Be my Nerd - Herzenspakt - Sarah Short - E-Book

Be my Nerd - Herzenspakt E-Book

Sarah Short

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Beschreibung

Ein mitreißender New Adult – Roman um ein taffes Mädchen mit einem großen Geheimnis und einen Nerd, der zu spät bemerkt, worauf er sich eingelassen hat. »Der Wind strich kühl um mein Gesicht, meine Hände wurden nicht wärmer. Doch nirgendwo fühlte ich mich in diesem Moment wohler als dicht neben Martin auf dieser Bank neben dem überquellenden Abfalleimer.« Die achtzehnjährige Jacky braucht keinen Freund, sie braucht ihren Schulabschluss, um endlich ihr Leben selbst in die Hand nehmen zu können. Der gut aussehende Martin, zwanzig und gerade mit der Schule fertig, macht ihr einen Strich durch die Rechnung. Als sie ihm hilft, einer Schlägerei mit seinen neuen Nachbarn aus dem Weg zu gehen, bietet er ihr einen Pakt an: Er gibt ihr Nachhilfe, damit sie ihren Abschluss schafft, sie spielt seine Freundin, damit er nicht mehr ins Visier der Schläger gerät. Bald fällt es Jacky unerwartet schwer, nur eine Rolle auszufüllen und ihr wahres, von Armut und Sucht geprägtes Leben vor Martin geheim zu halten. Und auch er verschweigt ihr manches … Warnung: Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte  »›Be my Nerd‹ war mein kleines Sommerhighlight, das mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt und positiv überrascht hat.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Eine emotionale Geschichte zu Mitfühlen über Freundschaft, Familie, Loyalität und die Liebe. Leseempfehlung!« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Wie schön war denn bitte diese Geschichte?Eine aufregende Liebesgeschichte mit einem Schuss Dramatik, wobei die Emotionen nicht zu kurz kommen.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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Achtung: Dieses Buch enthält Themen wie Depression, Suchterkrankungen und Co-Abhängigkeit, Suizidalität, Tod und Trauer, Gewalt (auch gegen Frauen), toxische Beziehungen und Diskriminierung.

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Birgit Förster

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Umschlaggestaltung und Motiv: www.bookcoverstore.com

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Playlist

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Epilog

Für alle, die den Emmertsgrund zu dem gemacht haben, was er für mich war und bleibt: Heimat

Playlist

Bradley Cooper & Lady Gaga – Shallow

Lynyrd Skynyrd – Simple Man

Wyclef Jean feat. Mary J. Blige – 911

Greg Laswell – Comes and goes (in waves)

a-ha – Hunting high and low

Oasis – Cast no shadow

The Verve – Bitter sweet Symphony

The Smashing Pumpkins – Disarm

Korn – Kiss

Pearl Jam – Black

Everlast – What it’s like

Metallica – Nothing else matters

Staind – Outside

System of a down – Lonely day

Coldplay – Green eyes

The Verve – The drugs don’t work

Coldplay – What if

John Lennon – Grow old with me

1

Martin

Der vollgeladene Transporter rumpelte über die Straße, als ich die Autobahn verließ und das letzte Stück in Angriff nahm. Meine Mutter erwachte aus ihrer Lethargie. Sie richtete sich etwas im Beifahrersitz auf, um durch die Frontscheibe auf das grandiose Panorama zu blicken, das sich vor uns eröffnete.

Da lagen bewaldete Berge, die gerade anfingen zu erblühen, in der hellen Mittagssonne. Die Siedlung aus Hochhäusern, die man vor über vierzig Jahren in die Hügel gepflanzt hatte, wirkte ganz unerwartet nicht wie ein Fremdkörper. Vielmehr schienen die Bäume und Häuser und die darunterliegenden Weinberge und Wiesen nach all der Zeit eine untrennbare Einheit zu bilden.

Ich sollte es hassen, doch ich war zu neugierig und zu froh darüber, mein altes Leben endlich hinter mir lassen zu können. Ich schielte zu meiner Mutter.

Sie kniff den Mund zusammen, sodass man von ihrem dunkelroten Lippenstift kaum noch etwas sah.

Mama ließ weit mehr zurück als ich. Unser neuer Wohnort hatte kein leichtes Spiel, ihre Gunst zu erlangen.

Bezahlbarer Wohnraum und eine verkehrsgünstige Lage machten den Anblick der riesigen Wohnsilos für sie nicht wett.

Dann erklomm der Sprinter den Berg über eine kurvige Auffahrt. Neben uns blühten Hunderte Osterglocken am steilen Hang, linker Hand lag zu unseren Füßen die Rheinebene.

Was für eine gigantische Aussicht. Leider musste ich mich auf die Straße konzentrieren. Mama schien nichts davon zu sehen.

Um ihr etwas Zeit zu geben, steuerte ich die Tankstelle kurz vor der ersten Häuseransammlung an. Ob ich den geliehenen Wagen jetzt volltankte oder nach dem Ausladen, spielte keine Rolle. Eine andere Tankstelle würde ich sicher nicht suchen.

Während der Diesel in den Tank lief, schaute ich über die Zapfsäulen hinweg in die Ebene hinunter.

In der Ferne erkannte ich eine dunstverhangene Bergkette, davor unzählige Häuser, Straßen, Äcker und Wiesen.

An der Umgebung fand ich nichts auszusetzen. Der Wald in meinem Rücken und die Weinberge vor mir versprachen ein paar neue Lieblingsplätze. Orte, an denen ich meine Ruhe hatte.

Vielleicht wusste Mama mehr über unser neues Domizil als ich und ließ sich deshalb von der schönen Landschaft nicht blenden. Das Klacken der Zapfpistole holte mich zurück ins Hier und Jetzt.

Ich stapfte in die Tanke, um zu bezahlen, und stieg dann wieder in den Transporter ein.

»Bereit?«, fragte ich meine Mutter.

»Nein«, erwiderte sie schroff. Ich zwang mich, nicht laut zu seufzen, startete den tuckernden Motor und fuhr los.

Nur drei Minuten später hielt ich vor einer beschrankten Feuerwehrzufahrt.

»Hier geht’s nicht weiter«, sprach ich das Offensichtliche aus. »Wenn uns keiner aufschließt, müssen wir alles von hier aus ins Haus schleppen.«

Meine Mutter grummelte irgendetwas, holte ihr Handy aus der Handtasche und versuchte den Hausmeister zu erreichen.

