dem Unfall ein Kind verloren haben, um sie zu fragen, ob sie möglicherweise beabsichtigen, einen Busfahrer umzubringen, werde ich mich weigern. Das geht einfach nicht.«

»Das sehe ich genauso«, sagte Barbarotti. »Aber was, wenn es wirklich dazu kommt. Ich meine, stell dir das bitte mal vor … dass er ermordet wird, und wir haben von seiner Situation gewusst, aber nichts unternommen. Die Medien würden einen Orgasmus kriegen, wenn sie Wind davon bekämen.«

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen.«

Barbarotti nickte. »Große Geister denken in den gleichen Bahnen. Übrigens, wer war eigentlich die achtzehnte Person, die bei dem Unglück gestorben ist? Siebzehn Jugendliche und ein Erwachsener?«

Eva Backman runzelte die Stirn. »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich habe vergessen, Herrn Runge danach zu fragen, und bin nicht mehr dazu gekommen, es zu ermitteln. Ein Elternteil wahrscheinlich … oder irgendeine Begleitperson, anscheinend war eine Handvoll Erwachsener in dem Bus.«

»Hm«, sagte Gunnar Barbarotti. »Dann ist es mit anderen Worten also durchaus denkbar, dass jemand nicht nur ein Kind, sondern auch einen Ehemann oder eine Ehefrau verloren hat?«

Eva Backman dachte nach. »Nicht auszuschließen«, stellte sie fest. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen, aber du hast natürlich recht. In der schlechtesten aller Welten … ja, warum nicht? Aber das lässt sich ja problemlos herausfinden. Es dürfte eine ziemlich umfangreiche Ermittlungsakte zu dem Unfall geben.«

»Wann ist es nochmal passiert?«, fragte Barbarotti. »Vor ein paar Jahren …?«

»Vor fünfeinhalb sogar. Der Unfall war Ende März 2007. Das Ganze ist also schon ziemlich lange her. Warum wartet man so lange, ehe man … für Gerechtigkeit sorgt? Oder worauf man es sonst abgesehen hat?«

»Es gibt eine alte englische Redensart«, sagte Barbarotti. »Revenge is a dish best served cold … oder so ähnlich. Und Stigman hast du noch nichts erzählt?«

Eva Backman gestattete sich einen weiteren Seufzer. »Morgen um zehn. Willst du dabei sein?«

»Äußerst ungern«, erwiderte Gunnar Barbarotti. »Aber ich komme.«

Eva Backman lächelte. »Weißt du, manchmal bilde ich mir fast ein, dass du auf dem besten Weg bist, ein echter Gentleman zu werden. Sehe ich das richtig?«

»Oh ja«, antwortete Inspektor Barbarotti mit Nachdruck. »Wenn man dein Herz gewinnen will, darf man kein Detail außer Acht lassen.«

»So, so«, sagte Inspektorin Backman. »Tja, du massierst jedenfalls gut.«

Es wurde eine ungewöhnlich kurze Besprechung, was vor allem daran lag, dass Kommissar Stig Stigman nur wenig Zeit hatte. Barbarotti und Backman betraten sein Büro um zwei Minuten vor zehn und verließen es um acht nach.

Ihre Anweisungen waren glasklar.

Eine ernstzunehmende Angelegenheit. Ernstzunehmend.

Weiterarbeiten wie gewohnt und nach gesundem Menschenverstand. Beide Inspektoren, wie es ihre Zeit erlaubt. Aber keinesfalls andere Fälle vernachlässigen wegen dieser Sache. So viel sollte klar sein.

Haltet mich auf dem Laufenden.

Fragen?

Weder Barbarotti noch Backman hatten irgendwelche Fragen.

Schön.

Und als wie verabredet um zwei Uhr nachmittags Albin Runge auftauchte, waren die beiden Inspektoren zur Stelle.

4

BACKMAN: Willkommen zurück, Herr Runge. Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, zu uns zu kommen.

RUNGE: Ich habe alle Zeit der Welt. Vorerst jedenfalls.

BACKMAN: Ausgezeichnet. Das hier ist mein Kollege, Inspektor Barbarotti.

RUNGE: Guten Tag.

BARBAROTTI: Guten Tag, Herr Runge. Ich bin mit Ihrem Fall vertraut. Inspektorin Backman hat mich ins Bild gesetzt.

RUNGE: Ich verstehe.

BACKMAN: Wie ich gestern bereits erwähnt habe, müssen wir Ihnen einige ergänzende Fragen stellen. Das sollte nicht länger als eine halbe Stunde dauern.

RUNGE Ich habe es nicht eilig.

BARBAROTTI: Darf ich den Anfang machen? Was die Briefe betrifft, gibt es zwei Punkte, die ich gerne klären würde.

