4,99 €
Ein Sommer voller Gefühle, die Suche nach Lebenszielen und ein Geheimnis, dass droht alle Träume zu zerstören. Eine berührende Romance in Heidelberg für alle Leser:innen von Mona Kasten und Carina Schnell »›Einen Pakt. Wir helfen uns gegenseitig dabei, herauszufinden, was wir wirklich mit unserem Leben anfangen wollen. Deal?‹ ›Deal.‹ Eve drückte meine Hand und lächelte mich an. Ihr Lächeln ließ mein Herz höher schlagen.« Zwei junge Menschen aus unterschiedlichen Welten – Henry, der Firmenerbe, der lieber Paläontologe wäre und Eve, die Studentin, die einfach nur tanzen will – treffen in einer WG aufeinander. Henry ist einem Flirt nicht abgeneigt, er sieht ihn als willkommene Ablenkung von den Pflichten, die ihn jetzt schon niederdrücken. In den letzten Jahren hatte Eve nichts mit Männern am Hut und konzentrierte sich auf ihr Abitur und das Studium. Doch jetzt benötigt sie dringend eine Auszeit, die ihr ausgerechnet Henry bietet. Die beiden schließen einen Pakt: Beide unterstützen sich gegenseitig, damit sie am Ende des Sommers wissen, was sie wirklich vom Leben erwarten. Henry weiß bald nicht mehr, wie er das Versprechen halten soll, das er seinem besten Freund Martin gegeben hat, nämlich nichts mit Eve anzufangen. Doch das Geheimnis, das Eve mit sich herumträgt, ist groß genug, um ihre Träume zu zerstören.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Talk to you. Flüstern im Sommerwind« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
Dieses Buch enthält mögliche triggernde Inhalte. Eine Aufzählung und weitere Informationen finden Sie am Ende des Buches.
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Cornelia Franke
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von depositphotos.com (iulia_shev) genutzt.
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Playlist
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
Epilog
Content Note
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Rihanna – Only girl
Franki Valli & The Four Seasons – Can’t take my eyes off you
Nathalia Avelon & Ville Valo – Summer Wine
Fleurie – Hurricane
Rihanna – Love on the brain
Ruelle – Until we go down
G-Eazy & Halsey – Him and I
Blues Brothers Band – Gimme some lovin’
Texas – Summer son
Taj Mahal – She caught the Katy
Blues Brothers Band – Everybody’s need somebody to love
Elton John – Tiny dancer
INXS – Beautiful girl
Sam & Dave – Hold on I’m comin’
Jain – Makeba
Henry
Drei Jahre. Seit drei Jahren hatte ich keinen deutschen Boden mehr betreten. Umso aufgeregter war ich, als ich am Frankfurter Flughafen aus der Boeing stieg, die mich über den Atlantik gebracht hatte.
Die Mittagssonne brannte unbarmherzig auf die übernächtigten Passagiere. Gut, vielleicht waren andere weniger übernächtigt als ich. Auf dem Weg zum Shuttlebus kramte ich meine Sonnenbrille aus dem Handgepäck, nach der eisgekühlten Flugzeugkabine war die Umstellung auf siebenundzwanzig Grad Lufttemperatur ziemlich heftig. Ich zog mir den Kapuzenpullover über den Kopf und hängte ihn mir über den Arm.
Ich ertappte mich dabei, wie ich den deutschen Durchsagen in der Wartehalle nachlauschte. Bis auf gelegentliche Anrufe von meinem Kumpel Martin, der in Heidelberg auf Lehramt studierte, hatte ich seit Langem kein deutsches Wort gehört oder gesprochen.
Dass Martin mich für den Sommer nach meinem erfolgreichen Bachelorabschluss am Benjamin Franklin Institute of Technology in Boston zu sich und seiner Frau nach Heidelberg eingeladen hatte, fand ich super. Nicht nur, weil ich meinen Freund seit unserem Abitur nicht mehr persönlich getroffen hatte, sondern auch, weil ich damit erst einmal meinen Eltern aus dem Weg gehen konnte. Sie lagen mir seit Wochen mit Praktika und Vorschlägen für den Master in den Ohren.
Erstens wusste ich noch nicht, ob ich einen Master machen wollte und zweitens hatte ich keine Lust auf ein Praktikum in irgendeiner amerikanischen Firma, die mit meinem Vater geschäftlich involviert war.
Unser Familienunternehmen war ein großer Autozulieferer, das eng mit amerikanischen und englischen Automobilmarken zusammenarbeitete. Eigentlich die Eingangstür für mich. Ein Platz im Vorstand war für mich reserviert, seit ich auf die Welt gekommen war. Zur Freude meines Vaters hatte ich einen entsprechenden Technik-Studiengang abgeschlossen.
Aber nach Jahren des Lernens und Ackerns stand mir der Sinn danach, wenigstens einen Sommer lang an mich zu denken. Und das würde ich bei Martin wesentlich leichter schaffen als zuhause am Starnberger See, wo meine Mutter gelangweilt in unserer Fünfzig-Zimmer-Villa saß und sich nur mit meinen Karriereplänen beschäftigen konnte.
Nein, danke.
Martin erwartete mich laut seiner letzten Nachricht, die ich im Gehen checkte, am anderen Ende des Flughafens. Auf dem Weg zur Gepäckausgabe nahm ich meine Sonnenbrille ab und steckte sie wie ein Opa in die Brusttasche meines T-Shirts.
Ich schob mir auch den anderen Träger meines Rucksacks über die Schulter und klemmte mir den schweren Koffer unter den Arm. Eigentlich sollte er sich bequem ziehen lassen, doch während des Transports war eine der Rollen abgebrochen. Ich wollte gar nicht wissen, wie tief mein Koffer gefallen war und welcher Blödmann ihn in den Händen gehabt hatte. Ich würde mir einfach einen neuen kaufen und fertig.
Martin und ich hatten vor meiner Abreise kurz geskypt und ich ging davon aus, dass ich bei ihm, seiner Frau und ihrer kleinen Schwester unterkommen würde. Ein Hotel hatte ich mir nicht gebucht, obwohl sich das sicher nachholen ließe.
Endlich sah ich meinen Freund. Martin stand mit den Händen in den Hosentaschen neben einer sich lautstark unterhaltenden Gruppe. Auch in der Schule hatte er meist am Rand gestanden.