Solange sie beschäftigt war, nahm ich den langen Häuserblock in Augenschein. Er warf Schatten auf die Straße, doch zwischen den Häusern hindurch erahnte man die weite Ebene.

Kinderlachen und Kreischen drang an mein Ohr. Schön, dass es hier nicht so langweilig zuging wie an unserem alten Wohnort. Wo so viele Kinder lebten, konnte es doch gar nicht trostlos sein. Wahrscheinlich legte Mama darauf keinen Wert.

So ruhig, wie sie es gewohnt war, würde es hier garantiert nicht werden. Aber ich vermutete auch, dass hier viel weniger Spießer wohnten.

Neben einem Müllhaus in der Nähe stapelte sich Sperrmüll und ein Sack mit Altglas, obwohl der nächste Container nur ein paar Meter entfernt war.

An diesem Freitagnachmittag waren hier viele Leute unterwegs. Zwei ältere Frauen in geblümten Röcken beäugten interessiert den Umzugswagen, dann mich, und schließlich nickten sie mir zu, bevor sie weitergingen und sich dabei in einer slawisch klingenden Sprache unterhielten. Ich fragte mich, ob es Russisch, Polnisch oder etwas ganz anderes war. Leider konnte ich außer Englisch und ein bisschen Französisch keine Fremdsprachen.

Meine Mutter würde mit alldem hier die Krise kriegen, sobald sie das Auto verließ. Halb amüsiert, halb auf der Hut nahm ich ein paar unserer neuen Nachbarn ins Visier. Auf dem schattigen Kinderspielplatz hatte sich eine muntere Truppe aus rauchenden Jogginghosenträgern zusammengefunden, die schon von Weitem so aussahen, als ob mit ihnen nicht gut Kirschen essen war. Typen, vor denen meine Mutter, meine früheren Mitschüler und Politiker warnten und die sie als verlorene Jugend darstellten.

Vielleicht zogen sie in ihrer Freizeit aber auch einfach nur bequeme Klamotten an und pfiffen auf ihre Gesundheit. Ins Handy geglotzt hatten meine Bekannten und ich genau wie sie. Es widerstrebte mir, mit Vorurteilen beladen hier anzukommen. Sollten sich manche bewahrheiten, wie der Müll, okay. Aber ich glaubte fest daran, dass vieles anders war, als es auf den ersten Blick schien. Vermutlich war ich naiv.

Und dann sah ich sie. Eine rothaarige Schönheit, die mit energischen Schritten auf die Jogginghosen zuhielt und einen schmächtigen Kerl mit Basecap zur Sau machte. Ich verstand leider nicht, was sie zu ihm sagte, aber die grölenden Antworten der anderen klangen schwer nach Gettosprech.

Du lieber Himmel. Sie machten es mir nicht gerade leicht, sie nicht in die Klischee-Schublade zu stecken.

Ich stand nahe genug, um durch die noch kaum belaubten Sträucher das Mädchen zu beobachten.

Ihre endlos langen Beine steckten in engen, schwarzen Jeans, an den Füßen trug sie Sneakers in der gleichen Farbe. Ihr Kapuzenpulli wirkte ebenso wie die aufgekrempelten Hosenbeine der Jahreszeit nicht angemessen, aber ihr herzförmiges Gesicht brachte mich rasch dazu, mit den Augen kleben zu bleiben.

Eine Stupsnase und volle, rote Lippen, eingerahmt von rotgoldenen Haaren. Wahnsinn.

Dass sie auch einen ansehnlichen Busen hatte, geschenkt.

Dieses Gesicht war der absolute Hammer.

Doch ich würde mich wie immer auf Schwärmereien aus der Ferne beschränken, sollte sie mich nicht zufällig entdecken und ansprechen. Und selbst dann bestand eine große Chance darauf, dass ich es komplett vermasselte.

Frauen und ich, wir waren einfach nicht füreinander geschaffen. Was nicht bedeutete, dass ich noch Jungfrau war oder noch nie eine Freundin gehabt hatte, es hatte nur nie richtig klick gemacht. Vielleicht lag es zum Teil daran, dass ich noch kein Mädchen kennengelernt hatte, dass sich wirklich für mich als Person interessierte. Für den Martin, der ich tatsächlich war, nicht der, den ich spielte, damit ich in der Schule oder in der Nachbarschaft nicht auffiel.

Aber die Schule war vorbei, und hier kannte mich niemand. Und so wie ich mich gezeigt hatte, würde mich auch niemand mehr kennenlernen.

Der Kulturschock ereilte mich erst beim Betreten des Hochhauses. Der Fahrstuhl war kaputt, sodass wir unsere Kisten und Möbelteile durch ein versifftes Treppenhaus in den zweiten Stock schleppen durften. Was für ein Segen, dass wir keine Wohnung in der zehnten oder elften Etage bekommen hatten. Stundenlang liefen wir treppauf und treppab, aber ein paar unserer neuen Nachbarn, zwei junge Afghanen und ein Kurde, die selbst gerade erst mit ihren Familien hier eingezogen waren, zeigten sich hilfsbereit und schleppten mit uns die Möbel. Als Dankeschön drückte meine Mutter jedem von ihnen einen Zwanziger in die Hand. Damit hatte sie einen guten Schnitt gemacht, denn professionelle Möbelpacker wären wesentlich teurer gewesen, weshalb wir auf einen solchen Luxus verzichtet hatten. Wir konnten ja nicht ahnen, dass der blöde Fahrstuhl streikte.

Zudem amüsierte ich mich schwer über die Ängste meiner Mutter, dass die Männer nur halfen, um unser Zeug zu klauen. Auch wenn sie es an einem Ort wie diesem nicht vermutete: Nette Menschen gab es überall.

Ich würde nicht behaupten, dass ich freiwillig hergezogen wäre, aber je öfter ich durch das Treppenhaus nach oben in die saubere und frisch renovierte Wohnung ging, desto weniger schlimm kam es mir vor.

Meine Mutter hatte zu viele miese Dokus gesehen und noch nie in ihrem Leben mit einfachen, normalen Leuten zu tun gehabt.

Wir würden uns an all das gewöhnen. Und ich persönlich fand es nett, jemanden grüßen zu können, wenn ich die Wohnung verließ. Vielleicht war ich pragmatischer als Mama. Ich hatte es bis jetzt nur nie sein müssen.

Die nächsten Tage verbrachten wir mit Auspacken und Möbelaufbau, was bei dem üblen Muskelkater vom Treppensteigen kein Vergnügen darstellte.