RUNGE: Ach ja?

BARBAROTTI: Erstens, von wo sie abgesendet worden sind. Ich selbst habe die Umschläge noch nicht gesehen, aber vielleicht können Sie uns ja eben darüber aufklären? Wenn es keine Postämter gibt, die sich ablesenlassen …?

RUNGE: Man kann es nicht mehr so gut sehen wie früher, aber ich glaube, auf einem steht Stockholm und auf einem zweiten Göteborg.

BARBAROTTI: Und was ist mit den beiden anderen?

RUNGE: Nein, nichts.

BARBAROTTI: Danke. Als Zweites würde ich gerne erfahren, welche Personen mit den Briefen in Kontakt gekommen sind. Wegen der Fingerabdrücke und so weiter.

RUNGE: Meinen Sie die eigentlichen Briefe oder die Umschläge?

BARBAROTTI: Beides. Aber in erster Linie die Briefe. Die Umschläge sind ja auch durch die Hände von Postangestellten gegangen, da kommen wir vermutlich nicht weit.

RUNGE: Ich verstehe. Wenn mich nicht alles täuscht, hat Karin, meine Frau, die beiden ersten Briefe in der Hand gehabt. Als sie die Schreiben gelesen hat. Die anderen zwei habe nur ich berührt. Und …

BARBAROTTI: Und?

RUNGE: Der Verfasser natürlich.

BARBAROTTI: Sie glauben, dass es ein Er ist?

RUNGE: Nein, keine Ahnung. Aber der Anrufer war ein Mann.

BARBAROTTI: Da sind Sie sich sicher?

RUNGE: Ganz sicher. Aber es könnten natürlich auch mehrere dahinterstecken.

BACKMAN: Sie meinen, weil das Wort wir benutzt wird?

RUNGE: Ja. Und weil es nicht nur einen Menschen gibt, der guten Grund hat … nun ja.

BACKMAN: Guten Grund hat wozu?

RUNGE: Sich meinen Tod zu wünschen.

BACKMAN: Wir wollen hoffen, dass es sich trotz allem nicht so verhält.

RUNGE: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

BARBAROTTI: Wenn ich es richtig verstanden habe, gehen Sie davon aus, dass hinter diesen Briefen eine Gruppe von Eltern stecken könnte. Eltern, die bei dem Unfall ein Kind verloren haben. Aber gibt es in Ihren Augen außer reinen Vermutungen irgendetwas, was diese Sichtweise stützt?

RUNGE: Nein, allerdings finde ich auch nicht, dass das nötig ist.

BARBAROTTI: Das kann man so oder so sehen. Außerdem sind seit dem Unfall fast sechs Jahre vergangen. Erinnern Sie sich, ob es auch schon Äußerungen dieser Art gab, als es gerade passiert war? Oder während des Gerichtsverfahrens?

Runge: Nein … nein, ich kann mich nicht erinnern, dass so etwas vorgekommen wäre.

BARBAROTTI: Und später auch nicht? In der Zeit bis zum ersten Brief?

RUNGE: Nein, es hat mit dem Brief im Juni angefangen.

BARBAROTTI: Also mehr als fünf Jahre nach dem Busunglück?

RUNGE: Ja.

BACKMAN: Haben Sie außer mit Ihrer Frau noch mit jemand anderem über die Briefe und das Telefonat gesprochen?

RUNGE: Nein. Und ich habe ihr gegenüber auch nur die beiden ersten Briefe erwähnt. Ich glaube, das habe ich gestern bereits gesagt.

BACKMAN: Das haben Sie. Wir müssen uns nur vergewissern, dass wir nichts falsch verstanden haben. Außerdem ist es gut, wenn wir das eine oder andere ausschließen können. Mir ist bewusst, dass die Ereignisse 2007 ein furchtbarer Schlag für Sie gewesen sein müssen. Wie sieht es aus, haben Sie mit guten Freunden … Verwandten oder Bekannten über den Unfall gesprochen?

RUNGE: Nein. Ich habe einige Psychologen aufgesucht. Aber ansonsten habe ich das eher mit mir ausgemacht. Ich habe ohnehin keinen sonderlich großen Bekanntenkreis, hatte ihn früher nicht und habe ihn auch heute nicht.

BACKMAN: Aber als es passierte, waren Sie nicht mit Karin verheiratet?

RUNGE: Nein, damals war ich mit Viveka verheiratet. Wir haben uns dann im Herbst des Jahres … also 2007, scheiden lassen. Es war eine Entscheidung, die wir gemeinsam getroffen haben.

BARBAROTTI: Hat es da einen Zusammenhang zu dem Unglück gegeben? Verzeihen Sie, dass ich das frage, aber es ist gut, wenn wir nichts übersehen. Und was Sie uns hier anvertrauen, bleibt selbstverständlich unter uns.

