Barfuß im Herzen - Hannah Siebern - E-Book

Barfuß im Herzen E-Book

Hannah Siebern

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Beschreibung

Kann man jemanden lieben, der so aussieht wie jemand, den man abgrundtief hasst? Als Isabell sich in den Semesterferien für einen Job als Assistentin bei einem Autor bewirbt, ist sie geschockt. Der zweite Assistent ist ausgerechnet Yannik Schriever. Ein junger Mann, den sie aus ihrer Kindheit kennt, und der sie viel zu sehr an eine Person erinnert, die ihr etwas Schreckliches angetan hat. Doch obwohl Yanniks Anblick sie in Panik versetzt, erklärt sie sich bereit mit ihm eine Recherchereise nach Schweden zu unternehmen, um zu beweisen, dass sie das Zeug für den Job hat. Allein mit ihm zwischen Flüssen, Wäldern und atemberaubenden Fjorden muss sie sich irgendwann fragen, ob ihr Herzklopfen in Yanniks Nähe wirklich noch etwas mit ihrer Angst zu tun hat. Aber kann sie sich in jemanden verlieben, der so aussieht wie der Mann, den sie abgrundtief hasst?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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BARFUSS IM HERZEN

HANNAH SIEBERN

Copyright © 2018 by Hannah Siebern

All rights reserved.

No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.

Impressum

2019 Hannah Siebern

Am Vogelbusch 18

48301 Nottuln

ISBN:9783819449000

Deutsche Erstausgabe 03/2019

Lektorat: Nadine d’Arachart und Sarah Wedler

Satz: Hannah Siebern

Formatiert mit Vellum

INHALT

Über den Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Epilog

Was bisher geschah

Danksagung

Die Barfußreihe

ÜBER DEN AUTOR

Hannah Siebern wurde 1986 in Münster (NRW) geboren und studierte an der Uni Dortmund Erziehungswissenschaft. Geschichten schrieb sie schon als Kind leidenschaftlich gerne. Ihre ersten Werke handelten von fiktiven Abenteuern, die sie mit ihren Freundinnen erlebte. Jahre später entdeckte sie dann ihre Liebe zu Fantasyromanen und schrieb mit 23 ihr erstes komplettes Buch. Inzwischen schreibt sie in verschiedenen Genres und ist immer mit ganzem Herzen dabei.

Sie lebt mit ihrem Freund und ihrem Hund in der Nähe von Münster (NRW) und arbeitet schon wieder an ihrem nächsten Romanprojekt.

Foto: Guido Karp www.p41d.com

www.hannahsiebern.de

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1

Isi

Wenigstens bin ich nicht barfuß.

Das musste ich mir nur immer wieder vorsagen wie ein Mantra. Denn alles war besser, als barfuß hier zu stehen.

Heute war ich sogar auf Nummer sicher gegangen und hatte trotz hochsommerlicher Temperaturen meine Doc Martens angezogen, in denen meine Füße wie verrückt schwitzten. Aber das war mir egal. Hauptsache, der Freund meines Vaters bekam nichts von meinen Füßen zu sehen.

Ich war ohnehin schon so aufgeregt, dass ich mich kaum konzentrieren konnte. Aber ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Ich brauchte diesen Job und mir war klar, dass ich dabei sehr viel würde lernen können. Immerhin wollte ich einmal genau dasselbe machen wie Herr Greving: Schreiben.

Als mein Vater mir mitgeteilt hatte, dass jemand, den er aus dem Abitur kannte, Assistenten zum Schreiben suchte, war ich sofort Feuer und Flamme gewesen. So eine Gelegenheit kam bestimmt nicht so schnell wieder und ich wusste genau, dass ich sie nicht verpassen durfte.

Also holte ich tief Luft und klingelte an der alten Tür. Ich hatte alles getan, um einen guten Eindruck zu machen. Ich trug einen langen Rock, eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln und hatte mein langes blondes Haar zu einem Zopf gebunden. Außerdem hatte ich mich geschminkt, was ich sonst selten tat. Immerhin sollte Herr Greving mich für seriös halten. Ich konnte nur hoffen, dass mein Vater ihm nicht allzu viel über mich erzählt hatte, sodass er mir vorurteilsfrei begegnen würde.

Eine Weile geschah nichts, aber dann wurde geöffnet und eine ältere Dame im Kostüm stand mir gegenüber.

„Ah. Sie müssen Isabell Franke sein, habe ich recht? Wir haben Sie bereits erwartet.“

Ich nickte zurückhaltend und streckte ihr die Hand entgegen.

„Ganz richtig“, sagte ich. „Ich habe einen Termin mit Herrn Greving.“

„Ja, natürlich.“ Sie schüttelte meine Hand und wandte dabei mehr Kraft auf, als ich es einer Frau in ihrem Alter zugetraut hätte.

Die ältere Dame erinnerte mich ein bisschen an Fräulein Rottenmeier aus Heidi, weil sie so einen strengen Zug um den Mund hatte und ich konnte einfach nicht einordnen, wer sie war. Herrn Grevings Frau? Oder eine Freundin? Eine Angestellte? Schwer zu sagen.

„Kommen Sie doch herein. Ich bin übrigens Miss McGregor.“

„Oh. Sind Sie Engländerin?“

„Schottin.“

Sie schloss die Tür wieder und führte mich einen langen Flur entlang, der zu einer großen Tür führte. Überall hingen Gemälde an den Wänden, die aus einer komplett anderen Zeit zu stammen schienen. Doch statt mir die Tür zu öffnen, musterte Miss McGregor mich von oben bis unten und deutete dann auf meine Schuhe.

„Die werden Sie ausziehen müssen“, sagte sie bestimmt und mir wurde eiskalt.

„Aber … warum denn? Sie sind nicht dreckig. Das verspreche ich. Es ist staubtrocken draußen und …“

„Sie haben es erfasst, Fräulein Franke. Staubtrocken. Das heißt, Sie bringen jede Menge Staub mit rein und wir haben im Wohnzimmer einen blütenweißen Teppich, auf dem man absolut alles sieht.“

„Aber …“ Ich konnte meine Schuhe nicht ausziehen. Unter gar keinen Umständen. Ich trug zwar Socken, aber ich wollte noch nicht einmal, dass jemand die Form meiner Füße sehen konnte. Eher würde ich schreiend das Haus wieder verlassen.

Doch Miss McGregor schien unerbittlich.

„Mit diesen Schuhen kommen Sie hier nicht rein“, erklärte sie rigoros. „Also entweder ziehen Sie die Dinger aus oder Sie können das Treffen mit Herrn Greving gleich wieder vergessen.“

„Wäre … wäre es nicht möglich, dass ich mich an einem anderen Ort mit Herrn Greving treffe? Vielleicht in seinem Büro oder …“

Miss McGregor runzelte die Stirn. „Fräulein Franke. Was ist denn das Problem daran, die Schuhe auszuziehen? Da drin gibt es einen Teppich. Sie werden schon keine kalten Füße bekommen.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und suchte händeringend nach einem Kompromiss. Mein Blick fiel auf die Pumps von Miss McGregor und ich deutete aufgeregt darauf.

„Sie tragen doch selbst Schuhe“, merkte ich an.

Sie schnalzte mit der Zunge. „Erstens trage ich diese Schuhe nur im Haus und zweitens werde auch ich die Schuhe vor dem Betreten des Teppichs ausziehen. Also was ist jetzt?“

Ich schluckte und versuchte, gegen die Panik in mir anzukämpfen. Ich konnte meine Füße nicht zeigen. Unter gar keinen Umständen. Aber vielleicht …

„Haben Sie Hausschuhe?“, fragte ich hoffnungsvoll. „Je größer und unförmiger, desto besser.“

Miss McGregor sah mich erstaunt an.

„Mitten im Sommer wollen Sie Hausschuhe? Wie gesagt. Der Boden ist nicht kalt.“

„Ich hätte trotzdem gerne welche. Ginge das? Bitte.“

Miss McGregor schüttelte irritiert den Kopf, ging dann aber trotzdem zu einem Schrank im Flur und zog ein Paar Pantoffeln heraus. Sie waren mir bestimmt zu groß und in einem hässlichen Braun gehalten, das mit Sicherheit keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Genau das Richtige für mich!