Bald war ich den Tag über allein damit beschäftigt, die Wohnung einzurichten, weil meine Mutter zu ihrem neuen Job musste. Aber allein zu sein hatte mir noch nie etwas ausgemacht.

Viel raus kam ich nicht und nutzte die Zeit, in der meine Hände sich regten und Schrauben anzogen oder Kartons öffneten, um nachzudenken. Über diesen Ort, über die Leute, die ich bis jetzt getroffen hatte. Und am allermeisten über das hübsche Mädchen mit den feurig roten Haaren.

Bislang hatte ich sie bei meinen kurzen Ausflügen zum Briefkasten oder zur Müllsammelstelle nicht wiedergesehen. Doch das hielt mich nicht davon ab, mich gedanklich mit ihr zu beschäftigen und Mutmaßungen über sie anzustellen.

Sie hatte relativ jung ausgesehen, vielleicht so alt wie ich oder jünger. Auf die Entfernung hatte ich das nicht einschätzen können. Ob sie eine Ausbildung machte, studierte oder noch zur Schule ging? Ob sie Geschwister hatte? Und ob sie einen Freund hatte, womöglich einen der Typen auf dem Spielplatz? O Mann, es wurde Zeit, dass ich wieder mehr unter Leute kam. Ich entwickelte mich noch zu einem seltsamen Stubenhocker, der nur mit seiner Mutter redete.

Brr.

An einem Samstagvormittag legte ich meinen Science-Fiction-Roman zur Seite und reckte neugierig den Kopf aus dem Fenster. Von unten schallte Trommel- und Flötenmusik herauf, und ein Zug bunt und sehr chic gekleideter Menschen bewegte sich auf eines der Nachbarhäuser zu.

Anscheinend eine traditionelle türkische Hochzeit. Bislang hatte ich so etwas nur in Filmen gesehen.

Gebannt beobachtete ich die fröhlich tanzenden Leute und lauschte der fremdartigen Musik.

Wenn meine Mutter da gewesen wäre, hätte sie vermutlich die Fenster geschlossen und sich über den Krach beschwert.

Es gefiel mir, dass hier immer etwas los war. Seit wir hier lebten, hatte ich schon ziemlich viel Zeit am Fenster oder auf dem kleinen Balkon verbracht und die Aussicht genossen oder eben in den Hof hinuntergeschaut, wo Leute ein und aus gingen, in Grüppchen herumstanden und miteinander schwatzten oder gemütlich auf Bänken in der Sonne saßen und wo Kinder spielten und Roller oder Rad fuhren.

2

Jacky

Manchmal hasste ich es, ich zu sein.

Tage wie dieser, an denen ich einfach an einer anderen Haltestelle aus der Bahn aussteigen und an einer anderen Haustür klingeln wollte als an meiner eigenen.

Ich hasste es, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. Vor meinen Freunden, vor meinen Lehrern, vor dem Jugendamt.

Ich saß in der ruckelnden Straßenbahn, mit der ich die kurze Strecke von der Schule nach Hause fuhr. Jenny und Eve, meine besten und einzigen Freundinnen, saßen mir gegenüber auf einem Viererplatz und starrten in ihre Smartphones. Dasselbe würde ich nach einem langen Schultag auch tun, wäre mein Akku nicht so gut wie leer. Allerdings verspürte ich auch nicht den Drang, eine Unterhaltung zu beginnen, die sich am Ende nur wieder darum drehen würde, wo wir am Abend abhängen und wo wir am besten ein paar Typen kennenlernten, die nicht solche Flachpfeifen waren wie die Jungs aus meiner Klasse.

Gut, das war gemein. Ich wusste nicht, wer von ihnen nur so tat, als ob er eine Flachpfeife war, weil es mich nicht interessierte. Ich hatte genug um die Ohren, ich brauchte nicht auch noch einen Freund.

In der Unüberschaubarkeit der Hochhaussiedlung, in die wir vor vier Jahren aus unserer Doppelhaushälfte in einer hübscheren Gegend des Emmertsgrunds gezogen waren, fielen wir nicht weiter auf. Ein sauberes Image war alles, was meiner Familie geblieben war, nachdem mein Stiefvater sich aus dem Staub gemacht hatte.

Jenny stupste mich mit der Fußspitze an.

»Heute Abend Stadt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Keinen Bock. Lasst uns Fusel kaufen und auf der Neckarwiese abhängen.« Die ehrliche Antwort würde lauten: »Kein Geld.« Doch meine Freundinnen sprachen mich selten auf meine bescheidene finanzielle Situation an, wofür ich ihnen sehr dankbar war.

Jenny verzog ihre sorgfältig geschminkten Lippen. »Es ist März, ich will mir doch nicht den Arsch abfrieren! Dann bleib eben daheim, Langweilerin.« Doch sie lächelte mich an und strich mir kurz über die Hand. Eve hatte aufgrund ihrer Kopfhörer nichts von unserem Wortwechsel mitbekommen und sah fragend auf, als Jenny sich zurück gegen die Rückenlehne plumpsen ließ. Ich schüttelte den Kopf. Nichts von Belang.

Ich hatte sowieso keine große Lust auszugehen. Die Prüfungsvorbereitung für den Realschulabschluss, die höchstens bei einer Einserschülerin wie Eve keine Schweißausbrüche auslöste, sollte mich den Abend über beschäftigen. Allerdings hatte sich mittlerweile ein so hoher Berg vor mir aufgetürmt, dass ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte.

Probleme, die auch Jenny nicht kannte. Jedoch allein aus dem Grund, dass ihr der Abschluss sonst wo vorbeiging. Sie hatte bereits einen Ausbildungsplatz als Kosmetikerin im Studio ihrer Mutter und saß ihre Zeit ab, bis die Fachschule anfing. Nachdenklich blickte ich aus dem Fenster in den Regen, der die aufblühenden Bäume und Blumen am Straßenrand leuchten ließ.

Neckarwiese war bei dem Wetter wirklich ein mieser Vorschlag gewesen. Meine Haltestelle wurde ausgerufen. Eigentlich würde auch Jenny hier mit mir aussteigen, aber sie fuhr nach der Schule normalerweise zu ihrer Mutter auf die Arbeit nach Leimen. Ich küsste Jenny auf die Wange und klopfte Eve aufs Knie, woraufhin sie mir zuwinkte und viel zu laut rief: »Bis morgen, Süße!«

Grinsend verließ ich die Bahn.

