Barracuda 945 - Patrick Robinson - E-Book

Barracuda 945 E-Book

Patrick Robinson

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Beschreibung

Der US-Sicherheitsberater Admiral Arnold Morgan muss einen der gefährlichsten Terroristen ausschalten – einen Mann, den die westlichen Militärs selbst ausgebildet haben. Ray Kerman ist der Kopf hinter den brutalen Anschlägen der islamischen Hamas. Jetzt will er mit dem Atom-U-Boot Barracuda 945 die gesamte Ölversorgung der Amerikaner an der Küste Alaskas lahm legen.

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Das Buch

Mitten in der palästinensischen Stadt Hebron verschwindet der britische Major Ray Kerman, einer der besten Soldaten der SAS-Elitetruppe, spurlos. Nur zwei seiner Untergebenen findet man ermordet in der Ruine eines arabischen Hauses. Ist es möglich, dass dieser hochrangige Offizier, aus reichem Elternhaus und in Harrow und Sandhurst erzogen, zu den Feinden der Briten und Amerikaner übergelaufen ist?

Tatsächlich müssen Lt. Jimmy Ramshawe und sein Chef Arnold Morgan, der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, bald feststellen, dass die Aktionen der Hamas neuerdings offenbar von einem militärischen Genie gesteuert werden, das sich jeder Verfolgung entzieht. Es gibt nur einen Verdächtigen: Major Ray Kerman. Doch sie ahnen nicht, dass Kerman einen Plan verfolgt, der die Alpträume des Pentagon wahr werden lassen könnte: Mit einem Atom-U-Boot, der russischen BARRACUDA 945, will er die Ölversorgung der Amerikaner an der Küste Alaskas lahm legen.

Wieder einmal erweist Patrick Robinson sich als einer der Besten seines Genres: Spannung, jede Menge Aktion und eine genaue Kenntnis der modernen Militärtechnologie sind sein Markenzeichen.

Der Autor

Patrick Robinson, geboren in Kent/England, schrieb zahlreiche Sachbücher zum Thema Seefahrt und schaffte mit seinem Aufsehen erregenden Debüt Nimitz Class auf Anhieb den Durchbruch als Romanautor. Mit den folgenden U-Boot-Thrillern, die zu internationalen Erfolgen wurden und alle bei Heyne erschienen sind, konnte er sich im Genre Militärthriller etablieren. Patrick Robinson lebt heute in Irland und den USA.

Außerdem liegen vor: Kilo Class – Tödliche Flut/Scimitar SL-2 – Unter Beschuss/U.S.S. Seawolf – Tödliche Tiefe/U.S.S. Shark

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungPERSONEN DER HANDLUNGPROLOGKAPITEL EINS KAPITEL ZWEI KAPITEL DREI KAPITEL VIER KAPITEL FÜNF KAPITEL SECHS KAPITEL SIEBEN KAPITEL ACHT KAPITEL NEUN KAPITEL ZEHN KAPITEL ELF KAPITEL ZWÖLF KAPITEL DREIZEHN EPILOG DANKSAGUNGCopyright

Dieses Buch widme ich voller Respektmeinem guten Freund Lt. Colonel Oliver Northfür seine Großzügigkeit und Ermutigung,die er mir in all den Jahren zuteil werden ließ.Seine militärischen und weltpolitischen Kenntnissesind so erstaunlich, dass man auf ihn noch öfter hören sollte,als dies sowieso schon der Fall ist.

PERSONEN DER HANDLUNG

Oberste Militärführung

Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (Oberster Befehlshaber der US-Streitkräfte)

Vice-Admiral Arnold Morgan (Nationaler Sicherheitsberater)

Robert »Bob« MacPherson (Verteidigungsminister)

Harcourt Travis (Außenminister)

General Tim Scannell (Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs)

Jack Smith (Energieminister)

National Security Agency, Fort Meade

Rear Admiral George R. Morris (Direktor)

Lt. Commander James Ramshawe (Assistent des Direktors)

Captain Scott Wade (Nachrichtenoffzier)

Oberkommando der U.S. Navy

Admiral Alan Dickson (Chef der Marineoperationen [CNO])

Admiral Dick Greening (Oberbefehlshaber der Pazifikflotte [CINCPACFLT])

Rear Admiral Freddie Curran (Oberbefehlshaber der Unterseebootflotte Pazifik [COMSUBPAC])

Rear Admiral John Bergstrom (Oberbefehlshaber des Special War Command [SPECWARCOM])

Britischer Special Air Service (SAS)

Lt. Colonel Russell Makin (befehlshabender Offizier des 22. SAS-Regiments)

Major Ray Kerman (befehlshabender Offizier des Stützpunkts in Israel)

Sergeant Fred O’Hara (Berater der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte [IDF])

Sergeant Charlie Morgan (Berater der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte [IDF])

Hamas-Terroristen

General Ravi Rashud (Oberbefehlshaber der Angriffstruppe)

Korvettenkapitän Shakira Rashud (Waffenoffizier, Zielerfassung, Barracuda 945)

Kapitän Ben Badr (Kommandant der Barracuda 945)

Korvettenkapitän Ali Akbar Mohtaj (Kommandant der Barracuda II)

Korvettenkapitän Abbas Shafii (Stabsoffizier der iranischen U-Boot-Waffe)

Stabsbootsmann Ali Zahedi (Antriebssystem)

Stabsbootsmann Ardeshir Tikku (Hilfssystem)

Major Ahmed Sabah (Freiheitskämpfer)

Internationale Strategen

Admiral Zhang Yushu (Vizevorsitzender der Volksbefreiungsarmee /Marineausschuss, China)

Admiral Witali Rankow (Oberbefehlshaber der russischen Marine)

Admiral Mohammed Badr (Iranische Marine)

hochrangige Ayatollahs und Hojjats (Iran)

U.S. Navy SEALs

Lt. Commander Bill Peavey (Einsatzleiter)

Lieutenant Patrick Hogan Rougeau (Stellvertretender Einsatzleiter, Führer des Erkundungstrupps)

Lieutenant Brantley Jordan (Einsatzführungsgruppe)

Lieutenant Zane Green (Einsatzführungsgruppe)

Lieutenant Brian Slocum (Einsatzführungsgruppe)

Chief Petty Officer Chris O’Riordan (Kampfschwimmer)

Petty Officer 2nd Class Brian Ingram (Leibwächter von Lt. Rougeau)

Petty Officer Mitch Stetter (Sprengstoffexperte und Assistent von Lt. Commander Peavey)

Petty Officers Joe Little und Tony McQuade (Landungsgebiet, Materialsicherung)

Navy Air Wing

Lt. Commander Steve Ghutzman (COD[Carrier On Delivery]-Pilot)

Verwandte und Bekannte

Kathy O’Brien (Verlobte und persönliche Assistentin von Admiral Morgan)

Mr. und Mrs. Richard Kerman (Eltern von Major Ray Kerman)

Rupert Studley-Bryce, Unterhausmitglied (Schulfreund von Major Kerman)

PROLOG

Sonntag, 19. Februar 1995

Captain Ray Kerman zitterte. Halb erfroren legte er sich auf den eisigen Betonboden der Zelle und wollte sich ausstrecken, tatsächlich rollte er sich aber wie ein Embryo zusammen. Er lechzte nach Wärme. Mit dem Rücken ragte er in eine kalte Lache, in der zehn Zentimeter hoch das Wasser stand. Oder Schlimmeres.

Man hatte ihm die Kapuze abgenommen. Er trug seine Stiefel nicht mehr, nur noch zerschlissene, blutdurchtränkte Socken. Hose und Hemd waren schlammverkrustet, die warme Uniformjacke war konfisziert worden. Die Halluzinationen verstärkten sich, er driftete durch ein Niemandsland irgendwo zwischen Wirklichkeit und Wahnvorstellung. In der eisigen Finsternis der Zelle wusste er nicht einmal mehr zu sagen, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt.

Irgendwo befand sich ein Krug mit Wasser. Aus Angst, er könnte ihn umstoßen, wagte er in der Dunkelheit nicht danach zu tasten. Also verharrte er in seiner Haltung, zusammengekauert, mit ausgedörrtem Mund, am ganzen Körper so sehr von Kälte gepeinigt, dass er glaubte, das Herz werde ihm gefrieren und aufhören zu schlagen.

