Ghost Hunter Academy - Sarah Short - E-Book

Ghost Hunter Academy E-Book

Sarah Short

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Beschreibung

Apokalypse abgewendet: Check. Das Machtgleichgewicht zwischen den vier Welten wiederhergestellt: Check. Luzifer und seine fiesen Kumpels bis zum Jüngsten Gericht in die Hölle gesperrt: Check. Fall abgeschlossen, denkt jedenfalls der sechzehnjährige Matthias Wolf, gegenwärtiger jüngster Geisterjäger und unfreiwilliger Himmelsbote. Bis die strebsame Geisterjägerin und Halbdämonin Anouk Dupont aus Paris in sein Leben tritt und es heftiger durcheinanderwirbelt als der Erzengel Camael. Ihr Gepäck wiegt schwerer als das von Matthias, doch beide versuchen, ihre anfänglichen Animositäten zu überwinden, um zusammen mit den älteren Geisterjägern um Joelle Aynurin und Gabor Farkas ein erneutes Komplott der gefallenen Engel aufzudecken und einen Racheakt zu verhindern. Obwohl sie immer auf die Hilfe ihrer Freund zählen können, werden Anouk und Matthias den Feind nur bezwingen, wenn sie es schaffen, ein echtes Team zu werden. Für einen Engel und eine Dämonin die schwierigste Aufgabe von allen ...

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Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm! Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.

Das Hohelied Salomos 8, 6

Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.

1. Johannes 4, 17 -18

Playlist

Michael Kiwanuka – Home again Eurythmics – I saved the world today Albinoni – Adagio in g- Moll The Beatles – I’ll follow the sun The Beatles – Here comes the sun Tschaikowsky – Hymne der Cherubim (aus Liturgie von St. Chrysostom op. 41) Eurythmics – When tomorrow comes Duran Duran – Come undone Eurythmics – The miracle of love Katie Costello – Stranger Metallica – Ride the lightning Adolphe Adam & Placide Cappeau – Minuit, chrétiens Howard Shore & Fran Walsh - In dreams The Kelly Family – David’s song Nick Cave – Are you the one that I’ve been waiting for John Denver – Annie’s song

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Gábor

Kapitel 1: Matthias

Kapitel 2: Anouk

Kapitel 3: Matthias

Kapitel 4: Gábor

Kapitel 5: Gábor

Kapitel 6: Matthias

Kapitel 7: Gábor

Kapitel 8: Gábor

Kapitel 9: Joelle

Kapitel 10: Anouk

Kapitel 11: Joelle

Kapitel 12: Anouk

Kapitel 13: Joelle

Kapitel 14: Matthias

Kapitel 14: Anouk

Kapitel 15: Matthias

Kapitel 16: Anouk

Kapitel 17: Anouk

Kapitel 18: Matthias

Kapitel 19: Anouk

Kapitel 20: Gábor

Kapitel 21: Gábor

Kapitel 22: Joelle

Kapitel 23: Joelle

Kapitel 24: Anouk

Kapitel 25: Anouk

Kapitel 26: Gábor

Kapitel 27: Joelle

Kapitel 28: Matthias

Kapitel 29: Anouk

Kapitel 30: Matthias

Kapitel 31: Anouk

Kapitel 32: Anouk

Kapitel 33: Joelle

Kapitel 34: Gábor

Kapitel 35: Gábor

Kapitel 36: Anouk

Kapitel 37: Anouk

Kapitel 38: Gábor

Kapitel 39: Joelle

Kapitel 40: Joelle

Kapitel 41: Anouk

Kapitel 42: Gábor

Kapitel 43: Gábor

Kapitel 44: Joelle

Kapitel 45: Gábor

Kapitel 46: Gábor

Kapitel 47: Joelle

Kapitel 48: Joelle

Kapitel 49: Anouk

Kapitel 50: Matthias

Kapitel 51: Joelle

Kapitel 52: Matthias

Kapitel 53: Joelle

Kapitel 54: Joelle

Kapitel 55: Gábor

Kapitel 56: Anouk

Kapitel 57: Anouk

Kapitel 58: Anouk

Kapitel 59: Matthias

Kapitel 60: Gábor

Kapitel 61: Gábor

Kapitel 62: Joelle

Kapitel 63: Joelle

Kapitel 64: Gábor

Kapitel 65: Gábor

Kapitel 66: Joelle

Kapitel 67: Joelle

Kapitel 68: Gábor

Kapitel 69: Gábor

Kapitel 70: Joelle

Kapitel 71: Gábor

Kapitel 72: Anouk

Epilog: Joelle

Prolog

Gábor

Ein tiefes Knurren kam aus meiner Kehle. Der Himmel hatte kein Recht, hier unten seine Macht zu demonstrieren.