Die gute Laune hielt die ganze Busfahrt und den ganzen Fußmarsch von der Bushaltestelle nach Hause an. Dann lief ich in den Innenhof zwischen den Hochhäusern, wo ich wohnte. Ich lag gut in der Zeit. Da ich heute keinen Nachmittagsunterricht gehabt hatte, konnte ich ohne Eile meinen Rucksack im Treppenhaus ablegen und musste ihn nicht bis zu Michelles Kindergarten ein paar Straßen weiter schleppen. Und ich würde sie wie versprochen früher abholen können. Vielleicht war meine Mutter schon aufgestanden, immerhin hatten wir halb zwei.

In Gedanken schon unterwegs zu meiner Schwester kramte ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche, als harsche Rufe und Getrampel aus einem anderen Hauseingang meine Aufmerksamkeit fesselten.

Mir entfuhr ein genervtes Stöhnen. Konnten dieser Vollidiot Dennis und seine gehirnamputierten Freunde sich nicht endlich mal richtige Jobs suchen und aufhören, die Nachbarschaft zu terrorisieren? Es kam ja selten vor, dass sie sich am helllichten Tag danebenbenahmen, aber ausgerechnet jetzt mussten sie es tun. Ich würde es vermutlich bereuen, aber ich konnte nicht einfach ins Haus gehen.

Mit dieser Truppe war nicht zu spaßen, aber weil ich sie kannte, hatte ich vor ihnen nichts zu befürchten.

Ich schloss die Haustür auf, warf meinen Rucksack unter die Briefkästen und zog die Tür wieder zu.

Es konnte gut sein, dass ich gleich viel Bewegungsfreiheit benötigte.

Der Krach ebbte nicht ab. Ich marschierte ihm entgegen und hätte im ersten Moment am liebsten wieder kehrtgemacht.

Dennis und sein Kumpel Ahmed waren entweder auf Raubzug oder markierten ihr Revier. Ich hatte gehofft, sie würden sich untereinander verkloppen. Nun würde ich ihnen eben die Tour vermasseln müssen, was auch immer sie taten.

Ahmed hatte einen relativ großen Jungen in meinem Alter an die Hauswand gedrückt, wofür er nur einen Arm brauchte. Seine gestählten Muskeln könnte Ahmed auf dem Bau gebrauchen, aber er rauchte lieber Shisha und ließ sich von seiner Mutter und seiner Schwester den Hintern nachtragen. Dennis war eher schmächtig, doch wegen Freunden wie Ahmed musste er nicht mal sein Klappmesser rausholen, um an neue Handys, schicke Jacken oder Bargeld zu kommen. Was sie üblicherweise nicht in ihrem eigenen Viertel machten, sondern weit weg. Was das jetzt sollte, erschloss sich mir nicht. Diese unfassbaren Blödmänner!

Ihr Opfer war mir noch nie über den Weg gelaufen. Ich betrachtete den Jungen, während ich mich mit energischen Schritten näherte.

Er hatte kurze, dunkelbraune Haare, dazu helle Augen und ein sehr hübsches Gesicht. Wenn er nicht so verängstigt wäre, würde er meine Hilfe vermutlich nicht brauchen. Unter seinem Kapuzenpulli zeichneten sich deutliche Muskelstränge ab. Warum benutzte er sie nicht einfach? Muttersöhnchen Ahmed schlug nur zu, wenn er sicher war, dass kein Echo folgte. Andererseits kannte er Ahmed nicht. Daher verhielt er sich klug. Klüger als ich.

»Hey, Dennis, Ahmed! Habt ihr nichts mehr zu rauchen, oder was?«, pampte ich die beiden an.

Ahmed runzelte die Stirn, während es in seinem Hirn arbeitete. Dennis war zwar oft gemein, aber nicht ganz so begriffsstutzig.

»Geh nach Hause, Jacky. Das geht dich nichts an«, versuchte er mich abzuwimmeln. Seine Stimme klang immer ein bisschen heiser, als hätte er als Kind zu viel gebrüllt. Er hatte raspelkurze Haare, als käme er direkt aus dem Knast. Ahmed trug seine dunklen Haare hingegen nach hinten gegelt wie ein schmieriger Mafioso. Von außen betrachtet wahrscheinlich genau die Karriere, die ihm vorschwebte. Style dich für den Job, den du willst, nicht für den, den du hast. Dann müsste er aber noch seine Jogginghose loswerden.

»Es geht mich was an, wenn du hier so eine Scheiße abziehst, Dennis. Begeht eure Verbrechen dort, wo ich sie nicht sehen muss. Wie oft soll ich dir das noch sagen, hm?«

Ich wusste, dass ich klang wie ein bösartiges Waschweib und dass es lächerlich wirken musste, wie ich mich mit meinen eins siebzig vor ihm aufbaute.

Doch Dennis schien nachzudenken. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Ahmed seinen Griff um den Kragen des Jungen lockerte. Schnaufend rückte der sich seine Brille zurecht. Arme Sau. Hoffentlich konnte ich ihn hier rausholen. Ich spielte meinen Trumpf aus. Dennis schlug keine Mädchen, und Ahmed war in der Vergangenheit knapp einer Vorstrafe entgangen, er überlegte es sich sicher zweimal. Mit ein Grund, warum der fremde Junge noch nicht am Boden lag. Ich straffte mich. Angst hatte ich keine. Hatte ich nie.

Dennis und ich waren vor vier Jahren, kurz nach unserem Einzug hier, aneinandergeraten, weil er einem kleinen Jungen aus unserem Haus das Fahrrad weggenommen hatte. Als ich mich eingemischt hatte, wollte Dennis mein Smartphone haben, der einzige Luxus, den ich mir vom Munde abgespart hatte. Wie eine Furie war ich auf Dennis losgegangen und hatte ihm gezeigt, dass er sich besser nicht mit mir anlegen sollte. Natürlich kam mir dabei zugute, dass er damals noch kleiner und etwas schwächer gewesen war als ich. Aber anscheinend hatte meine Gegenwehr bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Ebenso wie die Warnung seines Vaters, mich und meine Schwester in Ruhe zu lassen. Und vermutlich noch ein paar andere Dinge, die im Laufe der Zeit zwischen uns vorgefallen waren.

