Barfuß durchs Leben - Hannah Siebern - E-Book

Barfuß durchs Leben E-Book

Hannah Siebern

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Beschreibung

Jackys Leben ist ein einziges Chaos. Sie befindet sich ohnehin schon in der größten Krise ihres Lebens, als auch noch ihr Freund am Telefon mit ihr Schluss macht. Sie sieht eigentlich keinen Ausweg mehr, doch dann begegnet sie Max. Max ist anders als alle anderen jungen Männer in ihrem Alter. Er meidet Fremde, lebt abgeschieden in einer Hütte im Wald und bietet Jacky trotz aller Bedenken seine Hilfe an. Eine Entscheidung mit Folgen, denn Gegensätze ziehen sich bekanntlich an und vielleicht ist das, was man nicht haben will, manchmal genau das, was man eigentlich braucht ...

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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BARFUSS DURCHS LEBEN

HANNAH SIEBERN

Copyright © 2017 by Hannah Siebern

Impressum

Hannah Siebern

Am Vogelbusch 18

48301 Nottuln

Deutsche Erstausgabe 08/2017

ISBN: 9783819426841

Lektorat: Sarah Wedler und Nadine d’Arachart

Cover: Casandra Krammer

Coverschrift: Claudia Kolb

All rights reserved.

No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.

Formatiert mit Vellum

INHALT

Über den Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Wie geht es weiter?

Danksagung

Was bisher geschah …

ÜBER DEN AUTOR

Hannah Siebern wurde 1986 in Münster (NRW) geboren und studierte an der Uni Dortmund Erziehungswissenschaft. Geschichten schrieb sie schon als Kind leidenschaftlich gerne. Ihre ersten Werke handelten von fiktiven Abenteuern, die sie mit ihren Freundinnen erlebte. Jahre später entdeckte sie dann ihre Liebe zu Fantasyromanen und schrieb mit 23 ihr erstes komplettes Buch.

Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann, ihrem Sohn, und ihrem Hund in Greven (NRW).

Foto: www.p41d.de

www.hannahsiebern.de

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Für meine Familie

1

Max

„Kannst du mir nochmal erklären, warum um Himmels willen ich mit auf diese Hochzeit soll?“

So genervt wie möglich sah ich meine Schwester Janna an, die an meiner Tür stand, und verschränkte die Arme vor der Brust.

Eigentlich hatte ich für so eine Feier überhaupt keine Zeit. Ich hatte noch jede Menge Arbeit zu erledigen und es passte mir überhaupt nicht, dass Janna mich aus meiner Routine herausriss. Ganz abgesehen davon, dass ich es hasste, unter Menschen zu gehen.

„Ganz einfach. Josh ist krank und Luisa und Alex stecken in einer Vollsperrung und werden es vermutlich auch nicht schaffen.“

Ich stutzte. Unsere Schwester steckte mit ihrem Freund in einer Vollsperrung. Das klang ja nicht so gut. „Ach. Was ist denn passiert?“, fragte ich.

„Ein Geflügeltransporter ist umgekippt und jetzt rennen überall auf der Autobahn Hühner durch die Gegend, die erstmal eingefangen werden müssen. Luisa sagt, es ist durchaus amüsant, dabei zuzusehen, aber es kann noch Stunden dauern, bis sie da raus sind und bis dahin ist wahrscheinlich alles vorbei.“

Das war natürlich traurig. Alex war der Cousin der Braut und stand ihr sehr nahe. Nicht pünktlich zu kommen oder das Ganze vielleicht sogar zu verpassen, wäre sehr schade für ihn.

„Also gut“, sagte ich. „Aber was hat das mit mir zu tun?“

„Ich will da nicht alleine aufkreuzen. Ich kenne in der Nähe von München keinen außer dem Brautpaar und dir. Da ist es doch naheliegend, dass ich dich darum bitte. Außerdem …“ Sie hielt inne und betrachtete mich von oben bis unten. „Außerdem täte es dir verdammt gut, wenn du mal wieder unter Leute kommen würdest. Das hier draußen ist doch kein Leben.“

„Ach nein? Ich fühle mich aber zufällig wohl hier“, erklärte ich und deutete auf den See und die schöne Blumenwiese daneben. „Welcher Künstler wünscht sich nicht einen Ort wie diesen?“

„Erstens bist du kein Künstler, sondern ITler. Und zweitens … Fühlst du dich hier draußen nicht allein?“

Sie fröstelte sichtlich bei dem Gedanken und ich schüttelte den Kopf. Mir war klar, dass die meisten Menschen nicht nachvollziehen konnten, warum ich mir von meinem ersten selbstverdienten Geld eine einsame Holzhütte im Wald gemietet hatte, in der außer mir niemand leben wollte. Aber hier draußen fühlte ich mich wohl. Je einsamer, desto besser. Insofern ging es mir gehörig gegen den Strich, dass Janna meine Lebensweise so kritisierte.

„Ich bin nicht allein“, stellte ich klar. „Rex ist bei mir.“

Rex war ein Deutsch-Drahthaar, den ich mir aus dem Tierheim geholt hatte, damit er das Haus hütete. Allerdings hatte sich sehr bald herausgestellt, dass es dafür überhaupt keinen Grund gab. Abgesehen vom Paketboten, der dreimal die Woche kam und mich mit Lebensmitteln versorgte, verirrte sich nie jemand hierher. Abgesehen von meiner Schwester natürlich.

„Komm schon, Max“, sagte sie. „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich.“

Ich verdrehte die Augen. Das war so klar gewesen. Obwohl ich zwanzig war und seit zwei Jahren auf eigenen Beinen stand, schaffte meine große Schwester es einfach nicht, ihren Beschützerinstinkt abzustellen, sondern versuchte mit aller Macht, mir die Mutter zu ersetzen.

Sechs Jahre war es inzwischen her, dass Mama viel zu früh an Krebs verstorben war, und da Janna und mich zehn Jahre trennten, schien sie es für ihre Pflicht zu halten, mir Vorhaltungen zu machen und alles zu kommentieren, was ich tat. Meine andere Schwester Luisa hatte auch sehr lange unter Jannas Bemutterung gelitten, aber es war ihr inzwischen ganz gut gelungen, sich freizuboxen. Ich hatte eigentlich gehofft, dass mir das durch den Umzug aus dem Münsterland nach Bayern auch gelingen würde, aber der Arm meiner Schwester reichte weit und mir war nicht bewusst gewesen, dass sie selbst hier unten Freunde hatte, die sie nutzen konnte, um mir auf den Sack zu gehen.

„Willst du mich nicht erstmal hereinbitten?“, fragte Janna erwartungsvoll. Sie war seit meinem Einzug nicht mehr bei mir gewesen, also war ihre Neugier nachvollziehbar. Es passte mir zwar nicht, aber sie einfach vor der Tür hier im Nirgendwo stehen zu lassen, brachte ich auch nicht übers Herz.

„Also gut. Komm rein“, gab ich nach und machte den Weg frei.

Sobald sie eintrat, ertönte ein Knurren vom Kamin her und Janna blieb stehen.

„Rex! Down!“, rief ich und der Hund gehorchte.

Er war wohl früher mal Jagdhund gewesen, und zwar ein verdammt guter. Mich hatte er sehr schnell als seinen Herrn akzeptiert, da wir hier draußen aber sonst kaum jemandem begegneten, reagierte er sehr empfindlich auf Fremde. Das hier war sein Revier und er würde es verteidigen. Zumindest, wenn ich ihm keinen Einhalt gebot.

„Du solltest diesen Hund besser an die Kette legen“, murmelte Janna. „Der ist ja gemeingefährlich.“

„Das sagst du nur, weil deine Hera keiner Fliege was zuleide tun könnte.“

Janna lächelte leicht und ich wusste genau, dass sie gerade an ihren Hund denken musste. Nachdem ihre alte Hündin vor sechs Jahren gestorben war, hatte sie so lange gelitten, bis Josh ihr einen neuen Hund gekauft hatte. Hera war ein schwarzer Labrador, der die meiste Zeit faul auf dem Sofa herumlag und den Einbrechern vermutlich noch gezeigt hätte, wo der Safe war.

Rex war da anders. Und ich war auch ganz froh, dass das so war. So ein fauler Hund wie Hera hätte nicht zu mir gepasst, auch wenn sie noch so liebenswert war.

„Wow. Du hast es dir ja richtig schön eingerichtet hier“, sagte Janna und legte ihren Mantel ab.

Für Anfang Mai war es schon erstaunlich warm, aber es war besser, für abends etwas zum Drüberziehen dabeizuhaben. Sie trug bereits das Kleid für die Hochzeit. Es war blau mit einigen weißen Blumen drauf. Sehr hübsch und sommerlich. Genau passend für eine Hochzeit im Freien.

„Danke“, sagte ich und versuchte das Wohnzimmer mit ihren Augen zu sehen.

