Basislehrbuch Kriminologie - Stefanie Kemme - E-Book

Basislehrbuch Kriminologie E-Book

Stefanie Kemme

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Beschreibung

Das vorliegende Buch gibt einen Überblick über den kriminologischen Forschungsstand unter besonderer Berücksichtigung des Blickwinkels der Polizei. Die Autorinnen vermitteln grundlegendes Wissen über die zentralen kriminologischen Fragestellungen nach den Entstehungszusammenhängen, Erscheinungsformen, Vor­­beugungs- und Bekämpfungsmöglichkeiten sowie geeigneten Sanktions- und Behandlungsformen von Kriminalität. Zudem zeigen sie für jedes besondere Kriminalitätsfeld einen konkreten Bezug zur praktischen Polizeiarbeit auf. Im 1. Teil des Werks beschäftigen sie sich mit den klassischen Themen (Geschichte der Kriminologie, Kriminalitätstheorien, Viktimologie, Kriminalitätswahrnehmung, usw.), während sie sich im 2. Teil den besonderen Kriminalitätsfeldern zuwenden (z.B. Gewaltkriminalität, Sexualdelikte, Stalking, Drogenkriminalität, Kriminalität im Kontext von Migration, Hasskriminalität). Jedes Kapitel enthält einen einleitenden Fragenkatalog und schließt mit einer Aufzählung der wichtigsten Merkposten zum besprochenen Thema. Zahlreiche Fallbeispiele, Schaubilder und Statistiken unterstützen Leserinnen und Leser zusätzlich. Das Buch richtet sich insbesondere an im Polizeidienst tätige Personen, die mit Fragestellungen rund um das Thema "Kriminologie" zu tun haben. Es zielt aber nicht nur auf den Polizeikontext, sondern dient auch Studierenden unterschiedlicher anderer Fachrichtungen als Nachschlagewerk sowie als Hilfsmittel zur Prüfungsvorbereitung.

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Basislehrbuch Kriminologie

vonHerausgeberinnenStefanie KemmeEva Groß

AutorinnenStefanie KemmeEva GroßLena PoschAnabel TaefiUlrike Zähringer

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

E-Book

1. Auflage 2023

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2023

eISBN 978-3-8011-0928-8

Titelnummer 102135

Buch (Print)

1. Auflage 2023

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2023

Druck und Bindung: C.H. Beck, Nördlingen

ISBN 978-3-8011-0924-0

Alle Rechte vorbehalten

Unbefugte Nutzungen, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. Satz und E-Book: VDP GMBH Buchvertrieb, Hilden

www.vdpolizei.de

E-Mail: [email protected]

Vorwort

Auch wenn die Entwicklung der Polizei hin zu einer Akademisierung bereits in den 1980er Jahren einsetzte, hat sie durch den Bologna-Prozess mit dem Ziel der Harmonisierung der akademischen Ausbildung und einer Umstellung des gesamten Hochschulwesens mit den einheitlichen Studienabschlüssen Bachelor und Master zu Beginn der 2000er neue Fahrt aufgenommen. Das Bachelorstudium für Polizei- und Kriminalkommissaranwärter:innen wurde implementiert, die ehemaligen Fachhochschulen in vielen Bundesländern zu neuen Hochschulen der Polizei umstrukturiert. Dieser Prozess hat nicht nur die Kriminologie als Fach und den wissenschaftlichen Stellenbedarf an den Hochschulen der Polizei gestärkt. Damit verbunden war auch eine Zunahme des Stellenwerts der Kriminologie für die Studierenden und die Notwendigkeit, das kriminologische Wissen bedarfsgerecht aufzubereiten. Studierende der Polizei begegnen dem Fach oftmals mit Vorbehalten und stellen sich das empirische kriminologische Wissen als viel zu weit entfernt von ihrem praktischen Alltag vor. Wozu muss ich so viel über Studien und empirische Erkenntnisse wissen? Was nutzt mir dieses Wissen auf der Straße? So sind Lehrende im Fach Kriminologie unentwegt damit beschäftigt, die Praxisrelevanz des Faches aufzuzeigen.

Daraus ist die Idee für dieses Buch entstanden. Es bereitet die Themenbereiche der Kriminologie auf und behält dabei die polizeiliche Perspektive stets im Blick. Das Buch ist in zwei Teile aufgeteilt. Der erste Teil beinhaltet kriminologisches Grundlagenwissen zur Geschichte der Kriminologie, zu deren Theorien und Wissensquellen, wie auch zu den Themenfeldern Viktimologie und Kriminalitätswahrnehmungen. Jedes Themenfeld beinhaltet einen zusammenfassenden Abschnitt zu Merkposten und dem Wichtigsten in Kürze. Die polizeiliche Perspektive bleibt im ersten Teil zunächst im Hintergrund. Der zweite Teil handelt von besonderen Kriminalitätsfeldern, darunter die Themen abweichendes Verhalten in unterschiedlichen Altersgruppen, Gewaltkriminalität, Sexualdelikte, Stalking, Drogenkriminalität, Eigentums- und Vermögenskriminalität, Kriminalität im Kontext von Migration, Vorurteilskriminalität / Hasskriminalität, wie auch Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität. Jedes dieser Kapitel im zweiten Teil beinhaltet neben den Merkposten einen Abschnitt zu den Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive. Anschauliche Fallbeispiele leiten zudem jedes Themenfeld ein. Über das gesamte Buch beinhaltet zudem jedes Kapitel weiterführende Literatur und Links, um Studierenden die Recherche für ggf. eigene Forschungsarbeiten zu erleichtern. Das Buch zeichnet sich zudem durch seine interdisziplinäre Perspektive aus. Der Kriminologie als interdisziplinäres Forschungsfeld Rechnung tragend, setzt sich das Team der Autorinnen aus Juristinnen, Soziologinnen und Psychologinnen zusammen, die gemeinsam und mit ihrer je eigenen Fachexpertise die kriminologischen Themenfelder mit stetem Blick auf die polizeipraktische Perspektive aufarbeiten.

Der Entstehungsprozess dieses Lehrbuches war recht steinig, denn durch die Corona-Pandemie kam es zu zahlreichen Verzögerungen. Dass dieses Buch schlussendlich doch finalisiert werden konnte, haben wir nicht zuletzt auch unseren fleißigen studentischen Helfer:innen Kira Diermann, Ben Hundertmark, Senem Kilic, Ava Stähler, Talea Bruns und Nara Skipper zu verdanken. Das Team der Autor:innen hofft, durch das Lehrbuch nicht nur die Neugier auf das spannende Fach der Kriminologie zu wecken, sondern darüber hinaus eine Unterstützung für die polizeiliche Praxis liefern zu können. Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre.

Hamburg, Dezember 2022

Stefanie Kemme und Eva Groß

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Teil 1: Grundlagen der Kriminologie

1Was ist Kriminologie?(Stefanie Kemme)

1.1Kriminologie als Teil der Kriminalwissenschaften

1.2Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaft

1.3Kriminologie als national und international verankerte Wissenschaft

1.4Kriminalitätsbegriffe

1.5Soziale Kontrolle

1.6Zur Legitimation staatlicher Sozialkontrolle durch Strafrecht

1.7Praxisorientierung – Kriminaljustizsystem, Kriminalpolitik und angewandte kriminologische Forschung

1.8Merkposten: das Wichtigste in Kürze

1.9Weiterführende Literatur und Links

2Geschichte der Kriminologie und Kriminalitätstheorien(Ulrike Zähringer und Eva Groß)

2.1Die Anfänge: Von der Antike über die Klassische Schule von Beccaria bis zur Positiven Schule von Lombroso

2.1.1Klassische Schule nach Beccaria

2.1.2Positive Schule nach Lombroso

2.2Der Beginn des modernen Kriminalstrafrechts im 19. Jahrhundert mit Franz von Liszt

2.3Kriminalitätstheorien: Unterschiedliche Ansätze zur Erklärung von Kriminalität

2.4Ursachenbezogene Perspektive: Das ätiologische Paradigma

2.4.1Der Ansatz von Emile Durkheim

2.4.2Anomietheorie nach Merton

2.4.3Lerntheorien: Sutherland und Cresseys Theorie der differentiellen Assoziation

2.4.4Kontroll- und Bindungstheorie nach Hirschi

2.4.5Subkulturtheorie nach Cohen

2.5Institutionenbezogene Perspektive: Der Labeling Approach

2.6Situative und sozialraumbezogene Perspektiven

2.6.1Rational-Choice-Ansatz nach Becker

2.6.2Routine Activity Approach/Theory nach Cohen und Felson

2.6.3Theorie der sozialen Desorganisation nach Shaw und McKay

2.6.4Broken-Windows-Theorie nach Wilson und Kelling

2.7Integrative Perspektiven

2.7.1General Strain Theory nach Agnew

2.7.2Situational Action Theory nach Wikström

2.7.3Institutionelle Anomietheorie nach Messner und Rosenfeld

2.8Aktuelle Entwicklungen in Richtung Hirnforschung/Neurobiologismus

2.9Merkposten: das Wichtigste in Kürze

2.10Weiterführende Literatur und Links

3Kriminologische Wissensquellen(Stefanie Kemme)

3.1Kriminalität im Hellfeld

3.1.1Kriminal- und Rechtspflegestatistiken

3.1.1.1Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)

3.1.1.2Staatsanwaltschaftsstatistik (StAStat)

3.1.1.3Strafverfolgungsstatistik (StVerfStat)

3.1.1.4Strafvollzugsstatistik (StVollzStat)

3.1.1.5Bewährungshilfestatistik (BewHStat)

3.1.2Kompatibilität der Statistiken

3.1.3Messung der Kriminalität durch Kriminalstatistiken

3.2Kriminalität im Dunkelfeld

3.2.1Dunkelfelderhebungen in Deutschland

3.2.2Neuere Entwicklungen in Deutschland

3.2.3Dunkelfelderhebungen im Ausland und international vergleichend

3.2.4Grenzen von Dunkelfeld-Befragungsdaten

3.3Einflussfaktoren auf Hell- und Dunkelfeld

3.3.1Gesellschaftliche und individuelle Faktoren

3.3.2Hellfeld-Dunkelfeld-Verschiebungen

3.3.3Die PKS als „Eingangspforte“ in das kriminalstatistische Hellfeld

3.4Merkposten: das Wichtigste in Kürze

3.5Weiterführende Literatur und Links

4Viktimologie(Lena Posch)

4.1Gegenstand und Bedeutung der Viktimologie

4.2Begrifflichkeiten der Viktimologie

4.3Epidemiologie – Häufigkeit krimineller Opferwerdungen im Hell- und Dunkelfeld

4.4Risiken der Opferwerdung

4.4.1Opfertypologien

4.4.2Demografische Faktoren/Opferrisiken

4.4.3Multiple/wiederholte Viktimisierung

4.4.4Reviktimisierung

4.5Folgen der Viktimisierung und Bewältigungsverhalten

4.5.1Materielle und physische Folgen

4.5.2Soziale Folgen von Viktimisierung

4.5.3Psychische Folgen und deren Einflussfaktoren

4.5.3.1Psychische Folgen der primären Viktimisierung

4.5.3.2Psychische Folgen durch Ermittlungs- und Strafverfahren und sekundäre Viktimisierung

4.5.4Zusammenfassung: Einflussfaktoren auf die Folgen und Bewältigung einer Viktimisierung