»Du weißt, dass ich dich an den Eiern habe, Dennis. Ich muss nur zur Polizei gehen und dich anzeigen. Ich hab so viel gegen dich und deine Freunde in der Hand, dass ihr alle in den Knast wandert. Das wollt ihr doch nicht, oder? Ich kann natürlich auch erst mal deinem Vater stecken, dass du schon wieder Scheiße gebaut hast. Er kommt heute Abend zum Essen.« Ich lächelte halb. Nervös drehte Dennis sein schwarzes Cap nach hinten. Dieser bescheuerte Möchtegern-Gangster.

Ahmed ließ den Jungen los, der sich vorsichtig in meine Richtung schob. Ich hob seinen Rucksack auf.

»Ey, das ist voll ätzend, Jacky! Das kannst du nicht machen! Wir wollten ihn nur ein bisschen erschrecken«, beschwerte sich Dennis, doch ich wusste, dass ich gewonnen hatte. Erst jetzt schlug mein Herz ein wenig schneller. Triumph.

»Verpisst euch. Macht, was ihr wollt, aber lasst mich und meine Freunde in Ruhe. Du kennst den Deal, Dennis.«

»Der Typ ist dein Freund?«, brummte Ahmed ungläubig.

»Na und? Kann dir doch egal sein! Jedenfalls fasst ihr ihn nicht mehr an, kapiert?«

»Jaja, du …« Er murmelte einen unverständlichen Fluch in seinen Dreitagebart.

»Spar’s dir, Ahmed.« Ich gab dem beharrlich schweigenden und zitternden Jungen seinen Rucksack, hakte mich bei ihm unter und führte ihn resolut aus dem Hauseingang heraus. Das fühlte sich super an. Ich hatte eine gute Tat vollbracht. Der Bizeps des Typen war wirklich beachtlich. Ich musste mich zusammenreißen, ihn nicht zu befummeln.

Ahmeds und Dennis’ Blicke brannten sich in meinen Rücken, aber ich war erleichtert, dass sie es mir so einfach gemacht hatten. Ich hatte weder Dennis eine runterhauen noch besonders ausfällig werden müssen.

Der Unbekannte räusperte sich.

»Äh, ich wohne da hinten.«

Ich lächelte andeutungsweise. »Wenn du jetzt nach Hause gehst, hätten wir uns das Theater sparen können.«

»Auch wieder wahr. Danke übrigens. Meine Männlichkeit liegt zwar in Trümmern, aber besser als ich selbst.«

Jetzt kicherte ich. »Du bist männlich genug. Nur ein lebensmüder Dummkopf hätte sich mit Ahmed und Dennis gleichzeitig angelegt.« Seine blauen Augen bedachten mich mit einem warmen Blick.

Mein Lächeln vertiefte sich, als er sagte: »Du bist ein lebensmüder Dummkopf?«

»Vielleicht. Wie heißt du eigentlich? Wenn du schon meinen Freund spielst.« Bei genauerem Hinsehen sah er älter aus als ich. Wir erreichten unseren Hauseingang. Leider musste ich den netten Jungen loslassen, um meinen Schlüssel herauszukramen.

»Martin. Ähm, Martin Dahlmann.«

Die Stille des Hausflurs empfing uns, als ich die Glastür hinter mir zudrückte. Auf dem abgeschabten, hellgrünen Linoleumboden lag mein Rucksack genau dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte.

Ich blieb stehen, um Martin anzuschauen. Entspannt war er hübscher. Unter keinen Umständen wohnte er schon lange hier. Er wäre mir sicher aufgefallen. Und wenn nicht mir, dann Jenny mit ihrem eingebauten Heiße-Typen-Radar.

»Ist Jacky dein richtiger Name?«, fragte Martin unvermittelt. Ich zögerte. Meinen vollständigen Namen mochte ich nicht mehr, seit Eve ihn als prolligen Unterschichtsnamen betitelt hatte.

»Nenn mich einfach Jacky. Das machen alle.«

»Okay.« Er zuckte mit den Schultern.

Ich entgegnete nichts und nestelte an meinem Schlüsselbund herum. Unruhe machte sich in mir breit. Langsam wurde es Zeit, dass ich zum Kindergarten losging. Irgendwie musste ich Martin höflich loswerden. Dennis und Ahmed sollten mittlerweile abgehauen sein.

Verwirrt zog Martin die Augenbrauen zusammen.

»Gehen wir nicht zu dir?«

Um keinen Preis der Welt! Ich schüttelte den Kopf.

»Ich muss meine kleine Schwester von der Kita abholen. Es lohnt sich also gar nicht, reinzugehen.« Oder einen Fremden einen Blick auf die Wirklichkeit hinter unserer Wohnungstür erhaschen zu lassen. Ich unterdrückte ein Schaudern, als ich an das Chaos dachte, das mich dort erwartete.

»Also, war nett, dich kennenzulernen, Martin. Man sieht sich.« Ich reichte ihm die Hand und wollte mich wegdrehen, als er mich festhielt.

»Warte!«

»Ich muss wirklich gehen! Lauf Ahmed und Dennis nicht wieder in die Arme.« Obwohl ich Dennis beinahe glaubte, dass er den Neuen nur ein bisschen verarschen wollte.

Martins ernster Blick ließ mich innehalten. Diese Augen waren der Hammer. Hell und strahlend.

Ich verstand nicht, warum ich mich nicht längst losgemacht und das Haus verlassen hatte. Mein Mund fühlte sich auf einmal staubig an.

Ich sah, dass Martin ebenfalls trocken schluckte.

»Hör mal«, krächzte er, ehe er sich räusperte und seine Stimme wieder diesen angenehmen, tiefen Klang annahm. »Ich will einen Pakt mit dir schließen.« Noch immer hielt er meine Hand fest.

Vor Überraschung riss ich die Augen auf.

»Einen Pakt? Was denn für einen Pakt?«, quiekte ich. Heftig riss ich an meiner rechten Hand. Endlich gab er mich frei. Ich machte einen Schritt nach hinten. Was für einen Verrückten hatte ich denn da aufgegabelt?

»Ich weiß, das klingt bekloppt. War auch nur so eine Idee.«

»Wir kennen uns doch überhaupt nicht …«, fing ich an, verbat mir aber selbst den Mund und schüttelte den Kopf. Dabei fiel mir eine Strähne meiner langen, roten Haare ins Gesicht. Sie kitzelte mich an der Wange. Ich seufzte. Teils, um mich zu beruhigen, teils, um ihm meine zunehmende Ungeduld zu zeigen. »Raus damit, ich muss endlich gehen.«

Er schaute mir unbeirrt in die Augen. Versuchte er mich zu hypnotisieren? Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, da unterbrach er den Blickkontakt.