Irgendwann in der Nacht holten sie ihn, zerrten ihn hoch, schoben ihn durch einen Gang und stießen ihn schließlich in einen Raum. Beide Wärter trugen die Uniform einer osteuropäischen Armee. Sie richteten eine Bogenlichtlampe auf sein Gesicht. Zwei junge Offiziere kamen herein, auch sie in ähnlichen Uniformen. Einer davon packte Ray am Kinn und sagte mit starkem Akzent auf Englisch: »Sie werden uns verraten, was Sie da draußen vorhatten. Falls Sie nicht halb zu Tode geprügelt werden wollen ... Das ist nämlich meine Spezialität – mickrige Schnüffler durch den Fleischwolf zu drehen … Was hatten Sie draußen im Moor zu suchen …?«

»538624. Ich bin Captain Ray Kerman ...« Dienstnummer, Dienstrang und Name.

Der Offizier ging nach hinten und kehrte mit einem hölzernen Schlagstock zurück. »Sehen Sie den? Ein Schlag damit direkt auf den Mund, und Sie werden nie mehr so aussehen wie jetzt.« Er reckte den Knüppel in die Höhe und brüllte: »Sagen Sie es mir, oder ich werde Ihnen Ihre hässliche Fresse polieren ...«

»538624. Captain Ray Kerman ...«

Sie behielten ihn einige Stunden dort und wechselten sich darin ab, ihn zu bedrohen oder mit ihm zu verhandeln. Drohten, seine Gefährten umzubringen, ihn zu zwanzig Jahren Gefängnis zu verurteilen. Wollten erfahren, was er über die Abtei wusste.

Schließlich zerrten sie ihn in die Zelle zurück, fesselten ihn und stülpten ihm die Kapuze über. Später hörte er Schritte, dann die unmissverständlichen Laute eines Mannes, der geschlagen wurde, Geräusche von Fäusten, die auf ein Gesicht eindroschen. Das dumpfe Krachen von Stiefeln, die in einen menschlichen Körper gerammt wurden. Stöhnen, Schreie, schreckliche Schreie, eine flehende Stimme. Bitte nicht … Bitte nicht … Bitte nicht.

Dann stieß jemand die Tür zu seiner Zelle auf. Er wurde gepackt, die Kapuze wurde abgenommen, jemand griff ihm fest und hart in die Haare. »So, jetzt versuchen wir es mal anders.«

Die Schreie im Gang wurden lauter. Der Unsichtbare bettelte weiterhin darum, nicht mehr geschlagen zu werden.

»538624. Captain Ray Kerman ...«

Sie hielten ihn die gesamte Nacht über wach, überschütteten ihn mit Fragen, forderten, drohten, immer wieder Drohungen. Der Offizier von zuvor schritt mit seinem Schlagstock auf und ab. Ein weiterer Offizier erschien mit einer Reitgerte. Sie gaben ihm Wasser, sonst nichts.

Sie drohten damit, Andy zu foltern. Sie sagten ihm, dass das aber eigentlich gar nicht mehr nötig sei, weil Charlie sowieso schon zusammengebrochen sei und ihnen alles erzählt habe. Sie wollten nur, dass er als Offizier alles bestätigte. Nur die Einzelheiten zu ihrem Einsatz im Moor.

»538624. Captain Ray Kerman ...«

Am Morgen brachten sie ihn in die Zelle zurück. Gaben ihm altbackenes Brot. Dann weckten sie ihn in halbstündigen Abständen, kamen insgesamt vierunddreißig Mal in seine Zelle. Und dann, um Mitternacht herum, beschallten sie seine Zelle mit ohrenbetäubender Musik, hämmerndem Rock. Ray steckte sich die Finger in die Ohren.

Sie brachten ihn in eine andere Zelle, stießen, schleiften ihn in einen Keller hinab, in dem das gefrierende Wasser noch höher stand. Dort ließen sie ihn liegen, zwei Stunden lang gestatteten sie ihm einen unruhigen Schlaf, dann wurde er wieder hinausgeschafft. Sie gossen einen Kübel eiskalten Wassers über ihn und schleppten ihn in den Verhörraum. Ray zitterte am ganzen Leib.

Diesmal waren vier Lampen auf sein Gesicht gerichtet. Zwei Männer standen vor ihm, einer gab sich unterwürfig, verständnisvoll, bereit zum Verhandeln. Der andere war rücksichtslos brutal, einschüchternd, Gewalt und Folter androhend. Immer wieder packte er Ray am Kinn, stierte ihm in die Augen, beleidigte ihn, schrie ihn an.

Und Ray sagte: »538624. Captain Ray Kerman ...«

Er wusste nicht mehr, ob es Nacht oder Tag war. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er wusste nicht mehr, welcher Tag war, wo er sich befand, ob er überhaupt noch er selbst war. Seiner Würde, der meisten Kleidung beraubt, ausgehungert, vor Kälte zitternd, ohne Kontrolle über seine Worte und Handlungen, wusste er nur noch, dass er sich am Rand des Zusammenbruchs befand.

Alles, was er noch besaß, war seine Unnachgiebigkeit. Seine halsstarrige, eigensinnige Unnachgiebigkeit. Die konnten sie ihm nicht nehmen. Aber sie versuchten es. Sie führten ihn zum Verhörraum. Schrien und brüllten, brachten ihn zurück in den Keller, stießen ihn ins Wasser, das jetzt seltsamerweise noch tiefer zu sein schien. Es gab keinen einzigen trockenen Fleck. So lag er nur da, zitterte, versuchte zu schlafen und die Schreie der Gefolterten nicht zu hören, die sich nun in seine Träume schlichen.

Er glaubte, es sei Nacht, als die beiden, die ihn verhört hatten, die Treppe herabpolterten und die Tür aufstießen. Aber er war sich da nicht sicher. Sie hievten ihn auf die Beine, schleiften ihn die Treppe hinauf und streiften ihm dann die Kapuze ab. Vor ihm stand der befehlshabende Offizier, der jetzt eine andere, frisch gebügelte Uniform trug.

Halluzinierend, instinktiv, ohne zu wissen, ob er sich in der Wirklichkeit oder in einem Traum befand, sagte er: »538624. Captain Ray Kerman ...«

Zu seiner Überraschung streckte ihm der Offizier die Hand entgegen. »Hallo, Ray«, sagte er. »Willkommen beim SAS ... Stell doch mal einer dieses verdammte Tonband draußen ab. – Na dann, Ray, gehen wir in die Offiziersmesse. Es ist fünf Uhr morgens. Sie können sich duschen, etwas frühstücken und dann den Tag durchschlafen. Wir haben auch eine saubere Uniform für Sie bereitgelegt. Ich dachte mir, wir fliegen am Spätnachmittag dann nach Hereford zurück. Sie haben sich sehr gut geschlagen, wirklich sehr gut. Allerdings muss ich mit Bedauern sagen, dass es diesmal kein besonders guter Jahrgang war – von den achtzig Bewerbern haben es nur fünf geschafft.«

»Kenne ich einen davon?«

»Ja, den jungen Offizier von den Fallschirmjägern, Lieutenant James. Und den Corporal, mit dem Sie im Moor waren, Charlie Rider … Eine ganze Reihe der Jungs sind uns verloren gegangen, als wir sie, am Jeep festgebunden, durchs Moor geschleift haben. Ihr anderer Kumpel, der Sergeant, Bob heißt er wohl, der ist vor etwa zwei Stunden während des Verhörs eingeknickt.«

»Mein Gott, Sie verstehen es wirklich, einen durch die Hölle zu schicken …«

»Wir wissen eben genau, was wir wollen. Und es hat auch nie einer behauptet, dass das Ganze hier ein Zuckerschlecken ist.«

»Nein, Sir ... das nicht.«

Montag, 20. Februar 1995, 10 Uhr Büro des befehlshabenden Offiziers Stirling Lines, Hereford

Captain Ray Kerman stand in Habachtstellung vor Lieutenant Colonel Russell Makin, dem Kommandeur des 22. SAS-Regiments. »Es ist mir eine große Freude, Sie in unserem Regiment willkommen zu heißen, Captain Kerman. Ihrem Dienstzeugnis entnehme ich, dass Sie vor einigen Jahren in Sandhurst mit dem Sword ausgezeichnet wurden. Sie sind es also gewohnt, sich hervorzutun. Ich bin mir sicher, dass sich hier im Special Air Service zahlreiche Gelegenheiten ergeben werden, bei denen Sie Ihre offensichtlichen Talente unter Beweis stellen können.«