Der Raum war recht groß und wurde von dem Kamin dominiert, den ich regelmäßig mit Holz füttern musste, damit er nicht ausging. Vor allem im Winter war das wichtig gewesen, weil er meine einzige Wärmequelle war.

Mich störte das allerdings nicht. Ich hatte vermutlich noch nie so einen entspannten Winter gehabt, der nur durch die Feiertage unterbrochen worden war, die ich natürlich bei meiner Familie hatte verbringen müssen.

Oben über dem Kamin hing ein großes Geweih. Es war schon vorher da gewesen, als die Hütte noch von dem Jagdaufseher genutzt worden war. Aber ich hatte es hängenlassen, weil ich fand, dass es zum Flair des Raumes beitrug.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass man dich wirklich hier wohnen lässt“, stellte Janna fest.

Ich zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Die Hütte wurde nicht mehr genutzt und bevor sie anfängt zu gammeln, war es doch sinnvoll, sie zu vermieten.“

„Das schon. Aber … Dass du hier draußen lebst. Also, ich könnte das nicht.“

Sie schüttelte den Kopf und ich gab ihr in Gedanken recht. Janna war wirklich nicht der Typ, den es so weit in die Wildnis trieb, aber in diesem Aspekt unterschied ich mich halt sehr von meinen Schwestern.

Doch Janna schien sich spontan daran zu erinnern, warum sie eigentlich hier war. Denn sie drehte sich zu mir um und sah mich herausfordernd an.

„Also, was ist nun?“, fragte sie. „Begleitest du mich?“

„Nein“, antwortete ich.

„Warum nicht?“

Ich seufzte. „Du könntest doch auch alleine hingehen“, schlug ich vor. „Hast du darüber schon mal nachgedacht? Schlimm genug, dass du einfach so unangemeldet vorbeikommst, aber dass du jetzt ernsthaft von mir verlangst, dass ich dich zu einer Hochzeit begleite … Ich kenne diese Leute doch gar nicht.“

„Das macht nix“, beharrte sie. „Ich kenne eigentlich auch nur das Brautpaar. Okay. Ihre Schwestern habe ich bereits ein paar Mal gesehen, aber das war’s dann eigentlich auch.“

„Du weißt schon, dass die meisten Gäste uns für ein Paar halten werden, wenn wir da zusammen auftauchen? Die werden sich dann wahrscheinlich wundern, wieso eine Frau Ende zwanzig auf so einen jungen Kerl abfährt.“

Janna schüttelte den Kopf. „Blödsinn. Wir sehen uns so ähnlich, dass jedem sofort klar sein wird, dass wir Geschwister sind. Außerdem ist es mir lieber, sie denken, dass ich einen Jüngeren habe, als dass ich dort ganz ohne Begleitung antrete.“

Skeptisch betrachtete ich Janna. Sie sah sehr hübsch aus in ihrem Kleid. Sie hatte sich sorgsam geschminkt und sich die Haare machen lassen. In den letzten Jahren hatte sie sie wieder wachsen lassen, sodass sie inzwischen lang genug für eine Hochsteckfrisur waren. Ein paar Strähnen hingen vorne heraus, was sie jünger wirken ließ. Seit einiger Zeit arbeitete Janna nun schon als Lehrerin und ich fragte mich wirklich, wie die Schüler es überhaupt schafften, sie ernst zu nehmen.

Sie besaß zwar durchaus eine natürliche Strenge, aber sie kam mir immer noch viel zu jung vor, um eine Respektperson zu sein. Egal wie sehr sie es auch versuchte, für mich würde sie nie eine Mutterfigur sein, sondern immer nur meine spießige ältere Schwester, die keine Ahnung davon hatte, wer ich eigentlich war oder wie es mir ging.

Ich seufzte und wollte Janna gerade absagen, als sie meine Hand ergriff.

„Komm schon, Maxi“, bat sie mich. „Gib dir einen Ruck. Ich möchte da nicht alleine hingehen. Chrissie und Adam sind super, aber sie werden kaum Zeit für mich haben und Saskia wird sicherlich auch mit ihrer Familie da sein. Mel kenne ich kaum und ich will nicht die meiste Zeit alleine herumstehen.“

„Du könntest ja auch versuchen, mal ein paar neue Leute kennenzulernen.“

„Natürlich. Das sagst ausgerechnet du, weil du darin ja so ein großes Talent hast“, meinte Janna sarkastisch und zog eine Augenbraue nach oben.

Zu diesem Vorwurf konnte ich nichts sagen. Leider hatte Janna mit ihrer Einschätzung vollkommen recht. Ich wohnte nun seit zwei Jahren in der Nähe von München und hatte noch keine einzige Bekanntschaft geschlossen. Unter Leute zu gehen lag mir einfach nicht.

Seitdem ich die Schule beendet hatte, arbeitete ich von zu Hause aus und die meiste Zeit gab es einfach keine Notwendigkeit, rauszugehen. Daher behagte es mir auch überhaupt nicht, mich jetzt unter so viele Menschen zu begeben.

„Du hast recht. Mir fällt das auch nicht leicht“, gab ich missmutig zu. „Liegt vermutlich daran, dass das meiste, was andere Leute zu sagen haben, mich zu Tode langweilt. Und nun erklär mir mal, warum ich mir sowas antun sollte.“

„Weil ich dich darum bitte.“ Flehend sah sie mich an. „Komm schon, Max. Ich kann doch auch nichts dafür, dass Josh ausgerechnet gestern Magen-Darm-Grippe bekommen hat. Er hat sich die halbe Nacht die Seele aus dem Leib gekotzt. Da konnte ich ihn ja unmöglich mitnehmen. Und einen anderen Ersatz finde ich so schnell nicht. Gib dir einen Ruck.“

Bei dem Gedanken daran, so vielen Menschen zu begegnen, kribbelte etwas in meinem Nacken. Es gefiel mir überhaupt nicht. Aber ich wusste auch nicht, wie ich Janna diese Bitte abschlagen sollte. In den Jahren nach Mamas Tod war sie immer für mich da gewesen. Immer. Ich hatte sie zu jeder Tages- oder Nachtzeit anrufen können. Sie hatte mir Nachhilfe gegeben, nachdem ich einmal sitzengeblieben war und sie hatte mich finanziell unterstützt, damit ich mir meinen Führerschein leisten konnte.

Ohne sie würde in meinem Leben eine riesige Lücke klaffen und ich war wirklich froh, dass ich sie hatte. Aber …

„Ich habe doch gar keine Klamotten für so einen Anlass“, sagte ich halbherzig.

„Keine Entschuldigung“, verkündete Janna fröhlich. „Du ziehst einfach Jeans an. Ein Hemd und ein Jackett habe ich dir mitgebracht. Du bist zwar etwas schmaler als Josh, aber von der Größe her müsste es inzwischen passen.“

Resigniert hob ich die Hände. Egal was ich sagte, Janna würde wohl immer die passende Erwiderung parat haben.

„Also gut“, sagte ich und streckte die Hände nach der Tüte aus. „Dann mal her mit dem Fummel. Aber du brauchst nicht zu glauben, dass ich mich extra rasiere. Und eine Krawatte trage ich auch nicht.“

* * *

Wie kam es eigentlich, dass große Schwestern immer bekamen, was sie wollten? Drei Stunden später war ich nicht nur rasiert, sondern Janna hatte mir außerdem eigenhändig die Haare geschnitten. Ich musste zugeben, dass ich mich nicht dagegen gewehrt hatte, weil sie tatsächlich verdammt lang geworden waren in den letzten Monaten. Also saß ich nun frisch frisiert und mit Krawatte in Jannas Leihwagen auf dem Weg nach München, wo die Trauung in einer langweiligen kleinen Kirche stattfinden sollte. Janna hatte auch noch versucht, mir ein Paar Lackschuhe aufzuquatschen, aber an dieser Stelle hatte ich mich geweigert. Stattdessen trug ich jetzt meine Sneakers und freute mich schon darauf, die Krawatte so bald wie möglich wieder loszuwerden.

Warum konnte Janna überhaupt Krawatten binden und Haare schneiden? Hatte sie sich das selbst beigebracht oder woher sonst sollte eine Lehrerin so etwas können? Josh trug, soweit ich wusste, fast nie Krawatten, insofern konnte ich es mir wirklich nicht anders erklären.

„War die standesamtliche Trauung schon heute Morgen?“, fragte ich, obwohl es mich nicht wirklich interessierte. Aber irgendein Gesprächsthema musste ich ja aufbringen.