Martin hatte sich kaum verändert. Allerdings hatte er sich von seiner Nerdbrille verabschiedet und sich einen kurzen Vollbart wachsen lassen, genauso dunkelblond wie seine kurzen, chaotischen Haare. Sein freudiges Grinsen, als er mich erkannte, ließ mich automatisch zurückgrinsen.
Wir umarmten uns fest und klopften uns gegenseitig auf die Schultern.
»Schön, dich zu sehen, Mann«, begrüßte er mich.
»Dito!«, erwiderte ich und trat einen Schritt zurück. Martin strahlte regelrecht. Von dem schüchternen, vergeistigten Typen, der sich so oft selbst im Weg stand, schien nichts übrig geblieben zu sein.
»Komm, das Parkhaus kostet mich ein Vermögen«, forderte er mich auf und packte den Griff meines Koffers.
»Seit wann interessiert dich das?«, fragte ich stirnrunzelnd, setzte mich aber in Bewegung.
»Erzähl ich dir auf der Fahrt, okay? Ist ’ne längere Geschichte.«
»Aber deine Frau hat nicht zufälligerweise was damit zu tun?«
»Nein. Du wirst sie mögen.«
»Bestimmt. Wenn sie dich freiwillig heiratet, kann sie nicht so verkehrt sein.«
Es tat gut, Deutsch zu sprechen. Vor allem aber war es schön, mit einem alten Freund zu reden. Irgendwie hatte er mir gefehlt.
»Und du? Kein amerikanisches Supermodel, das dich begleitet?« Er lächelte mich wissend an. Er hatte damals meist meine abgelegten ›Freundinnen‹ getröstet. Die eine oder andere hatte sich entsprechend revanchiert. Dass er eine echte Beziehung zu einem Mädchen eingegangen war, hatte ich nie erlebt. Bis jetzt.
Und ja, es gab hübsche Amerikanerinnen, aber mit keiner war es mir ernst genug, dass ich sie in mein Heimatland mitgenommen hätte. Und anders als auf dem Internat hatte ich auf meinem technisch ausgerichteten College einen eklatanten Pimmelüberschuss zu beklagen gehabt. Ein Glück, dass es in Boston noch mehr Universitäten gab. Auch wenn ich des ewigen Datens tatsächlich müde war. Aber diese Alter-Mann-Gedanken würde ich vor Martin nicht ausbreiten.
»Du kennst mich doch«, entgegnete ich ausweichend. Was bei Martin noch nie funktioniert hatte. Der Blick aus seinen blauen Augen huschte zu mir und nagelte mich fest.
»Lass den Röntgenblick, Superman«, zog ich ihn auf. Seine Leidenschaft für Comichelden war legendär. »Auf einer Technikerschule gibt es nicht so viele Weiber, aber ein paar waren dabei. Oder ich hab welche von außerhalb getroffen.«
»Und hattest du auch eine Freundin?«
»Keine richtige, falls du das meinst. Mit manchen gab es mehr als ein Date.« Und mehr als eine Nacht. Sein amüsiertes Grinsen erstarb.
»Vielleicht ist Jackys Idee doch nicht so brillant, wie ich dachte. Wehe, du ziehst dein übliches Muster mit ihrer Freundin ab!«
»Und wenn sie sich darüber freuen würde?«
»Pass auf, wir haben nur eine Zweieinhalbzimmerwohnung, Jacky, Michelle und ich. Jacky wollte nicht, dass du ins Hotel musst. Ich hab es aufgegeben, ihr klarzumachen, dass jemandem wie dir zwölf Wochen Hotel nicht wehtun. Auf jeden Fall hat sie sich in den Kopf gesetzt, dass du bei uns um die Ecke in das freie WG-Zimmer ihrer Freundin ziehen kannst. Ihr Mitbewohner ist so lange bei seinem Freund. Aber du musst das nicht machen!«
Ich blinzelte. »Du quartierst mich bei einer Freundin ein und erwartest von mir, dass ich so tue, als wäre sie Nonne?«
»So ungefähr. Sie heißt Eve und ist sehr nett. Und auch ziemlich heiß, aber du bist ja nicht so festgelegt.«
Dafür boxte ich ihn leicht gegen den Oberarm.
»Selbst wenn sie aussieht wie Adriana Lima, kann ich mich schon benehmen.«
»Du willst wirklich nicht ins Hotel?«
»Ich wäre gern bei euch in der Nähe und ein WG-Zimmer klingt gut. Jetzt entspann dich, ich grabe sie nicht an, okay?«
Skeptisch zog Martin die Augenbrauen hoch. Konnte ich ihm nicht verdenken. Er kannte mich zu gut.
»Wenn Eve sich an dich ranschmeißt, sag ich nichts, versprochen. Das wird aber nicht passieren. Obwohl du immer noch ein Weibermagnet bist.« Mit einem süffisanten Lächeln betrachtete er meine lässig gestylten, dunklen Haare, mein glatt rasiertes Gesicht und meine Designerjeans. Ich legte es nicht darauf an, reich auszusehen, aber wer genau hinschaute, wusste es. Da half es auch nicht, auf teure Markensonnenbrillen oder Koffersets zu verzichten.
»Lass vor allem diesen Glutaugenblick stecken«, ermahnte er mich. »Auf deine schwarzen Augen war ich schon immer neidisch.«
Ich lachte leise. »Wo doch die meisten Mädels blaue Augen lieben. So wie deine.«
Doch darauf ging Martin nicht ein. Er mochte es wohl immer noch nicht, Komplimente für sein Aussehen zu bekommen.
Obwohl er ein unauffälliger Jeans-und-T-Shirt-Typ war, der sich nichts aus Styling machte, konnte man nicht über seine durchtrainierte Figur oder sein ebenmäßiges Gesicht hinwegsehen. Immerhin wirkte er deutlich selbstbewusster als zu Schulzeiten und versuchte nicht mehr, sich in überlangen Shirts und Schlabberhosen zu verstecken.
Ein ungutes Gefühl beschlich mich bereits, als wir nicht die nagelneue Mercedes S-Klasse im Parkhaus ansteuerten, sondern den beinahe schrottreifen Mazda daneben.
»Ist das deiner?«, fragte ich, obwohl Martin schon den Schlüssel ins Türschloss gesteckt hatte.