„Die sind perfekt. Vielen Dank“, sagte ich und nahm ihr die Dinger ab. Ich setzte mich auf eine kleine Bank, die vermutlich für genau diesen Zweck im Flur stand und begann meine Doc Martens aufzuschnüren. Ich war erleichtert, als ich sah, dass Miss McGregor sich diskret abwandte, so als hätte sie endlich verstanden, dass ich meine Füße niemandem zeigen wollte. Ich zog sie schnell nacheinander aus den Schuhen und steckte sie direkt in die Pantoffeln. Mit den Dingern fühlte ich mich zwar nicht so sicher wie in den Doc Martens, aber es würde schon gehen.

Meine Füße dankten es mir, weil sie mehr Luft abbekamen, aber ich schwitzte trotzdem am ganzen Körper und hoffte, dass mein Deo nicht versagte.

„Fertig?“, fragte Miss McGregor und winkte mich hinter sich her. „Dann kommen Sie. Herr Greving ist von Natur aus kein geduldiger Mensch.“

* * *

Das Wohnzimmer, in das ich geführt wurde, war riesig. Hier hätte meine komplette Wohnung problemlos Platz gehabt und die bewohnte ich immerhin mit meiner Schwester.

Wie Miss McGregor angekündigt hatte, gab es einen riesigen blütenweißen Teppich, der so fluffig aussah, dass ich mich am liebsten darauf herumgerollt hätte. Aber das wäre wohl kaum angemessen gewesen. Daher setzte ich mich auf eines der ausladenden Sofas, die auf mich ebenfalls so wirkten, als wären sie mindestens hundert Jahre alt. Vielleicht auch älter. Trotzdem waren die Bezüge nicht abgenutzt. Ich vermutete, dass Herr Greving nicht allzu oft Besuch bekam.

Ich setzte mich und schob meine Füße so weit unter das Sofa, wie es mir möglich war.

„Ich hole Ihnen etwas zu trinken und sage Herrn Greving Bescheid, dass Sie hier sind.“, sagte Miss McGregor. „Was darf es denn sein? Tee? Kaffee?“

Am liebsten hätte ich nach einer Cola gefragt, aber ich vermutete, dass es so etwas hier nicht gab.

„Ein Wasser, wenn es möglich ist“, sagte ich daher und die Haushälterin nickte.

Sobald sie aus dem Raum verschwunden war, sah ich mich neugierig um. Wie nicht anders zu erwarten, gab es hier haufenweise alter Bücher. Genau so hatte ich mir das Zuhause eines Autors immer vorgestellt. Alte Möbel, Bücher und große Leselampen. Selbst der Kronleuchter passte perfekt und ich fühlte mich ein bisschen in das Märchen Die Schöne und das Biest versetzt, in dem es auch so eine tolle Bibliothek gab. Zugegeben. Ganz so groß wie dort war dieser Raum hier nicht. Aber ansonsten bestand schon eine gewisse Ähnlichkeit.

Gerade als ich mich weiter umsehen wollte, hörte ich ein Geräusch und im nächsten Moment sprang etwas auf meinen Schoß, das im ersten Moment wie eine nackte Ratte aussah. Ich erschrak so sehr, dass ich es herunter schubste und aufschrie.

Sofort versteckte sich das Ding hinter einem der Sessel und … fauchte?

„Was ist denn hier los?“, fragte Miss McGregor, die mit einer Tasse Kaffee und einem Glas Wasser hereinkam.

„Da … da war eine Ratte“, stotterte ich und deutete auf den Sessel, hinter dem das hässliche Ding verschwunden war.

Miss McGregor schüttelte missbilligend den Kopf.

„Das war doch keine Ratte“, sagte sie und stellte das Tablett ab. Dann ging sie zu dem Sessel und hob ein rosafarbenes Tier auf. „Das ist nur unsere Katze. Samira.“

Meine Augen wurden groß und ich staunte nicht schlecht, als sie das Tier auf den Tisch setzte und es streichelte. Tatsächlich. Es war eine Katze. Aber sie war vollkommen nackt.

Ich hatte schon davon gehört, dass es Nacktkatzen gab, aber ich hatte noch nie eine gesehen und musste feststellen, dass ich sie einfach nur hässlich fand. Zumindest dieses Exemplar. Sie war klein und faltig und hatte riesige Fledermausohren. Ihr Körper wies ein paar Flecken auf und wenn ich genauer hinsah, fiel mir auf, dass ihre Haut ein leichter Flaum bedeckte, den ich zuvor noch nicht bemerkt hatte.

Sobald Miss McGregor die Katze auf dem Tisch absetzte, ließ sie sich dort nieder und begann sich die Pfoten zu lecken.

„Das ist eine kanadische Sphynx“, erklärte die Haushälterin und ich nickte.

Der Name passte zu der Rasse. Sie erinnerte mich wirklich an die ägyptische Sphinx. Sie hatte dieselbe Anmut und eine ebenso gerade Haltung.

„Ich dachte, Nacktkatzen wären in Deutschland verboten“, bemerkte ich, weil ich irgend sowas mal gelesen hatte. Doch Miss McGregor schüttelte den Kopf.

„Nein. Nur, wenn sie keine Tasthaare haben. Dann wird die Zucht als Quälerei angesehen.“

Gut zu wissen. Ich fand es ja auch so eine Quälerei, dass diese Katze mit Sicherheit nie an die frische Luft gehen konnte. Im Winter war es dafür zu kalt und im Sommer holte sie sich einen Sonnenbrand. Das waren doch verdammt schlechte Voraussetzungen, oder?

Aber ich war nicht als Tierschützerin hergekommen, sondern weil ich einen Job wollte. Also behielt ich meine Meinung für mich und bedankte mich artig für das Wasser.

„Danke schön“, sagte ich und nahm einen Schluck. Das Wasser war eiskalt und ich hätte mich fast daran verschluckt, als die Tür aufging und ein älterer Mann hereinkam.

„Das ist sie also, die kleine Isabell“, sagte er freundlich und nickte mir zu.

Ich hatte nicht gewusst, was mich erwartete, aber der Anblick von Heinrich Greving überraschte mich doch. Mein Vater hatte nur gesagt, dass er mit ihm Abitur gemacht hatte. Genau wie mein Patenonkel. Aber da die beiden immer noch volles Haar hatten und für ihr Alter gar nicht so schlecht aussahen, hatte ich automatisch angenommen, auch Herr Greving wäre ein rüstiger Mann Mitte fünfzig. Stattdessen stand mir ein alter Mann gegenüber. Er musste mindestens zehn Jahre älter sein als mein Vater. Wenn nicht sogar mehr. Außerdem war er bereits vollständig ergraut und hatte eine Halbglatze.

Was ihn aber besonders alt wirken ließ, war die Tatsache, dass er am Stock lief und sich offenbar nur schwer bewegen konnte. Doch ich versuchte meine Bestürzung zu überspielen und stand auf.

„Guten Tag, Herr Greving. Es freut mich wirklich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Ich streckte ihm meine Hand entgegen, die er annahm und schüttelte. Danach setzte er sich mir gegenüber auf eines der Sofas.

Als er nach seiner Kaffeetasse griff, zitterte diese so sehr, dass er sie kaum halten konnte. Doch er schaffte es, einen kleinen Schluck zu trinken und sie dann wieder abzusetzen.

Peinlich berührt wich ich seinem Blick aus und tat so, als würde ich mich unglaublich für das Bild eines mir unbekannten Künstlers interessieren, das den Großteil der hinteren Wand des Wohnzimmers einnahm. Es stellte eine Kriegsszene dar und zeigte einen Sterbenden, der in den Armen eines weinenden Engels lag. Sehr episch, wie ich fand.

„Du bist also Isabell“, wiederholte der Alte und zwang mich dadurch, ihn anzusehen. Seine Augenbrauen waren so buschig, dass es mich wunderte, dass er darunter überhaupt etwas sehen konnte. „Du siehst deiner Mutter ähnlich.“

Die Erwähnung meiner Mutter versetzte mir einen Stich. Sie hatte uns verlassen, als ich noch ein Kind gewesen war und seither hatte mein Vater uns alleine großziehen müssen. Mein älterer Bruder Alex hatte zwar versucht, ihn so gut wie möglich zu unterstützen, aber es hatte sehr viele Situationen gegeben, in denen ich einfach meine Mutter gebraucht hätte.