Janna schüttelte den Kopf. „Nein. Chrissie und Adam haben schon vor knapp drei Jahren standesamtlich geheiratet. Aber damals nur im ganz kleinen Kreis.“ Sie schnaubte. „Um genau zu sein, waren nur Chrissies Schwestern dabei. Adams Familie konnte aus Namibia nicht extra dafür kommen und Chrissies Eltern haben die standesamtliche Hochzeit nicht ganz ernst genommen. Die kirchliche Hochzeit wird dafür umso größer gestaltet. Chrissies Stiefvater bezahlt die ganze Sache, damit sie in Deutschland stattfinden kann und hat Adams Familie die Flüge bezahlt.“

„Wow. Nicht schlecht. Da muss der Mann ja ordentlich Geld haben.“

„Ja. Das vermute ich auch. So gut kenne ich ihn nicht, aber ich hatte bisher auch den Eindruck, dass er sehr gut betucht ist.“

Dieser Eindruck bestätigte sich für mich, als ich die aufwendig geschmückte Kirche erblickte, vor der jede Menge festlich gekleidete Menschen standen. Als Janna das Auto parkte, wurde mir etwas flau im Magen.

Mir war klar, dass ich mich in den letzten Jahren zu einem ziemlichen Eigenbrötler entwickelt hatte, aber ich riss mich zusammen und zog mein Jackett enger um mich, als wäre mir kalt.

Dabei war es ein wirklich schöner Frühlingstag. Die Sonne schien, die Luft war frisch und bei 23 Grad war es sehr angenehm. In den nächsten Tagen sollte es sogar noch wärmer werden und eine ungewohnte Hitzewelle würde über den Süden Deutschlands hereinbrechen.

„Max. Wir sind da. Kommst du?“, fragte Janna.

„Ja, klar. Ich komm ja schon“, sagte ich und stieg aus, weil es lächerlich gewirkt hätte, einfach im Auto sitzen zu bleiben.

Zögernd schloss ich die Tür, und musste mich zusammenreißen, um nicht einfach wieder einzusteigen. Ich hasste solche Menschenaufläufe. Als Janna von einer Hochzeit gesprochen hatte, hatte ich mit höchstens fünfzig Leuten gerechnet, aber auf dem Kirchplatz schienen sich an die dreihundert Leute zu tummeln. Wie grausig. Ich machte mir jetzt schon Sorgen, dass ich Platzangst bekommen würde.

Da das Wetter so schön war, waren die meisten Leute nicht in der Kirche, sondern draußen. Und das, obwohl es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Trauung begann.

Als wir uns dem Eingang näherten, verzog ich den Mund. „Das ist ein Witz, oder?“, fragte ich. „Wie sollen so viele Leute in so eine winzige Kirche passen?“

Das Gebäude sah von außen gar nicht so klein aus, aber innen waren auf jeder Seite nur zehn oder zwölf Bänke, auf die jeweils maximal zehn Leute passten. Janna zuckte mit den Schultern.

„Das wird schon irgendwie gehen. Dann müssen halt einige Leute stehen“, erklärte sie, ging aber direkt zu einer der Bänke, die noch frei waren, weil sie offenbar nicht zu diesen Leuten gehören wollte.

Die vorderen Bänke waren offensichtlich für die Familie freigehalten worden und Janna steuerte kurzerhand die Seite des Bräutigams an.

„Ich dachte, du wärst eine Freundin der Braut“, flüsterte ich, weil ich nicht so sehr im Rampenlicht sein wollte.

„Das bin ich ja auch, aber ich gehöre zu den wenigen Leuten hier, die auch die Familie des Bräutigams kennen, daher hat Chrissie mich gebeten, dass ich mich zu Moidine, Melody und ihrer Mutter setze.“

Sie lief zielstrebig nach vorne, wo eine afrikanische Frau mit zwei Mädchen saß, die beide anfingen zu strahlen, sobald sie Janna sahen.

„Janna“, riefen beide und fielen meiner Schwester um den Hals. Vor allem die Ältere schien sich riesig über das Wiedersehen zu freuen und wollte Janna gar nicht mehr loslassen.

„Himmel. Seid ihr groß geworden“, stellte Janna voller Begeisterung fest. „Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen.“

„Du hättest uns ja öfter besuchen können“, sagte die Ältere der beiden, die nicht viel jünger sein konnte als ich. Sie hatte große dunkle Augen und ihr Haar war zu langen Rastazöpfen geflochten. Sie war ganz hübsch, aber nichts Besonderes. Ihr Akzent war mir fremd, doch dafür, dass sie aus Namibia kam, sprach sie erstaunlich gut deutsch.

„Das hätte ich wirklich. Aber nach dem Tod meiner Mutter …“ Janna brach ab und das Mädchen nickte verstehend.

„Schon okay. Uns geht es ja gut. Dafür hat Adam schon gesorgt.“

Ich räusperte mich, weil ich mir blöd vorkam, wie ich da mitten im Gang der Kirche herumstand, und alle wandten sich zu mir um.

„Oh. Tut mir leid. Ich habe euch meinen Bruder ja noch gar nicht vorgestellt.“

Sie deutete auf mich und winkte mich näher zu sich heran.

„Moidine. Melody. Das hier ist mein Bruder Max. Max. Das sind Moidine und Melody. Und deren Mutter Kari. Sie ist die Schwester des Bräutigams.“

Ich konnte nicht verhindern, dass meine Augen groß wurden. War Adam nicht erst um die dreißig? Wie konnte seine Schwester dann schon so große Töchter haben? Ich vermutete einfach mal, dass der Altersunterschied zwischen den beiden mindestens genauso groß war wie zwischen Janna und mir. Anders konnte ich mir das wirklich nicht erklären.

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte Moidine und reichte mir die Hand. Sie lächelte mich freundlich an und ich fragte mich unwillkürlich, ob sie mir damit etwas sagen wollte. Ich war so schlecht im Flirten wie wohl kaum ein Kerl in meinem Alter, weil ich einfach viel zu selten rauskam. Dank Tatjana war ich nicht vollkommen unschuldig. Wir führten seit Jahren eine Art Freundschaft Plus, ohne weitere Verpflichtungen, aber ich war den regelmäßigen Umgang mit Frauen einfach nicht mehr gewohnt. Bei Moidine war ich mir daher nicht so sicher, was sie wohl von mir wollen könnte.

„Freut mich auch“, gab ich einfach zurück und wandte meine Aufmerksamkeit dann ihrer Schwester zu.

Diese schien einige Jahre jünger zu sein und war eindeutig noch ein Mädchen, was auch ganz gut war, denn sie war so hübsch, dass sie in ein paar Jahren vermutlich allen Männern den Kopf verdrehen würde. Ihre Augen waren kleiner als die von ihrer Schwester und ihre Nase war schmaler. Sie hatte ein wunderschönes ovales Gesicht und eine makellose Haut.

„Hallo“, sagte sie schüchtern. „Du hübsche blaue Augen.“

Sie deutete auf mein Gesicht und ich musste schlucken, weil ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. War ich froh, dass die Kleine noch so jung war, sonst wäre ich jetzt sicherlich knallrot angelaufen. So bedankte ich mich und begrüßte danach die Mutter der beiden, die offensichtlich kein Deutsch konnte und mir nur auf Englisch antwortete.

Danach setzte ich mich neben Janna und sah nach vorne. Janna unterhielt sich noch ein bisschen mit den Mädchen, bis die Orgelmusik erklang und die Kirche sich endgültig füllte.

Wie ich richtig vermutet hatte, mussten viele der Leute stehen und auch wenn ich mich in der ersten Reihe unwohl fühlte, war ich froh, nicht stehen zu müssen. Rechts von mir setzte sich noch eine blonde Frau dazu, die Janna sofort quer über meinen Schoß begrüßte.

„Mara. Wie schön, dass du kommen konntest“, flüsterte sie.

„Aber natürlich. Ich werde doch nicht die Hochzeit meines einzigen Sohnes verpassen.“

Sie zwinkerte Janna zu und ich war irritiert. Hatte Janna nicht gerade noch behauptet, der Bräutigam wäre Karis Bruder? Wie konnte diese eindeutig europäische Frau dann seine Mutter sein?

„Wir reden später“, versprach Mara. „Ich freue mich ja schon so auf die Zeremonie.

Das konnte ich von mir nicht behaupten. Ich hatte das Gefühl, mich unbedingt davon ablenken zu müssen, wie viele Menschen in dieser Kirche waren. Daher beugte ich mich zu meiner Schwester herüber und flüsterte ihr leise ins Ohr.

„Wie kann diese Frau seine Mutter sein, wenn seine Schwester schwarz ist?“

„Sie ist nur seine Ziehmutter“, flüsterte Janna zurück. „Und jetzt sei still. Es geht los.“

Ich nickte und sah dann nach vorne, wo bereits der Bräutigam stand. Obwohl ich ihn nicht kannte, war er sehr leicht an seiner Hautfarbe zu erkennen und daran, dass er etwas nervös an seinem Hemd herumnestelte. Er wirkte durchtrainiert und hatte einen ernsten Zug um den Mund, der vermutlich von dem harten Leben in Afrika zeugte. Ich war sicherlich nicht der Einzige, der sich fragte, ob er die Braut nur geheiratet hatte, weil er nach Deutschland kommen wollte. Aber möglicherweise tat ich ihm da unrecht.