4.6Polizeilicher Umgang mit Opfern

4.7Merkposten: das Wichtigste in Kürze

4.8Weiterführende Literatur und Links

5Medien, Kriminalitätswahrnehmung, Punitivität und Kriminalitätsfurcht(Eva Groß und Stefanie Kemme)

5.1Kriminalitätsfurcht

5.1.1Trends, Zahlen und Fakten: Subjektive Eindrücke und objektive Zahlen

5.1.2Erklärungsansätze und Forschungsstand

5.2Kriminalitätswahrnehmung

5.2.1Trends, Zahlen und Fakten: Subjektive Eindrücke und objektive Zahlen

5.2.2Erklärungsansätze und Forschungsstand

5.3Punitivität

5.3.1Trends, Zahlen und Fakten

5.3.2Erklärungsansätze und Forschungsstand

5.3.3Selektions- und Sozialisationseffekte in der Polizei

5.4Bedeutung für die polizeiliche Arbeit

5.5Merkposten: das Wichtigste in Kürze

5.6Weiterführende Literatur und Links

Teil 2: Besondere Kriminalitätsfelder

6Abweichendes Verhalten unterschiedlicher Altersgruppen(Anabel Taefi)

6.1Entwicklungskriminologie: Forschung zu Delinquenzverläufen und theoretische Ansätze

6.1.1Die Identifizierung von Delinquenzverläufen und theoretische Perspektiven zu ihrer Unterscheidung

6.1.2Die Charakterisierung von Delinquenzverläufen anhand von Risikofaktoren

6.1.3Aktuelle biokriminologische Perspektiven auf die Genese dissozialen Verhaltens: Anlage-Umwelt-Interaktionen

6.2Jugendkriminalität

6.3Delinquenz im Alter

6.4Besonderheiten aus polizeilicher Sicht

6.5Merkposten: das Wichtigste in Kürze

6.6Weiterführende Literatur und Links

7Gewaltkriminalität(Ulrike Zähringer)

7.1Gewaltkriminalität im Hellfeld

7.2Gewaltkriminalität im Dunkelfeld

7.3Ausgewählte Formen von Gewaltkriminalität

7.3.1Häusliche Gewalt

7.3.2Gewalt im öffentlichen Raum

7.3.3Schwere Gewalt

7.3.3.1Tötungsdelikte

7.3.3.2Amoktaten und school shootings

7.3.3.3Terrortaten

7.4Besonderheiten aus polizeilicher Sicht

7.5Merkposten: das Wichtigste in Kürze

7.6Weiterführende Literatur und Links

8Sexualdelikte(Lena Posch)

8.1Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen

8.1.1Rechtliche Einordnung

8.1.2Phänomenologie sexuellen Kindesmissbrauchs

8.1.3Auftretensrate im Hellfeld

8.1.4Epidemiologie und Phänomenologie im Dunkelfeld

8.1.5Tatumstände und Täter-Opfer-Vorbeziehung

8.1.6Anzeigeverhalten und Motive zur Nichtanzeige

8.1.7Polizeiliche Besonderheiten

8.1.8Merkposten: das Wichtigste in Kürze

8.1.9Weiterführende Literatur und Links

8.2Vergewaltigung und sexuelle Nötigung

8.2.1Rechtliche Einordnung

8.2.2Auftretensrate im Hellfeld

8.2.3Epidemiologie und Phänomenologie im Dunkelfeld

8.2.4Tatumstände und Täter-Opfer-Vorbeziehung

8.2.5Anzeigeverhalten und Motive zur Nichtanzeige

8.2.6Besonderheiten aus polizeilicher Sicht

8.2.7Merkposten: das Wichtigste in Kürze

8.2.8Weiterführende Literatur und Links

9Stalking(Lena Posch)

9.1Phänomenologie des Stalking

9.2Auftretensrate im Hellfeld

9.3Empirische Erkenntnisse aus dem Dunkelfeld

9.4Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive

9.5Merkposten: das Wichtigste in Kürze

9.6Weiterführende Literatur und Links

10Drogenkriminalität(Stefanie Kemme)

10.1Drogenkriminalität in der PKS 286

10.2Das Dunkelfeld: Drogenkonsum in der Bevölkerung

10.3Der Zusammenhang zwischen Drogen und Kriminalität

10.4Deutsche und europäische Drogenpolitik

10.5Einstellungen nach § 31a BtMG und Einsatz polizeilicher Ressourcen

10.6Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive

10.7Merkposten: das Wichtigste in Kürze

10.8Weiterführende Literatur und Links

11Eigentums- und Vermögensdelinquenz(Anabel Taefi)

11.1Hell- und Dunkelfeld, Taten und Täter:innen

11.2Theoretische Rahmung

11.3Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive

11.3.1Wohnungseinbruchdiebstahl

11.3.2Betrugsdelikte zum Nachteil älterer Menschen

11.4Merkposten: das Wichtigste in Kürze

11.5Weiterführende Literatur und Links

12Kriminalität im Kontext von Migration(Eva Groß und Ulrike Zähringer)

12.1Das Spannungsfeld Migration und Kriminalität: Politische Instrumentalisierbarkeit eines angstbesetzten Themas

12.2Zahlen, Daten, Fakten – Einblicke in das Hellfeld

12.3Theoretische Anknüpfungspunkte: Hintergründe erhöhter „Kriminogenität“ im Zusammenhang mit Migration – Einblicke in das Dunkelfeld

12.4Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive

12.5Merkposten: das Wichtigste in Kürze

12.6Weiterführende Literatur und Links

13Vorurteilskriminalität („Hasskriminalität“) und das polizeiliche Erfassungssystem politisch motivierter Kriminalität („PMK“)(Eva Groß)

13.1Phänomenologie Vorurteilskriminalität („Hasskriminalität“) und PMK

13.1.1Vorurteilskriminalität

13.1.2Das polizeiliche Erfassungs- und Definitionssystem PMK

13.2Zahlen, Daten, Fakten (Hellfeld: PMK, Dunkelfeld: empirische Studien)

13.2.1Prävalenz und Entwicklung

13.2.2Dunkelfeld

13.3Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive

13.4Merkposten: das Wichtigste in Kürze

13.5Weiterführende Literatur und Links

14Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität(Anabel Taefi)

14.1Organisierte Kriminalität

14.1.1Entwicklung des Phänomenbereichs OK und seiner Erforschung in Deutschland

14.1.2Neue Perspektiven der Erforschung von Phänomenen organisierter Kriminalität

14.1.3„Clankriminalität“?

14.2Wirtschaftskriminalität

14.3Zusammenfassende Betrachtung: OK und Wirtschaftskriminalität

14.4Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive

14.5Merkposten: das Wichtigste in Kürze

14.6Weiterführende Literatur und Links

Literaturverzeichnis

Zu den Herausgeberinnen

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1:Das System der Kriminalwissenschaften (Eigene Darstellung, vgl. auch Berthel & Schröder, 2008)

Abbildung 2:Schnittmengen informeller und formeller Normen, eigene Darstellung

Abbildung 3:Geschichte des Strafrechts als Geschichte der Neutralisierung von Opferinteressen nach Kreuzer (2003)

Abbildung 4:Kriminalpolitischer Soll- und Ist-Zustand mit Möglichkeit einer Überkriminalisierung nach Kreuzer (2003)

Abbildung 5:Situational-Action-Theory-Modell nach Wikström (2015)

Abbildung 6:Schema der Institutional Anomie Theory nach Messner & Rosenfeld (2012

Abbildung 7:Absolutes/relatives Dunkelfeld, Hellfeld und Schnittmenge nach BKA (2020b)

Abbildung 8:Ausfilterungsprozess im Strafverfahren nach Jehle (2019)

Abbildung 9:Anzeigequoten für personenbezogene Opfererlebnisse innerhalb der letzten zwölf Monate, DVS 2012 und 2017 im Vergleich aus Birkel et al. (2019)

Abbildung 10:Einflussfaktoren auf der Ebene der PKS, der StVerfStat und StVollzStat aus Kemme et al. (2011, S. 22)

Abbildung 12:Anforderungs-Ressourcen-Modell zu Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit in Folge einer Viktimisierung durch Gewalt und Aggression (Mohr, 2003, S. 54)

Abbildung 13:Einzelaspekte affektive Kriminalitätsfurcht „Wie oft haben Sie folgende Befürchtung? Dass …“ (häufiger/immer in Prozent)

Abbildung 14:Einzelaspekte kognitive Kriminalitätsfurcht „Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Ihnen persönlich in den nächsten 12 Monaten tatsächlich Folgendes passiert? Dass …“ (eher/sehr wahrscheinlich in Prozent)

Abbildung 15:Häufigkeitszahlen (PKS NI, Hellfeld)

Abbildung 16:Tatverdächtige (PKS NI, Hellfeld)

Abbildung 17:Kriminalität im Altersverlauf: Age-Crime-Curve, PKS-Zahlen, Deutsche Tatverdächtige (TVBZ) bei Straftaten insgesamt für die Jahre 2000, 2010 und 2020, nach Alter und Geschlecht differenziert, eigene Darstellung

Abbildung 18:Das bio-psycho-soziale Entwicklungsmodell dissozialen Verhaltens nach Beelmann & Raabe (2007, S. 111)

Abbildung 19:Jahresprävalenz selbstberichteter Delinquenz von Mädchen und Jungen, Schüler:innenbefragung 2012/2013 aus Taefi & Görgen (2013, S. 77)

Abbildung 20:Soziologische Typologie von Gewaltphänomenen nach Imbusch (2002)

Abbildung 21:Polizeilich erfasste Fälle und Opfer vollendeter Taten von Gewaltkriminalität in Deutschland 2000–2021 (absolute Angaben mit Trendlinie)

Abbildung 22:Polizeilich erfasste Opfer von Gewaltkriminalität 2000–2021 (absolute Angaben)

Abbildung 23:Häufigkeitsziffern zu polizeilich registrierten Fällen von sonst. Raubüberfällen und gef./schwerer KV in Deutschland 1991–2021 (inkl. Versuche)

Abbildung 24:Häufigkeitsziffern zu polizeilich registrierten Fällen von Straftaten gegen das Leben in Deutschland 1991–2021 (inkl. Versuche)

Abbildung 25:Polizeilich bekannt gewordene Fälle von Tötungsdelikten 2020: Tatverdächtige:n-Opfer-Beziehung

Abbildung 26:Anzahl terroristischer Anschläge weltweit nach der Global Terrorism Database (1970–2020)

Abbildung 27:Verteilung terroristischer Anschläge weltweit nach Regionen (1970–2020)

Abbildung 28:Häufigkeitsziffer und Opfergefährdungsziffer nach Geschlecht für sexuellen Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB) im zeitlichen Verlauf zwischen 2000 und 2021

Abbildung 29:Häufigkeitsziffer und Opfergefährdungsziffer nach Geschlecht für Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (§§ 177 Abs. 2, 3 und 4, 178 StGB) im Zeitverlauf zwischen 2000 und 2021

Abbildung 30:Häufigkeitsziffer und Opfergefährdungsziffer nach Geschlecht für Nachstellung (§ 238 StGB) im zeitlichen Verlauf seit Inkrafttreten des Straftatbestandes in 2007 bis 2021