»Danke, Sir.«

»Aus Ihrer Ausbildung und der Spezialschulung wissen Sie, was wir verlangen. Ich hoffe, es beruhigt Sie zu wissen, dass Sie hier keinem begegnen werden, der das nicht ebenfalls durchgemacht hat. Wir sind mit anderen Regimentern nicht zu vergleichen – wenn zum Aufbruch geblasen wird, werden Sie feststellen, dass Sie mit den hervorragendsten Vertretern unserer Zunft zusammenarbeiten.«

»Ja, Sir. Dessen bin ich mir sicher.«

Der Colonel trat vor und überreichte Captain Ray Kerman das begehrte beigefarbene Barett des SAS. An der Vorderseite befand sich das Stoffabzeichen des Regiments, ein geflügelter Degen. Darunter standen die Worte: »Wer wagt, gewinnt.«

So wurde Captain Raymond Kerman an jenem Montagmorgen, vier Minuten nach zehn Uhr, in eine der beiden besten militärischen Eliteeinheiten der Welt aufgenommen. Von der anderen Einheit, den U.S. Navy SEALs, hielten sich zu dem Zeitpunkt, als Ray zum ersten Mal das Barett aufsetzte, vier Mitglieder in Hereford auf.

Er salutierte dem Colonel, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Niemand sonst war bei dieser kleinen Zeremonie anwesend, und nur jene, die im SAS gedient hatten, wussten um deren Bedeutung – aber die Seele eines Soldaten war ein strenger Zuchtmeister, und auf Ray Kermans Gesicht lag ein Lächeln.

KAPITEL EINS

Mittwoch, 12. Mai 2004, 1900 SAS-Ausbildungslager (Terroristenbekämpfung) südliches Israel (Ort: GEHEIM)

Major Ray Kerman starrte nach Westen in Richtung der Wüstenstadt Beersheba. Trotz des Windes, der hier immer blies, und obwohl die Sonne bereits unterging, flirrte am Fuß der Dimona-Berge noch immer die aufsteigende Hitze. Beduinenkamele zogen, keine hundert Meter vom SAS-Stützpunkt entfernt, in einer langen Reihe über die Sanddünen zur letzten Oase nördlich des Flusses.

Die lang gezogenen Schatten der Karawane erstreckten sich fast bis zu Ray Kerman. Er beobachtete die Männer mit ihren schwarzen, um den Kopf geschlagenen Tüchern. Ihre Silhouetten schwankten im unermüdlichen Rhythmus der Kamele, deren breite Hufe auf dem weichen Wüstenboden kein Geräusch von sich gaben. Die Nomaden der Negevwüste wandten sich weder nach rechts noch nach links, schienen nichts wahrzunehmen, schon gar nicht den dunkelhäutigen, breitschultrigen Armeeoffizier in der israelischen Uniform. Ray jedoch spürte ihre harten, finsteren Blicke, er verstand, dass er für die Beduinen der West Bank immer ein Eindringling sein würde.

Auf dem Beduinenmarkt in Beersheba allerdings hatte er sie anders kennen gelernt. Oft genug wurde dort dem mutmaßlichen Käufer voller Freundschaft die Hand gereicht. Sein Sergeant allerdings, Fred O’Hara, hatte gemeint, »diese Kerle würden auch mit Moshe Dayan knutschen, wenn sie glauben würden, sie könnten ihm dann eine ihrer verschrumpelten Karotten verhökern«.

Ray hatte ein anderes Bild von ihnen. Vor seinem ersten Einsatz im Nahen Osten hatte er die Werke des bedeutenden Arabisten Wilfred Thesiger gelesen. Als er schließlich in der israelischen Wüste ankam, empfand er eine unausgesprochene Bewunderung für diese edlen Wilden der weiten, heißen, nahezu leeren Negevwüste … Männer, die, falls nötig, sieben Tage lang ohne Lebensmittel oder Wasser auskommen konnten, denen die erbarmungslose Sonne ebenso wenig ausmachte wie die eisigen Winternächte. Männer, die die fürchterlichsten Entbehrungen auf sich nehmen konnten und dennoch unbeugsam ihren Platz behaupteten. Männer, die den Tod nur dann akzeptierten, wenn die Kamele unter ihnen zusammenbrachen.

Der englische Offizier hatte den ersten Stammesangehörigen nicht vergessen, dem er in Beersheba begegnet war, einen großen, in einen Umhang gehüllten Nomaden, der auf dem Markt Schafe und Ziegen verkaufte. Nachdem er Ray vorgestellt worden war, hatte er ihm wortlos und eindringlich in die Augen geblickt.

Schließlich hatte er die Stirn berührt und daraufhin die Hand in einer anmutigen, ausladenden Bewegung, der traditionellen moslemischen Begrüßung, nach unten geführt. Mit sanfter Stimme hatte er gesagt: »As-salamu alaikum, Major. Friede sei mit dir. Ich bin Rashid. Ich bin Beduine.«

In diesem Augenblick verstand Ray Kerman, was Wilfred Thesiger meinte, als er von der Höflichkeit der Beduinen, ihrem Mut, ihrer Ausdauer, Geduld und unbekümmerten Tapferkeit sprach. »Unter keinem anderen Volk«, hatte Thesiger geschrieben, »habe ich das Gefühl erfahren, selbst so minderwertig zu sein.«

Ray verstand es als hohes Lob. Thesiger war nicht nur einer der beiden Weißen, die jemals die mörderische Reise durch die sengende Ödnis des südöstlichen Abschnitts der Arabischen Halbinsel überstanden hatten, er hatte an der Universität Oxford auch einen Boxing Blue gewonnen und während des Krieges im SAS gedient. Aufschlussreicher war jedoch die Tatsache, dass der knorrige, stahlharte Thesiger in Eton unterrichtet worden war, der Privatschule für die Oberschicht Englands, einem Ort, der in 560 Jahren keinen Schüler hervorgebracht hatte, der sich einem anderen, und schon gar keinem Kameltreiber, persönlich unterlegen gefühlt hätte. Ray kannte die Absolventen von Eton. Er selbst hatte Harrow besucht, das in Konkurrenz zu Eton stand und wo sich vor allem »Emporkömmlinge« einfanden; es wurde 1571 unter der Herrschaft der ersten protestantischen Königin, Elisabeth I., als protestantisches College gegründet und war auch die Alma Mater von Sir Winston Churchill gewesen.

Ray beobachtete weiterhin die Kamelkarawane, die nach Westen zog, hinein in die Sanddünen, in die Stille. Sie würden die Nacht in der Oase verbringen, bevor sie mit dem ersten Tageslicht zum Markt zogen. In der rechten Hand hielt er seine Maschinenpistole, eine Heckler & Koch, deren Lauf nach unten zeigte, und mit einem Kopfschütteln quittierte er seinen nächtlichen Einsatz.

Im Stillen dachte er für sich: »Hoffentlich kommt es nicht dazu, dass ich einen von ihnen erschießen muss. Vielleicht hätte ich dieses Kommando doch nicht übernehmen sollen.«

Trotz seiner glänzenden SAS-Karriere und seines vermeintlich jüdischen Nachnamens, dem er nun einmal nicht entrinnen konnte, war Major Kerman nicht der, der er zu sein schien. Seine Eltern waren iranische Moslems, die von arabischen Nomaden aus der im Süden des Landes, am Rand der weiten Wüste Dasht-e Lut gelegenen Stadt Kerman abstammten.

Als jedoch Mitte der Siebzigerjahre der Sturz des herrschenden Schahs unausweichlich erschien, war das wohlhabende Ehepaar mit seinem Sohn Ravi nach London emigriert. Von dort aus begannen sie mit dem Import der Teppiche, die in Familienbesitz befindliche Webereien und Knüpfereien in ihrer Heimatstadt herstellten.

Der Boom der britischen Wirtschaft unter Premierministerin Margaret Thatcher kam der Familie zugute. Aus Mr. und Mrs. Reza Rashud wurden schnell Mr. und Mrs. Richard Kerman. Wie viele Familien aus dem Mittleren Osten, die in der Fremde lebten, nannten auch sie sich nach ihrer alten Heimatstadt.