Hinter dem Bräutigam stand jemand, den ich für seinen Trauzeugen hielt. Er war genauso groß wie Adam, aber etwas dicker. Er sagte leise etwas zu dem Bräutigam, was den zum Schmunzeln brachte, und die Anspannung schien von ihm abzufallen.

„Das ist Matze“, flüsterte Janna mir zu, obwohl sie es ja gewesen war, die mir befohlen hatte, still zu sein. „Der Mann von Chrissies Schwester Saskia.“

Ich nickte, bezweifelte aber, dass ich mir die Namen alle würde merken können. Mir schwirrte ja jetzt schon der Kopf und ich hoffte, dass mich am Ende niemand abfragen würde.

Als sich alle Köpfe nach hinten drehten, hätte ich am liebsten die Augen verdreht, aber da es ja so Sitte zu sein schien, dass alle Anwesenden die Braut anstarrten, wand auch ich meinen Kopf um und sah nach hinten, dorthin, wo gerade die Braut hereinkam.

Sofort nahm ich alle meine Vorurteile wieder zurück. Falls Adam diese Frau nur für eine Aufenthaltsgenehmigung geheiratet hatte, dann musste er der größte Glückspilz aller Zeiten sein, denn Chrissie war wirklich atemberaubend.

Ihr kurzes braunes Haar wurde von einem weißen Haarreif zurückgehalten und war hinten toupiert. Das Brautkleid saß perfekt an ihrem schlanken Körper und ihr wunderschönes Gesicht strahlte wie die Sonne.

Dennoch fühlte ich mich plötzlich noch viel mehr fehl am Platz als zuvor. Was tat ich hier in der ersten Reihe, wenn ich abgesehen von Janna keinen einzigen Menschen kannte? Am liebsten wäre ich aufgesprungen und weggerannt. Ich hasste Menschenansammlungen, ich hasste Hochzeiten und ich hasste Kirchen. Was konnte es Schlimmeres geben als das hier?

2

Jacky

„Ich kann nicht mehr“, war der einzige Gedanke, den ich hatte, als ich mit meinem Fahrrad dem Navi auf meinem Handy folgte. Die Anstrengung tat gut, weil sie mich ablenkte. Sie ließ mich für einen Moment vergessen, was mir widerfahren war und mich etwas anderes fühlen außer Enttäuschung, Frustration und Wut.

Ich wusste noch nicht einmal, welches Gefühl überwog. Ich wollte schreien, wollte jemanden umbringen und wollte heulen, bis alles vorbei war. Ich fühlte mich so zerrissen wie noch niemals zuvor in meinem Leben. Warum nur passierte immer mir so eine Scheiße? Warum nur konnte ich nicht einmal Glück haben? Warum?

Ich hatte doch alles über mich ergehen lassen, hatte alles ertragen, nur um jetzt so etwas zu erfahren. Mein Leben war vorbei. Hinüber. Es gab nichts, was das je wiedergutmachen konnte. Mit allem anderen wäre ich noch irgendwie klargekommen. Mit dem Schmerz, der Erniedrigung und dem Verrat … Aber damit? Ich wusste wirklich nicht mehr, was ich tun sollte und es gab nur einen Menschen, mit dem ich darüber reden konnte.

Saskia.

Sie war meine vom Jugendamt eingesetzte Betreuerin und das seit über fünf Jahren. In all dieser Zeit hatte sie immer ein offenes Ohr für mich und für fast jedes Problem eine Lösung gehabt. Ich wusste selbst nicht, warum ich ausgerechnet dieses Mal so lange gewartet hatte, um mich an sie zu wenden. Nur weil sie nicht mehr dafür bezahlt wurde? Nein. Das war es nicht und das wusste ich genau.

Ich hatte nicht gewollt, dass sie ein schlechtes Gewissen bekam, weil sie es nicht eher erkannt hatte. Niemand hätte das erkennen können. Und wenn nicht einmal meine eigene Mutter etwas davon hören wollte, wie konnte ich das dann von Saskia erwarten?

Wieder schossen mir Tränen in die Augen. Gott. Wie war ich nur in diese Situation geraten? Ausgerechnet ich, die sich nie etwas von Männern gefallen ließ. Ich hatte schon mehr als einem Typen in die Eier getreten, weil er mir blöd gekommen war. Scheiße. Konnte ich Saskia überhaupt von dieser Sache erzählen?

Was würde sie dann von mir denken?

Ich fuhr mit Karacho über eine Ampel, die gerade rot geworden war und wurde von einem Auto heftig angehupt.

Wie aus Reflex hob ich die Hand und zeigte dem Idioten den Stinkefinger. Der konnte mich mal. Ich hatte wirklich andere Probleme.

Ich sauste einen Berg hinunter und war endlich aus München raus. Es war so bescheuert, wenn man kein Auto hatte. Aber ich hatte kein Geld für einen Führerschein, also blieb mir nichts anderes übrig, als das Rad zu nehmen.

Einen Teil der Strecke war ich mit der Bahn gefahren und hatte das Fahrrad einfach mit reingenommen. Ich hatte Glück gehabt, dass mich niemand beim Schwarzfahren erwischt hatte, aber den Rest des Weges musste ich jetzt selber fahren. Warum nur war Saskia heute auch in diesem kleinen Vorort?

Als ich vor einiger Zeit mal Drogenprobleme gehabt hatte, hatte Saskia ihre Ortsfreigabe für mich eingestellt, sodass ich jederzeit wusste, wo ich sie finden konnte. Das war ein riesiger Vertrauensbeweis gewesen und ich wusste es wirklich sehr zu schätzen. Im Gegenzug hatte ich dasselbe allerdings auch für sie tun müssen, sodass sie mich wenigstens finden konnte, wenn ich mich allzu lange nicht mehr meldete. Mir war klar, dass sie damals die Befürchtung gehabt hatte, ich könnte bewusstlos in irgendeiner Wohnung liegen. Aber ich hatte die Kurve gekriegt. Ich wusste zwar selbst nicht mehr genau, wie ich das gemacht hatte, aber es war mir gelungen.

Und jetzt … war ich am Arsch.

Ich stieg voll in die Bremsen, sodass ich fast über den Lenker flog, blieb auf einer Anhöhe stehen und sah hinunter auf den Kirchplatz, wo Saskia und ihre Familie sich befinden mussten. Eine Hochzeit. Verfluchter Mist. Saskia war auf einer Hochzeit.

Um dort hinüber zu kommen, musste ich nur noch über eine Brücke.

Aber ich konnte doch nicht einfach in eine Hochzeit hineinplatzen. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte von weitem, dass die Braut, die gerade mit ihrem Mann aus der Kirche kam, Saskias Schwester war. Oh nein. Nicht auch das noch. Chrissie heiratete. Ausgerechnet heute, wo ich mehr Zuspruch brauchte als jemals zuvor. Was sollte ich denn jetzt bloß tun?

Mein Herz schlug so schnell, dass es sich anfühlte, als wolle es mir aus der Brust hüpfen und ich spürte wieder die Verzweiflung in mir aufwallen. Wie konnte man nur so viel Pech haben? Saskia hatte mir erzählt, dass ihre Schwester heiraten würde. Aber wieso heute? Wieso ausgerechnet an einem Tag, an dem ich sie mehr brauchte als jemals zuvor?

Langsam stieg ich ab und wischte mir die Tränen von den Wangen. Als ich gesehen hatte, dass Saskia so weit außerhalb von München war, hatte ich vermutet, dass sie mit Matze und dem kleinen Timmi ein Picknick im Grünen geplant hätte oder etwas in der Art. Doch offenbar hatte ich kein Glück heute.

Unsicher, was ich jetzt tun sollte, schob ich mein Fahrrad den Weg hinunter und über die Brücke. Dort stellte ich es ab, setzte mich auf das Geländer und sah hinunter auf den Fluss.

Wie sollte es jetzt bloß weitergehen? Was sollte ich nur tun?

3

Saskia

Auf der Hochzeit der eigenen Schwester nicht trinken zu dürfen, war wirklich eine Strafe. Besonders, wenn hinzukam, dass nach Möglichkeit niemand davon wissen sollte. Daher stand ich nun mit einem Glas Orangensaft in der Menge der Gäste und wartete darauf, dass ich endlich dazu kam, meiner Schwester zu gratulieren, die natürlich von allen in Beschlag genommen wurde.

„Na? Amüsierst du dich?“, fragte Matze, der mit einem Bier in der Hand auf mich zukam.

Er hinkte noch leicht, aber im Großen und Ganzen merkte man ihm kaum noch an, dass er wochenlang im Koma gelegen hatte und fast alles wieder neu hatte lernen müssen. Einige Bewegungen waren noch steif und manchmal vergaß er ein paar Dinge, aber er ging inzwischen sogar wieder arbeiten und hatte es geschafft, wieder auf die Beine zu kommen.