Abbildung 31:Entwicklung der Rauschgiftdelikte 2000 bis 2021 (Schlüssel 730000 – absolute Zahlen; PKS 2000 bis 2021), eigene Darstellung

Abbildung 32:Schätzungen des Drogenkonsums in der Europäischen Union (2015–2019) und in Deutschland 2018 nach EMCDDA (2021, S. 44 ff.), eigene Darstellung

Abbildung 33:Konsumnahe Delikte und erledigte Verfahren nach dem BtMG absolut und Anteil der Einstellungen ohne Auflage an allen BtM-Verfahren, Anteil der §-31a-BtMG-Einstellungen an allen Einstellungen ohne Auflage in Deutschland nach DESTATIS (2021a) und PKS (2021e), eigene Darstellung

Abbildung 34:Überblick über die auf Grund eines einfachen Ladendiebstahls in der PKS registrierten Tatverdächtigen, differenziert nach Geschlecht und Altersgruppen (absolute TV), 2000–2020

Abbildung 35:Überblick über die Entwicklung der in der PKS erfassten Vermögens- und Fälschungsdelikte in den Jahren 2000–2020, untergliedert nach Alter der Tatverdächtigen 2020

Abbildung 36:Überblick über die Entwicklung der in der PKS erfassten Tatverdächtigen des WED, untergliedert nach Alter und Geschlecht für die Jahre 2000–2020

Abbildung 37:Absolute Zahlen Straftaten insgesamt (deutsche & nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage der bundesweiten PKS

Abbildung 38:Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) Straftaten insgesamt (deutsche & nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage der bundesweiten PKS, eigene Berechnung

Abbildung 39:Absolute Zahlen der Gewaltkriminalität (deutsche & nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage der bundesweiten PKS

Abbildung 40:Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) der Gewaltkriminalität (deutsche & nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage der bundesweiten PKS, eigene Berechnung

Abbildung 41:Absolute Zahlen Diebstahl insgesamt (deutsche & nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage der bundesweiten PKS

Abbildung 42:Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) Diebstahl insgesamt (deutsche & nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage der bundesweiten PKS, eigene Berechnung

Abbildung 43:Absolute Zahlen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (deutsche & nicht-deutsche Tatverdächige) auf Grundlage der bundesweiten PKS

Abbildung 44:Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (deutsche & nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage der bundesweiten PKS, eigene Berechnung

Abbildung 45:Entwicklung Vorurteilskriminalität 2001–2021 („Hasskriminalität“ (PMK-Statistik), absolute Zahlen)

Abbildung 46:PMK-Gesamtaufkommen im zeitlichen Verlauf, also nicht nur „Hasskriminalität“, hier inklusive „echte Staatsschutzdelikte“ und „extremistische Straftaten“ (absolute Zahlen)

Abbildung 47:Überblick über die Gesamtzahl der Ermittlungsverfahren und die drei häufigsten Bereiche, die Zahl der Tatverdächtigen und den Prozentsatz der Verfahren mit internationaler Tatbegehung im Jahr 2020 in Deutschland, aus BKA, 2021a, o.S.

Abbildung 48:Überblick über die in der PKS erfassten Tatverdächtigen im Bereich der Wirtschaftskriminalität (Schlüsselzahl 893000) in den Jahren 2000–2020, nach Alter differenziert

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1:Differenzierung von Selbst- und Fremdkontrolle aus Lamnek & Ottermann (2004), zitiert nach Menzel & Wehrheim (2010, S. 510)

Tabelle 2:Reaktionen auf anomischen Druck nach Merton, zitiert nach Bock (2019)

Tabelle 3:Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken im Vergleich nach Kemme et al. (2011)

Tabelle 4:Dimensionen der Kriminalitätsfurcht und Beispiele für deren Operationalisierung

Tabelle 5:Entwicklung verschiedener Straftaten laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) und Befragtenangaben nach Erhebungsjahr nach Baier et al. (2011, S. 41)

Tabelle 6:Anteil Befragter, die angegeben haben, dass Delikte 6 (viel häufiger geworden) oder 7 (sehr viel häufiger geworden) sind nach Baier et al. (2017, S. 22)

Tabelle 7:Erledigung staatsanwaltlicher Ermittlungsverfahren nach dem BtMG in Deutschland 2020 nach DESTATIS (2021a), eigene Darstellung

Tabelle 8:Überblick über die prozentualen Anteile der Befragten im Viktimisierungssurvey des BKA (12-Monats-Prävalenz und 5-Jahres-Prävalenz), die Opfer der erfassten Delikte geworden sind, sowie über die Anzeigequoten für die 12-Monats-Prävalenz

Tabelle 9:Aufklärungsquoten für ausgewählte Deliktschlüssel aus PKS (2019), eigene Darstellung

Teil 1: Grundlagen der Kriminologie

1Was ist Kriminologie?(Stefanie Kemme)

Zum folgenden Kapitel

Wie grenzt sich die Kriminologie zur Kriminalistik ab und wie ist sie eingebettet in die Kriminalwissenschaften?

Was sind die Bezugswissenschaften der Kriminologie?

Was ist der Unterschied zwischen Kriminalität und Delinquenz?

Wie stehen Kriminologie und Kriminalpolitik zueinander?

Welche Strafzwecke gibt es?

Warum Kriminologie für Polizeibeamt:innen?

Kriminologie bedeutet als Kombination von „crimen“ (lat. Verbrechen) und „lógos“ (griech. Lehre) wörtlich übersetzt die Lehre vom Verbrechen bzw. die Lehre von der Kriminalität. Damit ist ihr Gegenstandsbereich aber keineswegs abschließend beschrieben. Verschiedene Autoren haben versucht zu beschreiben, was Kriminologie ist und womit sie sich beschäftigt.

So schreiben Sutherland, Cressey und Luckenbill1: „Criminology is the body of knowledge regarding crime and delinquency as social phenomena. It includes within its scope the processes of making law, breaking law, and reacting to the breaking of laws.“ Diese Definition legt den Fokus auf den Rechtsbrecher und die Verbrechenskontrolle.

Nach Kaiser2 ist die „Kriminologie die geordnete Gesamtheit des Erfahrungswissens über das Verbrechen, den Rechtsbrecher, die negative soziale Auffälligkeit und über die Kontrolle dieses Verhaltens. Ihr Wissensgebiet lässt sich mit den drei Grundbegriffen Verbrecher, Verbrechen und Verbrechenskontrolle treffend kennzeichnen. Ihnen sind auch die Opferbelange und die Verbrechensverhütung zugeordnet“.

Kerner3 verwendet eine noch detailliertere Definition, indem er Kriminologie als „Wissenschaft von den Entstehungszusammenhängen, Erscheinungsformen, Vorbeugungs- und Bekämpfungsmöglichkeiten, geeigneten Sanktions- und Behandlungsformen des Verbrechens im Leben von Individuen und Gruppen sowie der Kriminalität im Gefüge von Staat und Gesellschaft unter Beachtung der Reaktionen auf Seiten der Verbrechenskontrolle“ beschreibt.

Die Kriminologie beschäftigt sich also

mit dem:r Rechtsbrecher:in bzw. dem:r Täter:in, und auch mit dem lediglich sozial Auffälligen,

mit Kriminalität sowie insgesamt mit sozial abweichendem Verhalten, mit Entstehungszusammenhängen und Erscheinungsformen der Kriminalität

mit sozialer Kontrolle dieses Verhaltens und damit auch mit der Prävention und geeigneten Sanktions- und Behandlungsmaßnahmen und

mit dem Opfer. Dieses stand lange Zeit nicht im Fokus des kriminologischen Interesses. Heute ist die Viktimologie (Opferforschung) ein wichtiger Teilbereich der Kriminologie.4

1.1Kriminologie als Teil der Kriminalwissenschaften

Dass die Kriminologie in Deutschland „eine weithin unbekannte und oft missverstandene Wissenschaft“ ist, stellte bereits Schneider 19745 fest, beansprucht aber bis heute Gültigkeit, was sich leicht mit der in der Bevölkerung stattfindenden Verwechslung von Kriminologie und Kriminalistik belegen lässt. Schwind und Schwind6 schreiben dazu amüsiert, dass dieser Fehler auch den Medien unterläuft, wenn bspw. in Zeitungen Überschriften wie „Kriminologen auf Verbrecherjagd“ auftauchen.

Die Kriminalistik ist die Lehre von den Mitteln und Methoden der Bekämpfung einzelner Straftaten und der Kriminalität durch vorbeugende (präventive) und strafverfolgende (repressive) Maßnahmen.

Während der Kriminalist mit kriminaltaktischen, kriminaltechnischen und kriminalstrategischen Methoden versucht, Straftaten aufzuklären und den Täter zu überführen sowie Straftaten zu verhüten, versucht der Kriminologe mit sozialwissenschaftlichen Methoden nach Gesetzmäßigkeiten im Verhalten der Menschen, die mit einer Straftat zu tun haben (bspw. als Opfer, Täter, Polizeibeamte oder Justizangehörige), zu suchen.7

Abbildung 1: Das System der Kriminalwissenschaften (Eigene Darstellung, vgl. auch Berthel & Schröder, 2008)

Die Kriminalistik ist Teil des Strafverfolgungssystems unter Zugrundelegung des strafrechtlichen Verbrechensbegriffs, wohingegen die Kriminologie „von außen“ auf den Verbrecher, die Taten und die Instanzen sozialer Kontrolle blickt und dabei auch abweichendes Verhalten, das nicht strafrechtlich relevant sein muss, unter Zugrundelegung eines weitreichenderen kriminologischen Verbrechensbegriffs berücksichtigt.

Bis heute gibt es kein einheitlich anerkanntes System der Kriminalwissenschaften. Bereits Groß und Geerds haben klassisch zwischen den normativen (juristischen) und den empirischen Kriminalwissenschaften unterschieden.8Abbildung 1 zeigt ein erweitertes Modell auf Basis dieser Unterscheidung. Zu dem normativen Bereich zählen das materielle Strafrecht, das Verfahrensrecht, das Sanktionenrecht sowie weitere juristische Bereiche mit Kriminalitätsbezug. Unter dem Dach der empirischen Kriminalwissenschaften sind die Kriminologie und die Kriminalistik zu verorten.

Die Kriminologie ist im Gesamtsystem der Kriminalwissenschaften zu betrachten und existiert bereits seit etwa 250 Jahren,9 auch wenn der Begriff der Kriminologie erst durch das Buch „Criminologia“ des Italieners Garofalo10 bekannt wurde.

Nach Brauneck11 ist die Kriminologie aus dem praktischen Bedürfnis entstanden, Straftaten nicht nur juristisch, bspw. durch Auslegung der Strafgesetze, sondern auch in ihren soziologischen und psychologischen Zusammenhängen zu verstehen. Ist die Kriminologie also nur eine Hilfswissenschaft des Strafrechts?

Nein, Sie ist als ein Bestandteil der Kriminalwissenschaften eigenständig. Sie ist interdisziplinär, national und international verankert sowie meist praxisorientiert. Sie hat einen eigenen Gegenstandsbereich, eigene Theorien und eigene Methoden. Sie ist eine empirische Sozialwissenschaft, die systematisch Daten über soziale Tatsachen vorwiegend durch Beobachtung, Befragungen/Interviews oder Experimente erhebt und auswertet. Schauen wir uns zunächst an, was Interdisziplinarität, nationale und internationale Verankerung und Praxisorientierung meint.