Während Dutzende von Stammesangehörigen in den Bergregionen nördlich von Bandar Abbas die herrlichen Muster webten und knüpften, eröffnete Richard Kerman in Südengland eine Warenhauskette und investierte in eine kleine Schifffahrtslinie, die die wertvollen Woll- und Seidenvorleger über den Suezkanal und weiter durch das Mittelmeer nach Southampton transportierte.

Zu den Frachtern kamen bald Öltanker, was dann auch zu den riesigen Gewinnen führte, die während der Achtzigerjahre nicht ungewöhnlich waren. Der Erfolg mit den iranischen Teppichen verhalf ihm dazu, sein Import-Imperium zu erweitern. Er hielt sich jedoch an die Dinge, von denen er etwas verstand, und so verschiffte er in Bandar Abbas erstklassige iranische Datteln, Tonnen über Tonnen, die alle aus der von Bäumen gesäumten, im 12. Jahrhundert angelegten Zitadelle Bam in der Provinz Kerman kamen. Die meisten dieser Datteln wurden von seinen Rashud-Verwandten kultiviert.

Es dauerte nicht lange, bis die Kermans ein nobles Giebelhaus im Norden Londons, in der für ihre vermögenden Anwohner berühmten Bishop’s Avenue besaßen, gleich neben der alten kambodschanischen Botschaft.

In der Garage standen zwei Rolls Royce Silver Ghost. Nicht weit von ihrem Wohnsitz entfernt, neunzig Kilometer auf der M4 in Richtung Westen, im Berkshire-Dorf Lambourn, wurden sechs edle Vollblüter trainiert, die in den Sommermonaten unter Richard Kermans schwarzen und scharlachroten Farben bei Flachrennen antraten.

Der junge Ravi, der in den heißen, staubigen Straßen seiner in der Wüste gelegenen Heimatstadt mit ihrem Gewimmel und Gedränge das Licht der Welt erblickt hatte, wurde in Raymond umbenannt.

Nach sechs Jahren Vorbereitungsschule in einer der teuersten privaten Ausbildungsstätten Londons erhielt Raymond Kerman einen britischen Pass und wurde im Alter von dreizehn Jahren in Harrow aufgenommen, der zweitbesten Privatschule des Landes, wie sogar Eton-Absolventen zugeben mussten. Außerdem war Harrow seit langem die bevorzugte Lehranstalt für die Söhne der Herrscherfamilien aus dem Mittleren Osten.

Auf dem Anmeldeformular hatte Richard Kerman die Konfession des Jungen als anglikanisch angegeben. In das Feld für den Geburtsort stand Hampstead, London. Eine offizielle Geburtsurkunde war nicht verlangt worden. Nichts wies darauf hin, dass Raymond Kerman in Wirklichkeit Ravi Rashud war, geboren im Südosten des Irans. Richard Kerman vertrat die Ansicht, dass es in England nicht besonders vernünftig sei, von der Mehrheit abzuweichen. Die aristokratische Oberschicht der Londoner Society hätte dies auch als geradezu beängstigend empfunden.

Als der junge Ray nach Harrow kam, glaubte man, er habe alles, was er je über die Religion des Islams gewusste hatte, vergessen. Was sogar zutraf. Mehr oder weniger. Seine Mutter nämlich, geborene Naz Allam, war sehr viel gläubiger als ihr Ehemann. Sie hatte Ravi im Alter von etwa sieben Jahren zu einer Reihe privater Unterrichtsstunden bei einem führenden Imam in einer Nordlondoner Moschee geschickt. Still hatte sie neben ihm gesessen, während er die vereinfachten Grundzüge des Korans kennen lernte, die in 114 Suren ausgearbeiteten Offenbarungen Gottes an seinen Propheten Mohammed.

Kurz bevor Ray in die Vorbereitungsschule in Knightsbridge eintrat, fanden diese Stunden und damit seine moslemische Ausbildung ihr Ende. Und Richard Kerman achtete darauf, dass dies auch so blieb. Später nahm sein Sohn Ray mit der großen Mehrheit an der Schule, die sich zur Kirche von England bekannte, an allen Gottesdiensten in Harrow teil. Mit den kleinen Minderheitengruppen, deren Eltern – Katholiken, Moslems oder Juden – darauf bestanden, dass ihre Sprösslinge ihrer Konfession treu blieben, hatte er nie etwas zu schaffen.

Hinter den Mauern der großen Schule wurde gemutmaßt, dass Ray Kerman vielleicht einen jüdischen Großvater hatte. Doch da in Harrow niemand wegen seiner Hautfarbe oder Herkunft diskriminiert wurde, war er niemals danach gefragt worden. Außerdem zählte Ray zu den härtesten Jungs in der Geschichte dieser Lehranstalt, er war ein knallharter Pitcher in der Cricketmannschaft und ein vor Kraft strotzender Stürmer im Rugbyteam der Schule, dessen Kapitän er auch war. Jungs wie ihm wurden niemals Fragen gestellt.

Der Antrag für ein Stipendium an der Royal Military Academy in Sandhurst wurde von seinem Schulleiter aufgrund der Schülerakte ausgefüllt. Und so trat Ray, ohne dass auch nur die leiseste Spur auf seine ursprüngliche Herkunft hingedeutet hätte, in die britische Armee ein. Sein vom Schulleiter in Harrow persönlich verfasstes und unterzeichnetes Zeugnis war so beeindruckend, dass man ihn, so unglaublich es auch klingen mochte, nie um eine offizielle Geburtsurkunde gebeten hatte.

Er war nun 2nd Lieutenant Raymond Kerman, der Beste seines Jahrgangs an der Academy, ein herausragender Sportler in Harrow, der Sohn von wohlhabenden, bekannten Nordlondoner Eltern, zukünftiger Erbe der Kerman-Schifffahrtsgesellschaft. Religion: Kirche von England.

Sein erstes Regiment waren die Devon and Dorsets, eine Infanterieeinheit, deren Soldaten traditionell aus dem Südwesten Englands einberufen wurden. Von dort gelangte er zum SAS, kämpfte sich durch den erbarmungslosen Ausleseprozess, bevor er vier Jahre lang in der Armee diente, im Kosovo dabei war und im darauf folgenden Jahr an einem SAS-Rettungseinsatz in Sierra Leone teilnahm, für den er mit der begehrten Queen’s Gallantry Medal ausgezeichnet wurde.

Als Captain Kerman kehrte er zu seinem Regiment zurück, galt dort als anerkannter »harter« SAS-Mann, Experte im Nahkampf, vertraut im Umgang mit Sprengstoffen und der Satellitenkommunikation. Er war ausgebildet im Straßenkampf, kannte sich mit Navigation, mit Taktik und Strategie aus, wusste mit Kurzstreckenraketen umzugehen und war Fachmann für SAS-Sondertransporte in allen Geländeformen. Das Eindringen in feindliche Stellungen gehörte ebenfalls zu seiner Spezialität. An der geheimen Sprachenschule der Armee in Buckinghamshire hatte er Arabisch gelernt. Er war 34 Jahre alt und noch nicht verheiratet.

Im Jahr 2004 wurde Ray Kerman zu einem zweiten Einsatz für den SAS einberufen. Er befehligte ein kleines SAS-Team, das Mitglieder der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) im Kampf gegen Terroristen unterweisen sollte. Die als streng geheim eingestufte Operation wurde von der israelischen Regierung finanziert. Zu Rays Team gehörten sechs höherrangige Unteroffiziere, von denen jeder eine beachtliche militärische Erfahrung mitbrachte.

Eine Woche bevor sie Hereford verließen, um ihre Reise zum nirgends ausgewiesenen Armeestützpunkt in der Negevwüste anzutreten, wurde Captain Kerman zum befehlshabenden Offizier des SAS befohlen. Dort eröffnete man ihm, dass ihn der Verteidigungsminister durch einen Sondererlass zum Major befördert habe. »Ich darf sagen, wir sind darüber sehr erfreut«, sagte ihm der befehlshabende Offizier. »Sie haben es sich redlich verdient.«

Zu diesem Zeitpunkt genoss Ray Kerman bereits einen außerordentlichen Ruf in diesem außerordentlichen Regiment. Nun befand er sich seit einigen Wochen in der Wüste, wo er die meiste Zeit auf dem von Stacheldraht umzäunten, getarnten SAS-Gelände zugebracht hatte, zwischen deren eigens errichteten Straßenzügen die Israelis auf den Häuserkampf vorbereitet wurden.