»Steig einfach ein und stell eine Weile keine Fragen mehr«, wies er mich zurecht und ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen. Die verdammte Tür schloss erst nach mehreren Versuchen.
Im Auto erfuhr ich dann die schonungslose Wahrheit.
Etwa zwanzig Minuten später wusste ich nicht, ob ich sauer sein sollte, weil Martin die letzten Jahre keinen Ton darüber gesagt hatte, dass sein Vater hoch verschuldet lieber mit einer Französin durchgebrannt war, als dafür gerade zu stehen, und seine Familie zu einem Leben an der Armutsgrenze verurteilt hatte.
Dass Martin nur dank BAföG studieren konnte und in einer winzigen Hochhauswohnung lebte, schockte mich dann nicht mehr. Wenigstens gehörte die rasselnde und klappernde Karre nicht ihm, sondern dem Mitbewohner, dessen Zimmer ich beziehen sollte.
Während wir die Autobahn nach Heidelberg runterzockelten, fragte ich mich, ob ein Hotel nicht doch die bessere Alternative wäre.
Eve
Um Punkt halb eins warf ich den Kugelschreiber in mein Mäppchen, raffte meine Sachen zusammen und gab meine Klausur vorne beim Dozenten ab.
Mit Romanistik wurde ich nicht warm und ich sollte wirklich über einen Fachwechsel nachdenken. Doch die Klausur war nicht das Einzige, was mir Kopfzerbrechen bereitete. Auch für die dreißigseitige Hausarbeit, die ich über die Semesterferien zu schreiben hatte, fehlte mir die zündende Idee. Und so wie es aussah, durfte ich auch für eine Wiederholungsklausur lernen, weil ich mit hoher Wahrscheinlichkeit gerade durchgefallen war. Ganz zu schweigen von dem Latein-Schein, den ich noch nachholen musste. Der Italienischkurs, den ich wegen der Kenntnisse einer weiteren romanischen Sprache an der Heidelberger Volkshochschule besuchte, machte wenigstens Sommerpause.
Trotzdem super Ferien.
Nach diesem Desaster hatte ich keine Lust, gleich heimzufahren und setzte mich mit meiner Tasche in den wunderschönen Garten neben der Jesuitenkirche in die Sonne. Das herrliche Sommerwetter verhöhnte mich geradezu. Regenwolken und trübes Nebelgrau hätten besser zu meiner Stimmung gepasst.
Genervt strich ich mir die Haare zurück. Das war so typisch für mich. Kaum fiel ich auf die Nase, stellte ich alles infrage: Meine Fähigkeiten genauso wie den ganzen Studiengang. Aber wie sollte aus mir eine gute Lehrerin werden, wenn ich nicht mal eine solche Semesterklausur bestand und mir lauter Grundkenntnisse fehlten, die viele Gymnasiasten ganz selbstverständlich mitbrachten?
Heute war wieder einer dieser Tage, an denen ich glaubte, an der Uni nichts verloren zu haben. Mein zweites Semester neigte sich dem Ende zu, aber ich war hier noch nicht angekommen.
Um mich von meinem Gedankenkarussell abzulenken, holte ich mein Handy aus der Tasche. Geradeso widerstand ich dem Drang, meine Französischnotizen in den nächsten Mülleimer zu stopfen, als mein Blick auf den Ordner fiel.
Die Viel Glück-Nachricht von meiner Mutter klickte ich an, ohne sie zu lesen. Ihre guten Wünsche hatten nicht geholfen.
Mein Magen zog sich zusammen, als ich daran dachte, wie sie und mein Vater auf meinen Misserfolg reagieren würden. Am besten verschwieg ich ihnen meine Zweifel. Vielleicht hatte ich ja knapp bestanden. Warum schlafende Hunde wecken?
Die zweite Nachricht stammte von Jacky. Der Uhrzeit nach hatte sie sie in der großen Pause geschrieben.
Hey Eve, noch mal viel Glück bei deiner Prüfung! :-) Falls ich zu spät schreibe, verspreche ich dir, dass du spätestens heute Abend nicht mehr daran denken wirst.
Diese Nachricht brachte mich zumindest zum Schmunzeln. Natürlich würde ich heute Abend nicht mehr an diese bescheidene Klausur denken, denn ich hatte einen Auftritt mit meiner Hip-Hop-Tanzgruppe, bei dem wir unsere neue Choreografie für die deutsche Meisterschaft vor größerem Publikum vorführen würden. Ich lächelte zum ersten Mal seit heute Morgen. Denn das Tanzen war definitiv das Beste in meinem Leben. Egal, wie sehr meine Eltern mich damit nervten, ich würde es niemals aufgeben.
Immer noch lächelnd las ich Jackys Nachricht weiter, doch schnell breitete sich ein panikartiges Gefühl in mir aus.
Martins Freund aus den USA kommt heute. Kann er in Ahmeds Zimmer schlafen? Bei uns ist nicht wirklich Platz für längeren Besuch. Schreib mir schnell zurück! LG, Jacky
Oh, oh. Meine Finger schwebten über der Tastatur, um entschieden abzulehnen. Ich hatte keine Zeit. Ich musste lernen und meine Hausarbeit schreiben. Wenn ich die auch noch versaute, wären meine Eltern wahnsinnig enttäuscht. Sie finanzierten mich, sodass ich nicht nebenher arbeiten gehen musste und mich auf das Studium konzentrieren konnte. Doch mit derart schlechten Leistungen würden sie mich zurück nach Hause beordern. Und das wollte ich auf keinen Fall. Ich wollte nicht wieder in mein Kinderzimmer zurück, aus dem ich gerade erst entflohen war. No way.
Aber Jacky war meine beste Freundin. Und Martin war für mich auch wie ein Freund. Sie hatten meine Eltern bequatscht, damit ich mit Ahmed zusammenziehen durfte, nachdem sie festgestellt hatten, wie nett und zuverlässig er war. Und außerdem schwul. Meine leicht xenophobe Mutter hatte mich bereits im Kopftuch mit einer Schar dunkelhaariger Kinder herumlaufen sehen. Dabei war Ahmed der einzige Mann, bei dem ich mich wohlfühlte.
Aber wenn ein Heterotyp von Martins Kaliber bei mir einziehen sollte, ängstigte mich das. Ich wollte nicht mit einem Fremden allein sein.