1.2Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaft

Interdisziplinarität beschreibt das integrationsorientierte Zusammenwirken von Personen aus mindestens zwei Disziplinen.12 Es lässt sich sagen, dass der Gegenstandsbereich der Kriminologie seit der Aufklärung von Philosophen, Anthropologen, Psychologen, Soziologen, Psychiatern, Medizinern, Juristen, Pädagogen, Politik- oder Erziehungswissenschaftlern, um nur einige zu nennen, also unter Einbeziehung verschiedener Disziplinen, betrachtet und erforscht wurde. Der jeweilige Einfluss einer Disziplin war in der Geschichte der Kriminologie und ist nach wie vor in verschiedenen Kulturen unterschiedlich stark.

Besondere Bedeutung haben die Soziologie, die Psychologie, die Pädagogik, die Medizin/Psychiatrie und die Biologie/Ethologie/Neurobiologie.

Die Soziologie ist eine Wissenschaft, die soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.13 Im Zentrum steht das Zusammenleben von Menschen und Gemeinschaften. Im Rahmen der Kriminalsoziologie geht es primär um die gesellschaftlich bedingten Ursachen von Kriminalität und abweichendem Verhalten, um soziale Probleme und soziale Kontrolle. So werden bspw. sozioökonomischer Status, Arbeitslosigkeit, Armut, Merkmale der Wohnumgebung und deren Zusammenhänge zur Kriminalität untersucht. Auch die sozialen Normen des Zusammenlebens in Gruppen und Gesellschaften und damit verbundene gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse sind Themen der Kriminalsoziologie. Der soziologische Ansatz fokussiert somit nach Sutherland, Cressey und Luckenbill14 auch verstärkt auf das „lawmaking“, indem Bedingungen, unter denen sich Strafgesetze z.B. aus Normen entwickeln, systematisch analysiert und ihre Folgen betrachtet werden.

Im Zentrum der Psychologie hingegen steht nicht die Gesellschaft, sondern das Individuum. Die Psychologie beschäftigt sich mit dem Erleben und Verhalten des Menschen, seine Entwicklung im Laufe des Lebens und alle dafür maßgeblichen inneren und äußeren Ursachen und Bedingungen. Von Bedeutung für die Kriminologie sind vor allem die Entwicklungs-, die Sozial- und die Rechtspsychologie.

Als Teilbereich befasst sich die Rechtspsychologie mit der Anwendung psychologischen Wissens oder psychologischer Methoden zur Lösung von Aufgaben des Rechtssystems.15 Sie ist wiederum in die Teilbereiche ‚Kriminalpsychologie‘ und ‚Forensischen Psychologie‘ unterteilt. Letztere befasst sich mit psychologischen Fragestellungen, die im Rahmen von Gerichtsverfahren auftreten. Die Kriminalpsychologie als enger verwandt mit der Kriminologie versucht mit psychologischen Theorien, Methoden und Erkenntnissen die Aufdeckung von Kriminalität zu fördern, wobei auch die Kriminalprävention sowie die Behandlung von Straftäter:innen zu ihrem Aufgabenbereich gehört.16 Kriminalpsycholog:innen arbeiten eher selten als Profiler:innen bzw. als Fallanalytiker:innen. Bereits seit 1999 hat die deutsche Polizei gezielt damit begonnen, besonders geeignete Kriminalbeamt:innen und wissenschaftliche Mitarbeiter:innen von OFA-Dienststellen17 als „Polizeiliche Fallanalytiker“ auszubilden.18 Polizeipsychologie umfasst alle Bereiche der Rechtspsychologie, die sich mit polizeipraktischen Fragen befassen.

Psychiatrie ist die medizinische Fachdisziplin, die sich mit der Prävention, Diagnostik und Therapie psychischer Störungen beschäftigt. Die Kriminalpsychiatrie sucht als Ursache der Tat eine psychische Erkrankung. Forensisch-psychiatrische Sachverständige werden vor Gericht insbesondere dann zu Rate gezogen, wenn es um Fragen der Schuldfähigkeit der Täter nach §§ 20, 21 StGB geht.

Frankfurter Allgemeine am 17.3.2013

Ausschnitt aus: Mordfall „Peggy Knobloch“: Viele Zweifel an einem zweifelsfreien Urteil von David Klaubert

„Das Landgericht Hof hat Ulvi Kulac am 30. April 2004 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Richter stellten fest, dass Kulac, um sexuellen Missbrauch zu vertuschen, die neun Jahre alte Peggy Knobloch erstickt habe. Beweise dafür hatten sie keine, es gab keine Tatzeugen, keine Spuren, auch der Leichnam von Peggy wurde nie gefunden. Die Richter bauten ihr Urteil auf ein Geständnis, das Kulac in mehreren Vernehmungen bei der Polizei abgelegt – und später widerrufen hatte. (…)

Auch vor Gericht blieb Kulac bei seinem Widerruf. Dennoch schrieb die Jugendkammer in ihrem Urteil, dass sie „zweifelsfrei davon überzeugt sei“, dass Kulacs Geständnisse glaubhaft seien. Die Richter beriefen sich dabei vor allem auf ein Gutachten des Berliner Kriminalpsychiaters Hans-Ludwig Kröber, der zu dem Ergebnis kam, dass Kulacs Schilderungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf realen Erlebnissen beruhten. Gerade wegen seiner verminderten Intelligenz sei Kulac nicht in der Lage, sich einen so schlüssigen, detailreichen Tathergang auszudenken und sich länger zu merken. Ein Motiv für eine falsche Selbstbelastung sei nicht erkennbar, außerdem gebe es keine Hinweise darauf, dass Kulac der Inhalt des Geständnisses suggeriert worden sei; ein Tatszenario seitens der Polizei habe es schließlich nicht gegeben.

Was Kröber offensichtlich nicht wusste: Die „Soko Peggy II“ hatte für die Vernehmungen Kulacs eine Tathergangshypothese erstellt, die sich wie ein Grundgerüst des späteren Geständnisses liest. Einfluss auf Kulacs Aussagen hatte Anwalt Euler zufolge auch Peter H., ein Kleinkrimineller und Mitinsasse im Bezirkskrankenhaus. H. spionierte Kulac im Auftrag der Polizei aus, bedrängte ihn immer wieder. Der Polizei berichtete H. schließlich, dass Kulac ihm den Mord an Peggy gestanden habe. Dies wiederholte H. auch vor Gericht und stützte damit die Glaubwürdigkeit von Kulacs Geständnis.“

Nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens wurde Kulac im April 2014 freigesprochen.

Wie sich eine Tathergangshypothese auf die polizeiliche Ermittlungsarbeit auswirkt, ist eine ebenso rechtspsychologische Fragestellung, wie die nach der Glaubhaftigkeit von Beschuldigten- und Zeug:innenaussagen. Übergeordnet geht es jedoch um die Erklärung des Täter:innenverhaltens und die Aufklärung der Straftat, so dass das Ineinandergreifen von Kriminologie und Kriminalistik, polizeilichen und gerichtlichen Prozessen sichtbar wird.

In der Biologie sind vor allem die Ethologie, die tierisches und menschliches Verhalten vergleichend erforscht,19 die Neurobiologie und die Genetik für die Erklärung von Kriminalität von Interesse. Aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse (bspw. zur Epigenetik oder zur Funktionsweise der Neurotransmitter)20 sind der Grund dafür, dass biokriminologische Ansätze derzeit vor allem in der nordamerikanischen und britischen Kriminologie einen Aufschwung erfahren. In Deutschland werden biokriminologische Ansätze nach wie vor nur zögerlich dem kriminologischen Kanon in Lehrbüchern zugeordnet, und wenn, dann wird ihnen mit Skepsis begegnet.21 Überwiegend wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass Kriminalität ein soziales Phänomen sei, und biokriminologischen Ansätzen keine zu große Bedeutung zugeschrieben werden sollte. Laue22 führt drei Gründe für das geringe Interesse in Deutschland an. Durch Stigmatisierung und Täter:innenzentrierung ließ sich in der Geschichte und vornehmlich in der NS-Zeit die eugenisch motivierte Vernichtung „unverbesserlicher“ Täter:innen begründen. Daraus resultierten in der Folge wissenschaftstheoretische Vorbehalte gegenüber der Biokriminologie und eine Hinwendung zu sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen. Dass eine Integration neuer biokriminologischer Ansätze in die bestehenden Kriminalitätstheorien bisher nicht glückte, sieht er in der Trennung der Kriminalpsychiatrie (Schwerpunkt bei Taten Schuldunfähiger) von der sozialwissenschaftlich orientierten Kriminologie, der es nicht leicht falle, biologische Ansätze zu rezipieren, und die diese zur Erklärung der Massenkriminalität auch nicht als erforderlich erachte.23

1.3Kriminologie als national und international verankerte Wissenschaft

Voraussetzung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin ist die universitäre Verankerung, entweder über einen gesonderten Studiengang oder Lehrstühle an einem Fachbereich oder Institut. Masterstudiengänge für Kriminologie gibt es in Deutschland nur wenige, lediglich in Hamburg, Bochum und Regensburg mit je eigenen Schwerpunktsetzungen. In Hamburg können Polizeibeamt:innen berufsbegleitend den Weiterbildungsmaster Kriminologie erlangen. In Bochum wird das Masterstudium Kriminologie und Polizeiwissenschaft als „Blended-Learning-Studium“ angeboten.

Traditionell ist Kriminologie in Deutschland allerdings den rechtswissenschaftlichen Fakultäten zugeordnet. Dies sollte jedoch nicht verleiten, sie nur als Ergänzung des Strafrechts zu bezeichnen. So werden Kriminolog:innen auch nicht müde, die Eigenständigkeit der Kriminologie zu betonen. Dies zu betonen, genügt jedoch nicht, denn faktisch ist die Lage kritisch zu betrachten.24 Sowohl von manchen Jurist:innen als auch durch ihre institutionelle Verankerung wird ihr teilweise nur der Stellenwert einer Hilfswissenschaft zugeschrieben.25 Seit den 1970er Jahren gab es an vielen juristischen Fakultäten Kriminologische Lehrstühle, oftmals in Kombination mit Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht. In den letzten Jahren werden diese jedoch zurückgedrängt und in Lehrstühle der klassischen Fächer des Strafrechts in Kombination mit Kriminologie, als Annex, umgewidmet. Dadurch hat die Kriminologie an den Universitäten erheblich an Bedeutung verloren. Ein kriminologischer Grundlagenschein ist nicht verpflichtend; das Fach kann i.d.R. lediglich im Rahmen eines Schwerpunktbereichs belegt und vertieft werden. Nach Albrecht26„wird eine Kriminologie, die empirisch ausgerichtet ist und strafrechtswissenschaftliche, soziologische, psychologische, ökonomische und psychiatrische Perspektiven einbezieht, an den Rechtswissenschaftlichen Fakultäten eher randständig“.

Auch an den soziologischen und psychologischen Instituten wurden die Kriminalsoziologie bzw. die Rechts- und Kriminalpsychologie in den letzten Jahren zurückgedrängt, so dass die Kriminologie auf universitärer Ebene in Deutschland einen starken Bedeutungsverlust hinzunehmen hatte.