Der SAS genießt bei der israelischen Armee einen hervorragenden Ruf, und Major Kerman, ein ernster, unerbittlicher Offizier, betrieb sein raues Geschäft mit tödlichem Ernst. Er war nicht besonders beliebt, doch erwarb er sich schnell ein gehöriges Maß an Respekt. Wie seinem Vater fehlte es ihm meist völlig an Humor, und wie dieser ging er seinem gewähltem Beruf unbarmherzig und kompromisslos nach. Diese Haltung versuchte er auch den israelischen Rekruten einzubläuen. Er ließ sie an ihre Grenzen gehen, zwang sie zu körperlichen Höchstleistungen, feuerte und trieb sie an und hämmerte ihnen das SAS-Motto ein: »Harte Ausbildung, leichter Kampf.«

Nur selten besuchte er die nahe gelegenen Wüstenstädte, Beersheba im Osten und einige Kilometer weiter nördlich Hebron, Unruheherd und Schauplatz so vieler blutiger israelisch-arabischer Zusammenstöße und zugleich die Grabesstätte von Abraham, Isaak und Jakob.

Der heilige Status, den diese Stadt in den Schriften der Juden, Moslems und Christen einnahm, hatte die nur allzu leicht entflammbaren Konflikte zwischen dem palästinischen und israelischen Bevölkerungsteil zusätzlich angeheizt. Bereits 1929 hatten moslemische Extremisten unter der jüdischen Minderheit in Hebron ein Massaker veranstaltet. Seitdem trugen beide Seiten zu dem endlosen Blutvergießen bei. 1994 erschoss ein jüdischer Extremist dreißig moslemische Gläubige. Auch nach 1997, als der Westteil der Stadt (H-1) zu einer palästinensisch kontrollierten autonomen Zone wurde, hatte sich nicht viel verändert. Unruhen und harte militärische Restriktionen beherrschten weiterhin die letzte Ruhestätte Abrahams.

Bei seinem ersten Besuch im alten Hebron war Ray zum ersten Mal in engen Kontakt mit der arabischen Bevölkerung gekommen. Er war in Begleitung seines groß gewachsenen, rothaarigen irischen Sergeants Fred O’Hara durch das Gassengewirr der Altstadt, der Kasbah, geschlendert, hatte den palästinischen Händlern zugesehen, den Männern in Umhängen, die Olivenholz schnitzten, den Glasbläsern, die das berühmte Buntglas der Stadt herstellten, den Obst- und Gemüseverkäufern. Ray und Fred hatten Zivilkleidung getragen und sich bemüht, wie Touristen auszusehen; sie hatten aus einer Tüte die blassen, süßen Pfirsiche aus Hebron gegessen, die als die besten der Welt galten.

In Wirklichkeit waren sie allerdings dienstlich unterwegs. Die beiden SAS-Männer versuchten sich mit dem Grundriss der Stadt vertraut zu machen. Wie so oft gab es Gerüchte, dass die Palästinenser Waffen und Material zur Sprengstoffherstellung horteten. Ray hatte einen Reiseführer dabei, den er den gesamten Nachmittag über sorgfältig mit Notizen voll kritzelte.

Natürlich wurde dem Major bewusst, dass er in einer ähnlichen Stadt geboren war, einer, die zwar nicht auf ein ähnlich reiches kulturelles Erbe zurückblicken konnte, aber eben auch am Rand einer großen Wüste lag; in der Menschen lebten, die Kaftans trugen und moslemischen Glaubens waren. Wie die Araber in Hebron musste sich auch sein Volk auf einem ähnlich heißen, staubigen Marktplatz abgemüht haben, um sich den dürftigen Lebensunterhalt zu verdienen. Er fragte sich, ob nicht tief in seinem Unbewussten die Erinnerung an einen anderen, ähnlichen Ort schlummerte, an dem er als Kind, als Ravi Rashud, Pfirsiche gegessen hatte und mit seiner Mutter Naz, die ihren langen schwarzen Tschador trug, durch die Straßen geschlendert war.

Die Jahre in London allerdings, die englischen Schulen, die Offiziersmessen, die westliche Kultur hatten das, was von seiner frühesten Kindheit noch vorhanden war, tief unter sich begraben. Er war Major Ray Kerman, und die Araber waren Fremde für ihn. Ihre Nähe allerdings weckte in ihm die Erinnerung an Geschichten, die ihm der bärtige Saudi in der Nordlondoner Moschee vor mehr als zwanzig Jahren erzählt hatte. An einige konnte er sich noch deutlich erinnern, insbesondere eine war ihm im Gedächtnis haften geblieben. Sie stammte aus dem Koran, eine Stelle, die auswendig zu lernen der Imam ihm aufgetragen hatte:

Haltet am Seil Allahs fest und lasst nicht los davon und seid eingedenk der Wohltaten, die euch Allah schenkt. Ihr wart Feinde, er aber vereinigte eure Herzen, und ihr seid, durch seine Gnade, Brüder geworden …

Er vermutete, dass all die bärtigen Männer in ihren langen Gewändern um ihn herum diese Worte ebenfalls kannten. Ein Gedanke, bei dem er sich ein bisschen unbehaglich fühlte. Darüber hinaus gab es noch etwas, was ihn von den anderen englischen Touristen unterschied. In den Straßen dieser Stadt überkam ihn ein unverwechselbares Deja-vu-Erlebnis. Er konnte sich nicht erinnern, jemals Häuser wie diese gesehen zu haben, die Symmetrie ihrer flachen Dächer, die Bogengänge, die unglaublich schmalen Gassen. Und dennoch kamen ihm die gelblichen Ziegel, das durch den abbröckelnden Verputz freigelegte Mauerwerk der Gebäude seltsam vertraut vor.

Ray war sich dieses Gefühls, schon einmal hier gewesen zu sein, nur undeutlich bewusst und verbannte es aus seinen Gedanken. Mit Fred sprach er über ihre Beobachtungen zu möglichen Standorten für Heckenschützen, die zweifellos auftauchen würden, sobald die Israelis die palästinischen Stadtteile abzuriegeln und zu durchkämmen begannen.

Daneben plauderten beide mit Arabern, vor allem Ray vertiefte sich in ein Gespräch mit einem jungen Mann etwa Mitte zwanzig, der Ziegen verkaufte. Er war ganz offensichtlich ein Beduine. Ray mochte ihn, ihm gefiel seine sanfte, höfliche Stimme, als er erzählte, dass er mit seinen Kamelen und seinen Herden bald wieder nach Osten in die Wüste und die bevorstehende sengende Sommerhitze zurückmusste – gelassen würde er sich ins Unvermeidliche fügen. Ray konnte sich vorstellen, dass der Beduine einen halbwegs passablen SAS-Soldaten abgegeben hätte.

Am Spätnachmittag überquerten er und Fred die Al-Shuhada-Straße in der Nähe des alten Busbahnhofs und traten vom großen palästinischen Teil der Stadt (H-1) in den von den Israelis besetzten Teil (H-2) über. Von dort gingen sie über den Markt, der südlich der kleinen israelischen Ansiedlung am Rand der Altstadt lag, zur großartigen Anlage des Grabs der Patriarchen, wo Abraham und seine Familie bestattet lagen.

Aus Rays Reiseführer erfuhren sie, dass hier, an diesem Ort, Abraham von Gott seine Vaterrolle für das jüdische Volk übertragen bekommen hatte. Doch nicht nur Abraham, Isaak und Jakob lagen hier begraben, sondern vermutlich auch alle zwölf Söhne Jakobs und vielleicht, wer weiß, sogar Adam und Eva.

Unterhalb des heiligen Ortes, auf dem rauen, sandigen Gelände, spürte Ray, wie Unruhe in ihm aufkam. Er stand neben einer Gruppe von sieben Arabern, die alle schwarze Gewänder trugen, und wie diese blickte er auf den Wall des wuchtigen Grabbaus und hatte dabei das Gefühl, dieses Gebäude oder einen Bau, der ihm sehr ähnlich war, bereits einmal gesehen zu haben.