„Das sagen viele Leute“, gab ich zu und wusste, dass es keine Beleidigung war. Meine Mutter war eine sehr schöne Frau. Mit ihren strahlenden blauen Augen und den blonden Locken hatte sie zumindest früher so ähnlich ausgesehen wie Christina Aguilera. Ich hatte ihre Gesichtsform geerbt und natürlich die Haare. Meine Augenfarbe war hingegen eine matschige Mischung aus Grün und Braun. Mir hatte das nie gefallen, aber man konnte sich sowas ja nicht aussuchen.

„Hoffentlich bist du zuverlässiger als sie“, sagte der alte Mann und versetzte meinem Herzen einen weiteren Stich. Er wusste also, dass meine Mutter uns verlassen hatte, um mit einem anderen Mann zusammen zu sein. Im Prinzip hatte ich vollstes Verständnis dafür, dass man sich neu verliebte, aber ich hatte nie verstehen können, wie man einfach seine Kinder zurücklassen konnte. Denn bis sie abgehauen war, war sie eigentlich eine gute Mutter gewesen. Zumindest für Lilly und Alex. Mich hatte sie immer mit einer gewissen Distanz behandelt, weil sie nicht wahrhaben wollte, dass ihre eigene Tochter nicht perfekt war. Aber trotzdem hatte sie sich um mich gekümmert. Sie hatte mit uns gespielt und uns zum Lachen gebracht. Sie hatte uns das Gefühl gegeben, dass sie immer für uns da sein würde. Und dann …

Hatte sie eines Morgens ihre Sachen gepackt, war gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Im Grunde meines Herzens hatte ich diesen Verlust nie verwunden.

„Herr Greving. Ich versichere Ihnen, dass ich sehr zuverlässig bin“, sagte ich und war froh, dass meine Stimme nicht brach. „Aber ich fände es schön, wenn wir nicht weiter über meine Mutter reden würden.“

„Aha. Eine offene Wunde“, stellte Herr Greving fest. „Ich war immer ein Gegner davon, Dinge totzuschweigen. Deine Mutter war eine treulose Frau, die deinen Vater einfach sitzen gelassen hat. Damit musst du dich abfinden. Es bringt nichts, diese Sache unter den Tisch zu kehren.“

Das sah ich ganz anders. Bei manchen Angelegenheiten war es sogar das Beste, wenn man sie unter den Tisch kehrte, aber das würde ich Herrn Greving ganz sicher nicht unter die Nase reiben. Also nickte ich nur und hoffte, dass er das Thema wechseln würde, was er zu meiner Erleichterung auch tat.

„Apropos Dinge beim Namen nennen“, begann er. „Wie du sehen kannst, bin ich nicht mehr gut zu Fuß. Ich leide seit einiger Zeit an Parkinson. Ich habe zwar Miss McGregor, aber ich brauche trotzdem Unterstützung. Ich suche daher jemanden, der allerlei Aufgaben für mich erledigt. Der die Einkäufe macht, die Fenster putzt oder den Müll rausbringt.“

Mein Mund klappte auf.

„Aber … ich dachte, Sie suchen jemanden, der Sie beim Schreiben unterstützt und Ihnen bei der Recherche hilft.“

Einen Job als Putzhilfe hätte ich auch woanders finden können.

„Alles zu seiner Zeit. Erst einmal musst du dich bewähren. Und das tust du, indem du alles machst, was ich dir auftrage. Wenn du dich eine Woche gut angestellt hast, dann darfst du nächste Woche auch ein paar Texte für mich abtippen. Ich schreibe immer noch alles auf meiner alten Schreibmaschine und brauche jemanden, der es in den Computer überträgt.“

Das klang zwar auch nicht unbedingt nach einer glorreichen Arbeit, aber es hatte zumindest etwas mit dem Schreiben zu tun. Dass ich bis dahin das Putzmädchen spielen sollte, gefiel mir allerdings gar nicht.

„Wäre es nicht möglich, dass ich sofort mit der Arbeit an den Texten beginne?“, hakte ich vorsichtig nach. „Ich könnte auch einen ersten Korrekturdurchgang machen. In Rechtschreibung und Grammatik bin ich hervorragend.“

„Das glaube ich dir sofort. Deswegen habe ich ja auch eingewilligt, als dein Vater dich vorgeschlagen hat. Du studierst Kommunikationswissenschaften, richtig?“

„Ja.“

„Das kann man doch auch in München, oder?“

„Wäre möglich.“

„Warum bist du dann nicht in Eching bei deinem Vater geblieben? Dadurch hättest du ihm einige Kosten ersparen können, denn soweit ich weiß, zahlt er deine Wohnung, oder?“

Mein Herz pochte wie wild und ich ärgerte mich, dass ich seine Frage bejaht hatte. Wenn ich sie verneint hätte, dann hätte er vermutlich nicht weiter nachgehakt.

„Weil ich von zu Hause wegwollte“, erklärte ich schließlich. „Ich … ich wollte mal was anderes sehen und auf eigenen Beinen stehen. Außerdem hat mein Vater das unterstützt. Wie Sie ja sicher wissen, hat er auch hier studiert und war ganz begeistert von Münster.“

Das war noch nicht einmal gelogen. Sobald ich achtzehn gewesen war, hatte ich sofort eine Möglichkeit gesucht, von zu Hause weg zu kommen. Ich hatte nur noch mein Abitur gemacht und war dann nach Münster gezogen. Ich hatte mich eingeschrieben und mit dem Studium begonnen. Besonders gerne hielt ich mich in der Bibliothek auf, weil es dort so ruhig war und ich keine Angst haben musste, dass meine Schwester jeden Moment ihre Freunde mit nach Hause brachte. Meine vorherige Mitbewohnerin war da viel unkomplizierter gewesen. Die hatte nämlich fast genauso viel zu Hause herumgesessen wie ich und auch keine Freunde gehabt.

„Also gut“, sagte Herr Greving. „Von mir aus können wir es gerne versuchen. Komm nächste Woche Montag um acht Uhr her und dann sehen wir, ob du zu was taugst.“

„Um acht?“ Mit großen Augen sah ich ihn an. Ich war nicht unbedingt eine Spätaufsteherin wie einige meiner Kommilitonen, die jede Veranstaltung schwänzten, die vor zehn Uhr begann. Aber ich hatte auch keine Lust, um halb sieben aufzustehen, nur um pünktlich hier zu sein. Immerhin lag das Haus von Herrn Greving nicht im Zentrum von Münster, sondern im Stadtteil Kinderhaus, wo ich mit dem Bus ja auch erst mal hinfahren musste.

„Ja. Ist das ein Problem?“

Ich schluckte den Kommentar hinunter, dass mir eine Stunde später lieber gewesen wäre und schüttelte nur den Kopf. „Nein. Kein Problem“, sagte ich schnell. „Überhaupt kein Problem.“

„Gut. Dann sehen wir uns nächste Woche.“

Mit diesen Worten stand er auf und ließ mich mit all meinen anderen Fragen zurück. Das war auf jeden Fall ein interessantes Vorstellungsgespräch gewesen.

2

Isi

Als ich zu Hause ankam, waren meine Füße so heiß gelaufen, dass ich das Gefühl hatte, auf Kohlen zu gehen. Es war viel zu warm für Ende Mai. Am liebsten hätte ich es gemacht wie die meisten anderen und wäre einfach in Flip-Flops vor die Tür gegangen. Aber das konnte und wollte ich nicht. Daher schloss ich die Wohnungstür hinter mir und rief nach meiner Schwester.

„Lilly? Bist du da?“

Keine Antwort. Ich war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Erleichtert, weil ich problemlos meine Schuhe ausziehen konnte und enttäuscht, weil ich meinem Ärger keine Luft machen konnte.

Aber ich nahm es positiv, ging ins Bad und machte die Tür zu. Dann ließ ich kaltes Wasser in die Duschtasse laufen, die nach altem Stil gebaut und nicht ebenerdig war. Ich steckte den Stöpsel rein und zog dann meine Schuhe und Socken aus.