»Okay. Du scheinst dich in dieser Gegend gut auszukennen und hast diese Gestörten im Griff. Würdest du weiterhin so tun, als wären wir befreundet?«, fragte er seine Sneakers.

Ich verkniff mir einen bissigen Kommentar in die Richtung und antwortete plötzlich amüsiert: »Du brauchst einen Bodyguard und fragst ein Mädchen, das fast zwei Köpfe kleiner ist als du? Soll das ein Witz sein?« Der hatte sie doch nicht mehr alle!

Seine Haare standen in einem wilden Durcheinander vom Kopf ab. Dass er in den vergangenen Minuten ständig mit den Händen hindurchgefahren war, machte es nicht besser. Dieser große Kerl stand so unbeholfen und niedlich vor mir, dass ich mir einen Ruck gab. Trotz seiner Schrulligkeit fand ich ihn sympathisch.

»Was bietest du mir im Gegenzug?« Herausfordernd hob ich die Augenbrauen. Dieses Mal wich er meinem Blick nicht aus.

Auf seiner Stirn erschienen Falten, als er nachdachte. Ich widerstand dem Drang, hinaufzulangen und sie glatt zu streichen. Das wäre unangebracht. Dennoch glitt mein Blick erneut über sein Gesicht. Seine Nase war gerade und passte perfekt zu seinen übrigen Proportionen. Die hohen Wangenknochen und die eckige Linie seines Kiefers ließen seine Züge wie gemeißelt aussehen. Es wäre eine Schande gewesen, wenn Ahmed seine Fäuste in dieses schöne Gesicht gerammt hätte.

Aber das Außergewöhnlichste an Martins Aussehen waren seine hellblauen Augen. Noch nie hatte ich eine solche Augenfarbe gesehen. Er bereitete meinem Starren ein Ende, indem er wieder sprach.

»Ich glaube, ich kann dir nichts anbieten. Gibt es etwas, was du dringend brauchst?«

Ja, das gab es. Geld, eine eigene Wohnung und die Möglichkeit, meine Schwester zu mir zu nehmen. All das sagte ich nicht. Stattdessen kam mir etwas Besseres in den Sinn.

»Bist du gut in Mathe und Englisch? Ich könnte Nachhilfe gebrauchen.« Ohne mich dafür vor dem Amt bis auf die Unterhose auszuziehen.

Ein freudiger Ausdruck erhellte seine Miene. »Sehr guter Vorschlag, Jacky!« Ich musste zurücklächeln. Sein Lächeln war zu ansteckend.

»Deal«, sagte ich und streckte ihm meine Hand entgegen. Als er sie ergriff, spürte ich ein warmes Gefühl in mir nach oben blubbern. Gerade war ich meinem Schulabschluss und damit dem Absprung aus diesem Loch ein gutes Stück näher gekommen. Ich brauchte die Nachhilfe dringend, aber Martin brauchte eigentlich keinen Schutz, weil die Begegnung mit Ahmed und Dennis nicht mehr als ein unglücklicher Zufall gewesen war. Ihre Zeit als Unruhestifter im Block war schon lange vorbei. Niemand hier hatte etwas von ihnen zu befürchten. Keine Ahnung, warum sie bei Martin eine Ausnahme gemacht hatten. Sie sollten endlich ihr Leben auf die Reihe kriegen. Die meisten Leute auf dem Berg schafften das doch auch und gingen einer ordentlichen Arbeit nach.

Wir tauschten Handynummern aus, dann brachte ich Martin zu seinem Haus und joggte los zu Michelles Kindertagesstätte. Wie gut, dass meine Schwester noch nicht die Uhr lesen konnte. Sie würde nicht merken, dass ich mein Versprechen, sie früher abzuholen als üblich, leider gebrochen hatte.

Auf dem Weg dachte ich an die überraschende Wendung, die mein Leben in der letzten halben Stunde genommen hatte.

Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich heute mit einem fremden jungen Mann gesprochen – auf einmal brachte ich es nicht mehr fertig, Martin als Jungen zu bezeichnen –, und dann hatte ich ihm auch noch meine Telefonnummer gegeben, in der festen Absicht, ihn wiederzusehen.

Mein Handy vibrierte in der Jackentasche. Langsam bekam ich Seitenstechen. Ich verlangsamte das Tempo, bis ich gemütlich schlenderte. In Sichtweite des Kindergartens holte ich das Smartphone aus der Tasche und entsperrte es. Der Bildschirm war schon dunkel, so schwach war der Akku.

Nachricht von Martin:

Hey Jacky, das ist ein Test. Bitte schreib mir zurück. Wenn du nicht antwortest, weiß ich, dass du nicht Jacky bist. Gruß, Martin

Ich lachte. Er traute mir zu, ihm eine falsche Nummer zu geben? Hatte er so miese Erfahrungen mit Mädchen gemacht?

Ich vergrößerte sein Profilbild. Er trug eine Hipsterbrille mit schwarzem Rand und zog eine Augenbraue nach oben. Er sah komplett dämlich aus. Und irgendwie heiß.

Super. Ich stand auf meinen Nachhilfelehrer. Dümmlich vor mich hin grinsend tippte ich eine Antwort, packte das Handy weg und betrat die Kita.

3

Martin

Jetzt war es amtlich: Ich war ein Loser. Ein Mädchen hatte mich aus den Fängen fieser Schläger retten müssen. Und obendrein hatte ich mich auch noch ihres weiteren Schutzes versichert. Das war so lächerlich, dass ich es niemandem erzählen durfte.

Aber ich freute mich, Jacky kennengelernt zu haben. Konnte sein, dass sie ein Mädchen war, mit dem ich mich gut verstand. Außerdem hob sie sich angenehm von diesen beiden gestrandeten Existenzen ab.

Ich schämte mich, dass ich so rasch klein beigegeben hatte. Ich war einfach niemand, der sich prügelte. Dass ich mit fast zwanzig plötzlich damit anfangen sollte, nur weil wir solche dämlichen Leute in der Nachbarschaft hatten, war ausgeschlossen. Da spielte ich lieber Jackys Freund, bis mein Freiwilliges Soziales Jahr vorbei war und das Studium beginnen würde. Fünf Monate. Mehr Zeit musste ich hier nicht mehr vergeuden. Es wurmte mich, dass an den Vorurteilen meiner Mutter tatsächlich etwas dran war. Andererseits hatte ich das Gefühl, dass sie nicht angegriffen worden wäre. Junge Männer lebten doch statistisch gesehen am gefährlichsten. Ich hatte einfach Pech, dass ich ein junger Mann war und die beiden Arschlöcher.