Vor allem in angelsächsischen, aber auch in vielen anderen Ländern, allen voran die skandinavischen und die Beneluxstaaten, werden differenzierte Bachelor- und Masterprogramme angeboten, um „Criminal Law and Criminology“ oder „Crime and Criminal Justice“ zu studieren.

Durch die derzeitigen Bedingungen an den deutschen Universitäten findet ein Großteil der Forschung an außeruniversitären kriminologischen Forschungseinrichtungen statt. Zu nennen sind hier das 1979 gegründete Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) (früherer Direktor: Christian Pfeiffer; jetzt Thomas Bliesener), die 1985 gegründete Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden (KrimZ) (früherer Direktor: Rudolf Egg; jetzt Martin Rettenberger) und das 1969 gegründete Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht (ehemals Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht), Abteilung Kriminologie (früherer Direktor: Hans-Jörg Albrecht; jetzt Jean-Louis van Gelder). 2021 wurde zudem das Zentrum für kriminologische Forschung Sachsen e.V. (ZKFS) in Chemnitz gegründet. Direktor ist Frank Asbrock. Damit sind erstmals alle Direktoren dieser Einrichtungen Psychologen.

Die Akademisierung des Polizeiberufs hat dazu geführt, dass die Bedeutung der Kriminologie sowohl an den Hochschulen der Polizei als auch an den Landeskriminalämtern stark zugenommen hat. Durch das BKA werden seit den 1970er Jahren anwenderorientierte Forschungsstudien in den Kriminalwissenschaften durchgeführt und veröffentlicht.

In vielen Bundesländern wurden überwiegend an den Landeskriminalämtern eigene Forschungsstellen eingerichtet:

Bayern: „Kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei“ seit 1979

Hamburg: „Kriminologische Forschungsstelle“ seit 1989

Hessen: „Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle“ (KKFoSt) seit 2004

Niedersachsen: „Kriminologische Forschungsstelle“ (KFST) seit 2006

Nordrhein-Westfalen: „Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle“ (KKF) seit 2002

Schleswig-Holstein: „Kriminologische Forschungsstelle“ seit 2017

Thüringen: „Forschungsstelle der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung – Fachbereich Polizei“ seit 2017

In Rheinland-Pfalz soll an der Hochschule der Polizei eine Zentralstelle Forschung entstehen, um die Forschung weiter voranzutreiben.

Die nationale und internationale Verankerung der Kriminologie wird auch durch die zahlreichen kriminologischen Fachzeitschriften deutlich. Die wichtigsten deutschsprachigen Zeitschriften sind: „Die Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform“, „Forensische Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie“, „Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe“, „Kriminologisches Journal“, „Neue Kriminalpolitik“, „Bewährungshilfe“, „Rechtspsychologie“, „Soziale Probleme“, „Zeitschrift für Rechtssoziologie“, „Kriminalistik“, „Kriminalpolitische Zeitschrift (Online)“ und „Kriminologie – Das Online-Journal“.

Wichtige englischsprachige Journals sind: „Criminology“, „European Journal of Criminology“, „British Journal of Criminology“, „Crime and Delinquency“, „International Journal of Offender Therapy“, „Journal of Research in Crime and Delinqency“, „Journal of Quantitative Criminology“, „Journal of Interpersonal Violence“.

Nationale und internationale wissenschaftliche Vereinigungen und ihre regelmäßig stattfindenden Konferenzen weisen ebenfalls auf die Eigenständigkeit des Fachs hin. Sie dienen dazu, aktuelle kriminologische Forschungserkenntnisse auszutauschen und Kontakte zu knüpfen. Eine wissenschaftliche Vereinigung deutscher, österreichischer und schweizerischer Kriminolog:innen ist die Kriminologische Gesellschaft (KrimG) e.V., die alle zwei Jahre eine große Fachtagung organsiert.27

Die bereits 1941 gegründete American Society of Criminology (ASC) ist die größte internationale kriminologische Vereinigung.28 Im Jahr 2000 wurde die European Society of Criminology (ESC) gegründet, um ein Forum für die überwiegend in Europa tätigen Forscher:innen zu schaffen.29

„Internationalität“ meint nicht nur die Institutionalisierung der Disziplin, sondern auch die inhaltliche Ausrichtung. Kriminalität ist ein grenzüberschreitendes Phänomen, so dass viele Themenfelder unweigerlich internationalen Bezug haben, bspw. Analysen zu Menschenhandel, Organisierter Kriminalität oder Cyberkriminalität, interkulturelle Untersuchungen (bspw. länderübergreifende Dunkelfeldstudien zu Kriminalität30 und ihren Korrelaten wie bspw. ISRD31 oder ICVS32) oder rechtsvergleichende Analysen (bspw. zu Sanktionen).

Bevor wir uns mit konkreten Inhalten der Kriminologie auseinandersetzen, soll zunächst der Gegenstandsbereich näher beschrieben werden.

1.4Kriminalitätsbegriffe

Bereits in den ganz zu Beginn angeführten Definitionen kam zum Ausdruck, dass sich die Kriminologie nicht nur mit Kriminalität, sondern auch mit abweichendem Verhalten auseinandersetzt. Insofern ist es notwendig, sich den Gegenstandsbereich und die Abgrenzungen nochmals genauer anzuschauen. Was also ist Kriminalität?

Bereits Raffaele Garofalo hat in seinem Buch „Criminologia“ von 1885 den Vorschlag gemacht, sich an einem natürlichen Kriminalitätsbegriff (delitto naturale) zu orientieren. Es soll also einen Kernbestand der Kriminalität geben, der zu allen Zeiten und in allen Kulturen als verwerflich eingestuft und entsprechend bestraft wird.

Die „Delicta mala per se“ sind mit den sog. Indexdelikten vergleichbar, die in den USA als Maßstab für die Kriminalitätsentwicklung benutzt werden.33 Dazu gezählt werden die intentionale Tötung (Mord und Totschlag), Vergewaltigung, Raub, schwere Körperverletzung, Einbruch in Privaträume und Diebstahlsdelikte ab einem Beutewert ab 50 Dollar. Grundannahme dieses Kriminalitätsbegriffs ist, dass es universelles Recht bzw. Unrecht gibt, also Handlungen, die auch ohne Verbot als verwerflich anzusehen sind.

Kriminolog:innen fassen den Kriminalitätsbegriff weiter und subsumieren das gesamte sozial abweichende Verhalten (Devianz) darunter (soziologischer Kriminalitätsbegriff). „Sozial abweichend“ ist ein Verhalten, das gesellschaftlichen Regeln, (informellen) Normen und Erwartungen, die in der Gesellschaft oder in einem Teilbereich der Gesellschaft gelten, widerspricht. Der Begriff der Delinquenz berücksichtigt jugendkriminologische Erfordernisse und ist ebenfalls nicht an strafbare Verhaltensweisen gebunden; er umfasst darüber hinausgehendes jugendliches, dissoziales Verhalten (bspw. Schulschwänzen, Bandenzugehörigkeit, Alkoholmissbrauch).34

Zwischen dem engen Kern verwerflicher menschlicher Handlungen („Delicta mala per se“) und dem weiten Bereich des abweichenden Verhaltens liegt der strafrechtliche Kriminalitätsbegriff, also alle Handlungen, die durch ihr Verbot als verwerflich definiert werden („Delicta mere prohibita“). Der strafrechtliche Kriminalitätsbegriff scheint einfach zu fassen zu sein, denn alles, was der Gesetzgeber unter Strafe stellt, ist diesem formellen Kriminalitätsbegriff zuzuordnen.

Doch so einfach, wie es scheint, ist es nicht. Denn wann wird ein Verhalten als strafrechtlich relevant und wann als nur abweichend eingestuft?

Abbildung 2: Schnittmengen informeller und formeller Normen, eigene Darstellung

Über die Existenz von Normen in der Gesellschaft wird abweichendes Verhalten definiert. Eine Norm ist danach jede soziale, ethische oder rechtliche Regel, deren Befolgung erwartet wird. „Kann-Normen“ sind Bräuche und Gewohnheiten, während es sich bei „Soll-Normen“ um sittlichen Gebote handelt. Diesen informellen Normen werden formelle Normen bspw. in Form von Gesetzen als „Muss-Normen“ oder „institutionalisierte Werte und Normen“ entgegengesetzt.35

Die Schwierigkeit aller Normen liegt darin, dass sie keine starren Grenzen haben. In jeder Gesellschaft und in jeder Kultur herrschen andere Verhaltenserwartungen und Regeln. Staaten unterscheiden sich danach, ob ein Verhalten als strafwürdig oder nicht betrachtet wird. Man spricht von der interkulturellen Variabilität von Normen („Andere Länder, andere Sitten“). Aber auch intrakulturell sind Normen nicht starr. So können bspw. zu Kriegszeiten andere Regeln gelten als in Friedenszeiten (intrakulturelle Flexibilität von Normen). Oder aber Normen können sich innerhalb eines Staates über die Zeit verändern (intrakulturelle Variabilität von Normen). Im Laufe der Geschichte gab es vielfältige Wandlungen der Kriminalisierung und Entkriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen.

1.5Soziale Kontrolle

Bestimmte Regeln müssen in jeder Gesellschaft eingehalten werden. Die Einhaltung der Normen und Regeln kann aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise gesteuert werden.

Strafrecht ist dabei nur eine Form der sozialen Kontrolle, ein von dem amerikanischen Soziologen Edward Alsworth Ross mit seinem Buch „Social Control“ 1901 eingeführter Begriff. Soziale Kontrolle reicht weit über das formalisierte Strafrecht hinaus. Nach Reinke und Schierz36„umfasst der Begriff im weitesten Sinne die Gesamtheit aller sozialen Prozesse und Strukturen, mit denen in einer Gesellschaft ein als abweichend definiertes Verhalten überprüft und sanktioniert wird“.

Nach Lamnek und Ottermann37 wird Selbstkontrolle als internale soziale Kontrolle beschrieben (vgl. Tabelle 1). Dabei geht es um innere Kontrollmechanismen und um das Ausmaß, nach dem Verhalten entweder von einem guten oder einem schlechten Gewissen begleitet wird.

Fremdkontrolle ist eine externale Form der Verhaltensregulierung. Über äußere Schranken und Verbote wird versucht, abweichendes Verhalten präventiv zu vermeiden. Es können aber auch positive Sanktionen für positives Verhalten (Lob, Belohnungen etc.) oder negative Sanktionen für abweichendes Verhalten verhängt werden. Eine förmliche Sanktion/Reaktion wäre bspw. das Tätigwerden des Jugendamtes, der Polizei oder der Justiz. Vornehmlich wird soziale Kontrolle über informelle Sanktionen ausgeübt, also bspw. von der Familie, der Schule, der Nachbarschaft, der Peer-Group, den Arbeitskolleg:innen, der Öffentlichkeit und den Medien. Dies kann sowohl gesellschaftlich missbilligtes Verhalten betreffen, auf das mit Spott, Missbilligung, Ausgrenzung oder Stigmatisierung reagiert werden kann. Man denke aber auch an Straftaten in der Familie (z.B. Gewalt gegenüber der Ehefrau), in der Schule (z.B. Erpressung von Mitschüler:innen, „Abziehen”) oder in der Wirtschaft (z.B. Untreue eines Bankangestellten). Selbst wenn die entsprechenden Verhaltensweisen für einen Außenstehenden eindeutig als Straftaten erkennbar sein sollten, führen sie nur in einigen Fällen zur Einleitung eines förmlichen Strafverfahrens und zur Bestrafung des Täters. Die jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme versuchen i.d.R. zunächst, auf die strafrechtlich relevanten Normverletzungen mit eigenen, nichtstrafrechtlichen Sanktionen zu reagieren (z.B. mit Trennung und Scheidung, schulischen Disziplinarmaßnahmen, fristloser Kündigung des Arbeitsverhältnisses u.ä.).