„Haha“, sagte ich missmutig. „Versuch du doch mal, Timmi zu hüten und gleichzeitig so zu tun, als wärst du nicht schwanger, um deiner Schwester nicht die Show zu stehlen.“

Ich wusste schon seit Wochen, dass ich wieder schwanger war, aber ich hatte mich an den Rat der Frauenärztin halten wollen, es in den ersten drei Monaten niemandem zu sagen. Ich hatte schon zwei Fehlgeburten hinter mir und daher Angst, dass es zu noch einer kommen würde. Es war schlimm genug, damit selbst klarzukommen, aber auf das Mitleid meiner Bekannten und Verwandten konnte ich wirklich verzichten. Mir war zwar klar, dass ich meinen Zustand nicht mehr lange würde verheimlichen können, aber bisher ließ sich mein Bauch noch ganz gut verstecken.

Nach Ende der Dreimonatsfrist hatte die Hochzeit von Chrissie dann so kurz bevorgestanden, dass ich einfach nicht gewollt hatte, dass alle Aufmerksamkeit plötzlich auf mir lag. Meine Mutter wäre begeistert gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass sie noch einen Enkel bekam. Auch wenn sie sich auf der Straße immer als Timmis Tante ausgab, wusste ich, dass sie unglaublich stolz auf ihren kleinen Enkel war.

Ohnehin war Timmi jedermanns Sonnenschein. Seit er laufen konnte, hatte ich das Gefühl ständig hinter ihm herrennen zu müssen. Er strahlte jeden an und schien nur Blödsinn im Kopf zu haben.

„Apropos Timmi. Wo ist der kleine Racker denn schon wieder?“, fragte Matze und drehte sich einmal im Kreis, um seinen Sohn ausfindig zu machen.

„Mel war so nett und hat ihn mit zur Toilette genommen.“

Das Gasthaus, in dem die Feier stattfinden würde, war praktischerweise direkt gegenüber der Kirche. So mussten wir nicht alle nochmal irgendwo hinfahren, sondern konnten direkt von der einen Location zur anderen wechseln.

„Mel?“, fragte Matze skeptisch. „Bist du sicher, dass sie den Weg zur Toilette überhaupt findet?“

Ich verdrehte die Augen. Meine Schwester war seit der Pubertät immer zerstreuter geworden, aber ich war trotzdem davon überzeugt, dass sie sich ganz wunderbar um Timmi kümmern würde. Es war so schwierig, dem Kleinen zu erklären, warum ich ihn im Moment nicht tragen konnte. Er war ja selbst noch so jung.

Ich war froh, dass Matze bisher nur Teilzeit arbeitete und mich mit dem kleinen Monster unterstützte.

„Papaaaaa!“, rief Timmi in diesem Moment schon und rannte in seinem wunderhübschen Anzug fröhlich auf Matze zu, der die Arme ausstreckte, seinen Sohn auffing und ihn einmal im Kreis drehte. „Na? Hast du deine Tante geärgert?“

„Nein. Melli hat mich geärgert. Sie wollte, dass ich ins Frauenklo gehe, aber ich muss doch ins Männerklo.“

Ich lachte. „Aber Timmi. Mit mir gehst du doch auch immer ins Frauenklo.“

„Du bist ja auch meine Mama“, sagte Timmi, als würde das einiges erklären.

Mein Herz zog sich vor Sehnsucht zusammen, als ich in Timmis braune Augen sah, die denen von seinem Onkel, nach dem er benannt worden war, sehr ähnlich waren. Doch heute war ein Tag zum Feiern und ich sollte wirklich nicht an Matzes Bruder denken, der zu diesem Anlass nicht bei uns sein konnte.

„Das kleine Monster hat sich geweigert, mit ins Frauenklo zu kommen“, erklärte Mel, die in ihrem blauen Kleid wunderschön aussah. Ihre üppigen Brüste formten ein tolles Dekolleté und der Rest ihres kurvigen Körpers wurde super in Szene gesetzt. Jedes Mal, wenn ich sie ansah, wurde mir wieder klar, wie schnell die Zeit verging, da meine kleine Schwester schon so erwachsen war.

„Ich musste mit ihm ins Männerklo gehen. Aber so schlimm war es gar nicht. Ich habe die Männer gebeten, mich einfach nicht zu beachten und hab mir die Augen zugehalten, bis ich in einer der Kabinen war. Timmi hatte auf jeden Fall eine Menge Spaß.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Ich lächelte.

„Es war so lustig mit Tante Melli“, erzählte Timmi gerade seinem Vater. „Nächstes Mal nehme ich sie wieder mit.“

„Das kannst du mal sowas von vergessen, du kleiner Satansbraten“, sagte Mel und schüttelte den Kopf. „Nächstes Mal gehst du mit deinem Papa.“

„Neeeeiiiin!“, rief Timmi und rannte wieder quer über den Kirchplatz.

„Oh Mann. Ich hasse Kinder. Hab ich das heute schon mal gesagt?“, fragte Mel.

„Blödsinn. Du hasst Kinder nicht“, widersprach ich, weil ich genau wusste, wie sehr sie an meinem Sohn hing.

„Wenn sie mir so auf der Nase rumtanzen wie Timmi, dann schon“, beharrte Mel allerdings.

„Och. Das ist ganz normal in dem Alter. Er ist in der Trotzphase.“

„Ja. Außerdem ist er ein verwöhntes Einzelkind. Wann schenkt ihr ihm endlich ein Geschwisterchen? Es wird Zeit, dass der Kleine mal lernt, dass sich nicht alles auf der Welt nur um ihn dreht.“

Matze und ich tauschten einen vielsagenden Blick und ich seufzte. „Alles zu seiner Zeit“, erklärte ich. „Und jetzt lass uns mal versuchen, zu dem Brautpaar durchzukommen. Die wundern sich bestimmt schon, warum wir ihnen noch nicht gratuliert haben“

„Also gut.“ Mel seufzte theatralisch. „Dann mal auf ins Gedränge.“

Ich folgte ihr und war froh, dass Matze immer an meiner Seite blieb, sodass er notfalls dafür sorgen konnte, dass ich nicht allzu sehr eingequetscht wurde. Es dauerte eine Weile, bis wir es nach ganz vorne geschafft hatten, wo natürlich unsere Mutter das Brautpaar in Beschlag genommen hatte. Aber ich drängte mich einfach an ihr vorbei und fiel Chrissie um den Hals.

„Herzlichen Glückwunsch, Schwesterchen. Ich freu mich so für dich“, sagte ich liebevoll und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Danke!“, rief sie und lächelte mich glücklich an. Auch wenn es nicht ihre erste Wahl gewesen war, auf diese Art zu heiraten, schien sie regelrecht von innen heraus zu strahlen. Sie war die schönste Braut, die ich je gesehen hatte.

„Ich bin so froh, dass wir es endlich geschafft haben. Die Feier kommt zwar erst noch, aber ich hatte Angst, dass ich in der Kirche am Ende vor lauter Nervosität kein Wort rausbekomme.“

„Na. Ich hätte dir schon klargemacht, wann du dran bist“, brummte Adam.

Er war wie immer sehr ernst, schien aber auch äußerst erleichtert zu sein, das Schlimmste hinter sich zu haben. Er wusste aber vermutlich nicht, dass es in Deutschland Tradition war, alle möglichen Spielchen mitzumachen. Ich war wirklich gespannt, wie er das managen würde und ging zu ihm hinüber, um ihn zu drücken.

„Herzlichen Glückwunsch, Adam“, sagte ich. „Ich freue mich wirklich von Herzen für euch.“

„Es ist wirklich unhöflich, dass du dich so vordrängelst“, sagte meine Mutter, sobald ich mich wieder von Adam gelöst hatte. „Ich war gerade dabei gewesen, Adam meinen Cousin zweiten Grades vorzustellen.“

Ich musste mich zusammenreißen, um kein genervtes Seufzen von mir zu geben. Meine Mutter sah aus wie eine ältere Version von Chrissie und sie war genauso anstrengend, wie Chrissie es früher mal gewesen war. Aber sie war nun mal meine Mutter, daher umarmte ich auch sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Bin schon wieder weg“, sagte ich. „Ich wollte nur meiner Schwester gratulieren, bevor der nächste Morgen graut.“

Mit diesen Worten winkte ich Chrissie, die gerade mit Mel redete, noch einmal zu und ging dann los, um Timmi wiederzufinden.

4

Max

Menschenmengen. Wuuaaaah. Gab es etwas Schrecklicheres? Seit drei Stunden schon musste ich mich damit arrangieren. Nach der todlangweiligen Zeremonie waren wir nach draußen gegangen und alle hatten dem Brautpaar gratuliert. Nach einer gefühlten Stunde, hatten wir es dann auch endlich geschafft, zu ihnen durchzukommen und wieder mal hatte ich mich völlig fehl am Platz gefühlt.

Chrissie und Adam hatten meine Glückwünsche zwar höflich entgegengenommen, aber es war offensichtlich gewesen, dass sie viel lieber zu den Leuten gewollt hatten, die sie auch kannten. Insofern war ich froh, als ich mich endlich zurückziehen konnte.