Sein Herzschlag beschleunigte sich, während er sich bemühte, den Ort, die Zeit, die Umstände in Erinnerung zu rufen. Er war in seinem bisherigen Leben dem Ort Hebron noch nicht einmal auf tausend Kilometer nahe gekommen. Dennoch gab es in den abgeschiedenen Winkeln seines Gedächtnisses Bilder, die Erinnerung an einen langen, überdachten Basar voller Händler, in einem fernen Land. Zudem das Bild eines Gebäudes, eines riesigen, aus gelbem Stein errichteten Bauwerks. Er konnte es vom Basar aus sehen. Daran erinnerte er sich.

Die Einzelheiten allerdings entzogen sich ihm – in seinem Gedächtnis fanden sich auch keine genauen Bilder der Gegend, in der er aufgewachsen war, des Bazar-e Vakil mit seinem überwölbten unterirdischen Teehaus, wo er zusammen mit seinen Eltern häufig Süßgebäck gegessen hatte. Das Grab der Patriarchen spukte ihm durch den Kopf und versuchte das Bild der hoch aufragenden Masjed-e Jame wachzurufen. Doch die Moschee, das größte Gebäude in der Stadt Kerman, blieb im Nebel verborgen. Seine Mutter hatte ihn oft um dieses Gebäude herumgetragen, das an derselben Straße lag, in der sie wohnten. Doch auch dieser Teil war verschwunden, genau wie sein Name und seine Vergangenheit.

»Wo sind Sie mit Ihren Gedanken, Sir?«, sagte Sergeant O’Hara. »Überlegen Sie, reinzugehen?«

Major Kerman schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, Fred«, sagte er. »Wir sollten zurückfahren. Geben Sie dem Fahrer Bescheid. Sagen Sie ihm, wir befinden uns an der Südseite des Grabs, gleich in der Nähe des Haupteingangs.« Fred entfernte sich sofort einige Schritte von den Arabern, wählte die Nummer und gab dem israelischen Corporal knappe Anweisungen.

Major Kerman war allein mit seinen Gedanken, die er für sich behielt; sie blieben sein Geheimnis. Was wohl auch besser so war, weil er sich in diesem Augenblick nämlich Fragen stellte, die bei seinen SAS-Kollegen nicht unbedingt auf große Begeisterung gestoßen wären – und schon gar nicht in der Bishop’s Avenue, Hausnummer 86.

Warum bewundere ich diese Menschen so sehr? Liegt das nur am Einfluss von Wilfred Thesiger? Oder ist da etwas in mir, was ich nicht verstehe? Warum fühle ich mich hier in der Wüste so zu Hause?

Und zum ersten Mal in seinem Lebestellte er sich die nicht ganz ungefährliche Frage: Wer um Teufel bin ich? Bin ich hier, inmitten der letzten noch lebenden Beduinen des Negev, unter meinem eigenen Volk?

An jenem Abend gab Major Kerman um 22 Uhr die letzten Anweisungen an das SAS-Team, das sich kurz darauf in einem israelischen Armee-Helikopter zu seinen Einsatzorten auf den Weg machen würde.

»Wie Sie alle wissen«, sagte er, »ist die Situation in Israel äußerst angespannt. Die Regierung steht unter immensem Druck seitens der USA, der UN und der europäischen Staaten, den Friedensprozess mit der palästinensischen Führung wiederaufleben zu lassen und sich zu einem dauerhaften Waffenstillstand mit der arabischen Welt zu verpflichten. Wir wissen, dass das verdammt schwierig ist. In meinen Augen hat sich die israelische Regierung bislang in Zurückhaltung geübt, trotz der wiederholten Gewalttaten durch Terrororganisationen wie der Hamas und des Islamischen Dschihad. Die jüngsten Attentate und Selbstmordanschläge gegen das israelische Volk in Jerusalem und Tel Aviv gehen auf das Konto von Gruppen, deren strategisches Ziel die völlige Vernichtung des Staates Israel ist. Hier kommen wir ins Spiel. Deshalb sind wir hier.«

Ray hielt kurz inne und schritt zu einer großen Karte, auf der die unmittelbare Umgebung Hebrons zu sehen war.

»Auf ausdrücklichem Wunsch der israelischen Regierung werden die IDF heute Abend eine koordinierte Militärintervention in die Wege leiten, eine groß angelegte Operation, bei der mehrere von Palästinensern besetzte Städte in der West Bank und in Gaza abgeriegelt und durchsucht werden. Es handelt sich dabei um die ›A-Gebiete‹, die wir bereits besprochen haben. Unser Ziel ist klar: Terroristenführer aufspüren und ihre Waffen- und Sprengstoffarsenale beschlagnahmen.

Dabei sollten wir uns keine Illusionen machen, dass dieses Ziel einfach und sauber zu erreichen ist. Ganz im Gegenteil, es wird eine ziemlich unschöne, vielleicht sogar eine äußerst schmutzige Angelegenheit. Angesichts unserer zahlenmäßigen Überlegenheit wird sie trotzdem erfolgreich verlaufen. Außerdem ist die israelische Regierung davon überzeugt, dass andere arabische Staaten den Palästinensern militärisch nicht zu Hilfe eilen werden, vor allem nicht in der kurzen Zeitspanne, die für die Operation vorgesehen ist.

Vergessen Sie nicht, unsere Rolle ist ganz klar festgelegt: Wir unterstützen und beraten die Israelis. Die meisten ihrer Kommandanten wurden von uns ausgebildet, sie wissen also, was zu tun ist. Dennoch müssen wir auf der Hut bleiben und ständig bereit sein, ihnen beratend zur Seite zu stehen – vielleicht auch an vorderster Front, wo immer es nötig ist. Alle SAS-Angehörigen werden IDF-Kampfuniformen und -Helme tragen, allerdings ohne Abzeichen. Sie haben Ihre persönliche Waffe bei sich, Ihre HK MP 5, die einzig und allein zu Ihrem eigenen Schutz dient. Sie werden Sie nur im äußersten Notfall einsetzen.«

Ray Kerman war sich nur allzu bewusst, dass die Operation eine nervenaufreibende Angelegenheit werden würde. In Hebron herrschte in diesen Tagen eine aufgeheizte Atmosphäre. Der kleinste Zwischenfall konnte zu einer gewaltigen Explosion führen. Er hatte nicht die geringste Lust, irgendeinen seiner besten Männer bei einer sinnlosen Schießerei in den staubigen Straßen der West Bank zu verlieren. Immer und immer wieder hatte er sie davor gewarnt.

»Es würde an ein verdammtes Wunder grenzen, wenn wir die Sache hinter uns bringen, ohne dass dabei einer durchdreht«, sagte er. »Aber das wird keinem von uns geschehen. Jeder von uns ist einem israelischen Verband zugeordnet. Versuchen Sie also Ruhe zu bewahren, überlegen Sie sich gut, was Sie den israelischen Offizieren raten, und halten Sie jeden davon ab, der im Begriff ist, irgendeine Dummheit zu begehen.«

Er umriss kurz die israelische Strategie, erklärte, dass in der kommenden Nacht die IDF mehrere Abschnitte im GazaStreifen sowie die wichtigsten palästinensischen Enklaven in der West Bank – Dschenin, Nablus, Ramalla, Bethlehem und Hebron – angreifen würden. Eine Menge nachrichtendienstlicher Erkenntnisse waren bereits zusammengetragen worden, sogar einige kleinere Truppenbewegungen hatten stattgefunden, um geeignete Interventionspunkte auszukundschaften. IDF-Reservisten waren einberufen worden und unterstanden nun, in voller Ausrüstung, ihrem jeweiligen Truppenverband.

»Ich persönlich bin dem Verband zugeordnet, der Hebron durchkämmen wird«, sagte der Major. »Sergeant O’Hara und Sergeant Morgan werden mich begleiten. Wir werden uns genauso verhalten wie alle anderen auch. Vergessen Sie nicht, dieser kleine Krieg wird morgen Nacht keinesfalls zu Ende sein, nützen wir also die Gelegenheit, um direkt vor Ort zu beobachten, wie sich die Israelis bei einer so prekären Operation anstellen.«

Eine halbe Stunde später hob der israelische Hubschrauber mit den SAS-Männern an Bord ab. Er flog über das Heilige Land, zunächst zum düsteren Hauptquartier des Nordkommandos, wo Ray Kerman, Fred und Charlie abgesetzt werden sollten, um sich der Golani-Brigade anzuschließen, dem straff geführten IDF-Verband, der den Hauptabsperrriegel um Hebron legen sollte.