Tabelle 1: Differenzierung von Selbst- und Fremdkontrolle aus Lamnek & Ottermann (2004), zitiert nach Menzel & Wehrheim (2010, S. 510)

Selbstkontrolle(internale soziale Kontrolle)

Fremdkontrolle(externale soziale Kontrolle)

Grad der Internalisiertheit, der Akzeptanz bzw. der intrinsischen Wirksamkeit von Normen:

Ausmaß, in dem konformes Verhalten voraussichtlich oder tatsächlich intrinsisch belohnend (nützlich) und abweichendes Verhalten intrinsisch bestrafend (kostspielig) ist

Grad der Institutionalisiertheit von Sanktionen bzw. der extrinsischen Wirksamkeit von Normen:

Ausmaß, in dem andere auf abweichendes bzw. konformes Verhalten voraussichtlich oder tatsächlich reagieren (Wahrscheinlichkeit und Nettonutzen sozialer Reaktionen)

gutes Gewissen(innere Ruhe, Stolz):

positives Selbstwertgefühl, das aus der Befolgung internalisierter Normen resultiert (moralischer Nutzen)

positive Sanktion(Lob, Belohnung):

voraussichtlicher oder tatsächlicher Nutzen, der aus der sozialen Reaktion auf konformes Verhalten entsteht

schlechtes Gewissen(Scham, Schuld):

negatives Selbstwertgefühl, das aus der Nichtbefolgung internalisierter Normen resultiert (moralische Kosten)

negative Sanktion(Tadel, Bestrafung):

voraussichtliche oder tatsächliche Kosten, die aus der sozialen Reaktion auf abweichendes Verhalten entstehen

Die Mechanismen der strafrechtlichen Sozialkontrolle werden jedenfalls meist erst dann bemüht, wenn der strafrechtlich relevante Konflikt mit den eigenen Mitteln nicht mehr adäquat bewältigt werden kann. Informelle Kontrollmechanismen sind von großer Bedeutung, da 90 % der amtlich registrierten Straftaten erst durch Anzeigen Privater bekannt werden.38

Das Strafrecht ist nur eine Form der externalen Fremdkontrolle und damit nur ein kleiner Ausschnitt im System der sozialen Kontrolle. Die im Strafgesetzbuch angedrohte Strafe ist nur eine von zahlreichen Regulierungsmöglichkeiten und die staatliche Strafverfolgung durch Polizei und Justiz ist nur ein Träger sozialer Kontrolle unter vielen. Strafrecht ist in vielfältiger Weise eingebettet in das allgemeine System der Sozialkontrolle.

Abbildung 3: Geschichte des Strafrechts als Geschichte der Neutralisierung von Opferinteressen nach Kreuzer (2003)

Dem Strafrecht kommt als dem am stärksten formalisierten Teil der externalen Fremdkontrolle eine besondere Bedeutung zu. Strafrecht ist öffentliches Recht, d.h., die Verfolgung von Kriminalität wird als öffentliche, hoheitliche Aufgabe geregelt. Dem Staat wurde das Gewaltmonopol übertragen. Dies ist keine Selbstverständlichkeit. Lange Zeit wurde Strafverfolgung in unserer Kultur als Privatangelegenheit betrachtet (vgl. Abbildung 3). Denn der private Wiedergutmachungs- und Sühneanspruch der betroffenen Opfer hat sich im Laufe der Zeit in eine ausschließlich öffentlich-rechtliche Beziehung zwischen Täter und Staat gewandelt, wobei die Opferinteressen lange Zeit aus dem Blick geraten waren. Seit erst gut 30 Jahren unternimmt der Staat vermehrt Anstrengungen, die Opferinteressen im Strafverfahren zu würdigen.

Die besondere Bedeutung des Strafrechts resultiert daraus, dass staatliches Strafen den Bürger mit dem intensivsten Eingriff staatlicher Hoheitsgewalt konfrontiert. Über die schärfste Sanktion der lebenslangen Freiheitsstrafe kann ein Bürger seines Grundrechts auf Freiheit auf Dauer beraubt werden. Frühestens nach 15 Jahren ist gemäß § 57a StGB eine Aussetzung des Strafrestes möglich. Die durchschnittliche Verweildauer im Strafvollzug beträgt 19 Jahre.39 Zudem wird teilweise übersehen, dass oftmals nicht die unmittelbare Strafe die schwerste Folge für den Täter darstellt, sondern die mittelbaren Folgen schwerer wiegen können. Das gesamte soziale Umfeld (Partner, Kinder etc.) wird in Mitleidenschaft gezogen. Stigmatisierende, wirtschaftliche und auch arbeits- oder beamtenrechtliche Folgen reichen weit über die Zeit der Sanktionierung hinaus.

Auch wenn die Strafrechtstheorie zu einer Überschätzung der Bedeutung der strafrechtlichen Reaktion neigt, da ihr spezial- und generalpräventive Wirkung zugesprochen wird,40 ist es bei einem Blick auf das Gesamtsystem der Sozialkontrolle unter Berücksichtigung der empirisch-kriminologischen Sanktionswirkungsforschung offensichtlich, dass das Strafrecht für sich genommen nur eine sehr begrenzte Wirkkraft entfalten kann.

Zu klären ist nun noch, wie der Staat dazu kommt, bestimmte Verhaltensweisen zu verbieten oder sogar unter Strafe zu stellen, andere nicht? Warum stehen genau die Tatbestände im StGB und nicht andere (wie z.B. Ehebruch)? Und wie kommt es zu der Wertung „strafwürdiges Unrecht“? Sind tatsächlich alle Verhaltensweisen, die strafbar sind, auch sozial abweichend?

1.6Zur Legitimation staatlicher Sozialkontrolle durch Strafrecht

Fest steht, dass sich die Legitimation des Staates zu strafen aus der Aufgabe des Strafrechts ableiten lässt. Nach dem BVerfG ist „allgemeine Aufgabe des Strafrechts, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen“.41 Nur wenn ein Verhalten für das gesellschaftliche Zusammenleben schädlich ist, also eine Störung des Rechtsfriedens bewirkt wird,42 kann eine Strafe als notwendig erachtet werden. Jedoch können viele Verhaltensweisen den sozialen Frieden massiv stören und stehen dennoch nicht unter Strafe.

Wie alle staatlichen Eingriffe bedarf auch der Einsatz des Strafrechts einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss Strafe einen legitimen Zweck verfolgen und zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein.43

Der präventive Zweck der Strafe wird also als Ausgangspunkt gewählt. Hingegen ist Schuld nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um den Täter zu strafen.44 Der Einsatz des Strafrechts darf also nicht vollkommen zweckfrei, allein auf Basis von Sühne und Vergeltung im Sinne der absoluten Straftheorie, erfolgen.45 Es müssen präventive Zwecke hinzutreten. Zudem muss das Strafrecht als stärkster staatlicher Eingriff den schwersten Normverstößen als letztes Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip) vorbehalten sein.46 Es dürfen also nicht mildere Mittel gegeben sein, um das angestrebte Ziel zu erreichen.

Die Rechtsgutslehre bietet eine Möglichkeit, für unterschiedliche Formen menschlichen Verhaltens zu bestimmen, ob deren Kriminalisierung legitim ist oder nicht.48 Durch den Schutz von Rechtsgütern dient das Strafrecht der Verwirklichung des Gemeinwohls und der Wahrung des Rechtsfriedens; es orientiert sich an der sozialethischen Werthaltung unserer Verfassung.49 Roxin und Greco50 definieren Rechtsgüter als „Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die dem Einzelnen und seiner freien Entfaltung im Rahmen eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden sozialen Gesamtsystems oder dem Funktionieren dieses Systems selbst nützlich sind“.

Es werden Individualrechtsgüter und Universalrechtsgüter (Rechtsgüter der Allgemeinheit) unterschieden. Typische Individualrechtsgüter sind die durch die Grundrechte geschützten subjektiven Rechte: Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit (Leib und Leben), Ehre, persönliche Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung, Eigentum, Vermögen. Sie sind „disponibel“. Der Inhaber eines Rechtsguts kann nach seinem freien Willen in die Verletzung seiner Rechtsgüter einwilligen. Jedoch besteht keine Verfügbarkeit über die Menschenwürde und über das Leben,51 und die Einwilligung in einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist durch § 228 StGB begrenzt.

Universalrechtsgüter sind bspw. die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs52, die Rechtspflege, der Bestand des Staates und seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Geschäfts- und Rechtsverkehrs, die Umwelt.

Aus den Prinzipien der Verfassung und der Rechtsgutslehre ergeben sich gewisse Beschränkungen für den Gesetzgeber. Willkürliche Strafdrohungen darf es nicht geben. Auch dürfen keine ideologischen Zielsetzungen wie bspw. die „Reinhaltung des deutschen Blutes“ (nationalsozialistisches Verbot der sog. Rassenschande) verfolgt werden. Bloße Moralwidrigkeiten sind nicht geschützt.

Beispiel für die Wandelbarkeit des Strafrechts

Bis 1969 bzw. 1973 standen bspw. Ehebruch (§ 172), Homosexualität unter Erwachsenen (§ 175), Kuppelei (§ 180) oder Verbreitung der Pornographie (§ 184) unter Strafe.

Ehebruch [30. März 1943–1. September 1969]

§ 172 (1) Der Ehebruch wird, wenn wegen desselben die Ehe geschieden ist, an dem schuldigen Ehegatten, sowie dessen Mitschuldigen mit Gefängniß bis zu sechs Monaten bestraft.

Homosexualität, Sodomie

[1. Januar 1872–1. September 1935]

§ 175. Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

[1. September 1935–1. September 1969]

§ 175 (1) Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.

Kuppelei [1. Oktober 1927–1. September 1969]

§ 180 StGB (1) Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittelung oder durch Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistet, wird wegen Kuppelei mit Freiheitsstrafe von einem Monate bis zu fünf Jahren bestraft; auch kann zugleich auf Geldstrafe von einhundertfünfzig bis zu sechstausend Mark sowie auf Zulässigkeit von Polizei-Aufsicht erkannt werden. Sind mildernde Umstände vorhanden, so kann die Gefängnißstrafe bis auf einen Tag ermäßigt werden.

(2) Als Kuppelei gilt insbesondere die Unterhaltung eines Bordells oder eines bordellartigen Betriebs.

(3) Wer einer Person, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, Wohnung gewährt, wird auf Grund des Abs. 1 nur dann bestraft, wenn damit ein Ausbeuten der Person, der die Wohnung gewährt ist, oder ein Anwerben oder ein Anhalten dieser Person zur Unzucht verbunden ist.

Die Bevölkerung sah diese Delikte allgemein als unmoralisch an, jedoch fehlte die Rechtsgüterverletzung. Allerdings war es damals stark umstritten und daher kriminalpolitisches Dauerthema, ob vom Strafrecht tatsächlich nur Rechtsgüter zu schützen seien.