Sobald genug Wasser drin war, stellte ich mich mit nackten Füßen hinein und seufzte. Es war eine Wohltat, das Wasser an meiner Haut zu spüren und am liebsten wäre ich stundenlang so stehen geblieben. Doch als ich hörte, wie die Wohnungstür aufging, sprang ich fast schon panisch aus der Dusche, griff mir ein Handtuch und begann, meine Füße trocken zu rubbeln.

„Isi?“, rief meine kleine Schwester. „Bist du da?“

„Ja! Moment!“

Es klopfte.

„Bist du im Bad? Ich muss ganz dringend.“

„Ja. Warte kurz. Ich bin gleich so weit.“

„Lass mich rein. Bitte. Ich muss unbedingt pinkeln.“

„Dann bring mir Socken.“

„Ach, komm schon. Ich habe deine Füße doch schon tausend Mal gesehen.“

Das stimmte. Allerdings war das bereits Jahre her. Ich hätte mir natürlich auch meine alten Socken und die Schuhe wieder anziehen können, aber die waren völlig verschwitzt und das wollte ich mir nicht antun.

„Bring mir Socken oder zumindest meine Hausschuhe. Sonst lass ich dich nicht rein“, erklärte ich.

Lilly seufzte entnervt. Ich hörte, wie sie sich von der Tür entfernte und dann wieder klopfte.

„Ich hab sie“, rief sie. Zögerlich öffnete ich die Tür und sie reichte mir die Hausschuhe hindurch. Dann schlüpfte ich in die Puschen mit Micky-Maus-Kopf und öffnete die Tür ganz.

„Na endlich!“, rief Lilly und stürmte an mir vorbei. Sie zog sich die Hose herunter und setzte sich sofort aufs Klo.

Ich schüttelte lachend den Kopf und verließ das Bad. Fünf Minuten später kam Lilly ins Wohnzimmer und ließ sich neben mich auf das Sofa fallen.

„Ahhh. Schon besser. Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, bei Professor Maria Adelig eine Vorlesung zu haben, wenn draußen dreißig Grad sind und sie sich weigert, die Fenster zu öffnen. Ich habe die ganze Zeit über Wasser in mich hineingeschüttet.“

„Und warum bist du danach nicht zur Toilette gegangen?“

„Da musste ich ja noch nicht. Das fing erst auf dem Weg hierher an. Aber dann so richtig.“

Ich schmunzelte. Meine Schwester war eine kleine Drama Queen, was solche Dinge anging. Wenn sie ein Bedürfnis hatte, dann musste es sofort befriedigt werden. Dabei wirkte sie auf den ersten Blick, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Sie war etwas kleiner als ich, hatte braune, lockige Haare und dieselben blauen Augen wie unsere Mutter. Ich fand sie wunderschön. Viel schöner als mich selbst, aber das ging vielleicht allen älteren Schwestern so. Vermutlich war man immer eifersüchtig auf die Jüngere, ganz egal, worum es ging.

Lillys Kleidungsstil war modern und auf jeden Fall viel stilsicherer als meiner, der praktisch nicht vorhanden war. Vor allem fiel ich auf, weil ich immer schweres Schuhwerk trug, egal, ob das Wetter dafür angemessen war oder nicht. Aber das war mir egal.

„Und wie war dein Tag?“, fragte Lilly und schaltete gleichzeitig den Fernseher an. Wir schauten zurzeit gemeinsam die Serie Lucifer, da der Schauspieler es uns beiden angetan hatte. Generell war ich süchtig nach Netflix, aber zusammen mit meiner Schwester machte es doppelt Spaß.

„Gar nicht so übel“, sagte ich. „Die Vorlesungen waren okay und das Essen …“

„Ich will doch nichts über das Essen hören“, unterbrach Lilly mich. „Was ist mit deinem Vorstellungsgespräch? Papa hat gesagt, dieser Greving wäre richtig berühmt, obwohl ich noch nie was von ihm gelesen habe.“

„Das kommt daher, dass er unter Pseudonym schreibt. Bevor ich keine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben habe, darf ich aber nicht erfahren, unter welchem.“

„Na toll. Also werde ich nie herausfinden, wer er in Wirklichkeit ist.“

„Stimmt. Allerdings könnte ich ja mal rein zufällig eins seiner Bücher mit nach Hause bringen und auf deinen Nachttisch legen. Dann würde ich nicht gegen die Erklärung verstoßen und du könntest dir trotzdem denken, wen ich meine.“

Lilly lächelte. „Wie durchtrieben“, sagte sie. „So kenne ich dich ja gar nicht. Und wie ist dieser Autor so? Ist er wirklich so steinreich?“

„Ich denke schon. Sein Haus ist riesig, er hat eine Haushälterin und eine Nacktkatze.“

„Wie bitte?“

„Ja. Ich musste auch zweimal hinsehen. Diese Viecher sind unglaublich hässlich.“

„Und sieht dieser Kerl gut aus? Ist er vielleicht eine Art Mr. Grey, der dich in die Geheimnisse seiner Erotikromane einführt?“

„Oh, Gott bewahre. Bloß nicht. Der Kerl ist mindestens sechzig und sieht noch älter aus. Von dem will ich in überhaupt nichts eingeführt werden.“

Wie im Übrigen auch von sonst keinem Mann, aber das war eine andere Sache.

„Wie schade. Ich hatte so gehofft, du würdest auch endlich mal ein Abenteuer mit einem Mann erleben.“

Sie seufzte tief und ich verdrehte die Augen.

„Nett gemeint, Schwesterchen. Aber ich fürchte, der richtige Mann für mich muss erst noch geboren werden.“

3

Yannik

„Halt ihn hoch, halt ihn hoch“, rief Judith und ich versuchte, ihren Anweisungen Folge zu leisten.

Ich hielt den Fisch so weit wie möglich nach oben und es dauerte nicht lange, bis ein Seehund aus dem Wasser geschnellt kam, der mir den Leckerbissen aus der Hand schnappte. Dann ließ er sich wieder zurückfallen und es platschte.

Ich wurde klitschnass, was mich allerdings überhaupt nicht störte. Im Gegenteil. Es war eine tolle Erfrischung, die dafür sorgte, dass ich mich lebendig fühlte.

Der junge Seehund schwamm eine Runde und tauchte dann genau vor mir wieder auf.

„Au, au, au, au“, machte er und tänzelte hin und her. Er war unglaublich niedlich und ich verstand nur zu gut, warum meine Schwester so viel Spaß daran hatte, ihn zu trainieren.

„Freddie!“, rief Judith und klatschte in die Hände. „Freddie! Komm her zu mir.“

Der kleine Seehund reagierte sofort. Er drehte sich zu ihr um und kam auf sie zu gerobbt. Er nahm Anlauf und ließ sich dann über den nassen Boden rutschen, bis er bei ihr ankam. Meine Schwester jubelte und gab ihm einen weiteren Fisch.

„Toll gemacht“, rief sie. „Du bist der Beste.“

Freddie ließ sich von ihr streicheln und sprang dann zurück ins Wasser zu den anderen Seehunden, die hier ihre Runden drehten.

„Es ist schön, dich mit den Tieren zu sehen“, bemerkte ich und stellte mich neben meine Schwester. „Du wirkst nirgendwo so glücklich wie hier.“

„Das liegt daran, dass ich nirgendwo so glücklich bin.“ Sie lächelte breit und ihre Sommersprossen kamen dabei deutlich zum Vorschein. „Tiere sind einfach die besseren Menschen.“

Sie zwinkerte mir zu und ich wusste genau, worauf sie anspielte.

Allerdings wollte ich an die Sache mit Patrick damals gar nicht mehr denken. Meine Schwester hatte nach der Schule eine Ausbildung zur Tierpflegerin gemacht und dank der Kontakte unseres Vaters schnell einen Job im Münsteraner Allwetterzoo bekommen. Das war auch der Grund, warum ich mir Münster als Studienort ausgesucht hatte. Ich bewohnte mit Judith zusammen eine WG und durfte sie hin und wieder hier besuchen. Da ich fast zwei Jahre älter war als sie, waren wir ungefähr zur gleichen Zeit umgezogen, was mir sehr wichtig gewesen war, denn wenn ich nicht auf meine Schwester aufpasste, würde es sicher niemand tun.