Ich machte einen Schritt auf den Engel zu; Zorn wallte in mir auf, den mein letzter Rest Verstand nicht zulassen wollte. Ich warf einen Blick auf meinen Vater. Er knurrte ebenfalls. Seine Augen loderten. Wie ein Mann traten wir näher, Tamiel mit erhobenem Flammenschwert an unserer Seite.

Hier herrschte die Hölle.

Ein fester Körper rammte mich gegen die Felswand. Mit einem noch lauteren Knurren ging ich auf Grigori los, weil er Luzifer verriet und mich daran hinderte, die Verhältnisse geradezurücken.

Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Barbatos gegen meinen Vater kämpfte. Grigoris Faust traf mich am Brustkorb. Zischend stieß ich die Luft aus.

„Du musst dich zurückverwandeln!“, grollte er.

Erst da nahm ich wahr, dass er in menschlicher Gestalt gegen mich antrat, dieser Wahnsinnige. Mit einem tiefen Durchatmen ließ ich den Menschen hervorkommen und schaute mich nach Joelle um. Sie hatte ebenfalls menschliche Gestalt angenommen. Meine Gedanken klärten sich und ich schaffte es, ganz ruhig zu Luzifer hinüber zu gehen, um ihn abzulenken.

Ärgerlich schüttelte er meine Hand von seiner Schulter, griff mich aber nicht an.

„Tu ihm nichts, Vater. Er folgt nur seiner Bestimmung. Er hat sich nicht freiwillig dafür gemeldet. Wenn du ihm etwas tust, werde ich ihn verteidigen.“

Gleich darauf verstummte ich.

Der Bote Gottes sprach in der Hölle.

1

Matthias

September

Durch meine geöffnete Zimmertür hörte ich das Radio aus der Küche plärren. Dank Katharinas Besessenheit von Achtziger- und Neunzigerjahre-Hits wusste ich, dass Annie Lennox dort „I saved the world today“ sang. Und meine Stiefschwester, allerdings ein wenig schräger.

Ich lag auf meinem Bett, starrte an die weiße hohe Decke und fühlte mich ziemlich genauso, wie der Songtext es schilderte. Ganz und gar nicht wie ein Held, denn ich war keiner. Gott hatte mich bloß benutzt, um die vier Welten zu retten. Ich war ein Werkzeug, nichts weiter. Im Papierkorb unter meinem Schreibtisch lag zusammengeknüllt das Dankesschreiben der Ghost Hunter Association. Ich wollte niemandes Dank, ich hatte ihn nicht verdient. Ihre Dankbarkeit konnten sie sich sonst wohin stecken, genauso wie die Einladung, bei der nächsten Jahreshauptversammlung eine Rede zu halten. Die Apokalypse war in letzter Sekunde abgewendet, alles war wieder wie vorher. Die Welt drehte sich weiter und niemanden interessierte mehr, was passiert war. Weil es Vergangenheit war. Vergangenheit, von der zudem kein Normalsterblicher wusste. Jetzt wollte ich etwas Neues, die Zukunft. Die Vergangenheit zu vergessen, wäre gerade das schönste; machtverliebte Höllenfürsten, spät erscheinende Engel, übelwollende Geister, sie alle sollten mich nicht mehr kümmern. Was wollte die GHA also noch von mir?

Die sollten mich alle in Ruhe lassen. Am liebsten würde ich alles vergessen, was geschehen war und wieder ein stinknormaler Achtklässler sein, der zufällig in seiner Freizeit als Geisterjäger unterwegs war. Aber mehr nicht. Ich war kein Auserwählter, nichts Besonderes. Ich war kein Gesegneter mehr. Zumindest wehrte ich mich nach Kräften dagegen.