Im Entwurf der Bundesregierung von 1962 (E62) ist zu lesen, dass nicht ausgeschlossen sei, „bestimmte Fälle ethisch besonders verwerflich und nach der allgemeinen Überzeugung schändlichen Verhaltens auch dann mit Strafe zu bedrohen, wenn durch die Tat kein unmittelbar bestimmbares Rechtsgut verletzt wird.“

Der Bundesgerichtshof entschied letztmals 1962, dass der Beischlaf unter Verlobten Unzucht und deren Förderung durch das Zurverfügungstellen einer Wohnung als Kuppelei strafbar sei. Im Rahmen der gesellschaftlichen Liberalisierung wurde der Begriff Unzucht als Rechtsbegriff in Deutschland aufgegeben.

Ein Arbeitskreis von damals zwölf deutschen und zwei schweizerischen Strafrechtsprofessoren legte 1966 einen Alternativ-Entwurf StGB zum E62 vor. Dieser enthielt die Aussage, dass das Strafrecht dem Rechtsgüterschutz diene. Mit der Großen Strafrechtsreform der Regierung Brandt im Jahre 1969 wurden u.a. die Straftatbestände des Ehebruchs und der Kuppelei abgeschafft. Der 13. Abschnitt des StGB, der zuvor die Überschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ trug, wurde nun umbenannt in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ (§§ 174–184c). Dennoch hat sich der umgangssprachliche Ausspruch „bei der Sitte arbeiten“ in der Polizei sehr viel länger gehalten.

Trotz der Verdienste der Rechtsgutstheorie bleiben Zweifel daran, ob sie tatsächlich Maßstäbe und Grenzen für die Strafgesetzgebung aufstellen kann.53 Der Begriff des Rechtsguts ist relativ unbestimmt. Als Rechtsgüter können alle Lebensgüter, Sozialwerte und rechtlich anerkannten Interessen des einzelnen oder der Allgemeinheit fungieren, die wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Gesellschaft Rechtsschutz genießen. Insofern kann der Staat neue Rechtsgüter kreieren, wie bspw. im Rahmen des Anti-Doping Gesetzes das Rechtsgut der „Integrität des Sports“.54

Zudem ist der Schutz eines Rechtsguts nicht nur den Straftaten vorbehalten, sondern auch Ordnungswidrigkeiten schützen Rechtsgüter. Beispielsweise schützt § 117 OWiG die Allgemeinheit und die Nachbarschaft vor Belästigungen; daneben und darüber hinaus auch Einzelpersonen vor Gesundheitsschäden.55

Wie sind Ordnungswidrigkeiten, bspw. unzulässiger Lärm oder Falschparken, von Straftaten abzugrenzen?

Straftaten sind nach § 12 StGB Vergehen und Verbrechen. Liegt das im Gesetz angedrohte Mindestmaß bei einem Jahr Freiheitsstrafe oder darüber, liegt ein Verbrechen vor, ansonsten wird von einem Vergehen gesprochen.

Erstmalig wurde die Trennung von Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht im Wirtschaftsstrafgesetz von 1949 durchgeführt. Mit dem OWiG 195256 wurde ein Rahmengesetz erlassen, das die Grundsätze der Verwaltungshandung aufstellte.

Durch das OWiG von 196857 wurde das Ordnungswidrigkeitenrecht selbständig. Die ursprüngliche Dreiteilung in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen wurde aufgegeben, so dass seit dem 1.1.1975 Übertretungen (§§ 360 ff. a.F.) aus dem StGB verschwunden sind. Ein Teil der Tatbestände entfiel ersatzlos, ein anderer wurde zu Vergehen aufgewertet, ein dritter Teil zu Ordnungswidrigkeiten umgewidmet.58

Einer Ansicht nach unterscheiden sich Ordnungswidrigkeiten ihrem Wesen nach qualitativ von Straftaten. Das Wesen des Strafrechts wird im (individuellen) Rechtsgüterschutz gesehen, das des Ordnungswidrigkeitenrechts im Verwaltungsunrecht bzw. im Ungehorsam.59 Daher werden letzte verwaltungsrechtlich nur mit einer Geldbuße geahndet. Der qualitative Unterschied liegt also in dem jeweiligen Sanktionensystem.60

Eine andere Ansicht sieht allein quantitative Unterschiede zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit.61 Danach stelle eine Straftat einen stärker zu missbilligenden Verstoß gegen die Regeln des Zusammenlebens dar als die OWi.

Aber: OWis unterscheiden sich von den Straftaten in ihrem Wesen und hinsichtlich der Rechtsfolge. Das BVerfG beschreibt OWis als Fälle mit geringerem Unrechtsgehalt, die sich von den kriminellen Vergehen durch den Grad des ethischen Unwertgehaltes unterscheiden.62Demnach werde die an eine Ordnungswidrigkeit geknüpfte Geldbuße auch lediglich als eine nachdrückliche Pflichtenmahnung angesehen und empfunden. Die h.M. hat sich dem BVerfG angeschlossen und vertritt diese gemischt-qualitativ-quantitative Theorie.63

Wann ist ein Verstoß gegen die Regeln des Zusammenlebens aber nun so groß, dass eine Einstufung als Straftat erforderlich ist? Alle Eingrenzungsversuche zeigen, dass Reaktionen des Gesetzgebers und Veränderungen des Strafrechts immer im Kontext von sozialem Wandel zu betrachten sind. Sozialer Wandel beschreibt Veränderungen der Sozialstruktur oder ihrer Teilbereiche (z.B. Arbeitsleben, Familienstrukturen, Religion, Technik, Kommunikation, Mobilität etc.). Gesetze reflektieren eine sich verändernde Wert- und Normenordnung der Gesellschaft. So sind für die Beurteilung der Strafwürdigkeit von Handlungen neben den Begrenzungen des Verfassungsrechts und der Rechtsgutslehre kriminalpolitische Erwägungen der Kriminalisierung und Entkriminalisierung unter Berücksichtigung des jeweils aktuellen kriminologischen Erkenntnisstandes verhandelbar und wandelbar.64

Der Einstufung als Straftat liegt also immer ein kriminalpolitischer Bewertungsprozess zugrunde. Trotz des Ziels der Eliminierung von Moralwidrigkeiten aus dem StGB sind bei genauerer Betrachtung noch zahlreiche Beispiele vorhanden, die sich im Bereich moralischer Wertungen befinden.

Durch das 4. StrRG vom 23.11.1973 wurde der strafrechtliche Schutz gegen die ungewollte Wahrnehmung sexueller Aktivitäten mit den zwei Tatbeständen § 183 und § 183a StGB geregelt.

§ 183a StGB (Erregung öffentlichen Ärgernisses) schützt nach einer Auffassung Allgemeininteressen der Respektierung sozial-moralischer Grundanschauungen. Bei Strafnormen im Kontext sexueller Verhaltensweisen laufe die Heranziehung kollektiver Rechtsgüter nicht selten auf den Schutz von reinen Moralanschauungen oder Sexualvorstellungen hinaus.65 Daher wird hier nach h.M. ausgewichen auf den Schutz von Individualinteressen. Der Einzelne habe einen Anspruch auf Achtung seiner Anschauungen, die durch ungewollte und aufgezwungene intime Verhaltensweisen Fremder verletzt werden. Der Täter verzichte demonstrativ auf seine Würde und greift dadurch die Würde des Betroffenen an.

An diesem Beispiel mit seiner Schwierigkeit, das geschützte Rechtsgut zu bestimmen, ist erkennbar, dass hier die Strafwürdigkeit des Verhaltens in Frage steht. Der Paragraf „versinnbildliche den vom Gesetzgeber und der Justizpraxis zu leistenden Spagat zwischen einer gebotenen Pönalisierung devianter sexualbezogener Handlungen und der gebotenen Entkriminalisierung von Verhaltensweisen, deren Strafbarkeit auf einer übertriebenen Sexualmoral beruht.“66 Die Vorschrift gilt unverändert seit 197467, obwohl sich Wert- und Normenordnung der Gesellschaft massiv verändert haben und die Strafwürdigkeit des Verhaltens stark anzuzweifeln ist. Geringfügigem Unrecht sollte mit Sanktionen des Ordnungswidrigkeitenrechts begegnet werden.

Auch die Vorschrift des § 183 StGB (Exhibitionismus) stand und steht nach wie vor in der Kritik. Die Vorschrift schützt den Einzelnen vor aufgedrängter Konfrontation mit fremder und beziehungsloser Sexualbetätigung, die häufig als schockierend und bedrohlich empfunden wird und zu nachhaltigen psychischen Schäden führen kann. Neben diesem Schutz des Individualrechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung ist der Schutz der Allgemeinheit vor beunruhigenden Handlungen nicht bezweckt.68

Lange Zeit wurde kritisiert, dass bei dem Delikt letztlich nur die Verletzung moralischer Normen im Vordergrund stehe und keine Rechtsgüterverletzung; zudem sei der Unrechtsgehalt so gering, dass eine Kriminalisierung nicht zu rechtfertigen sei.69 Auch später wurde die Ansicht vertreten, dass es sich beim Exhibitionismus um ein „Delikt im Grenzbereich zum Ordnungswidrigkeitenrecht handele“.70

Görgen71 stellt heraus, dass weder über mögliche Übergänge zu gewaltförmigen Delikten noch über die Rückfälligkeit hinreichende Erkenntnisse vorliegen. Dies zeigt auf, wie wichtig für die Entscheidung einer Kriminalisierung empirische kriminologische Forschung ist.

1.7Praxisorientierung – Kriminaljustizsystem, Kriminalpolitik und angewandte kriminologische Forschung

„Eine rationale, folgenorientierte Kriminal- und Strafrechtspolitik ist ohne eine solide empirische Grundlage nicht möglich“; so ist es im zweiten Periodischen Sicherheitsbericht formuliert.72 Danach sollten also wissenschaftliche Erkenntnisse direkten Einfluss auf kriminalpolitische Bestrebungen haben und Gesetzgebungsprozesse mitbestimmen.

Was ist Kriminalpolitik?

Über den Begriff besteht keine Einigkeit. Schwind und Schwind 73 verstehen unter Kriminalpolitik „die Gesamtheit aller staatlichen und außerstaatlichen (also nicht nur strafrechtlichen) Maßnahmen, die zum Schutz der Gesellschaft und des einzelnen Bürgers auf Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität gerichtet sind“.

Tatsächlich macht die Kriminalpolitik aber nur „partiell und zögerlich von dem Wissen über Kriminalität und Verbrechen Gebrauch“.74 Die Realität ist leider weit entfernt von einer solchen „wissensbasierten Kriminalpolitik“, da Entscheidungen im hohen Maße von Medien, Meinungen in der Bevölkerung und letztlich erwünschten Wahlergebnissen abhängig gemacht werden.

Wie stark die Kriminalpolitik von den zuletzt genannten Faktoren beeinflusst wird, zeigt sich darin, dass die im letzten Abschnitt dargelegten Grundsätze zur Begrenzung des Strafrechts oft ins Leere laufen. Dem Ultima-Ratio-Grundsatz wird vorgeworfen, er entfalte keine „verfassungsrechtliche Wirkkraft“, da „bei tagesaktuellen Anlässen nahezu reflexartig nach der scharfen Waffe des Strafrechts zur Vorgaukelung von Entschlossenheit gerufen werde“.75 So hat es tatsächlich von 1990 bis 2005 doppelt so viele Strafrechtsänderungsgesetze im Vergleich zu dem Zeitraum von 1976 bis 1990 gegeben,76 die überwiegend in einer Verschärfung des Strafrechts mündeten.