Jacky schien meine Gedanken gelesen und obendrein Mittagspause zu haben, denn gerade trudelte die nächste Nachricht von ihr ein und ließ mein Handy aufleuchten.
Du musst nicht gleich zusagen. Wir kommen alle heute Abend zu deinem Auftritt, danach könnt ihr euch kennenlernen. Wenn du nicht willst, finden wir eine andere Lösung.
Jacky war ausnahmsweise bemüht, es allen recht zu machen und vor allem Martin nicht erklären zu müssen, dass sein Freund wochenlang auf dem Sofa schlafen sollte. Ich verzog das Gesicht. Irgendwie wäre es gemein von mir, Jacky und Martin acht Wochen oder länger davon abzuhalten, miteinander intim zu werden, weil ihr Hausgast im gleichen Zimmer schlief.
Seufzend schrieb ich meiner Freundin zurück.
Freu mich, wenn ihr alle kommt. Danach könnten wir ja in den Schlossgarten hochgehen. Ich entscheide mich heute Abend, keine Angst. LG
Das verschaffte mir ein wenig Bedenkzeit. Und das gefiel mir, denn tatsächlich verdrängte der mögliche Untermieter die verhauene Prüfung zuverlässig aus meinem Kopf.
Ich stieg in den nächsten Bus und fuhr nach Hause auf den Emmertsgrund. Ahmeds und meine Wohngemeinschaft befand sich in einem der Hochhäuser am Jellinekplatz, wo wir eine Dreizimmerwohnung im fünften Stock mieteten. Wir hatten sowohl Aussicht auf den dichten grünen Wald als auch auf die weitläufige Rheinebene. Trotz der lauten Nachbarn ein absoluter Pluspunkt.
Weil die Wohnungsbaugesellschaft lieber Paare und Familien in ihren Apartments haben wollte, hatten Ahmed und ich uns kurzerhand als Pärchen ausgegeben. Jacky zog uns gerne damit auf, aber das störte mich nicht. Ahmed war im letzten Jahr zu meinem besten Freund geworden.
Im Bus checkte ich noch einmal mein Handy. Meine Mutter erkundigte sich in einer weiteren Nachricht, wie ich mich bei meiner Klausur geschlagen hatte. Sie nannte mich im Gegensatz zu allen anderen immer bei meinem Taufnamen, Eveline, doch für mich hörte sich das an, als würde sie nach einer alten Dame rufen. Eveline durften mich die Leute nennen, wenn ich über sechzig war.
Zuhause ertappte ich mich dabei, wie ich den durch die Prüfungsvorbereitung schwer vernachlässigten Haushalt auf Vordermann brachte. Ahmed hatte heute früh für mich eingekauft, denn der Kühlschrank war gefüllt und ein Zettel klebte an der Tür, wie viel Geld mein Mitbewohner aus der Haushaltskasse genommen hatte. Noch bevor ich mit dem Ausräumen der Spülmaschine anfing, schrieb ich ihm eine kurze Nachricht und bedankte mich bei ihm.
Zwei Stunden später war die Küche sauber, der Müll stand bereit zum Runtertragen im Hausflur und die zweite Maschine mit meiner Kleidung lief, während die erste Ladung auf der Loggia in der Sonne trocknete.
Bei den sommerlichen Temperaturen würde ich sie in wenigen Stunden in den Schrank räumen können.
Als nächstes machte ich mich daran, mein Zimmer aufzuräumen und bei Ahmed durchzulüften. Bei ihm war sogar das Bett gemacht. Streber.
Nach kurzem Zögern zog ich sein Bett ab und ließ die wenigen getragenen Klamotten im Wäschekorb verschwinden. Ob hier nun ein Übernachtungsgast wohnte oder nicht, Ahmed würde sich freuen, dass ich diese unliebsame Aufgabe erledigt hatte.
Ich brachte es nicht fertig, mich für fünf Minuten auf meinen Hintern zu setzen. Kribbelig, vor allem wegen des Auftritts, holte ich den Staubsauger aus der Abstellkammer und nahm mir Zimmer für Zimmer vor.
Schwitzend saugte ich die ganze Wohnung. Erst als ich akribisch die Badewanne schrubbte, gestand ich mir ein, dass ich weniger wegen des Tanzauftritts aufgeregt war, sondern weil ich es kaum erwarten konnte, zu erfahren, wen Jacky und Martin mir heute Abend vorstellen würden.
Wie sollte ich ihm Obdach verweigern, wenn dieser Freund aus Amerika total nett war? Und vielleicht war er ja gut in Latein. Oder Französisch.
Bei diesem zweideutigen Gedanken kroch noch mehr Hitze meinen Hals hinauf.
Mist.
Henry
Der Kulturschock setzte nicht während Martins Bericht ein, sondern als wir zwischen den Schatten der Hochhäuser am Straßenrand parkten und mein Blick auf die überquellenden Tonnen einer Müllsammelstelle fiel.
Martin bemerkte es und stupste mich an, damit ich mich umdrehte. Und da sah ich den dunkelgrünen Wald vor mir, oberhalb der Straße und eines Tennisplatzes. Gut. Nicht überall war es furchtbar.
»Meine Mutter hat ungefähr so geguckt wie du«, meinte Martin grinsend. »Nein, eigentlich hat sie noch deprimierter ausgesehen. Du weißt schließlich, dass du nur auf Zeit hier wohnst. Sie dachte damals, sie wäre in der Hölle gelandet.«
»Warum lebt sie dann noch immer hier? Ist es wegen der steigenden Mieten? Ich habe gehört, in Heidelberg ist es ziemlich schlimm.«
Martin schüttelte den Kopf. »Es gefällt ihr hier mittlerweile.«
»Und was ist mit dir?«
Martins seliges Lächeln hätte ich an anderen Tagen als widerlich eingestuft, aber es freute mich, dass er nicht als kompletter Verlierer aus seiner Geschichte herausgekommen war. Ich war mehr als gespannt auf die Frau, die Martin diese Reaktion entlockte.