Doch natürlich war die Feier mit der Kirche noch lange nicht zu Ende gewesen, sondern es folgte der übliche Wahnsinn, den ich bisher nur aus Erzählungen gekannt hatte. Ich war noch nie auf einer Hochzeit gewesen oder konnte mich zumindest nicht mehr bewusst daran erinnern.

Adam und Chrissie mussten das volle Programm durchlaufen. Nach dem Zerschneiden des Lakens in Herzform ging es in das große Gasthaus gegenüber, wo alle sich hinsetzten und der erste Gang serviert wurde. Hochzeitssuppe. Was sonst?

Zwischen den Gängen ging es dann richtig los mit den Spielen. Von der Fingerabdruckleinwand bis zum Wadenraten war alles dabei. Adam wirkte von all diesen Spielen mindestens so überfordert, wie ich mich fühlte. All diese Bräuche waren ihm offenbar fremd und ich sah mehrfach, wie er seiner Ziehmutter hilflose Blicke zuwarf.

Zu seinem Glück war sein Trauzeuge die meiste Zeit an seiner Seite. Und auch Saskia, die Schwester der Braut, sprach ihm immer wieder Mut zu, was allerdings gar nicht so einfach war, weil sie einen kleinen Jungen an der Hand hielt. Der Kleine schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, so viel Blödsinn wie möglich auf dieser Hochzeit anzustellen, denn er rannte immer wieder zwischen den Tischen her, beschmierte die Tischdecken mit Soße und musste innerhalb von drei Stunden zweimal umgezogen werden, weil er es jedes Mal schaffte, sich wieder vollzusauen.

„Puh. Ich kann nur sagen, wenn man ein Kind hat, braucht man wirklich keine anderen Hobbys mehr“, verkündete Saskia, als sie sich nach dem Dessert zu uns an den Tisch setzte. „Ich bin froh, dass Matze so ein toller Vater ist.“

Janna lächelte Saskia an. „Da hast du wirklich Glück gehabt“, sagte sie und sah zu dem Trauzeugen hinüber, der gerade seinen kleinen Sohn wie ein Flugzeug durch den Raum fliegen ließ. Das Kind lachte laut und hatte ganz offensichtlich jede Menge Spaß.

„Ich könnte mir vorstellen, dass Josh auch ein guter Vater wäre“, sagte Janna verträumt und ich verdrehte innerlich die Augen. Das Thema Kinder war für mich so unendlich weit weg, dass ich noch gar nicht darüber nachdenken wollte. Selbst die Vorstellung, Onkel zu werden, war für mich gelinde gesagt eigenartig.

„Warum ist Josh eigentlich nicht dabei?“, fragte Saskia und sah zu mir, als könnte sie genauso wenig verstehen, warum Janna mich mitgebracht hatte wie ich.

„Er ist krank und hat die ganze Nacht gekotzt. Es wäre eine Zumutung gewesen, ihn mitzubringen. Glaub mir.“

Saskia verdrehte die Augen. „Da Timmi heute auch schon einmal gekotzt hat, vermute ich, dass es nicht ganz so dramatisch wäre, wenn jemand anders auch noch über den Tisch reihert. Dafür haben wir zum Glück die Kellner.“

„Ist das Ganze eigentlich Chrissies Wunsch gewesen? Ich meine … Adam wird doch sicher nicht so eine riesige Feier gewollt haben, oder?“

Saskia schüttelte den Kopf. „Das wollten sie beide nicht, aber Mama hat Druck gemacht. Sie war der Meinung, wenn schon kirchlich heiraten, dann müsste man es unbedingt richtig machen. Ich habe das Gefühl, sie sonnt sich regelrecht in dem Gefühl, dass sie ja ach so aufgeschlossen ist. Wenn die Leute wüssten, wie schwer sie es dem armen Adam am Anfang gemacht hat.“

Saskia sah grimmig zu ihrer Mutter hinüber, die mit einigen anderen Leuten in ihrem Alter an einem Tisch saß und herzhaft lachte. Die Mutter wirkte auf mich wie eine ältere Version von Chrissie. Saskia hingegen hatte mit ihren vielen Tattoos und dem lockeren Kleid kaum etwas mit ihr gemeinsam.

„Hey, Schatz. Kommst du tanzen?“, rief Matze von der Tanzfläche aus, der immer noch seinen Sohn durch die Luft fliegen ließ. „Timmi möchte unheimlich gerne mit seiner Mama tanzen.“

Saskia seufzte tief, lächelte dabei aber so glücklich zu ihrer Familie hinüber, dass gleich klar wurde, wie wenig ernst ihr diese Reaktion war. Sie liebte ihren Mann und ihr Kind. Und sie wollte Zeit mit ihnen verbringen. Daher zögerte sie auch nicht lange, sondern entschuldigte sich bei Janna und stand dann auf, um zu ihrer Familie zu gehen.

„Die drei sind wirklich süß zusammen“, sagte Janna fast sehnsüchtig und ich zog die Augenbrauen nach oben.

„Du weißt schon, dass Josh nicht Nein sagen würde, wenn du ein Kind haben wolltest? Auch dass er dich noch nicht gefragt hat, ob du ihn heiraten willst, liegt vor allem an dir.“

„Ich weiß.“ Janna seufzte. „Das ist halt alles nicht so einfach.“

„Was soll daran nicht einfach sein? Ihr kennt euch seit eurer Kindheit und seid seit Ewigkeiten ein Paar. Wo liegt das Problem?“

Janna zögerte. Eigentlich wusste ich genau was ihr Problem war. Rogelio. Sie war schon einmal verheiratet gewesen, als sie nicht viel älter gewesen war als ich jetzt. Ihr Mann hatte sie leider gar nicht gut behandelt und sie hatte ihn verlassen. Und auch wenn sie jetzt Josh hatte, den sie ganz offensichtlich liebte, schien sie mit der Vergangenheit nie ganz abgeschlossen zu haben.

„Du musst darüber hinwegkommen“, murmelte ich. „Du kannst doch nicht dein Glück von etwas abhängig machen, das Ewigkeiten zurückliegt.“

Nicht, dass ich davon Ahnung hätte. Ich hatte zwar Tatjana, aber die wohnte weit weg und wir hatten auch nie versucht, einander treu zu sein. Insofern hatte ich keine Ahnung, wie es war, wenn man jemanden wirklich liebte. Aber ich vermutete trotzdem, dass man schmerzliche Erfahrungen irgendwann hinter sich lassen musste, um glücklich zu werden.

„Lassen wir das Thema. Komm. Wir gehen lieber tanzen. Dafür habe ich dich schließlich mitgenommen.“

Entschieden schüttelte ich den Kopf. „No way“, erklärte ich rigoros. „Ich habe mich überreden lassen, mit dir herzukommen, aber ich werde mich ganz sicher nicht auf diese Tanzfläche begeben.“

Ich deutete vor die Bühne, wo sich viel zu viele Menschen zu der Musik bewegten und man sich vermutlich nur gegenseitig auf die Füße trat. Das wollte ich nicht und dazu hatte ich auch überhaupt keinen Bock.

„Ach, komm schon“, versuchte Janna mich zu überzeugen. „Ich habe keine Lust, die ganze Zeit nur hier herumzusitzen und den anderen beim Tanzen zuzusehen.“

„Dann mach es wie die meisten Frauen und tanz einfach in der Gruppe mit“, schlug ich vor. „Mich kriegen auf jeden Fall keine zehn Pferde auf diese Tanzfläche.“

Janna machte einen Schmollmund. Sie war es gewohnt zu bekommen, was sie wollte, wenn sie nur lange genug darum bettelte. Doch ich hatte Glück, denn gerade in diesem Moment kamen Moidine und Melody an unseren Tisch.

„Janna. Tanzt du mit uns?“, fragte Moidine. „Wir würden so gerne mit dir tanzen.“

Janna lachte und nickte sofort. „Aber natürlich“, sagte sie und ließ sich von den beiden afrikanischen Mädchen mitziehen. Moidine sah mir dabei sehr lange in die Augen, als wollte sie mich dazu auffordern, ebenfalls mitzukommen. Doch dem würde ich ganz sicher nicht nachkommen.

Erleichtert sah ich ihnen hinterher.

„Du bist wohl nicht gerne unter Menschen, was?“, fragte die blonde Frau aus Namibia, an die ich mich als Mara erinnerte. „Oder kannst du einfach nicht tanzen?“

„Ich kann nicht tanzen“, log ich, weil es weniger Erklärungen verlangte.

Doch Mara sah mich aufmerksam an.