Ray kannte die Vorgehensweise. Er hatte sie ihnen selbst beigebracht. Die Golanis, unterstützt von einem Panzerverband, der zusätzlichen Schutz und Feuerkraft versprach, würden Eliteeinheiten reinschicken, die mit dem Gebiet vertraut waren und das Stadtgebiet durchkämmen sollten. Weitere Unterstützung leistete ein israelisches Fallschirmjägerbataillon. Eigens ausgebildete Sprengstoffexperten sollten sich dann um die palästinensischen Waffenlager kümmern.

Ray hatte gegenüber allen israelischen Kommandoebenen betont, dass der Erfolg der Operation einzig und allein von der Speerspitze des Verbands abhing, der – ohne große Aufmerksamkeit zu erregen – einen eisernen Kordon um das Zielgebiet zu legen hatte. Tarnung und Geheimhaltung waren extrem wichtig, weshalb am darauf folgenden Tag im Nordkommando volle zwölf Stunden für das Briefing angesetzt waren.

Major Kerman würde die Operation vom Feldhauptquartier der Golani-Brigade im westlichen Hebron aus offiziell begleiten.

Freitag, 14. Mai 2004, 0100

Die IDF-Bataillone schwärmten in der West Bank aus und gingen gegen ihre Ziele vor. Still und leise, mit kalter Präzision, näherten sich die israelischen Truppen der Golani-Brigade von drei Seiten der Stadt Hebron.

Das Barak-Bataillon, das über die Straße 60 von Beersheba nach Norden vorgedrungen war, stand bereits drei Kilometer vor Hebron, unmittelbar südlich des kleinen Dorfes Beit Khagal; die Männer stiegen aus ihren Fahrzeugen und verteilten sich zu Fuß in der Dunkelheit.

Von Westen, auf der Straße 35, war das Gideon-Bataillon zum Dorf Beit Kahil vorgerückt. Auch hier marschierten die Soldaten mit erhobener Waffe über die verlassene Straße und starrten angestrengt in die pechschwarze Dunkelheit der mondlosen Negevwüste.

Major Kerman befand sich beim dritten Bataillon, den Golani-»Knospen« (frischen Rekruten), das von Männern aus der Egoz-Aufklärungseinheit unterstützt wurde. Mit abgedunkelten Scheinwerfern umfuhren sie auf Nebenwegen Bethlehem in Richtung Westen und kamen dann über die Straße 60 bei El Arub von Norden.

Der fest im jüdischen Sektor Hebrons stationierte Kommandant der IDF-Streitkräfte hatte seine verdeckten Patrouillen entlang der Demarkationslinie und in der Altstadt verdreifacht. Nun näherten sich ihm seine Gefährten aus den drei Kampfbataillonen der Golani-Brigade.

Um 0430 befanden sie sich innerhalb des Umschließungsrings. Die Barak-Gruppe, von Jabal Abu Sneina kommend, bezog sofort ihre Posten und schirmte das Gebiet unmittelbar südlich der Altstadt an der Demarkationslinie zwischen H-1 und H-2 ab. Gideon rückte nach Westen zur Bir-Al-Saba-Straße und dann in nördliche Richtung zur Umgehungsstraße vor. Das dritte Bataillon ging entlang des gesamten nördlichen Abschnitts in Stellung, während die Egoz-Einheit nach Süden vorrückte, wo sie die innerstädtische Demarkationslinie bis hin nach Westen zur Al-Qarantina-Straße besetzte.

Im Brigade-Hauptquartier westlich der Stadt errichteten die Truppen ein von Stacheldraht umzäuntes provisorisches Gefangenenlager für die festgenommenen Palästinenser. Daneben wurde Zelte aufgestellt, in denen die Gefangenen befragt werden konnten, außerdem dienten sie zur medizinischen Versorgung der Verwundeten.

Der israelische Panzerverband bezog Stellung entlang der Umgehungsstraße und deckte damit alle westlichen und nördlichen Zufahrtswege zur Stadt ab. Eine weitere Einheit bewachte die südlichen Zufahrten.

Um 0530, nachdem die Stadt abgeriegelt war, machten sich die Eliteeinheiten für ihren Einsatz bereit.

Im Brigadehauptquartier behielt Major Kerman alles wachsam im Auge, bevor beim ersten Tageslicht des schwülen Freitagmorgens, an dem am östlichen Horizont purpurrot der Himmel leuchtete, der Golani-Kommandeur die Furien des Krieges auf das schlafende Hebron hetzte.

Sie begannen im Norden. Die israelischen Spezialteams drangen in das Gebiet ein und durchsuchten Kaufläden, Werkstätten und einige Wohnhäuser, in denen Extremisten vermutet wurden. Es kam nur zu wenigen Verhaftungen, die einheimische Bevölkerung stellte sich ihnen nicht in den Weg. Der Kordon hielt, niemand wurde von außen in das Gebiet gelassen, außerdem verspürte niemand besondere Lust, sich mit den schwer bewaffneten Fallschirmjägern anzulegen, die den Eliteeinheiten den Rücken deckten.

Der Ras-al-Jura-Abschnitt, eine ausschließlich palästinensische Enklave, war in weniger als zwei Stunden durchkämmt. Ein halbes Dutzend Araber wurde verhaftet, lediglich eine Hand voll Waffen wurde aufgespürt. Von dort aus begannen die Trupps nach Süden vorzurücken, arbeiteten sich schnell zu beiden Seiten der Jerusalemstraße vor, hämmerten an Türen, brachen Schlösser auf und drangen in verriegelte Anwesen ein, wobei sie gelegentlich eine Alarmanlage auslösten, die sie mit einem Feuerstoß aus ihren automatischen Gewehren aber sofort zum Verstummen brachten.

Beharrlich bahnten sie sich ihren Weg ins Stadtzentrum, wo sie auf immer mehr verriegelte Läden stießen. Sie zögerten nicht, sich mit Gewalt Eintritt zu verschaffen. Plünderungen kamen nicht in Frage, die Räume wurden lediglich durchsucht. Die Israelis hielten sich an die eiserne Disziplin, auf die der SAS-Major Ray Kerman bei ihrer Ausbildung so großen Wert gelegt hatte.

Hinter ihnen war alles ruhig. Kein Araber, kein Terrorist, Handwerker oder Ziegenhirte wollte dem Weg der israelischen Fallschirmjäger folgen, die für ihre Härte gefürchtet waren. Doch vorn begannen sich um 0930 Unruhen zusammenzubrauen. Östlich der Jerusalemstraße, zwischen der breiten Einkaufsstraße und der Demarkationslinie zwischen den Zonen H-1 und H-2, rotteten sich arabische Jugendliche zusammen.

Sie versammelten sich im Haarat-Al-Sheik-Gebiet unmittelbar am Rand der Altstadt, der vermutlichen Stoßrichtung der Suchtrupps. Grölend verhöhnten sie die bewaffneten Truppen, und um 0940 flogen die ersten Steine. Anfänglich handelte es sich um vereinzelte Würfe, die kaum gezielt abgegeben wurden, um zehn Uhr allerdings wurde daraus ein tödlicher Gesteinshagel. Die Steine wurden immer größer, faustgroße Brocken, vermischt mit Betonstücken, die aus den umliegenden Häuserruinen stammten.

Die Jugendlichen hatten sich mittlerweile zu einem wütenden Haufen zusammengerottet, in der Absicht, den israelischen Soldaten mit Hohn- und Spottrufen zuzusetzen. Natürlich hatten sie keine Vorstellung über die Stärke und tiefe Staffelung ihrer Gegner; sie rannten ihnen einfach entgegen, schleuderten Steine und riefen ihnen Beleidigungen zu.

Die Fallschirmjäger eilten sofort nach vorn und begannen Gummigeschosse in die Menge zu feuern, die sich nun offen dem israelischen Bataillon entgegenstellte. Die Auseinandersetzung eskalierte dann, weil die Israelis Tränengasgranaten abschossen. Sofort herrschte in den ersten Reihen der Demonstranten Verwirrung, mit tränenden Augen traten die Steinewerfer den Rückzug an. Kurz darauf rannten jedoch andere nach vorn, um den Platz der Zurückweichenden einzunehmen, was die Stimmung weiter aufheizte.