Im lang gezogenen und überraschend grünen Innenhof schaute ich mich aufmerksam um. Hochhaussiedlungen kannte ich nur vom Vorbeifahren. Wobei das hier nicht mit manchen Teilen Bostons zu vergleichen war. Entweder standen die hohen Bauten im teuren Financial District oder in der Back Bay, beides Orte, an die ich nie gemusst hatte. Außerdem ließen sich diese Gebiete schwer mit trostlosen Plattenbauten vergleichen. Diese hier schon eher, doch der Wald dahinter und das viele Grün und die herumspringenden Kinder straften diesen Eindruck Lügen. Gerade die schlechter gestellten Viertel der amerikanischen Stadt waren nicht so naturnah, von sauberer Luft und einer gewissen Beschaulichkeit geprägt.
Wenn ich so darüber nachdachte, hatte Martin sich in der Villengegend in Baden-Baden nie so heimisch gefühlt wie hier. Nicht mal die Warnung vor dem oft kaputten Fahrstuhl und dem versifften Treppenhaus, verriet irgendwelche Scham. Ich war beeindruckt.
Tatsächlich funktionierte der Aufzug nicht und wir schleppten meinen Koffer zwischen uns wie einen Umzugskarton hinauf in den vierten Stock. Das Treppenhaus roch nicht besonders, aber ich hatte mir Ratten und Müllberge ausgemalt, die ich glücklicherweise nicht vorfand. Oben gingen wir einen mit grüngrauem Linoleum bedeckten Flur entlang, bis wir vor einer weißen Tür stehenblieben, die genauso aussah wie die anderen auf der Etage.
Drinnen erwartete mich eine kleine, aber gemütlich aussehende Wohnung.
Außer uns war noch niemand da. Jacky hatte Nachmittagsunterricht, laut Martin begann für sie im September das Abiturjahr, und auch ihre kleine Schwester besuchte die Ganztagsschule.
Martin machte eine schnelle Wohnungsführung, zum Start wuschen wir uns jedoch zuerst die Hände im Bad. Penibel wie immer, mein Freund. Allerdings verstand ich nun, warum es eine gute Idee war, in die WG zu Jackys Freundin zu ziehen. Niemand nächtigte freiwillig im Schlaf- und Wohnzimmer eines jungen Ehepaares. Im größten Raum der Wohnung stand neben dem Fenster ganz hinten ein Doppelbett, das durch ein hohes Bücherregal als Raumtrenner kaum eingesehen werden konnte. An das Bücherregal anschließend befand sich ein Schreibtisch mit einem Computer und einem unordentlichen Bücherstapel darauf und gegenüber des Fensters ein Zweiersofa, ein Sessel und ein Fernseher auf einer niedrigen Kommode. So weit so unspektakulär.
Das Esszimmer und die halb offene Küche schienen eher das Zentrum dieser Wohnung zu sein.
Martin bestätigte meine Vermutung, während er zwei Gläser aus dem Küchenschrank holte und mit Sprudelwasser aus einer Glasflasche füllte.
»Hier am Tisch hocken immer alle. Wundert mich jedes Mal, wie Michelle bei dem Lärm schlafen kann.«
Martin holte Brot und Aufstrich ins Esszimmer und brachte Teller und Messer. Ich hätte mich am liebsten auf dem Sofa ausgestreckt und eine Runde geschlafen, aber Essen war auch gut. Wir setzten uns an den Tisch und unterhielten uns weiter über unser jetziges Leben, aber auch über die Schule und unsere früheren Mitschüler. Ich spürte kaum, wie die Zeit verstrich, bis sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür drehte.
Eine rothaarige, junge Frau kam herein, ließ ihren offensichtlich schweren Rucksack auf die Bank neben der Garderobe fallen und huschte ins Bad, wo ich Wasser laufen hörte. Martin und ich verstummten und schauten beide gleichermaßen in Richtung Badezimmer.
Als Jacky näherkam, lächelte sie mich verhalten an, doch ihre Augen funkelten, als sie meinen Kumpel erblickte.
Scheiße, die zwei waren vielleicht verknallt.
Noch bevor ich ihr die Hand reichen und mich vorstellen konnte, hatte Martin sie an sich gerissen und umarmte sie, als käme sie von einer sechswöchigen Expedition zurück. Belustigt schüttelte ich den Kopf.
Mit geröteten Wangen drehte sich Jacky endlich zu mir und hielt mir ihre Hand hin.
»Hi, ich bin Jacky«, stellte sie sich vor. Ihr Lächeln wirkte nun offener.
»Hi! Henry.« Der Griff ihrer Hand war fest.
Martin hatte in seiner Verliebtheit nicht übertrieben: Jacky war eine wunderschöne Frau. Nicht mein Typ mit ihren wilden roten Haaren, aber ansonsten ein echter Hingucker. Endlos lange Beine, tolle Figur und faszinierende grüne Augen. Ihre vollen Lippen kräuselten sich, als sie meine Musterung bemerkte.
»Du bist sicher, dass du mich bei deiner Freundin unterbringen willst?«
»Wenn du sie nicht auch mit den Augen ausziehst, klar«, konterte sie. Martin lachte. Ich runzelte die Stirn.
»Deine Frau hat Haare auf den Zähnen, Martin«, informierte ich ihn und er lachte noch mehr.
»Sei einfach ein anständiger Kerl und dir passiert nichts«, sagte Jacky, ließ mich stehen und ging in die Küche.
»Ist die immer so?«, fragte ich meinen Freund flüsternd.
»Nicht immer. Sie will nur, dass du weißt, mit wem du es zu tun hast. Eve ist eine sehr enge Freundin von ihr und etwas … speziell.«
Mein fragendes Gesicht brachte Martin leider nicht dazu, mir eine weitere Erklärung zu liefern, und so ließ ich es dabei bewenden.
Nach dem eher kühlen Start stellte Jacky mir ein paar Fragen zu meinem Studium und Amerika und erzählte mir ein bisschen was über Eve. Besonders speziell kam sie in den Erzählungen allerdings nicht rüber.
»Stört es euch, wenn ich mich noch eine Stunde oder so auf euer Sofa lege?«, fragte ich, nachdem ich auf dem unbequemen Holzstuhl immer müder wurde. »Ich weiß nicht mal mehr, wie viel Uhr es eigentlich ist.« Jetlag war ätzend.
»Viel Spaß. Mach aber die Tür zu, Michelle kommt gleich nach Hause. Wir wecken dich zum Abendessen.«
Das klang nach einem guten Plan.
Eine helle Kinderstimme weckte mich. Durch die geöffnete Tür drangen Essensgerüche herein. Schnitzel und Bratkartoffeln, würde ich tippen.