„Tanzen kann man lernen“, sagte sie. „Es ist wirklich nicht schwer.“

„Wenn man keine Lust dazu hat, dann ist es schwer“, widersprach ich. „Und ich habe überhaupt keine Lust.“

„Das ist wirklich schade. Du bist so jung und hast dein ganzes Leben noch vor dir. Tanzen gehört zu den wunderbarsten Dingen, die ein Mensch machen kann. Ganz unabhängig vom Alter. Es ist befreiend und einfach ein tolles Gefühl, wenn man sich ganz der Musik hingibt und alles um sich herum ausblendet.“

Ich antwortete nicht. Im Grunde genommen musste ich ihr recht geben. Ich liebte es auch, mich in der Musik zu verlieren, aber für gewöhnlich nur bei mir zu Hause, mit meinen Kopfhörern, während ich auf dem Bett lag. Zwischen lauter schwitzenden Menschen, die mir viel zu nahe kamen und mir ein Gefühl von Enge vermittelten, wollte ich mich nicht verlieren.

„Schlechte Erfahrungen?“, fragte Mara, als ich nichts dazu sagte.

„Eigentlich nicht“, gab ich zu. „Vielleicht bin ich einfach aus der Übung.“

„Schade“, sagte Mara und stand auf. „Daran solltest du dringend arbeiten. Du verpasst so einiges, was ich mir sicherlich nicht entgehen lassen will.“

Mit diesen Worten verschwand sie in Richtung Tanzfläche und ließ mich an unserem Tisch zurück. Es störte mich nicht, hier alleine zu sitzen. Im Gegenteil. Es beruhigte mich. Noch mehr würde es mich allerdings beruhigen, wenn ich endlich wieder in meiner Hütte wäre.

Daher beschloss ich, die nächste Möglichkeit zu nutzen, mich unauffällig davonzustehlen.

5

Saskia

„Saskia. Schön, dich zu sehen“, sagte ein Mann hinter mir, als ich gerade mit Matze eine Pause machte, und ich drehte mich zu ihm um.

„Tom! Auch schön, dich zu sehen“, rief ich aus und umarmte ihn erfreut.

Er kam aus derselben Nachbarschaft wie meine Familie und war mit mir zur Schule gegangen. Er hatte all die Jahre einen lockeren Kontakt zu meiner Familie gehalten und wohnte immer noch neben dem Haus meiner Mutter. Inzwischen allerdings nicht mehr mit seinen Eltern, sondern mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn.

„Die Freude ist ganz meinerseits. Karin und ich haben uns sehr gefreut, dass wir eingeladen wurden. Damit hatten wir gar nicht gerechnet.“

Ich lächelte verkrampft. Die Einladungen hatte meine Mutter rausgeschickt, insofern vermutete ich, dass nicht einmal Chrissie und Adam wussten, wer alles hier war. Vermutlich hatte Mama sie überhaupt nicht nach ihrer Meinung gefragt.

„Jaaaa“, sagte ich daher. „Es ist auf jeden Fall schön, dass ihr es einrichten konntet.“

Ich reichte der Frau an Toms Seite die Hand. Die beiden waren ein tolles Paar. Beides junge, moderne Lehrer. Adrett, hübsch gekleidet und gutaussehend. Tom war mit seinem dunklen Haar und der sportlichen Figur sicher der Schwarm aller Schülerinnen. Aber seine Frau passte bestimmt gut auf ihn auf. Mit ihren blonden Haaren und der tollen Figur wirkte sie auf mich wie eine jüngere Version von Heidi Klum.

„Hallo. Ich bin Matze“, stellte Matze sich vor, ohne es mir übelzunehmen, dass ich das nicht übernommen hatte. „Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.“

„Nein. Daran würde ich mich erinnern“, sagte Tom gut gelaunt und schüttelte Matzes Hand.

„Wie geht es eurem Sohn?“, fragte ich. „Wie hieß er noch gleich?“

„Daniel. Er macht sich prächtig. Allerdings haben wir ihn zu Hause gelassen, weil wir davon ausgegangen sind, es wären keine anderen Kinder anwesend. Wenn ich gewusst hätte, dass euer Wirbelwind auch hier ist, dann hätten wir ihn vermutlich mitgebracht.“

Ich lächelte gequält. Ich hatte auch darüber nachgedacht, Timmi zu Matzes Eltern zu geben, aber ich hätte es auch traurig gefunden, ihn von diesem Event auszuschließen. Er liebte es, unter Leuten zu sein. Natürlich war es so anstrengender für Matze und mich, aber Mel half, so gut sie konnte und auch Adam hatte seinen kleinen Neffen längst ins Herz geschlossen.

Auch einige andere Freunde taten, was sie konnten, um Timmi unter Kontrolle zu halten, aber trotzdem hielt er die gesamte Gesellschaft auf Trab.

„Na ja. Wir wollten ihn halt nicht von dieser Hochzeit ausschließen. Er hat sich seit Wochen darauf gefreut.“

„Schön. Das freut mich ja. Apropos Kinder“, sagte Tom. „Rate mal, wen ich seit ein paar Monaten in meiner Klasse habe.“

Irritiert sah ich ihn an. „Wen?“

„Jaqueline Rohbein.“

„Nein. Ernsthaft?“ Das überraschte mich jetzt doch. Jacky hatte bei unserem letzten Treffen gar nichts davon berichtet. Aber vielleicht wusste sie auch gar nicht, dass Tom und ich uns kannten.

„Oh ja. Als sie nachsitzen musste, hat sie mir erzählt, du würdest sie betreuen. Sie hat wohl gehofft, dass sie sich dadurch vor dem Nachsitzen drücken könnte. Ich hätte ihr das ja gerne erspart, aber sie braucht die zusätzlichen Übungen dringend. Wusstest du, wie schlecht sie in Mathe ist?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dafür ist sie in Deutsch ganz gut“, schaltete Karin sich ein. „Ich unterrichte sie seit einer Weile in diesem Fach. Ich muss sagen, sie schreibt wirklich gute Aufsätze.“

„So hat jeder seine Stärken und Schwächen“, erklärte Matze, der selbst in der Schule nie ein Überflieger gewesen war. Und er hatte absolut recht. Es gab halt Theoretiker und Praktiker. Matze gehörte eindeutig zu den Praktikern. Was Jacky anging, war ich mir nicht so ganz sicher.

„Ich freue mich, dass Jacky in Deutsch gut ist“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Ich hoffe, ihr Abschluss ist wegen Mathe nicht gefährdet.“

„Nicht, wenn sie sich weiterhin anstrengt und Nachhilfeunterricht nimmt. Sie ist nicht dumm. Sie braucht nur oft etwas länger, um zu verstehen, was ich ihr erklären möchte.“

„Ich finde es toll, dass du dich um sie bemühst“, sagte Karin und legte ihrem Mann eine Hand auf den Arm. „Sie kommt aus so schlimmen Verhältnissen und hat es verdient, dass jemand sich um sie kümmert. Tom ist inzwischen Vertrauenslehrer, wissen Sie?“

„Freut mich, Tom. Ich wette, die Schüler lieben dich.“

Tom winkte ab, was ich sehr sympathisch fand. „Ach was. Ich tue einfach, was ich kann. Ich finde es toll, wenn die Schüler sich mir gegenüber öffnen. Immerhin ist das keine Selbstverständlichkeit. Vor allem, wenn es um Mobbing geht, muss man sehr aufpassen heutzutage.“

Da hatte er recht. Von diesem Thema konnte ich leider ein Lied singen. Meine Schwester Chrissie war in ihrer Jugend Opfer von schlimmem Cyber-Mobbing gewesen, weswegen wir mehrfach umgezogen waren. So etwas war einfach ein Produkt unserer Zeit. Das war leider nicht zu ändern. Ich war nur froh, dass diese Phase lange hinter ihr lag und sie es geschafft hatte, darüber hinwegzukommen.

Als hätte sie mich gehört, winkte Chrissie mir in diesem Moment zu, die offenbar wollte, dass ich zu ihr kam. Vermutlich musste sie wieder auf die Toilette und brauchte meine Hilfe, um das Kleid hochzuhalten.

„Entschuldigt mich bitte“, sagte ich zu Tom und Karin. „Meine Pflicht als Brautjungfer ruft. War aber schön, euch wiedergesehen zu haben.“

6

Max

Es war bereits dunkel, als ich mich endlich von der Festgesellschaft loseisen konnte. Janna hatte maßlos übertrieben, als sie behauptet hatte, abgesehen von dem Brautpaar niemanden zu kennen. Chrissies Schwestern Saskia und Mel unterhielten sich blendend mit ihr und die Namibier klebten an ihr wie die Kletten. Vor allem die kleine Melody schien unglaublich glücklich zu sein, dass jemand da war, den sie schon kannte. Sie musste noch sehr jung gewesen sein, als Janna in Namibia gewesen war. Aber offensichtlich war Janna nicht in Vergessenheit geraten. Das lag natürlich vor allem an Chrissie, die offenbar seit Jahren zwischen Namibia und Deutschland hin- und herpendelte und Janna immer mal wieder erwähnt hatte.