Sicher, dank Camael konnte ich es in punkto Stärke, Schnelligkeit und Ausdauer mit einem Halbdämon aufnehmen. Schon vorher war ich groß und kräftig gewesen, nach Camaels Heilung war ich über Nacht um mindestens sieben Jahre gealtert und befand mich jetzt wie alle Halbdämonen, die ihre Reife erreicht hatten, auf dem Höhepunkt meiner Entwicklung. Das hatte den unangenehmen Nebeneffekt, dass ich auch älter aussah und gleich am ersten Schultag gefragt worden war, wie viele Klassen ich schon wiederholt hätte. Super. Tatsächlich hätte ich es hingenommen, wenn meine Kräfte fort gewesen wären. So befürchtete ich, dass der Himmel noch längst nicht mit mir fertig war, dass es nicht gereicht hatte, den Weltenschlüssel zurückzubringen und durch meinen Wunsch Gott dazu zu überreden, die Zeit zurückzudrehen.

Ich hatte wirklich Angst, dass das nicht alles gewesen war. Vielleicht wollte der Himmel mich mein ganzes Leben für sich beanspruchen. Scheiße, ich war erst fünfzehn Jahre alt und kam mir vor, als befände ich mich in einer Sackgasse. Selbst für normale Geisterjäger gab es nicht dieselbe Menge an Selbstbestimmung wie für Normalsterbliche, aber was galt für mich? War mein Leben bereits komplett verplant? Camael hätte sich doch auch einen anderen Deppen suchen können, der den Kopf hinhält. Ich biss mir auf die Lippe und rieb mir über die Stirn.

Dann drehte ich den Kopf zur Seite und fuhr zusammen, als ich den Geist auf meinem Bürostuhl entdeckte.

„Opa! Kannst du dich nicht bemerkbar machen, wenn du erscheinst?“ Mein Herz klopfte viel zu hart. Es war nicht das erste Mal, dass Opa Friedrich sich einen Spaß daraus gemacht hatte, mich zu erschrecken.

Auch jetzt lächelte er selbstzufrieden. Er sah Papa sehr ähnlich, nur mit mehr Haaren. Er erschien immer als etwa fünfundzwanzigjähriger Mann, nicht als grauhaariger Großvater. Dieses Aussehen kannte ich nur von Fotos.

„So macht es aber viel mehr Spaß.“ Ich erwiderte sein Grinsen nicht, dafür war ich zu mies gelaunt. Stattdessen stand ich auf, um die Tür zu schließen. Mama sollte nichts davon mitkriegen, dass ich mal wieder ein Gespenst im Zimmer hatte und mit jemandem sprach, den sie nicht sehen konnte.

„Na, mein Junge, tust du dir selbst leid? Haderst du mit der Entscheidung des Himmels?“

„Ich dachte, Geister können nicht die Gedanken der Sterblichen lesen!“, brummte ich und ließ mich ihm gegenüber auf die Bettkante fallen. Bis auf meine lange Schlafanzughose war ich nackt, ich hatte mich weder gekämmt, noch gewaschen, hatte mich noch nicht einmal zum Frühstücken aufraffen können. Opa würde aber bestimmt auch dann nicht gehen, wenn ich behauptete, vor Hunger umzukommen.

Er sagte freundlich: „Um zu diesem Schluss zu kommen, muss ich nicht deine Gedanken lesen.“ Sein Grinsen erstarb. „Du hast seit Tagen dein Schwert nicht angerührt und die Patrouillen geschwänzt. Julius wird nicht mehr lange zusehen, das weißt du schon, oder?“ Wenn er so streng mit mir redete, erinnerte er mich noch mehr an meinen Vater.

„Ja. Es ist ja nicht schlimm, ein Geisterjäger zu sein. Ich will nur keine Marionette mehr sein, weder für den Himmel noch für die Ghost Hunter Association oder sonst jemanden. Ich bin doch nur irgendein Junge.“

„Und weil du dich so siehst, bist du für den Himmel würdig, weiter das Engelsmal zu tragen. Es nützt dir nichts, dich hier zu verstecken und zu hoffen, dass sie sich jemand anderen suchen. Du bist der Erwählte, dich hat Camael gesegnet. Er hat dir nicht nur seinen Schutz zugesichert, er hat dir einen großen Teil seiner Kräfte, seines Verständnisses für die Mechanismen der Welten gegeben. Er hat dir ewiges Leben geschenkt!“

Ich sprang auf und funkelte meinen Großvater an.