Ich öffnete widerwillig meine Augen, weil die Kinderstimme nicht aufhörte »Grün, grün, grün sind alle meine Kleider, grün, grün, grün ist alles, was ich hab« zu singen.
Ein niedliches Mädchen mit einem geflochtenen Zopf, ebenso rot wie der seiner älteren Schwester, schaute neugierig auf mich herunter.
»Jetzt bist du wach«, konstatierte es und begann von Neuem zu singen: »Schwarz, schwarz, schwarz, sind alle meine Kleider …«
»Wer bist du denn?«, unterbrach ich die kleine Sängerin. Selbstverständlich wusste ich, wer sie war, aber die hohen Töne vertrugen sich nicht mit meinem unausgeschlafenen Körper.
»Ich heiße Michelle. Jacky ist meine Schwestermama und Martin ist mein Bruderpapa.« Was war ein Bruderpapa?
Ich rieb mir die Augen und gähnte.
»Du sollst dir die Hand vor den Mund halten, wenn du gähnst!«, wies mich Michelle zurecht.
»Entschuldigung«, sagte ich und setzte mich auf. »Was ist ein Bruderpapa, Michelle?«
Sie schaute mich an, als wäre ich schwer von Begriff. Nun, war ich auch.
»Martin ist mein großer Bruder und manchmal auch mein Papa. Er passt auf mich auf, wenn Jacky zum Elternabend geht.«
Aha. Immerhin hatte Martin sie nicht gleich adoptiert. Da fiel mir ein, dass er noch zu jung dafür war. Dennoch erstaunte es mich, dass er sich nicht nur eine Frau, sondern auch ein fremdes Kind ans Bein gebunden hatte. Sein Engagement in allen Ehren, aber ich hätte an seiner Stelle das Weite gesucht. Ganz egal, wie hammermäßig Jacky aussah. Vermutlich war sie eine Granate im Bett. Nicht, dass ich das jemals erwähnen würde. Man sollte sich nicht unbeliebter machen, als man schon war.
Was auch immer Jacky von mir dachte, woran Martin sicherlich nicht ganz unschuldig war, ich rang noch mit mir, ob ich ihr das Gegenteil beweisen oder drauf scheißen und einfach meine Ferien genießen sollte.
»Was gibt es denn zum Essen?«, erkundigte ich mich bei meinem Gast, der sich neben mich auf die Sofakante gesetzt hatte.
»Schniposa.«
»Schnitzel, Pommes und Salat?«
Sie nickte. »Aber den Salat mag ich nicht. Jacky schneidet mir dafür Gurke und Paprika. Man soll nämlich jeden Tag Gemüse essen, weißt du?« Ihre blauen Kulleraugen waren zum Niederknien. Wenn das kleine Fräulein nach seiner Schwester kam, durften Martin und Jacky sich warm anziehen. Ich grinste in mich hinein, als ich versuchte, mir Martin als strengen Ersatzvater vorzustellen, der potenzielle Dates verscheuchte.
»Schade, dass du nicht hierbleibst. Du bist hübsch.« Kinder machten mich regelmäßig sprachlos. Was zum Henker sollte ich darauf antworten?
»Danke für das Kompliment. Du bist auch hübsch.«
»Danke«, sagte sie artig. Wie alt war sie noch mal? Sieben? Viel Spaß, Martin.
Ich holte mir ein frisches T-Shirt aus dem Koffer, schwarz und eng anliegend, dann winkte ich Michelle zu und verdrückte mich ins Bad, um vor dem Essen eine schnelle Dusche zu nehmen.
Wie gehofft vertrieb das Wasser neben Schweiß und Flugzeugmief auch die letzten Reste Müdigkeit. Schließlich hatte ich noch einen Umzug vor.
Beim Essen erläuterten Martin und Jacky mir das Abendprogramm. Wir würden mit Eves Ersatzschlüssel, den sie mir für die Zeit meines Aufenthalts anvertraute, mein Gepäck in die Wohngemeinschaft bringen und anschließend mit der Schrottkarre von heute Mittag zu einer Vorführung von Eves Tanztruppe fahren. Michelle durfte mitkommen, weil es bereits um halb acht losging. Bei meinem Schlafdefizit würde ich heute vermutlich vor der Kleinen einnicken.
Die Sporthalle war gut besucht. Aus einer überdimensionierten Anlage dröhnte ein Hip-Hop- und Dancefloormix, während unzählige Leute auf aufgereihten Stühlen saßen oder herumstanden und noch mehr Krach veranstalteten als die Musik. Es war heiß und roch nach Gummi und vielen Menschen. Nicht mein bevorzugter Duft.
Als wir drei Plätze in der ersten Reihe einnahmen, die für uns reserviert gewesen waren, veränderte sich die Beleuchtung in der Halle, was das Signal zum Start der Veranstaltung war. Mehrere Gruppen tanzten heute vor, um ihre Choreografien vor den anstehenden Meisterschaften einem größeren Publikum vorzustellen.
Tanzen interessierte mich eigentlich nicht, von dilettantischem Gehopse in Clubs mal abgesehen. Den Standardtanzkurs, den jeder in der Schule absolviert hatte, empfand ich noch heute als Verrat an meiner Männlichkeit.
Und jetzt saß ich hier in einer überfüllten Turnhalle, anstatt gemütlich im Bett zu liegen und zu schlafen. Neben mir saß Martin mit Michelle auf dem Schoß.
»Soll ich mir einen anderen Platz suchen?«, bot ich an.
»Ach was«, gab Martin zurück. »Das geht schon. Sie kann auch zu Jacky wechseln. Im Übrigen wird sie sofort aufspringen und mitmachen, sobald die Aufführung losgeht.«
»Tanzt Jacky auch?«
Sie stand etwas abseits bei ein paar Tänzern und unterhielt sich angeregt mit ihnen.
»Früher, aber dann hatte sie keine Zeit mehr. Sie geht allerdings zu jedem von Eves Auftritten.«
»Ich kann mir nichts darunter vorstellen. Ist das wie in Musikvideos von Beyoncé?«
»So ähnlich. Die Tänzer haben aber mehr Klamotten an.« Er lächelte. Michelle wand sich von seinem Schoß und hüpfte zu ihrer Schwester.