„Ich finde es toll, dass sie dir die Erziehung von Freddie überlassen haben“, bemerkte ich.

„Na ja. Ich darf ihn ja nicht alleine trainieren. Meine Kollegen leiten mich an. Vor allem, wenn er neue Kunststücke lernen soll. Aber wenn es nur darum geht, etwas bis zum Erbrechen zu wiederholen, dann darf ich das auch tun. Freddie ist einfach der Coolste von allen.“

Ich lächelte. Generell hatte ich nie viel von Zoos gehalten, weil ich es nicht schön fand, dass die Tiere dort hinter Gittern leben mussten. Doch ich sah ein, dass es einige Rassen gab, die man nur so vorm Aussterben retten konnte. Und um das Ganze interessant zu halten, musste man eben verschiedene Tierarten präsentieren.

Bei meinen Besuchen hier war mir allerdings aufgefallen, dass die Zoowärter sich wirklich Mühe gaben, um die Tiere so gut wie möglich zu pflegen. Natürlich war das Ganze nicht artgerecht, aber sie taten alles, was in ihrer Macht stand.

„Oh Nein. Freddie!“, rief Judith, als sie sah, wie es im Wasser aufspritzte. Offenbar hatte der kleine Seehund sich hinter unserem Rücken ein Netz mit Bällen geschnappt und es ins Wasser gezogen.

Ich lachte, aber Judith schien die Aktion nicht so lustig zu finden, sondern zog ihre Flip-Flops aus.

„Lach nicht, sondern hilf mir“, schnauzte sie mich an. „Er hat sich verheddert in dem Netz. Das ist schon einmal passiert. Ich verstehe gar nicht, dass er es überhaupt nochmal versucht hat, dieser Idiot.“

Sobald ich den Ernst der Lage erkannte, zögerte ich nicht länger. Ich zog mir das Shirt und die Hose aus – Schuhe trug ich ohnehin schon nicht mehr – und sprang in Boxershorts ins Wasser.

Judith folgte mir, war aber nicht annähernd so schnell wie ich.

Ich war früher im Leistungsschwimmen gewesen und hatte sogar mehrere Preise gewonnen. In der Abizeit hatte ich nur irgendwann die Lust daran verloren. Ich paddelte zu dem Netz, in dem der kleine Seehund tatsächlich seine Flosse eingeklemmt hatte.

„Ganz ruhig“, redete ich auf ihn ein und griff vorsichtig nach ihm.

Doch Freddie dachte gar nicht daran, stillzuhalten. Also schnappte ich ihn mir und hielt ihn fest. Er roch nach Fisch und war ganz glatt. Seine Haut war kühl, aber fühlte sich angenehm unter meinen Händen an.

„Du hast Glück, dass er von Menschen großgezogen wurde“, sagte Judith, als sie bei mir ankam. „Die anderen Seehunde hätten das sicher nicht zugelassen.“

Sie packte nach seiner Flosse und befreite ihn mit einem Griff.

Sofort ließ ich den Kleinen los und er schwamm wieder fröhlich durchs Wasser.

„Danke“, sagte Judith, während wir mit dem Netz zurück ans Ufer schwammen. „Du bist immer noch verdammt schnell.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich schwimme zwar nicht mehr so oft wie früher, aber ganz ohne fehlt mir was.“

„Ja. Das kann ich gut verstehen. Ich würde auch gerne öfter schwimmen gehen. Aber ich finde neben der Arbeit einfach nicht die Zeit.“

„Du weißt schon, dass das nur eine Ausrede ist, oder? Wenn man etwas wirklich will, dann nimmt man sich die Zeit dafür. Ich habe auch mehr als genug zu tun, aber das Schwimmen ist mir wichtig.“

Judith streckte mir die Zunge raus und zog sich hoch. Das Netz mit den Bällen verstaute sie diesmal vorsichtshalber in dem Raum hinter uns.

„Es ist schon ziemlich spät“, stellte Judith mit einem Blick auf die Uhr fest. „Was meinst du? Sollen wir duschen und uns danach eine Bratwurst holen?“

„Klar. Dafür reicht meine Zeit wohl noch. Aber anschließend muss ich mich auf die Suche nach einem Job für die Semesterferien begeben. Nächste Woche geht es los und ich habe immer noch nichts Vernünftiges gefunden.“

„Oh, stimmt. Das hätte ich fast vergessen.“ Judith ging zu ihrer Handtasche, wischte sich notdürftig die Hände trocken und zog einen Zettel hervor, auf dem sie eine Nummer notiert hatte. „Das wollte ich dir geben. Das ist die Nummer von einem Autor, der einen Assistenten sucht. Hier in Münster. Ist das nicht toll?“

Skeptisch sah ich mir die Nummer an. Das klang tatsächlich toll. Allerdings hörte es sich auch so an, als hätte Judith die Idee nicht selber gehabt.

„Woher hast du die Nummer?“, fragte ich. „Doch nicht etwa von …“

„Und wenn schon. Es spielt doch keine Rolle, von wem ich sie habe. Wichtig ist nur das Endergebnis.“

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass wir beide nicht mehr rangehen, wenn er anruft.“

„Er ist unser Vater, Yannik.“

„Er hätte sich damals nicht auf Patricks Seite stellen dürfen.“

Judith seufzte tief, dabei sollte sie am besten wissen, wozu unser Halbbruder fähig war.

„Patrick hat es nie wieder getan.“

„Aber nur, weil er keine Gelegenheit mehr dazu hatte. Wenn Mama nicht mit uns weggezogen wäre, dann …“

„Aber sie ist weggezogen, okay? Und hin und wieder frage ich mich immer noch, ob es meine Schuld war, dass …“

Ich packte meine Schwester am Arm und schüttelte sie.

„Sag das niemals“, befahl ich ihr. „Sowas darfst du noch nicht mal denken, klar?“

Ich wollte nicht, dass meine Schwester sich die Schuld an etwas gab, das absolut nicht in ihrer Verantwortung lag. Obwohl ich natürlich selbst auch schon die Schuld bei mir und bei allen anderen gesucht hatte. Doch unser Bruder war selber für alles verantwortlich gewesen, was damals geschehen war und meine Mutter hatte zu einhundert Prozent richtig gehandelt. Nur ihr war es zu verdanken, dass wir unbeschwert hatten aufwachsen können, statt der Tyrannei unseres Bruders ausgeliefert zu sein. Schade nur, dass unser Vater das nicht verstanden hatte.

Am liebsten hätte ich den Zettel von Judith genommen und zusammengeknüllt. Doch meine Schwester schien mir mein Vorhaben anzusehen und schüttelte den Kopf.

„Dieser Autor kann nichts dafür, dass du dich mit Papa zerstritten hast. Nur weil der Kontakt von ihm kommt, muss noch lange nichts Schlimmes dahinterstecken. Du solltest nicht immer das Böse in allem suchen. Ruf einfach an und sieh, ob er einen Job für dich hat. Du musst dich ja nicht bei Papa dafür bedanken. Ich denke, das erwartet er auch nicht.“

Vermutlich nicht. Aber ich ging davon aus, dass er irgendetwas anderes dafür erwartete. Mein Vater tat nichts ohne Hintergedanken und ich fürchtete mich davor, herauszufinden, was für welche es dieses Mal waren.

4

Isi

Alle Prüfungen waren geschrieben und die Arbeiten, die ich in den Semesterferien verfassen musste, hatten noch Zeit. Bei den Prüfungen hatte ich insgesamt ein gutes Gefühl, auch wenn es mit Sicherheit keine Einsen werden würden. Obwohl ich mit der Nase so viel in Büchern steckte, hatte ich Probleme, mir all die Einzelheiten zu merken und hoffte wirklich, dass es reichen würde, um zu bestehen. Mehr wollte ich ja gar nicht. Einfach nur das Studium erfolgreich hinter mich bringen und dann in irgendeinem kleinen Buchladen arbeiten.

Es sei denn, ich schaffte es vorher, einen eigenen Roman zu verfassen und als Autorin durchzustarten.