RUNGE: Das spielt keine Rolle. Aber es stimmt, unsere Scheidung hing zweifellos mit dem Unfall zusammen. Wir waren uns einig, getrennte Wege gehen zu wollen, es funktionierte einfach nicht mehr.

BACKMAN: Und wann haben Sie Ihre jetzige Frau Karin kennengelernt?

RUNGE: Ich kann ja verstehen, dass Sie diese Dinge fragen, aber das hat nun wirklich nichts mit dieser Sache zu tun … mit den Briefen und den Drohungen, meine ich.

BACKMAN: Das ist sicher richtig. Aber könnten Sie die Frage vielleicht trotzdem beantworten?

RUNGE: Karin und ich haben uns im Frühjahr 2009 kennengelernt. Im Jahr darauf haben wir geheiratet.

BACKMAN: Das heißt, Sie sind jetzt seit zwei Jahren verheiratet?

RUNGE: Seit gut zweieinhalb.

BACKMAN: Danke. Ich glaube, im Moment habe ich keine weiteren Fragen. Wir sind noch dabei, die Briefe zu analysieren, und es ist durchaus möglich, dass wir uns wieder bei Ihnen melden, sobald wir fertig sind. Darüber hinaus wäre es gut, wenn wir die Fingerabdrücke Ihrer Frau bekommen könnten, also wenn Sie nichts …

RUNGE: Ich will auf gar keinen Fall, dass sie in die Sache hineingezogen wird. Sie muss herausgehalten werden, es wäre …

BARBAROTTI: Was wäre es?

RUNGE: (nach längerem Zögern)Es wäre eine allzu große Belastung für uns. Ich habe es ja bewusst unterlassen, ihr von den letzten beiden Briefen zu erzählen … und von dem Anruf. Nein, ich kann sie nicht bitten, der Polizei zu erlauben, ihre Fingerabdrücke abzunehmen, das geht auf gar keinen Fall. Dann lassen wir das Ganze lieber.

BACKMAN: Ich kann ja verstehen, dass Sie zögern, aber wenn wir diese Drohungen ernst nehmen, müssen wir schon …

RUNGE: (erregt)Nein, nein, nein. Dem werde ich niemals zustimmen.

BARBAROTTI: Entschuldigen Sie, aber es gäbe da vielleicht noch einen anderen Weg.

RUNGE: Einen anderen Weg? Wie meinen Sie das?

BARBAROTTI: Nun, es reicht uns ja schon, wenn wir ein paar Fingerabdrücke Ihrer Frau bekommen. Sie muss vielleicht gar nichts davon erfahren. Wir wollen ja nur ihre … und Ihre … Abdrücke für den Fall ausschließen können, dass wir andere auf den Briefen finden. Was denken Sie?

RUNGE: Sie meinen, ich soll Ihnen ihre Fingerabdrücke geben, ohne dass sie etwas davon erfährt?

BARBAROTTI: Genau. Sie könnten mit einem Glas zu uns kommen, das sie in der Hand gehalten hat, oder mit irgendetwas anderem. Aber das ist nur ein Vorschlag, die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.

BACKMAN: Ich weiß nicht, ob …

RUNGE: Gut. So machen wir es. War sonst noch etwas? Ist es in Ordnung, wenn ich morgen oder übermorgen vorbeikomme?

BARBAROTTI: Das wäre ganz hervorragend.

»Du kannst manchmal ganz schön unorthodox sein«, stellte Eva Backman fest, als sie das Aufnahmegerät abgeschaltet hatte und Albin Runge gegangen war. »Wenn man es nicht einfallsreich nennen will. Sollen wir das Band lieber sofort löschen?«

»Man muss wirklich nicht jedes kleine Gespräch dokumentieren«, erwiderte Barbarotti. »Aber ich stimme deiner Einschätzung zu.«

»Welcher Einschätzung?«

»Dass Herr Runge eine seltsame Gestalt ist. Angesichts der Umstände ist das andererseits vielleicht auch nicht weiter verwunderlich.«

»Du meinst das Busunglück?«

»Ja. Gut möglich, dass er vorher ein völlig anderer Mensch war. Es muss schwer sein, über eine solche Tragödie hinwegzukommen.«

»Wenn du mich fragst, ist es mehr oder weniger unmöglich«, sagte Eva Backman. »Aber was denkst du über die Briefe und die Drohungen? Und was sollen wir tun?«

»Mein Einfallsreichtum hat soeben Schiffbruch erlitten«, erklärte Gunnar Barbarotti, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. »Aber wenn ich eine Idee habe, sage ich dir Bescheid.«