Die ersten drei Gruppen bestanden aus Mädchen von höchstens vierzehn bis sechzehn Jahren. Danach betrat eine gemischte Truppe die Tanzfläche. Ein Song von Rihanna wurde angespielt. Zumindest hörte es sich an wie Rihanna. Die Lyrics hallten in meinem Kopf wider, aber ich ignorierte die Worte. Denn mein Herz pochte auf einmal wild im Takt der Musik. Vielleicht spürte ich auch nur die ohrenbetäubenden Bässe. Oder ich bebte innerlich wegen dieses Wahnsinnsmädchens, das ganz vorne tanzte, als wäre das hier keine x-beliebige Turnhalle, sondern bereits der Wettbewerb, bei dem es antreten wollte.
Ich war vollkommen fasziniert.
Wie alle weiblichen Mitglieder der Truppe trug die Tänzerin schwarze Shorts und ein lässiges, trikotähnliches T-Shirt in derselben Farbe, dazu schwarze Sneakers. Eves dunkelbraune Haare waren zu einer langen Mähne frisiert, die bei jeder Bewegung mitschwang. »Ist das Eve?«, fragte ich zur Sicherheit meinen Sitznachbarn. Martin nickte lächelnd.
Dann sagte ich nichts mehr. Es ging nicht. Ich speicherte diesen Anblick sorgfältig in meinem Gehirn ab, weil ich ihn immer wieder hervorholen wollte.
Zeitgleich erkannte ich auch den Song. Rihanna sang aus voller Kehle »Only girl« aus den Lautsprechern und ich ertappte mich dabei, wie ich daran dachte, dass Eve noch heißer war als der Superstar aus Barbados. Sie hatte lange Beine wie Jacky, doch sie waren etwas kräftiger. Es gefiel mir. Da hatte man mehr zum Anfassen.
Gut, dass niemand meine ungezogenen Gedanken hörte. Dennoch wandte ich nicht den Blick von Eve ab. Dafür hätte man mich schon aus der Halle schleifen müssen.
An dieser Frau war alles dran. Selbst durch das locker fallende Shirt erkannte ich, dass ihre Brüste mehr als eine Handvoll waren, doch mit ihrer Rückseite konnten sie garantiert nicht mithalten. Dieser runde, knackige Hintern und diese kreisenden Hüften würden mich bis in meine Träume verfolgen. Der Hammer.
Ihr hoch konzentriertes, leicht gerötetes Gesicht war absolut ebenmäßig. Eve war eine Schönheit.
Es lag jedoch nicht allein an ihrem Aussehen, dass sie mich so in ihren Bann zog.
Eve liebte, was sie tat. Und sie gab alles. Ich hätte ihr stundenlang zuschauen können. Auf die anderen Tänzer achtete ich nicht. Nicht einmal Michelles vermutlich zuckersüße Dancemoves neben meinem Stuhl fesselten meine Aufmerksamkeit. Meine Augen klebten an Eve, die souverän ihre Gruppe anführte.
Erst mit ein paar Sekunden Verspätung fiel ich in den frenetischen Applaus ein, der die Halle schier zum Beben brachte.
»Sie ist super, oder?«, rief Martin mir zu.
Sie ist ein feuchter Traum, hätte ich am liebsten gesagt. Aber das wäre nicht gut angekommen.
Fuck. Wie sollte ich mit dieser Göttin wochenlang Tür an Tür leben und so tun, als wäre sie der absolute Abturner? Hatte Martin überhaupt einen blassen Schimmer, was er von mir verlangte?
Eve
Der Auftritt war prima gelaufen. Dass Alex fast seinen Einsatz verpasst hatte, war nur mir und Sophie aufgefallen, dem Publikum bestimmt nicht.
Noch ein paar Wochen Training und wir hatten eine echte Chance auf den Gewinn der Meisterschaft in unserer Altersgruppe.
Vollgepumpt mit Endorphinen und ziemlich außer Atem betrat ich die Umkleide, wo wir uns kurz abklatschten und dann duschen gingen. An einem heißen Juniabend in einer nicht klimatisierten Sporthalle zu tanzen, war ein probates Mittel, um sich einen Saunabesuch zu sparen.
Ein paar Minuten später stand ich in frischen Jeansshorts und einem an der Seite geknoteten Nirvana-T-Shirt vor einem der Spiegel, bürstete meine feuchten Haare und trug etwas Wimperntusche auf. Dann schlüpfte ich in meine schwarzen, flachen Chucks und packte meine Sachen zusammen.
Während des Auftritts hatte ich keine Gelegenheit gehabt, das Publikum nach meinen Freunden abzusuchen, obgleich ich wusste, dass sie in der ersten Reihe saßen. Lediglich Jacky hatte ich vorher gesehen, als sie mir viel Glück gewünscht hatte.
Ich verabschiedete mich von unserer Trainerin und freute mich, dass ich dieses Mal nicht beim Abbau helfen musste.
Vor der Halle fiel mir Jackys roter Hinterkopf ins Auge, sodass ich darauf zusteuerte. Bei ihr standen in einem lockeren Kreis Martin, Jenny und Dennis, außerdem mein mutmaßlicher Mitbewohner auf Zeit.
Automatisch lief ich langsamer. Er drehte mir sein Profil zu. Ein sehr schön geschnittenes Profil. Mir blieb die Luft weg, allerdings nicht aus den Gründen, aus denen mir Männer sonst den Atem raubten. Nein, dieser Fremde weckte zu meiner Verblüffung nicht meinen Fluchtinstinkt.
Er war einen halben Kopf größer als Martin, auch ein gutes Stück kräftiger, allerdings nicht so wie Ahmed, dieser Muskelberg. Henry hatte dunkelbraune Haare, die ihm bis zu den Ohren reichen würden, doch er hatte sie nach hinten und zur Seite gekämmt. Der erste Kerl hier, der wusste, wie man einen Kamm benutzte.
Sein schwarzes T-Shirt betonte seine sportliche Statur. Nachdem Martin mir erzählt hatte, dass er Ingenieurwissenschaften studiert hatte, war in meinem Kopf eher ein magerer Typ im Karohemd herumgespukt. Auf keinen Fall dieses appetitliche Exemplar von einem Mann, das sich nun mir zuwandte.
Ich geriet kurz aus dem Tritt, als mich sein Lächeln traf.