Erleichtert, das Gasthaus verlassen zu können, lief ich über den Kirchplatz und hoffte, dass ich keine Pärchen in den dunklen Ecken aufschrecken würde, die sich für etwas Privatsphäre von der Party zurückgezogen hatten. Mir war klar, dass die meisten Jungs in meinem Alter so eine Hochzeit genutzt hätten, um sich ordentlich die Kante zu geben und zu versuchen, bei den Brautjungfern zu landen. Die jüngere Schwester der Braut war trotz ihres Übergewichtes ziemlich süß und sie konnte nicht viel älter sein als ich. Vielleicht hätte ich bei ihr sogar eine Chance gehabt.

Auch Moidine schien sehr an mir interessiert gewesen zu sein, aber ich hatte einfach keine Lust gehabt, zu flirten. Ich war nur hier gewesen, um Janna einen Gefallen zu tun. Und das auch nur, weil ich hoffte, dass sie mich dann die nächsten Monate in Ruhe lassen würde und nicht ständig wissen wollte, wie es mir ging. Auch Josh zuliebe hatte ich das getan. Immerhin verdankte ich ihm so einiges. Er war nach dem Tod meiner Mutter viel für mich da gewesen und hatte mir viel über das Programmieren beigebracht. Ohne ihn wäre es mir nicht möglich, mit zwanzig schon mein eigenes Geld zu verdienen und auf eigenen Beinen zu stehen.

Gelangweilt kickte ich einen Stein weg und lief auf die Brücke zu, die wieder zur Straße führte. Die Musik hinter mir wurde etwas leiser und ich war froh, endlich durchatmen zu können. Im Saal war es stickig gewesen und in der unmittelbaren Nähe des Eingangs hatten so viele Raucher gestanden, dass man auch dort nicht besonders gut hatte atmen können. Hier hingegen war die Luft frisch und ich genoss, wie der Sauerstoff durch meine Lungen rauschte.

Sofort musste ich an meine Mutter denken, die an Lungenkrebs gestorben war und fragte mich, ob ich jemals bewusst auf meine Atmung würde achten können, ohne dabei daran denken zu müssen wie sie gestorben war. Aber bevor ich den Gedanken weiter vertiefen konnte, entdeckte ich plötzlich eine Gestalt, die auf dem Geländer der Brücke saß.

Langsam ging ich näher heran, bis ich feststellte, dass es ein Mädchen war. Ich erkannte hauptsächlich ihre Umrisse, aber ich konnte hören, dass sie leise weinte. Für gewöhnlich wäre das für mich das Stichwort gewesen, mich unauffällig aus dem Staub zu machen. Doch was mich daran hinderte, war die Tatsache, dass ihre Beine nicht auf der Seite der Brücke hingen, sondern zur Seite des Flusses hin baumelten, so als hätte sie vor, sich jeden Moment fallen zu lassen.

„Was soll das heißen, du willst mich verlassen?“, rief sie ins Telefon. „Das kannst du doch nicht tun. Tu bloß nicht so, als wärst du das Unschuldslamm überhaupt. Es könnte immer noch sein, dass …“

Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, als ich die Verzweiflung in ihrer Stimme hörte, und ich blieb stehen.

„Es ist mir scheißegal, was dein Ego darüber denkt. Ich brauche dich jetzt. Mehr denn je. Geht das in deinen verdammten Schädel etwa nicht rein?“

Wieder eine Pause. Diesmal eine längere und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Ich sollte hier nicht in der Dunkelheit stehen und dieses fremde Mädchen belauschen. Das war einfach falsch. Langsam machte ich einen Schritt zurück.

„Du bist so ein verdammtes Arschloch, weißt du das? Ich brauche dich. Und wenn du mich jetzt auch noch verlässt, dann … dann kann ich mich genauso gut gleich in den Tod stürzen.“

Ich blieb stehen. Das konnte sie nicht wirklich so meinen, oder? Ich hatte keine Ahnung, wie ernst solche Drohungen zu nehmen waren, aber wenn ich jetzt ging und morgen in der Zeitung stand, dass man ein totes Mädchen aus dem Fluss gefischt hatte, dann würde ich mir das nie verzeihen, also rührte ich mich nicht von der Stelle.

„Du glaubst also nicht, dass ich es mache?“, fragte sie und ich hörte die Entschlossenheit in ihrer Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. „Wie es der Zufall will, sitze ich gerade auf einer Brücke. Also pass jetzt mal genau auf.“

Sie stand auf und hielt sich nur noch an einem der Pfosten der Brücke fest. Ich glaubte nicht, dass sie sich wirklich umbringen wollte, aber der Trotz in ihrer Stimme brachte mich zu der Vermutung, dass sie möglicherweise trotzdem springen würde. Einfach nur, um dem Kerl am Telefon, der offenbar ihr Freund war, eins auszuwischen.

„An deiner Stelle würde ich das nicht tun“, sagte ich, ohne darüber nachzudenken.

Das Mädchen rutschte vor Schreck fast ab, klammerte sich an dem Pfosten fest und verlor dabei ihr Handy, das sofort in die Tiefe fiel und im Wasser landete.

„Aaaaaaah!“, schrie das Mädchen und ließ sich an dem Pfosten hinabrutschen, bis sie wieder so saß wie vorhin, als ich angekommen war.

„Mein Handy“, schluchzte sie und ihre Verzweiflung schien jetzt fast noch größer zu sein als gerade, als sie ihrem Freund gedroht hatte, sich von der Brücke zu stürzen.

„Du heulst um dein Handy?“, fragte ich ungläubig. „Was meinst du, wie es deinem Freund jetzt geht? Der muss doch glauben, dass du dich gerade wirklich von der Brücke gestürzt hat.“

„Dieses Arschloch kann mich mal“, kam es zurück. „Mit dem will ich nie wieder irgendwas zu tun haben.“

Das war vermutlich eine gute Einstellung. Wenn ein Kerl seine Freundin im Stich ließ, wenn sie gerade in einer absoluten Notsituation war, dann verdiente er auch keine zweite Chance.

Ich kam näher, aber das Mädchen hob die Hand, als wollte sie mich auf Abstand halten.

„Komm mir bloß nicht zu nahe“, rief sie. „Wer bist du überhaupt?“

„Ich bin Max. Max Meyer. Ich war auf der Hochzeit da drüben.“

Das Mädchen nickte. So langsam hatten meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich konnte etwas mehr von ihr erkennen. Sie war schlank, hatte mittellanges Haar, dessen Farbe ich nicht ganz einordnen konnte und ihr Gesicht wirkte total verheult.

„Es ist die Hochzeit von …“

„Chrissie. Ich weiß“, unterbrach sie mich und ich schaute sie verwundert an.

War sie etwa auch auf der Hochzeit gewesen? Die abgetragenen Jeans und das Shirt ließen mich das bezweifeln. Außerdem wäre mir jemand, der so verzweifelt aussah, vermutlich aufgefallen.

„Du kennst sie?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Ich kenne nur ihre Schwester. Saskia.“

Aha. Jetzt war ich auch nicht viel klüger als zuvor. Alles in mir schrie danach, loszulaufen und Hilfe zu holen. Aber eine innere Stimme riet mir, dass das keine gute Idee war.

Was, wenn sie die Zeit nutzte und sich wirklich die Brücke hinunterstürzte? Das konnte ich auf gar keinen Fall riskieren. Ich musste sie am Reden halten.

„Was dagegen, wenn ich näherkomme?“

Misstrauisch sah sie mich an. „Ja. Da hab ich allerdings was gegen. Deinetwegen ist mein Handy weg. Warum verschwindest du nicht einfach und kümmerst dich um deinen eigenen Scheiß?“

Ich schluckte. Ja. Warum eigentlich nicht?

„Vielleicht, weil ich nicht will, dass du dich umbringst?“

Sie lachte freudlos. „Was geht es dich an? Du kennst mich doch überhaupt nicht.“

„Nein. Und wenn du dir zu Hause in deinem Zimmer die Pulsadern aufgeschnitten hättest, dann hätte ich vermutlich nie davon erfahren, aber da du auf der Brücke sitzt, über die ich gerade gehen wollte, hast du dein Problem zu meinem gemacht.“

Mit großen Augen sah sie mich an und schüttelte den Kopf.

„Du verstehst das nicht“, stellte sie resigniert fest. „Mein Leben ist vorbei. Im Eimer. Endgültig vorüber. Es gibt für mich nichts, wofür es sich noch zu leben lohnt.“

„Das glaube ich nicht. Nur weil dein Freund mit dir Schluss gemacht hat, musst du dich doch noch lange nicht umbringen.“

Sie schnaubte verächtlich. „Du glaubst, das wäre der Grund? Du denkst wirklich, dass ich mich umbringen will, weil ich verlassen wurde?“

„Im Moment habe ich eher den Eindruck, dass du springen willst, um dein Handy zu retten.“

Sie warf mir einen bitterbösen Blick zu.

„Du hast ja keine Ahnung.“

„Bitte. Fein. Dann erklär es mir doch.“

Es interessierte mich wirklich, was so Schreckliches passiert sein konnte. Sie antwortete nicht und ich fragte mich, was wohl in ihrem Kopf vorging.

7

Jacky

---ENDE DER LESEPROBE---