Brummelnd suchte ich in meinem winzigen Zimmer die Englischsachen von letztem Jahr raus. Ich hatte sie ebenso wie die Matheunterlagen aufgehoben, weil ich beide Fächer studieren wollte und den Kram sicher noch mal brauchen würde.

Ich wünschte, ich hätte wie die meisten meiner ehemaligen Mitschüler bereits damit angefangen. Aber ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, meine Mutter nach der Scheidung alleinzulassen. Also schob ich ein FSJ dazwischen, das gab auch Sozialpunkte, die ich zwar nicht brauchte, die sich aber gut in meinem Lebenslauf machten. Wegen des Umzugs hatte ich die Stelle wechseln müssen. Heute war ich zum Gespräch bei der Tafel. Ab nächster Woche würde ich als Fahrer Schulen und Kindergärten mit Obst beliefern und Schichten im Tafelladen in Rohrbach übernehmen.

Ich stapelte die Englischbücher ordentlich auf meinem Schreibtisch. Jacky wollte morgen Abend zum Lernen vorbeikommen. Ihre Nachricht war mit einem Smiley verziert, was mich auch lächeln ließ. Es gab genügend ganz normale Leute in meinem neuen Viertel. Nicht nur Asis, die ihren Sperrmüll in die Restmülltonne stopften oder in der Garage abstellten und Unschuldige angriffen. Das sagte ich mir mehrmals. Ich wollte wenigstens versuchen, hier anzukommen. Denn der Aufprall am unteren Ende der Gesellschaft war hart gewesen.

Mein Vater hatte bis nach meinen Prüfungen gewartet, bis er seine langjährige Affäre zugegeben hatte mit einer Frau, die elf Jahre jünger war als er und in einer Villa in Paris wohnte. Anscheinend hatte ihn unsere Villa in Baden-Baden, in der jetzt vermutlich ein reicher Russe residierte, ebenso wie meine Mutter schon länger nicht mehr zufriedengestellt. Stinkesauer war gar kein Ausdruck für das, was ich ihm gegenüber empfand. Ich biss die Zähne zusammen, als ich aus dem Fenster in den trüben Nachmittag hinausblickte. Der Regen hatte nachgelassen, aber draußen blieb alles grau.

Bevor meine Mutter von der Arbeit kam, räumte ich die Küche auf, wie ich es versprochen hatte. Danach machte ich mit meinem Zimmer weiter. Jacky sollte nicht denken, dass ich ein Chaot war, der überall seine getragenen Socken rumliegen ließ. Zwei Umzugskartons hatte ich noch immer nicht ausgepackt. Einen schob ich an das Fußende meines Bettes und legte meine Sportsachen darauf, damit er nicht so auffiel. In weniger als einem halben Jahr würde ich ihn in meine Studentenbude mitnehmen, die mein Vater mir hoffentlich bezuschusste. Im Moment zahlte er keinen Unterhalt, sondern die Schulden bei seinen zahlreichen Gläubigern. Mama brachte uns allein durch, dazu kam das bescheidene Gehalt, das ich mit meinem FSJ bezog, und Kindergeld für mich. Genug, um nicht bei der Tafel einkaufen zu müssen und diesen Schuhkarton zu mieten. Aber nicht genug für ein Auto. Der Audi, den ich zum Führerschein bekommen hatte, war verkauft, und meine Mutter fuhr ebenfalls mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn in die Innenstadt, wo sie als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft arbeitete. Das war der Beruf, den sie gelernt hatte, bevor sie meinen Vater getroffen und mich bekommen hatte.

Der Großteil meiner Klamotten und Bücher lagerte in unserem Kellerabteil. Es gab schlicht keinen Platz hier oben. Meine hundert liebsten Bücher hatte ich in dem Hängeregal über dem Schreibtisch und auf der Fensterbank untergebracht. Immerhin etwas. Luxusgüter wie die brandneue Playstation, meinen Fernseher und ja, auch meine teure Violine, hatte der Gerichtsvollzieher gepfändet. Als angehender Student hatte ich wenigstens meinen Laptop und den Drucker behalten dürfen. Der Gedanke an den Tag, an dem der Gerichtsvollzieher vor der Tür gestanden hatte, ließ mich noch heute erschauern. Das war an Peinlichkeit nicht zu überbieten gewesen. Ich würde nie vergessen, wie meine Mutter den glatzköpfigen Mann über die Schwelle geschoben und im ganzen Haus die Vorhänge vorgezogen hatte.

Als ob sie dadurch noch hätte vertuschen können, dass mein Vater unser gesamtes Vermögen verzockt und sich nach Frankreich abgesetzt hatte.

Wut stieg in mir auf. Leise knurrend schüttete ich den Inhalt des zweiten Kartons auf mein sorgfältig gemachtes Bett. Comicbücher und Superhelden-Poster. Ich rang mit mir, ob ich Jacky diesen kindischen Teil meines Selbst offenbaren sollte. Immerhin deutete kaum etwas in diesem Raum darauf hin, dass ich einmal ein verwöhnter, stinkreicher Teenager gewesen war. Nein, der halb ausgefüllte BAföG-Antrag auf dem Schreibtisch redete eine deutliche Sprache.

Schulterzuckend stellte ich die knapp dreißig Comicbücher auf den Schrank, weil das Regal voll war, und entschied mich anstelle eines Spiderman-Posters für ein Herr-der-Ringe-Filmposter von Bruchtal, um es an die einzige freie Wand über meinem Bett zu hängen. Die Tür belegten leider meine beiden Jacken.

Als ich den letzten Reißnagel in die Tapete drückte, hörte ich den Schlüssel im Türschloss. Meine Mutter kam nach Hause. Schluss mit trüben Gedanken. Davon hatte sie selbst genug.

4

Jacky

Zur Abwechslung mal nur mit Eve abzuhängen, war richtig entspannend. In Jennys Anwesenheit neigte Eve dazu, weniger zu sagen und manchmal auch mit ihrer wahren Meinung hinterm Berg zu halten. Jenny war oft ziemlich aufgedreht und riss jede Unterhaltung an sich.