O Shit. Seine dunklen Augen mussten schwarze Löcher sein, so sehr zogen sie mich an. Plötzlich atemlos brachte ich das Zweitschwierigste gleich hinter mich, nämlich dem schönen Fremden die Hand zu geben. Das Schwierigste würde sein, ihn ohne Stocken oder Stottern zu begrüßen.
Von vorne und vor allem aus der Nähe war sein Gesicht auch nicht zu verachten. Seine Lippen waren schön geschwungen, die Unterlippe ein wenig voller als die Oberlippe. Anders als Martin trug er keinen Bart. Noch ein Pluspunkt. Jacky liebte Martins Vollbart, aber mir war das zu haarig.
Verdutzt stellte ich fest, dass auch Henry mich musterte. Sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, doch er schloss ihn wieder und unser irritierender Blickwechsel dauerte an. Ich wartete darauf, dass ich mich unter seinen Blicken wegduckte und unsichtbar machte, doch es geschah nicht. Meine Neugier war bei aller Schüchternheit stärker.
Mir wurde langsam heiß unter seinen taxierenden Augen. Ich hörte, dass sich die anderen weiter unterhielten, aber bei mir kam nur Blubbern und Rauschen an. Unwillig wiegte ich den Kopf hin und her, dann streckte ich entschlossen meine Hand aus und räusperte mich. Leider half es nicht gegen den Wüstensand in meinem Hals. Ich kann das.
Henry erwachte aus seiner Starre und ergriff meine Hand, bevor ich sie wieder wegzog. In meiner Brust galoppierte mein Herz los; viel schlimmer als vorhin, wo ich mich beim Tanzen verausgabt hatte.
Entgegen meines festen Vorsatzes brachte ich zunächst keinen Ton heraus. Doch Henry hielt mich fest, viel länger, als es angebracht wäre. Mein Herzschlag wummerte wie vorhin die Bässe der Musik.
»Toller Auftritt«, sagte er leise. Sein Lächeln war vorsichtig, aber immer noch ausnehmend schön.
»Danke«, krächzte ich und räusperte mich erneut. Ein Anfang. Auch mein Mund war staubtrocken. Ich zog an meiner Hand. Da schaltete er und gab mich frei.
»Oh, sorry. Eve, richtig?« Etwas zerstreut schob er seine rechte Hand in die Hosentasche seiner perfekt sitzenden und ebenfalls betont geschnittenen Jeans.
Das konnte ja heiter werden, sollte ich den Mann jedes Mal so begaffen, wenn er sich mir zeigte. Und dass ich kaum ein Wort mit ihm sprach. Immerhin versuchte ich noch nicht, das Gespräch abzubrechen und irgendwo abzutauchen.
Ich nickte auf seine Frage hin.
»Du musst Henry sein.« Ein winziges Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln. Ich redete mit ihm!
»Richtig. Und? Lässt du mich in deine Wohnung oder soll ich mir lieber was anderes suchen?«
Leider konnte ich nicht darauf antworten, weil Jenny, Jacky und Dennis ihr Gespräch beendet hatten und mich jetzt begrüßen wollten. Jennys blonde Haare hingen mir ins Gesicht, als sie mich umarmte und meine Performance lobte.
Ich zog Jacky ebenfalls in meine Arme, bevor ich Dennis und Martin lächelnd die Hand schüttelte. Ich hatte die beiden gern, aber meine Befangenheit in ihrer Nähe schwand noch immer kaum. Michelle hopste auf einer Mauer hin und her und entdeckte mich just in diesem Moment. Ohne Vorwarnung sprang sie mir aus einem halben Meter Entfernung in die Arme. Ich taumelte rückwärts und wäre um ein Haar auf dem Hosenboden gelandet. Doch Henry bewahrte mich vor dem harten Aufprall, indem er vorschnellte und meine Schultern packte.
Michelle quietschte vor Vergnügen, doch ich spürte nur Henrys warme, große Hände durch den Stoff meines T-Shirts. Das fühlte sich gut an. Durfte es das? Schon wieder polterte mein Herz los. Mit einem tiefen Atemzug verlangsamte ich es.
»Noch mal!«, rief Michelle und ich lachte zittrig.
»Nächstes Mal sagst du Bescheid, bevor du springst, Shelly!«
Sie guckte mich treuherzig an. »Okay.«
Ich setzte sie ab. Sechsundzwanzig Kilo waren kein Pappenstiel für mich.
»Danke«, sagte ich zu Henry, der seine Hände wieder in seinen Hosentaschen versenkt hatte. Er zuckte mit den Achseln.
»Habt ihr noch was vor?«, fragte ich in die Runde.
»Shelly muss ins Bett« war Jackys Antwort, »Schlossgarten« Martins.
»Kommst du mit?«, wandte ich mich an Jenny. Irgendwie fand ich es seltsam, ohne Jacky mit den anderen mitzugehen.
»Ahmed und Ali wollten auch kommen. Henry soll ein bisschen was von der Stadt sehen!«
»Wegen mir müsst ihr euch keine Umstände machen. Ich hab Jetlag und will sowieso bald ins Bett.«
»Dann lasst uns zu uns gehen«, schlug Martin vor. Das fand ich gut. Dann war auch Jacky nicht außen vor.
Dennis rief Ahmed an und gab den Ortswechsel weiter, während wir alle zum Auto schlenderten. Dennis und Jenny waren mit ihrem eigenen Wagen gekommen, ein mindestens zwanzig Jahre alter Ford Fiesta.
Hauptsache, es fährt, sagte Dennis immer.
Nach Fertigpizza und einem ziemlich behämmerten Actionfilm liefen Henry und ich in überraschend angenehmem Schweigen nach Hause. Wir brauchten kaum mehr als zehn Minuten für den Weg. Der Wald lag dunkel und bis auf das Zirpen von Grillen still zu unserer Linken, während wir den Berg hinauf stapften. Ich musste grinsen, weil Henry ständig sein Gähnen zu unterdrücken versuchte. Dann wieder, als er meinen Nachnamen – Haberer – auf dem Klingelschild las und versuchte, Ahmeds ohne Zungenkrampf auszusprechen.
»Abouchabkis«, sagte ich es ihm vor. »Du kannst dich gleich ins Bett legen, wenn wir heimkommen. Es ist frisch bezogen.« Und die Wohnung ist so sauber wie seit dem Einzug nicht mehr.