Das Strafrecht scheint besonders gut geeignet, den Bürger:innen das Gefühl von Sicherheit zu geben. Gern versprechen Politiker:innen kurz vor Wahlen Strafverschärfungen in Bereichen, die in der Bevölkerung Angst und Sorge bereiten.77 Prominentes Beispiel war die Forderung des Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) vor der Landtagswahl 2008 nach einem „Warnschuss-Arrest“ als Reaktion auf den Überfall auf einen Rentner in München durch zwei jugendliche Straftäter.78

Die vermeintliche Sicherheitsschaffung findet floskelhaft Eingang in die Gesetzesbegründungen, wenn dort das Ziel der „Abschreckung potentieller Täter durch eine Verschärfung des Strafrechts“ angeführt wird.79 Zuletzt wurde im vom Bundestag am 25.03.2021 beschlossenen „Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ angeführt: „Die in den Jahren 2017, 2018, 2019 und 2020 bekanntgewordenen Missbrauchsfälle von Staufen, Bergisch-Gladbach, Lügde und Münster zeigen in aller Deutlichkeit auf, dass das Strafrecht, das an sich bereits heute empfindliche Strafen für sexualisierte Gewalt gegen Kinder und die Delikte der Kinderpornographie vorsieht, nicht die erhoffte Abschreckungswirkung entfaltet.“80

Diese Formel der vermeintlichen Abschreckungswirkung durch Strafrecht (neg. Generalprävention) wird immer wieder unter Missachtung kriminologischer Forschung wiederholt. Denn die erwartete negativ spezial- und generalpräventive (abschreckende) Wirkung längerer und härterer Sanktionen lässt sich empirisch nicht bestätigen.81 Oftmals wird auch argumentiert, dass Strafbarkeitslücken geschlossen werden müssten.82 Dabei ist bereits der Begriff irreführend, da das StGB ausdrücklich nur einen Teil des menschlichen Verhaltens sanktioniert und insofern notgedrungen aus Lücken bestehen muss.

In der Schaffung neuer Straftatbestände wie bspw. der Nachstellung von 2007 (§ 238 StGB) oder des derzeit diskutierten Straftatbestandes des Cybermobbing83 kommt oftmals symbolische Strafgesetzgebung zum Ausdruck. Nach Hassemer84 gibt es symbolisches Strafrecht in vielfältiger Form: „Strafrecht, das weniger auf den Schutz der jeweiligen Rechtsgüter angelegt ist als auf weiterreichende politische Wirkungen wie etwa die prompte Befriedigung eines ‚Handlungsbedarfs‘. Es ist ein Krisenphänomen der modernen folgenorientierten Kriminalpolitik. Diese baut das Strafrecht tendenziell zu einem flankierenden Instrument der Politik aus mit diffusen Universalrechtsgütern und abstrakten Gefährdungsdelikten.“

Einer Einteilung von Jasch85 zufolge kann zwischen der Präsentation des Gesetzes seitens des Gesetzgebers als „verdeckt“ oder „offen“ unterschieden werden und der Funktion symbolischen Rechts als „normsetzend“ oder „normverteidigend“. Verdeckt bedeute das Vortäuschen einer „präventiven Effektivität der Norm“, obwohl sie „nach verbreiteter Einschätzung, den bisherigen Erfahrungen oder sogar empirischen Befunden dazu von Anfang an überhaupt nicht in der Lage war“. Offenes symbolisches Strafrecht hingegen intendiert eben diese symbolische Funktion und erhebt erst gar nicht den Anspruch der Normdurchsetzung. Mit dieser Form der Gesetzgebung sei die Hoffnung verbunden, die Existenz der Norm werde „für ihre praktische Implementierung im gesellschaftlichen Leben sorgen“. Allein normsetzendes symbolisches Strafrecht schafft neue Verhaltensregeln, die in der Gesellschaft zuvor nicht als verbindlich betrachtet wurden. Wenn es allerdings um die Verteidigung einer Norm geht, so war das Verhalten grundsätzlich schon verboten. Der Gesetzgeber möchte jedoch eine spezifische Variante des Verhaltens über Qualifikationen, Privilegierungen oder die Schaffung eines neuen Tatbestandes ausdifferenzieren und klarstellen.

Beispiele kriminalpolitischer Wertungen

1.2015 wurde die Strafbarkeit des Selbstdoping im Wettkampfsport (§§ 3, 4 AntiDopG) eingeführt mit dem Ziel, die Gesundheit der Sportler:innen zu schützen, die Fairness und Chancengleichheit bei Sportwettbewerben zu sichern und damit zur Erhaltung der Integrität des Sports beizutragen (§ 1 AntDopG). Damit reagierte der Gesetzgeber auf zahlreiche Dopingskandale. Allerdings wird das Gesetz wegen Ungeeignetheit als Verstoß gegen das Ultima-Ratio-Prinzip kritisiert.86

2.Bei illegalen Straßenrennen mit Kraftfahrzeugen handelte es sich um eine Ordnungswidrigkeit (§ 29 I i.V.m. § 49 I Nr. 5 StVO), die mit einem Bußgeld und einem Fahrverbot geahndet wurde. 2017 hat der Gesetzgeber illegale Rennen zu einem Straftatbestand in § 315d StGB aufgewertet.87 Fast jede:r dritte Verkehrstote in Deutschland kam im vergangenen Jahr bei einem Unfall im Zusammenhang mit zu hoher Geschwindigkeit ums Leben. Doch ist § 315d geeignet, unerwünschte Raserei zu verhindern? Auch hier bestehen begründete Zweifel, dass die Heraufstufung zum Straftatbestand die Zahl der Straftaten nicht reduzieren wird.

3.Mit dem 2017 eingeführten § 114 StGB88, der jeden Angriff auf einen Amtsträger höher sanktioniert als eine Körperverletzung nach § 223 StGB, sollte der staatlichen Autorität Nachdruck verliehen werden. Dies wird als Schaffung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft aus Amtsträger:innen und Bürger:innen betrachtet und als verfassungswidrig gewertet.89 Im Corona-Jahr 2020 wurde deutlich mehr Gewalt gegen Polizeibeamt:innen berichtet.90

4.Das Sexualstrafrecht ist seit Jahren Ausdruck einer „moralisierenden, populistischen, auf konkrete spektakuläre, massenmedial skandalisierte Ereignisse“91 reagierenden Kriminalpolitik. Laufend wurde das Sexualstrafrecht verschärft, zuletzt mit dem vom Bundestag am 25.03.2021 beschlossenen „Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“.92 Unter anderem wird der Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 StGB) zu einem Verbrechen hochgestuft mit einem Strafrahmen von einem Jahr bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe (bisher als Vergehen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bedroht). Auch Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte (§ 184b StGB) wird zum Verbrechen mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren (bisher drei Monate bis fünf Jahre).93

Andersherum gibt es einige Straftatbestände im Bagatellbereich, deren Entkriminalisierung seit Jahren im Sinne des Ultima-Ratio-Prinzips und zur Entlastung des Strafrechtssystems gefordert wird.

1.Zu nennen wäre hier die längst überfällige Entkriminalisierung des Cannabiskonsums. Nicht nur läuft die Kriminalitätsbekämpfung nachweisbar ins Leere, auch werden Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden vergeudet und der Schwarzmarkt angekurbelt, auf dem Cannabis von wenigen Anbietern zu hohen Preisen der großen Zahl der Konsument:innen angeboten werden kann.94 So verwundert es nicht, dass der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK)95 seine schon seit einigen Jahren aufgestellte Forderung nach einer nicht-repressiven Drogenpolitik im Umgang mit Konsument:innen bekräftigt. Am 16.09.2020 scheiterte der Antrag eines Cannabiskontrollgesetzes der Fraktion Die Grüne96, weil CDU, SPD und AfD den Gesetzentwurf unter Enthaltung der Stimmen der FDP ablehnten. Das Hauptargument war, dass durch einen regulierten Markt der Konsum, insbesondere der der Jugendlichen, gefördert würde, wofür es bisher keinerlei empirische Nachweise gibt. Im Gegenteil konnten bisher in Staaten, die eine Politik der Entkriminalisierung oder Regulierung verfolgen, keine erhöhten Konsumraten Jugendlicher verzeichnet werden.97 Nach dem Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und FDP 2021 soll nun in den kommenden Jahren die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken geregelt werden.98

2.Ein weiteres Beispiel ist das Bagatelldelikt der Beförderungserschleichung; dessen Streichung innerhalb der Varianten des § 265a Abs. 1 StGB gefordert wird.99 Am 12.03.2018 brachte die Fraktion DIE LINKE100 einen Gesetzentwurf zur Regelung der Straffreiheit in den Bundestag ein, und am 18.04.2018 die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN101 einen zur Entkriminalisierung des Schwarzfahrens und Schaffung eines Ordnungswidrigkeitstatbestandes. Kritisiert wird, dass von jährlich ca. 50.000 Personen, welche eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen, vielen lediglich die unbefugte Inanspruchnahme eines öffentlichen Verkehrsmittels vorgeworfen wird.102 Zudem würden Kosten und Nutzen in keinem Verhältnis zueinander stehen und einer Klassenjustiz der Weg geebnet werden.103 Unter Verstoß gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG werde § 265a StGB überdehnt.104 Im Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und FDP 2021105 wurde angekündigt, „das Strafrecht systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche zu überprüfen und einen Fokus auf historisch überholte Straftatbestände, die Modernisierung des Strafrechts und die schnelle Entlastung der Justiz zu legen“. Das Schwarzfahren soll in den Blick genommen werden.106

Die Beispiele zeigen, dass in der deutschen Gesetzgebung der Anspruch einer Strafbegründung, welche nur bei sozialschädlichem Verhalten, das Rechtsgüter gefährdet oder verletzt, strafrechtliche Reaktionen und verfassungsrechtliche Eingriffe legitimiert,107 hinter der Realität zurückbleibt.

Abbildung 4: Kriminalpolitischer Soll- und Ist-Zustand mit Möglichkeit einer Überkriminalisierung nach Kreuzer (2003)

Kriminalpolitische Prozesse der Neukriminalisierung und Entkriminalisierung sind stark beeinflusst vom sozialen und kulturellen Wandel in einer Gesellschaft. Weymann108 betrachtet sozialen Wandel als Veränderung in der Struktur eines sozialen Systems. Auf der Makroebene sind dies Veränderungen von Sozialstruktur und Kultur, auf der Mesoebene von Institutionen, Organisationen und Gemeinschaften und auf der Mikroebene von Personen und Lebensläufen. Das Phänomen des sozialen und kulturellen Wandels ist Gegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen. In der Kriminologie lässt sich über die Punitivitätsforschung untersuchen, inwiefern sich inter- und intrakulturell Einstellungen über die Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen verändern. Neben der Punitivität spielen auch die Kriminalitätsfurcht, die Einschätzung der Kriminalitätslage und -entwicklung, die sich weitgehend auf die Darstellung von Kriminalität im medialen Diskurs stützt, eine wichtige Rolle und nehmen mittelbar Einfluss auf kriminalpolitische Prozesse.109