»Haha«, sagte Eva Backman. »Aber vielleicht können wir das Ganze ja auch vergessen. Die Geschichte könnte einfach im Sand verlaufen, obwohl ich zugeben muss, dass das wohl eher ein frommer Wunsch ist.«

»Wir werden sehen«, meinte Barbarotti. »Jedenfalls halten wir uns vorerst zurück, oder?«

»Das tun wir«, sagte Eva Backman. »Solange sich nicht herausstellt, dass ein alter Bekannter seine Fingerabdrücke auf einem der Briefe hinterlassen hat.«

»Dann gehen wir auf Alarmstufe Rot«, sagte Barbarotti. »Oder wie das heißt.«

August – September 2018

5

Es war Ende August, in der Blütezeit der brennenden Autos.

Gunnar Barbarotti meinte sich zu erinnern, dass es auch der Monat war, in dem die meisten Kriege ausbrachen. War es nicht so? Als würde die sommerliche Hitze, oder das Ausbleiben der erwarteten Hitze, mit einer gewissen natürlichen Notwendigkeit Streitigkeiten und schwelende Konflikte zum Überkochen bringen. Die Menschen veranlassen, von Worten zu Taten überzugehen, von Zankereien und Drohungen zu regelrechter Gewalt.

In einem größeren oder kleineren Maßstab und in unterschiedlichen Varianten.

Draußen in der Welt auf Makroniveau: bewaffnete Konflikte. Kriegserklärungen.

In Kymlinge und anderen schwedischen Städten: Bandenkriege. Messerstechereien und Schießereien. Vergewaltigungen. Vandalismus.

Und, wie gesagt, Autos, die nachts abgefackelt wurden.

In der Woche vor dem Beginn des neuen Schuljahrs war es meist am schlimmsten. Die Rückkehr der Jugendlichen in die Stadt, von Sommerjobs oder trägem Faulenzen, führte unweigerlich zu einer höheren Arbeitsbelastung der Polizei. Er dachte darüber nach, ob es tatsächlich schlimmer geworden war. Alle behaupteten, es sei so, die brutalere und etwas weniger brutale Gewalt sei eskaliert, und so gern er dieses populistische Zerrbild vom Zustand des Landes entkräftet hätte, ließ sich dies leider nur schwer leugnen.

Es herrschte ein raueres Klima. Es handelte sich nicht nur um eine tendenziöse Berichterstattung in Boulevardblättern und sozialen Medien. Es ging nicht nur um die demagogischen Parolen der rechtspopulistischen Schwedendemokraten. Die Wirklichkeit hatte sich verdüstert. Hatte sich polarisiert und war härter geworden. Immer mehr kriminelle Banden tauchten auf. Das organisierte Verbrechen hatte Wurzeln geschlagen. So sah die bittere Wahrheit aus, und man hatte lediglich die Wahl, ihr ins Auge zu sehen oder die Augen vor ihr zu verschließen. Oder?

Er gähnte.

Sie zu bekämpfen?

Gute Frage. Oder eigentlich eine Frage, die sich ihm gar nicht stellte, da er den Beruf hatte, den er nun einmal hatte. Ein Kriminalkommissar, der kein Interesse daran hatte, das Böse – und dessen Vertreter – zu bekämpfen, wie zum Teufel sähe das denn aus?

Oder war er nur alt geworden? Das war ein anderer Aspekt des Ganzen, der einen auch nicht unbedingt optimistisch stimmte. Und brauchte man – ein dritter Aspekt – vielleicht einfach etwas mehr Koffein im Blut, je älter man wurde? Um irgendwie noch mitzukommen. Coffee – the heartblood of tired men, wie er irgendwo gelesen hatte.

Er seufzte und warf einen Blick zum Seitenfenster hinaus, um zu schauen, ob Eva Backman nicht bald kommen würde. Deshalb hatten sie nämlich vor dem 7-Eleven-Laden gehalten. Um ihren Kaffeetank vor der anstehenden Abendschicht aufzufüllen. Zwei mittelgroße Caffè Latte, beide mit einem zusätzlichen Schuss Espresso.

Zwei Zimtschnecken, er wusste nicht recht, ob sie es schaffen würden, sich das alles auf dem Weg nach Rocksta einzuverleiben, aber man konnte ja einen kleinen Umweg fahren. Jedenfalls … schloss er seine Analyse ab, weil Eva auf den Bürgersteig hinaustrat … jedenfalls ging es hier nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch.

Die Gesellschaft war schlimmer, und er selbst war älter geworden.

Ich wäre besser Philosoph geworden, dachte er und gähnte noch einmal.

»Deshalb hat er das bestimmt gesagt«, stellte er fest, als sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen und ihm seinen Kaffeebecher gereicht hatte. »Meinst du nicht auch?«