Schreiben war mein großer Traum, seitdem ich als kleines Mädchen zum ersten Mal ein komplettes Buch gelesen hatte. Es hatte mich fasziniert, welche Gefühle die Geschichten in mir hervorrufen konnten und seither träumte ich davon, bei anderen Menschen ähnliche Empfindungen zu produzieren. Aber das war leichter gesagt als getan.

Ich hatte schon so oft angefangen, etwas zu schreiben, aber über die ersten fünfzig Seiten war ich noch nie hinausgekommen und fürchtete, dass ich das auch niemals schaffen würde. Es sei denn, es gelang mir tatsächlich, etwas von Herrn Greving zu lernen. Und dazu musste ich mich vernünftig anstellen.

Daher atmete ich tief durch und klingelte genauso, wie ich es vor einer Woche getan hatte. Auch heute trug ich einen langen Rock und eine Bluse, nur dass ich mich diesmal nicht für eine weiße entschieden hatte, sondern für eine schwarze mit Rüschen dran. Sie passte sehr gut zu dem Rock und wurde erneut von festen Stiefeln abgerundet. Diesmal war ich allerdings vorbereitet, denn ich hatte mir nagelneue Chucks gekauft, die ich im Haus anziehen würde, um nirgendwo Spuren zu hinterlassen. Ich durfte nur nicht vergessen, die Schuhe wieder zu wechseln, bevor ich in den Garten oder auf die Straße ging.

Miss McGregor öffnete die Tür und nickte mir zu. „Kommen Sie rein, Fräulein Franke. Sie sind spät dran.“

Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor acht. Ich war also keineswegs unpünktlich.

„Hieß es nicht, acht Uhr wäre Arbeitsbeginn?“, hakte ich nach, weil ich plötzlich unsicher geworden war.

„Ja. Aber Sie müssen ja noch Ihre Schuhe ausziehen und sich mit dem Gebäude vertraut machen. Der junge Mann ist schon längst da.“

Ich erstarrte.

„Ein junger Mann?“, fragte ich und versuchte, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. „Was für ein Mann?“

„Oh. Tut mir leid. Hat Ihr Vater Ihnen das nicht gesagt?“

„Ich habe in den letzten Tagen nicht mit ihm geredet.“

Das stimmte sogar. Ich hatte seine Anrufe hartnäckig ignoriert, weil ich mich auf meine Prüfungen konzentrieren wollte und war davon ausgegangen, dass er sich bei Lilly melden würde, falls es etwas Wichtiges war.

„Nun. Da haben Sie eine bedeutende Neuigkeit verpasst. Also ziehen Sie doch bitte Ihre Schuhe aus und ich bringe Sie zu ihm.“

Unwillig nickte ich und wechselte die Schuhe. Zum Glück trug ich Socken, sodass Miss McGregor meine Füße nicht komplett zu Gesicht bekam.

Sobald ich die Chucks trug, stand ich auf und straffte die Schultern. Es behagte mir ganz und gar nicht, mit einem Jungen zusammen arbeiten zu müssen. Ich ging dem anderen Geschlecht generell aus dem Weg und versuchte, so wenig wie möglich mit Männern zu reden. Mein Bruder und mein Vater bildeten da eine Ausnahme.

Vielleicht hätte ich doch ans Telefon gehen sollen, als mein Vater angerufen hatte. Dann wäre mir die Überraschung jetzt erspart geblieben. Allerdings verstand ich sowieso nicht, warum mein Vater wusste, dass Herr Greving noch einen zweiten Studenten als Hilfskraft angenommen hatte. Ich fragte mich, warum eigentlich. Ging er davon aus, dass ich ihm nicht genügen würde? Wie ernüchternd.

Doch es half alles nichts. Daher folgte ich Miss McGregor durch das Wohnzimmer in einen großen Ess-Saal, wo ein junger Mann mit einer Leiter an einem der riesigen Fenster stand und bereits angefangen hatte, die Scheiben zu putzen.

Von hinten sah ich nicht viel von ihm, außer, dass er eine sportliche Figur hatte und sein Haar für meinen Geschmack viel zu lang war. Er trug einen dieser komischen Dutts, die bei den Kerlen heutzutage so in waren. Ich fand so etwas total unmännlich und unsexy. Allerdings gab es sowieso kaum etwas, das ich bei Männern sexy gefunden hätte. Seine Kleidung war unauffällig. Er hatte lange Jeans im Used-Look und ein rotes Band-Shirt an. Allerdings trug er keine Schuhe und seine Socken waren schwarz.

Miss McGregor räusperte sich, um die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu lenken.

„Herr Schriever?“, sagte sie laut und deutlich. „Ihre Unterstützung ist da.“

Bei dem Namen wurde mir eiskalt, aber die Tragweite dessen, was gerade geschehen war, wurde mir erst richtig bewusst, als der Junge sich umdrehte und mich angrinste.

Er war es. Er war es tatsächlich. Dieses Gesicht, diese Nase und diese Grübchen. Das alles war mir so unglaublich vertraut und gleichzeitig so fremd und bei dem Anblick zog sich mir der Magen zusammen.

„Hey, Isi“, sagte er und winkte mir zu. „Lange nicht gesehen.“

Das war zu viel für mich. Mir wurde übel und ich wollte einfach nur noch weg von hier.

„Mir ist schlecht“, würgte ich noch hervor. Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und rannte davon. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, meine Schuhe wieder zu wechseln, sondern stürmte einfach in den Chucks nach draußen, ohne meinen Boots auch nur einen letzten Blick zu schenken. Ich musste hier raus, und zwar so schnell wie möglich.

5

Yannik

Ich wusste wirklich nicht, was ich falsch gemacht hatte, aber irgendetwas musste ich wohl verbrochen haben. Warum sonst hätte Isabell Franke vor mir davonrennen sollen, als wäre der Teufel hinter ihr her? Einen ähnlichen Gedanken schien auch Miss McGregor zu haben, die ihr ebenso fassungslos hinterherblickte wie ich.

Sie fing sich als Erste wieder und räusperte sich. „Ich dachte, Sie und das Mädchen kennen sich von früher.“

„Das tun wir auch“, bestätigte ich. „Bis zur Trennung meiner Eltern ist meine Familie bei Isabell ein- und ausgegangen. Das muss aber schon über zehn Jahre her sein.“

Wenn ich es genau nahm, dann waren es vierzehn Jahre. Ich war neun gewesen, als meine Mutter meinen Vater mit mir und Judith zusammen verlassen hatte. Eine Entscheidung, die keiner von uns je bereut hatte. Isabell war ein paar Jahre jünger gewesen als ich und ich hatte sie daher nicht so ernst genommen. Aber ihr älterer Bruder Alex war damals mit seiner Gitarre und seinen coolen Outfits mein großes Idol gewesen.

„Ist etwas zwischen Ihnen und dem Mädchen vorgefallen, was ihr Verhalten erklären würde?“, fragte Miss McGregor und sah mich vorwurfsvoll an.

Doch ich war mir keiner Schuld bewusst und zuckte mit den Schultern.

„Ich habe keine Ahnung. Ich meine … ich habe sie seit vierzehn Jahren nicht mehr gesehen. Kann schon sein, dass ich sie damals nicht so nett behandelt habe. Irgendwann in der Grundschule habe ich ihr mal einen Kaugummi in die tollen langen Haare geklebt und sie hat ganz schön geweint, als man sie ihr deswegen abschneiden musste. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mir das immer noch übelnimmt.“

Miss McGregor schüttelte den Kopf. „Vielleicht ist es auch gar nichts und der Dame war wirklich übel. Es soll eine Magen-Darm-Grippe umgehen. Allerdings werde ich Herrn Greving wohl oder übel davon berichten müssen, dass Isabell gleich am ersten Tag ohne Erklärung verschwunden ist.“

„Nein. Bitte. Ich bin sicher, es gibt einen plausiblen Grund dafür. Was halten Sie davon, wenn ich heute besonders fleißig bin und für Isabell mitarbeite? Danach fahre ich bei ihr vorbei und schaue, was los ist.“

Miss McGregor schürzte die Lippen. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich kann Ihnen doch nicht einfach so die Adresse des Mädchens geben.“

„Ach, kommen Sie. Mein Vater ist der beste Freund von Isabells Vater und außerdem ihr Patenonkel“, erklärte ich. „Wenn Sie mir die Adresse nicht geben, dann hole ich sie mir einfach von ihm.“

Die Tatsache, dass ich mit meinem eigenen Vater überhaupt keinen Kontakt mehr hatte, behielt ich für mich. Ich musste einfach wissen, was mit Isabell los war. Denn in gewisser Weise fühlte ich mich dafür verantwortlich, dass sie einfach so davongerannt war, auch wenn ich wirklich nicht wusste, was um Himmels willen ich angestellt haben sollte. Doch das würde ich schon herausfinden.