Ich konnte mit ihrer extrovertierten Art umgehen, Eve fiel das schwerer, weil sie so ziemlich das Gegenteil von Jenny war. Ohne mich als Bindeglied würde unser Dreiergespann wohl nicht existieren.

Eve mochte Jenny, und Jenny mochte Eve, doch gegenseitig würden sie einander nie die Freundinnen sein, die sie mir waren. Ich hätte Jenny gerne mitgenommen, aber sie hatte andere Pläne und fürchtete insgeheim sicher, ich würde von ihr verlangen, in Stöckelschuhen einen Abstecher auf die Neckarwiese zu machen.

Heute Abend trafen Eve und ich uns in der Stadt, um in dem Fast-Food-Restaurant am Adenauerplatz ein paar Burger zu essen, die meine Freundin spendierte. Anschließend unternahmen wir mit unseren halb ausgetrunkenen Colabechern einen Spaziergang durch die Hauptstraße, Heidelbergs Shoppingmeile.

Wenn die Läden geschlossen und nur die Schaufenster beleuchtet waren, ging ich gerne in die Innenstadt. Eve und ich betrachteten die vielen Kleider und Schuhe der aktuellen Saison, und keine fragte die andere, ob sie sich dieses Shirt oder jene Hose kaufen würde. So musste ich keine Ausreden erfinden, warum ich mir allerhöchstens einmal im Jahr eine Dreißig-Euro-Jeans oder ein bis zwei Oberteile aus dem Ausverkauf gönnte. Selbst vor meinen Freundinnen war mir meine ständige Geldknappheit peinlich.

Schön, wenn die Ladentür verschlossen war und so gar nicht erst die Möglichkeit bestand, hineinzugehen und etwas anzuprobieren, was ich am Ende zurückhängen musste.

»Wie war’s beim Hip-Hop?«, erkundigte ich mich bei Eve, während wir gemütlich die abends kaum frequentierte Fußgängerzone entlangschlenderten.

»Gut. In drei Wochen ist unser nächster Auftritt. Du kommst doch?« Sie lächelte mich bittend an.

Ihre etwas mehr als schulterlangen, dunkelbraunen Haare wehten ihr ins Gesicht, als der auffrischende Abendwind uns streifte. Mit geübten Bewegungen zog sie ein Haargummi von ihrem Handgelenk und band sich einen Dutt. Er passte zu ihrem sportlichen Kleidungsstil. Wie ich trug sie am liebsten Sneakers oder Joggingschuhe. Vorletztes Jahr hatte ich auch noch im Hip-Hop-Kurs mittanzen dürfen. Dann hatte das Geld nicht mehr gereicht, weil Michelle in den Kindergarten gekommen war und ebenfalls die Chance auf Sport haben sollte. Statt Hip-Hop war für mich jetzt jeden Mittwoch Kinderturnen angesagt. Der einzige kostenlose Sport, den ich noch ausübte, war joggen. Oft zusammen mit Eve. Auch im Jugendzentrum Harlem war ich schon ewig nicht mehr gewesen. Nachmittags hing ich auf dem Spielplatz ab, ging einkaufen oder putzte. So drastisch sagte ich das meinen Freundinnen aber nicht. Ich musste sie nicht mit meinen fiesen Gedanken nerven. Daher sagte ich: »Ich komm doch immer und Jenny auch. Wir klatschen am lautesten. Wenn wir es dieses Mal pünktlich schaffen, sitzen wir sogar ganz vorn«, beteuerte ich. Ich liebte es, meiner Freundin beim Tanzen zuzusehen. Nur dann legte sie ihre Schüchternheit ab und ging richtig aus sich heraus.

»Was macht Jenny eigentlich heute Abend, nachdem wir nicht mit ihr Cocktails trinken gehen wollten? Ist sie wieder bei diesem dämlichen Burak?«

Ich grinste und trank einen Schluck Cola. Eve konnte Jennys Freund genauso wenig leiden wie ich, obwohl sie ihn a) erst zweimal getroffen hatte und b) nicht in seiner Nähe wohnen und ihn als nervigen Teil des erweiterten Freundeskreises ertragen musste.

»Burak kann echt nett sein. Kann. Keine Ahnung, was Jenny an ihm findet.«

»Ich denke, er ist mit ihr zusammen, weil sie hübsch genug aussieht, um sie vorzuzeigen. Warum sonst hätte er sie beknien sollen, ihn zurückzunehmen?«

»Kann doch sein, dass er sie liebt«, merkte ich schulterzuckend an, auch wenn ich glaubte, es besser zu wissen.

»Ja klar. Der Typ weiß doch nicht mal, wie man das Wort buchstabiert.«

»Vermutlich nicht.«

»Er weiß, dass Jenny sich immer wieder von ihm einwickeln lässt. So eine muss er erst mal wieder finden.« Es klang ziemlich verächtlich.

»Jenny ist nicht blöd. Nur bei Burak schaltet sie irgendwie ihr Hirn aus.« Ich beschloss, das Thema zu wechseln, bevor Eve sich in einen rechtschaffenen Zorn hineinsteigerte. »Was ist mit dir? Jemand Nettes in der Tanztruppe? Ihr habt doch Neue aufgenommen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts dabei. Ich brauche auch keinen Freund, um mich als vollwertiges weibliches Wesen wahrzunehmen. Genau wie du.«

»Hm.« Genau wie ich. Leider spukte mir seit heute Mittag mein neuer Nachbar im Kopf herum. So penetrant, dass ich Eve fast davon erzählt hätte.

»Wenn wir beide männerlos enden, gründen wir einfach eine Frauen-WG«, schlug ich vor. Eve nickte zustimmend.

Dann hob sie ihren Becher. »Auf die unabhängigen Frauen!«

Darauf stießen wir an und kicherten albern. Sie hatte recht. Ich brauchte nicht plötzlich einen Kerl. Ganz egal, wie sehr er mir gefiel und wie sehr ich mich darauf freute, mit ihm zu lernen.

Der süße Martin würde mich nicht mehr so anlächeln, wenn er wüsste, wer ich wirklich war.

Aber die Jacky, die ich war, musste er nicht kennenlernen. Wenn er unbedingt wollte, reichte das Modell, das ich den meisten anderen ebenfalls zeigte.

Als ich kurz vor Mitternacht in den Hof zurückkam, hörte ich hinter mir jemanden über den Platz joggen.

Ende der Leseprobe