„Ich habe nicht darum gebeten!“, zischte ich. „Hörst du? Ich wollte nichts davon haben!“ Nicht einmal die Unsterblichkeit. Camael hatte mir auf dem Heiligenberg davon erzählt. Es hätte ja aber sein können, dass mit dem Zurückspringen der Zeit alles hinfällig geworden war. Jedenfalls hatte ich das gehofft. Katharina war ein ewiges Leben in die Wiege gelegt worden, sofern sie keiner umbrachte, doch mein großer Bruder hatte sich mehr oder weniger aus freien Stücken dafür entschieden, als er sich mit Lilith verband. Ich hatte immer geglaubt, eines Tages zu sterben und dann ins Jenseits einzugehen und nicht ein ewig an die Erde gefesselter himmlischer Diener zu sein. Da das Zeichen des Erzengels nach wie vor als eine Art Tattoo auf meinem Rücken prangte, musste ich davon ausgehen, nur zu sterben, wenn jemand nachhalf. Fast jeder hätte sich über die Aussicht gefreut, nie mehr krank zu werden und dem Tod nicht länger ausgeliefert zu sein. Ich kam mir in gewisser Weise undankbar vor, doch dann auch wieder nicht. All das fühlte sich im Moment wie eine zu schwere Last an.

„Jesus wollte nicht jung sterben, Luther wollte keine neue Konfession begründen. Und doch haben sie ihr Los angenommen, weil sie auf Gott vertrauten!“

„Komm mir nicht damit! Ich habe mich nicht offen beschwert, sondern alles getan, was von mir erwartet wurde. Und jetzt will ich mein altes Leben zurück, verstehst du das nicht?“

Opa schüttelte den Kopf und seufzte.

„Niemand von uns bekommt sein altes Leben zurück. Es gibt Ereignisse, die zu viele Spuren hinterlassen, um wieder dort anzuknüpfen, wo man gestartet ist. Du bist nicht mehr der Matthias, der du warst, als ihr hierhergezogen seid. Und du wirst es auch nie wieder sein.“

„So wie bei „Der Herr der Ringe“?“

„Wenn dir das mehr zusagt als die Bibel, ja. Frodo fand nach seiner Odyssee und dem Ringkrieg keinen Frieden in Beutelsend. Er musste sein altes Leben endgültig hinter sich lassen. Aber er hat nicht damit gehadert, er hat sich aufgemacht zu den Unsterblichen Landen und etwas Neues gewagt. Willst du wieder unwissend sein wie zu Beginn?“

„Nein. Das will ich nicht. Aber ich habe genug von dem ganzen Stress! Was, wenn der Himmel ständig neue Missionen für mich hat?“ Aufgebracht zerzauste ich meine welligen Haare. Sie hatten die gleiche Farbe wie Großvaters. Seine waren allerdings ordentlich nach hinten gestrichen.

„Du bist doch kein Geheimagent“, antwortete er schmunzelnd.

„Hat sich zwischenzeitlich aber so angefühlt“, murmelte ich.

„Der Himmel wird dich nie vergessen, Matthias. Du bist Teil von Gottes Plan, so wie jeder Mensch. Sieh es als Geschenk an, dass du davon Kenntnis hast.“

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“

„Du ziehst dir etwas Anständiges an, frühstückst und machst dich auf den Weg zu Gábor Farkas. Du wirst mit ihm und den anderen Halbdämonen trainieren. Menschen sind keine ernstzunehmenden Gegner mehr für dich. Dem Himmel zu dienen, ist dein Weg, Matthias. Hör endlich auf, dich dagegen zu sträuben.“

Ich nickte nur. Alles, was ich sagen wollte, würde sich wie das Gemecker eines Kindes anhören. Also hielt ich lieber den Mund. Zu meinem Ärger war mir klar, dass Opa recht hatte. Es wäre eine schwere Sünde, die Gaben des Himmels zu missachten und Gottes Willen nicht zu gehorchen. Selbst die normalen Geisterjäger beugten sich der Herrschaft des Himmels. Aber ich beugte mich zähneknirschend. Vielleicht fand ich doch noch ein Schlupfloch.

„Okay, du hast gewonnen, Opa“, gestand ich ihm zu. „Ich werde das Beste draus machen.“

Wenn ich zu diesem Zeitpunkt geahnt hätte, dass Camael mich zu einem Wesen gemacht hatte, das nirgends mehr reinpasste, hätte ich meinem Großvater nicht so leichtherzig zugestimmt.

Ich gehörte nicht mehr zu den Menschen, nicht zu den Halbdämonen und Dämonen, ja nicht einmal mehr wirklich zu den Geisterjägern. Camael hatte mich zu einer Abnormität gemacht, die jeden Rahmen sprengte. Und er hatte mir die Ewigkeit gegeben, damit zu leben.