6

Isi

Als ich zu Hause ankam, war ich vollkommen durchgeschwitzt. Ich hatte mich unterwegs einmal übergeben, was aber zum Glück nicht im Bus passiert war, sondern noch auf der Straße. Und jetzt fühlte ich mich so zittrig, dass ich nicht wusste, wie ich überhaupt die Treppe nach oben bis zu meiner Wohnung geschafft hatte. Meine Schuhe waren inzwischen überhaupt nicht mehr sauber, aber das interessierte mich gerade kein bisschen. Ich wollte einfach nur meine Ruhe.

Ich ging ins Bad, putzte mir die Zähne und zog meine Schuhe aus, um sie gegen die Puschen auszutauschen. Dann verkroch ich mich auf dem Sofa unter einer Wolldecke und schaltete den Fernseher ein.

Es lief gerade die Serie The Big Bang Theory, die mich sonst immer zum Lachen brachte und auch heute beruhigte sie mich, sodass ich nach ein paar Minuten wieder freier atmen konnte.

Trotzdem wanderten meine Gedanken immer wieder zurück zu dem Jungen, den ich gerade gesehen hatte. Wobei er natürlich kein Junge mehr war. Yannik war erwachsen geworden und musste mindestens dreiundzwanzig sein. Seine Schwester hatte früher oft mit mir und Lilly gespielt, aber das war schon lange her und ich hatte nicht damit gerechnet, die zwei jemals wieder zu sehen.

Um genau zu sein, hatte ich nie wieder einen Gedanken an Yannik verschwendet. Er war fortgezogen und seither auch nie wieder zu Besuch da gewesen. Vermutlich wegen IHM.

Mir wurde schon wieder übel, wenn ich nur daran dachte. Ich zog meine Füße an mich, so eng es ging und wünschte mir, sie einfach verschwinden lassen zu können.

Doch natürlich ging das nicht und ich wusste, dass ich mich lächerlich verhielt. Meine Ängste waren irrational. Yannik war nicht ER und ich durfte ihm die Ähnlichkeit nicht zum Vorwurf machen. Trotzdem fiel es mir verdammt schwer, ihn nicht dafür zu verurteilen. Immerhin waren die beiden verwandt und wer wusste schon, ob so etwas vererblich war.

Ich war so erschöpft, dass ich die Augen schloss und es dauerte nicht lange, bis ich eingeschlafen war.

* * *

Als ich den Schlüssel im Schloss hörte, zuckte ich heftig zusammen und war mit einem Schlag hellwach. Reflexartig sah ich mich nach einer Waffe um und griff nach der Fernbedienung, die ich notfalls nach einem Angreifer werfen konnte. Das war zwar nicht ideal, aber besser als nichts.

Die Tür öffnete sich und eine Welle der Erleichterung überfiel mich, als meine Schwester eintrat.

„Oh“, rief sie. „Mit dir hatte ich ja noch gar nicht gerechnet. Ich dachte, du arbeitest mindestens bis siebzehn Uhr.“

Mein Blick fiel auf die Uhr. Es war schon Nachmittag. Wie war das denn bitte schön passiert? War ich wirklich so fertig gewesen, dass ich den ganzen Tag verschlafen hatte? Verdammt. So etwas durfte nicht passieren. Immerhin war ja gar nichts Schlimmes vorgefallen. Yannik hatte nichts getan, das so eine Reaktion rechtfertigte. Nichts, außer so auszusehen, wie er nun mal aussah. Wie ein perfektes Abbild von IHM. Nur jünger.

„Ich habe Mist gebaut“, sagte ich. „Mir ist schlecht geworden und ich bin einfach davongelaufen.“

„Dir ist schlecht geworden?“, fragte Lilly besorgt und trat näher.

Als wäre ich eins ihrer Studienobjekte, sah sie sich meine Augen genau an und fühlte meine Stirn.

„Fieber scheinst du nicht zu haben. Was ist mit einer Schwangerschaft? Wann hattest du deine letzte Periode?“

„Die richtige Frage müsste lauten, wann ich Sex hatte und die Antwort darauf lautet: In den letzten Jahren gar nicht. Also kannst du die Theorie mit der Schwangerschaft gleich wieder abhaken. Ich bin nicht schwanger, es sei denn, ich bin die heilige Maria. Es geht mir einfach bloß nicht gut. Kein Grund, sich deswegen aufzuregen.“

„Ich rege mich nicht auf, sondern mache mir nur Sorgen. Es passt nicht zu dir, nicht zur Arbeit zu gehen, nur weil dir unwohl ist. Und das am ersten Tag. Du wolltest diese Stelle so sehr und jetzt …“

Tja. Und jetzt hatte ich mir vermutlich alles verdorben.

„Vielleicht hat Herr Greving ja ein Einsehen und gibt dir noch eine Chance“, sagte Lilly hoffnungsvoll.

Ich wich ihrem Blick aus. Möglich wäre es, aber die Frage war, ob ich das überhaupt wollte. Ich hatte keine Ahnung, ob ich dazu imstande sein würde, mit Yannik zu arbeiten. Nicht wegen etwas, das er gemacht hatte, sondern wegen der Person, der er so ähnlich sah.

Ich schluckte und blieb meiner Schwester die Antwort schuldig. Stattdessen stand ich auf und ging zum Bad.

„Ich gehe erstmal unter die Dusche. Vielleicht bin ich danach ja wieder dazu imstande, zu denken.“

7

Yannik

Es war gar nicht so schwierig gewesen, Miss McGregor die Adresse abzuluchsen, wie ich gedacht hatte. Offenbar reichte ihr das Argument, dass mein Vater der Patenonkel von Isabell war, um Vertrauen zu schaffen.

Ich stellte mein Rad neben dem Mehrfamilienhaus ab und suchte bei den Klingeln nach dem Namen Franke. Sobald ich ihn gefunden hatte, drückte ich und wartete. Es dauerte nicht lange, bis der Summer ertönte. Entweder war die Gegensprechanlage kaputt oder Isabell war vertrauensseliger, als ich gedacht hatte. Ich stieg die Treppe hoch und war froh, als ich endlich im vierten Stock angelangt war. Die Tür war nur angelehnt und ich klopfte noch einmal, bevor ich eintrat.

„Hallo? Isabell?“

Isabell antwortete nicht, aber stattdessen kam ein anderes Mädchen um die Ecke. Sie trug ein extrem kurzes Kleid und hatte ihre Augen grell geschminkt. Insgesamt erinnerte sie mich stark an eine Mangafigur. Doch trotz der eigenartigen Aufmachung erkannte ich sie sofort als Isabells Schwester Lilly. Auch sie war erwachsen geworden, wirkte aber noch erheblich kindlicher als ihre große Schwester. Wie alt mochte sie jetzt sein? Achtzehn vielleicht.

„Nanu. Du bist ja gar nicht Kerstin. Willst du zu meiner Schwester?“

Ich bejahte. „Du bist Lilly, richtig?“

Sie nickte langsam. „Und du bist …“

„Vielleicht erinnerst du dich an mich. Ich bin Yannik Schriever. Der Sohn von Rolf. Du weißt schon. Der beste Freund eures Vaters? Wir haben früher manchmal Verstecken gespielt.“

Sie lachte. „Stimmt. Oh Mann. Das ist ja verrückt. Komm doch rein. Isi ist sicher gleich fertig. Sie duscht gerade.“

Was immer Isabell so an mir erschreckt hatte, auf Lilly hatte es offenbar keinen Einfluss. Denn die trat mir völlig arglos gegenüber. Ob es vielleicht doch etwas mit dem Kaugummi zu tun hatte?