Unaufhörlich feuerten die Fallschirmjäger ihre Gummigeschosse in die Menge. Mittlerweile hatten sich auch Erwachsene unter die Jugendlichen gemischt. Die Stimmung wurde mit jeder Minute aufgebrachter und gewalttätiger. Plötzlich flogen zwischen den Steinen auch Molotowcocktails, die dann unmittelbar vor den Füßen der Israelis explodierten. Die Suchteams setzten währenddessen unbeirrt ihren Weg fort, traten Türen ein, verlangten Einlass, verwüsteten die kleinen Läden.

Feuerschutz boten ihnen die Fallschirmjäger, denen ein Furcht erregender Ruf vorauseilte. Die Auseinandersetzung aber nahm immer ernstere Züge an. Um 1015 gaben die Soldaten drei weitere Gummigeschosssalven ab; einige arabische Jugendliche, die aus dem Tumult heraus Steine geworfen hatten, gingen zu Boden. Ihre Gefährten, die nicht wussten, ob ihre Mitkämpfer tot oder nur betäubt waren, hetzten nach vorn, um sie in Sicherheit zu bringen. Sofort schossen die Fallschirmjäger mit Tränengasgranaten auf die zu Hilfe eilenden Araber.

Es folgte eine kurze Pause; der palästinensische Mob war in Verwirrung gestürzt. Zu dieser Zeit drangen die israelischen Suchtrupps im berüchtigten Gebiet nördlich der Kreuzung bei Bab Al-Zawiye in einen alten Handwerksladen ein. Kurze Zeit später kamen die Israelis wieder heraus und riefen nach Fahrzeugen, um eines der größten Waffen- und Sprengstofflager zu konfiszieren, das ihnen jemals untergekommen war. Das Material war in dem Laden und einem angrenzenden Schuppen versteckt.

Als schließlich ein Dutzend Araber mit über dem Kopf verschränkten Händen heraustaumelte, eilte eine Gruppe Fallschirmjäger hinzu, um die Bombenbauer zu verhaften und in militärischen Gewahrsam zu nehmen. Trotz der schweren Ausschreitungen hatten die IDF-Truppen bislang eiserne Disziplin an den Tag gelegt.

Als man dann jedoch begann, die arabischen Gefangenen auf die Laster zu verladen, wurden die ersten scharfen Geschosse abgefeuert. Nicht von den Israelis, sondern von palästinensischen Heckenschützen, die sich in den leer stehenden, halb verfallenen Gebäuden des Haarat Al-Sheik verborgen hatten. Sie feuerten von mehreren hoch gelegenen Punkten am Rand des heruntergekommenen Gebiets herab, die Sonne immer im Rücken.

Israelische Fallschirmjäger stürmten geduckt vorwärts, schleuderten Handgranaten und gaben Deckungsfeuer, damit die Suchtrupps in dem einzig offen stehenden Gebäude, dem Laden mit den Waffen und Sprengstoffen, Zuflucht suchen konnten.

Dann zogen sich die Fallschirmjäger, die die Heckenschützen zeitweise zum Verstummen gebracht hatten, in dasselbe Gebäude zurück. Plötzlich wimmelte es dort von israelischen Soldaten. Sie eilten die Treppe hinauf und nahmen in den obersten beiden Stockwerken des viergeschossigen Baus ihre Positionen ein.

Die Luft war erfüllt von Maschinengewehrfeuer; Handgranaten detonierten, während weitere Fallschirmjäger vorrückten, um die Heckenschützennester in der Trümmerlandschaft auszuheben.

Keiner sah den Hamas-Führer, der den Widerstand gegen das methodische Vorgehen der Israelis zu koordinieren versuchte, hier in diesem Stadtteil, in dem die Emotionen leicht überkochten. Bekleidet mit Jeans und Jacke, über den Schultern das schwarz-weiß karierte Kopftuch seines Volkes, griff sich der junge Kämpfer, der kaum älter als fünfundzwanzig war, einen tragbaren Raketenwerfer und feuerte damit aus etwa hundert Metern Distanz eine Panzerabwehrrakete durch das Erdgeschossfenster in den Handwerksladen.

Mit ohrenbetäubendem Krachen explodierte das Geschoss in dem engen Raum, riss ein Loch in die Decke sowie in jene im darüber liegenden Stockwerk, bevor das gesamte Gebäude in einer dichten Wolke aus Staub, Sand und Geröll in sich zusammensackte.

Vierzehn Israelis fanden den Tod, siebzehn wurden verletzt. Nur zwölfen gelang es, sich aus den Trümmern zu befreien. Allen waren durch die Detonation die Trommelfelle geplatzt, ihre Kleidung war zerrissen, sie waren blutüberströmt, die Gesichter rußverschmiert. Einige waren entsetzlich entstellt, konnten kaum noch gehen, vier unter ihnen hatten Arme oder Beine verloren.

Sekunden später war das Hauptquartier der Fallschirmjägerkompanie informiert. Sofort wurde Verstärkung in das Haarat-Al-Sheik-Viertel geschickt. Die Israelis hatten nun nur noch eines im Sinn: die Übeltäter aufzuspüren. Ungeachtet der offiziellen Anweisungen, ungeachtet der Ratschläge von Major Kerman sannen sie nun auf Vergeltung.

Sechs Krankenwagen, voll gepackt mit Sanitätern, rasten hinter dem Fallschirmjägerkonvoi über die Straße 35. Mit heulenden Sirenen jagten sie durch die Al-Qarantina-Straße. Zehn Minuten nach der Explosion sprangen die Israelis aus den Wagen, entsetzt über den Anblick, der sich ihnen bot. Ihre Kameraden, umgeben von den verwundeten und sterbenden Männern, waren bis zu diesem Zeitpunkt zur Hilflosigkeit verdammt gewesen. Die Heckenschützen hatten erneut das Feuer eröffnet und den Platz vor dem zerstörten Laden mit ihren Salven belegt.

Selten hatte eine israelische Brigade schneller und aggressiver reagiert. Die jungen Fallschirmjäger stürmten von beiden Seiten das Trümmergelände, ließen Handgranaten hochgehen, feuerten aus der Hüfte. Die Palästinenser, die sich zur Flucht wandten, wurden niedergemäht, Frauen und Kinder in den Seitengassen gerieten ins Kreuzfeuer.

Hamas-Führer schossen hinter niedrigen Mauern hervor aus drei Maschinengewehren, wurden aber bald darauf von den Handgranaten der israelischen Sturmtrupps ausgeschaltet. Die Ausschreitungen schienen unweigerlich auszuufern, niemand war da, der etwas dagegen hätte unternehmen können. Die israelischen Truppen hatten beschlossen, mit den palästinensischen Kämpfern kurzen Prozess zu machen. Dutzende arabischer »Freiheitskämpfer«, unter ihnen viele Verwundete, wurden von der Jerusalemstraße zurückgetrieben.

Mittlerweile war Ray Kerman in Begleitung von Sergeant O’Hara und Sergeant Morgan in einem gepanzerten Fahrzeug auf dem Weg in die Stadt. Sie fuhren durch die Al-Qarantina-Straße in Richtung des Blutvergießens im Haarat Al-Sheik. Linker Hand von ihnen konnten sie den Lärm des Gefechts hören, das an der Westseite der Jerusalemstraße tobte.

Dem Major war zwar bewusst, dass er am Schauplatz der Katastrophe kaum etwas würde ausrichten können, dennoch musste er nach irgendeiner Möglichkeit suchen. Als sie schließlich den Ort des Geschehens erreichten, war er entsetzt. Was er dort sah, war eine einst hoch disziplinierte Armee, die nun völlig die Kontrolle über sich verloren hatte. Soldaten wüteten wie Berserker, stürmten in blinder Wut vorwärts und brachten alles und jeden um, der sich bewegte.

Die Originalausgabe BARRACUDA 945 erschien bei Harper Collins Publishers Inc., New York

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 02/2007 Copyright © 2003 by Patrick Robinson Copyright © 2003 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration: © TRH Pictures Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Leingärtner, Nabburg

eISBN: 978-3-641-18403-2

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