„Willst du was trinken?“, fragte Lilly und verschwand in der Küche. „Vielleicht eine Cola? Bier haben wir leider nicht da. Wir bekommen nicht so oft Besuch und mögen das Zeug beide nicht.“

„Cola ist okay“, rief ich zurück und sah mich neugierig in der Wohnung um. Das Wohnzimmer war modern eingerichtet, aber beschränkte sich auf das Notwendigste. Die Möbel sahen alle aus, als wären sie von IKEA, was ja grundsätzlich nichts Schlechtes war. Sie waren in Weiß und Schwarz gehalten. Den einzigen Akzent setzte das rote Sofa, in dem ich fast zu versinken drohte, sobald ich mich setzte. Das Ding war riesig und die Kissen waren unglaublich weich. Ich persönlich fand das unangenehm, aber das sah wohl jeder Mensch anders.

Als Lilly mit der Cola wiederkam, grinste sie mich an, als wäre ich ein lange verloren geglaubter Freund, was ich ja in gewisser Weise auch war.

„Ich kann nicht fassen, dass du hier bist“, sagte sie. „Wie lustig. Und du willst zu Isabell? Wo habt ihr euch denn wiedergetroffen? Und wann? Die Welt ist ja so klein.“

„Eigentlich war das gar kein so großer Zufall“, widersprach ich. „Unsere Väter haben beide hier studiert und offenbar haben sie es geschafft, uns alle davon zu überzeugen, dass Münster toll ist. Und was das Treffen angeht: Euer Vater hat Isabell wohl den Kontakt zu Herrn Greving vermittelt und mein Vater hat dasselbe für mich getan.“

„Trotzdem ein lustiger Zufall, dass ihr euch beide fürs Schreiben interessiert. Studierst du auch Literatur?“

Ich schüttelte den Kopf. „Journalismus. Das ist zwar ein anderes Feld, aber ich kann mir gut vorstellen, dass ich viel bei Herrn Greving lernen könnte. Und wer weiß. Vielleicht schreibe ich ja doch noch irgendwann ein Buch.“

Lilly strahlte mich an. „Das klingt toll. Vielleicht kannst du dich ja mit Isi zusammentun. Sie will schon seit Ewigkeiten ein Buch schreiben, aber schafft es einfach nicht. Apropos. Jetzt weiß ich zwar, wie ihr euch getroffen habt, aber warum bist du hier?“

„Ich wollte nach ihr sehen, weil sie heute Morgen davongelaufen ist. Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Das ist ja süß von dir. Ja. Isi ist manchmal komisch. Sie mag es auch nicht, wenn ich männlichen Besuch mitbringe. Ihre vorherige Mitbewohnerin muss eine Nonne gewesen sein, denn die hat angeblich nie Typen mit hergebracht.“

Das überraschte mich. Vielleicht ging es Isabell ja dann doch nicht um mich persönlich, sondern vielmehr um die Tatsache, dass ich männlich war. Möglich wäre es. Aber ich musste einfach Gewissheit haben, was genau das Problem war.

„Ist sie schon öfter davongelaufen, weil ihr übel war?“, fragte ich. „Hat sie einen empfindlichen Magen oder so?“

„Nicht, dass ich wüsste. Aber bei meiner Schwester weiß man nie. Sie hat so ein paar Eigenarten.“

„Stimmt. Ich erinnere mich, dass damals niemand ihre Füße sehen sollte. Das fand ich immer komisch.“

„Ja. Eine Zeitlang hatte sich das geändert. Da ist sie im Sommer sogar barfuß gelaufen, aber dann hatte sie eine Art Rückfall und inzwischen ist es noch viel schlimmer als damals. Aber das ist immerhin ihre Angelegenheit, nicht wahr?“

„Ja, natürlich. Keine Sorge. Ihre Füße sind mir sowas von egal.“

Das stimmte. Ich hatte mich zwar damals schon ein paarmal gefragt, was an ihren Füßen so schlimm sein sollte, dass sie sie verstecken musste, aber es interessierte mich nicht besonders. Vielleicht stanken sie einfach nur. Wer konnte das schon so genau wissen?

Ehe ich weiter mit Lilly reden konnte, ging plötzlich die Tür zum Bad auf und Isabell stand im Zimmer. Sie trug einen Bademantel, hatte sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt und ihre Füße steckten in dicken Hausschuhen mit Micky-Maus Ohren. Sie sah absolut bezaubernd aus.

„Wer war das an der Tür?“, fragte sie, bevor sie mich entdeckte und in der Bewegung gefror.

Aber das war leider nicht alles.

Sie wurde aschfahl, machte einen Schritt rückwärts und brach dann ohnmächtig in sich zusammen.

8

Isi

Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ohnmächtig geworden war. War mir das überhaupt schon mal passiert? Falls ja, dann ganz sicher nicht wegen so einer Lappalie. Aber der Schock darüber, dass ER in mein Allerheiligstes eingedrungen war, saß so tief, dass ich einen Moment lang tatsächlich das Bewusstsein verloren haben musste.

Wie es aussah, hatte ich mir daraufhin den Kopf irgendwo gestoßen, denn der dröhnte ganz schön, als ich langsam die Augen öffnete.

„Oh, verdammt“, stöhnte ich. „Mist. Was ist denn passiert?“

Ich blinzelte und sah Lilly, die mich besorgt musterte. Da kam sofort die Medizinstudentin in ihr durch.

„Du bist zusammengebrochen“, erklärte sie. „Aber ich habe keine Ahnung, wieso. Lag es an dem Besuch? Soll ich ihn wegschicken?“

Ich schluckte. Sollte das etwa bedeuten, er war noch hier?

„Ich … ja. Vielleicht wäre das am besten.“

„Dann musst du dich aber irgendwann bei ihm bedanken. Es war richtig heldenhaft, wie er dich aufs Sofa getragen hat.“

„Er hat was?“

„Na alleine hätte ich dich wohl kaum tragen können. Du wiegst definitiv mehr als ich und ich bin nicht unbedingt die Sportlichste.“

Mein Kopf drehte sich und ich wusste nur, dass ich mich jetzt gerade nicht dazu imstande fühlte, mit Yannik zu reden. Vielleicht später. Aber nicht jetzt.

„Sag ihm, er soll gehen. Ich fühle mich nicht gut.“

Lilly nickte und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich hörte, wie sie mit Yannik redete und die Tür sich kurz darauf öffnete und wieder schloss. Sofort fühlte ich mich besser und schaffte es sogar, mich aufzusetzen.

„Ist er weg?“, fragte ich unnötigerweise.

Lilly nickte. „Er hat mir seine Nummer aufgeschrieben. Er will Journalist werden. Wusstest du das?“

„Nein.“ Eigentlich wusste ich überhaupt nichts über ihn. Abgesehen von der Tatsache, dass er IHM viel zu ähnlich sah – so ähnlich, dass ich die beiden gerade schon wieder einen Augenblick lang verwechselt hatte und vor Schreck darüber bewusstlos geworden war. Mehr musste ich gar nicht wissen.

„Er ist echt nett. Er wollte nach dir sehen, weil es dir vorhin so schlecht ging. Und dann klappst du auch noch vor seinen Augen zusammen. Bist du sicher, dass ich dich nicht zu einem Arzt bringen soll? So langsam mache ich mir Sorgen um dich.“

Das konnte ich sogar verstehen. Wäre es anders herum gewesen und Lilly hätte vor mir so eine Show abgezogen, dann hätte ich schon längst den Krankenwagen gerufen. Aber ich war die Ältere und Lilly verließ sich darauf, dass ich vernünftig war und schon wissen würde, was ich tat.

„Mir geht es gut“, versicherte ich ihr und griff nach dem Wasserglas, das sie mir auf den Tisch gestellt hatte. Ich trank einen großen Schluck und stellte es dann wieder ab.

„Den Eindruck habe ich aber ganz und gar nicht. Was hat Yannik denn an sich, dass du vor ihm davonläufst und er dich dazu bringt, in Ohnmacht zu fallen? Ist er in Wirklichkeit ein Popstar oder so und ich wusste nichts davon?“

---ENDE DER LESEPROBE---