2

Anouk

Es war seltsam ohne Madame d’Hibou, unsere ehemalige Schulleiterin und Hausmutter des Internats. Als würden alle freier atmen. Erst in diesen Tagen fiel mir das auf. Selbst unser Sportlehrer Renard traute sich, uns während des Trainings anzulächeln und er hatte zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, einen Witz gemacht. Ich selbst atmete auch freier. Nachdem feststand, dass unsere Internatsleiterin nicht zurückkehren würde, hing mein Rauswurf beim geringsten Fehltritt nicht mehr wie eine unsichtbare Drohung über mir. Diese dauernde Habachtstellung, auf jedes meiner Worte und jede meiner Handlungen zu achten, war mir so sehr zur zweiten Natur geworden, dass ich sie an diesem Ort nicht mehr ablegen würde. Ich wollte nicht in Paris bleiben, bis ich meinen Schulabschluss in der Tasche hatte. Auch, weil ich mich einsamer fühlte als jemals zuvor.

An die Abwesenheit der älteren Halbdämonen hatte ich mich nach einiger Zeit widerwillig gewöhnt, sogar an den ständigen Zustand, Grigori zu vermissen. Jeder von uns war an dem Platz, der für ihn vorgesehen war. Jeder außer mir.

Hätte Grigori mich im Versailler Schloss nicht zurückgeschickt, ich wäre ihm auf eigene Faust gefolgt. Um ihm zu helfen, nicht um ihn von Katharina zu trennen. Joelle hatte es mir nicht geglaubt, aber ich hatte von Anfang an gewusst, dass aus Grigori und mir niemals ein Paar werden würde. So schmerzhaft diese Wahrheit manchmal gewesen war. Trotzdem hatte ich das Gefühl, nicht länger im Hauptquartier bleiben zu können. Grigori war meine einzige Anlaufstelle außerhalb dieser Mauern. Und genau deshalb ging ich jetzt nicht sofort zum Abendessen, sondern holte im Zimmer, das ich jetzt für mich alleine hatte, mein Handy aus der Hosentasche und rief meinen Freund an.

Ich kam jedoch nicht dazu, ein Gespräch zu beginnen. Vor meinem Fenster erschien eine große, hässliche Tiergestalt. Ein Gargoyle. Er sah aus, als hätte man einen Löwen, einen Ziegenbock und eine Hyäne zusammengenäht und ihm die Flügel einer überdimensionierten Federmaus verpasst. Ein groteskes Lebewesen, das sein Hyänengesicht mit der beeindruckenden Löwenmähne zu einem furchterregenden Grinsen verzog und mit der krallenbewehrten Hand höflich an die Fensterscheibe klopfte.

„Madame Dupont“, quäkte er von draußen. Ich holte mein Kurzschwert, streckte es vor und öffnete das Fenster.

Mit dem Schwert auf Höhe seiner Kehle fühlte ich mich gleich sicherer.

„Guten Abend, Madame Dupont. Mein Herr Barbatos schickt mich, der Vater Ihres Freundes Wolkow.“ Sein Französisch war super. Er hielt eine Schriftrolle hoch.

„Lassen Sie mich herein? Ich komme nur als Bote.“

Seufzend trat ich zur Seite und hob mit meinem Willen die Barriere vor dem Fenster auf.

„Du darfst hereinkommen. Wenn du dich danebenbenimmst, tut es weh. Und hör auf, mich zu siezen, ich bin gerade mal fünfzehn und du vermutlich vierhundert.“

„Ich bin sechshundert Jahre und ein bisschen alt“, erwiderte er, während er auf meinen hellen Teppich flatterte.

„Ist das ein Brief für mich?“

Er nickte und überreichte mir die versiegelte Schriftrolle.

„Mein Herr Barbatos wünscht eine Antwort in den nächsten Tagen, egal auf welchem Weg.“ Der Gargoyle verbeugte sich.

Und schon war er zum Fenster hinaus und flog in die Abenddämmerung. Achtlos warf ich das Schwert auf mein Bett, um das Siegel zu brechen und den Brief aufzurollen.

Ich verdrängte den Gedanken, dass diese Schriftrolle aus Schafs- oder Ziegenhaut bestand. In der Hölle benutzten sie normalerweise kein Papier.

Liebe Anouk,

du wunderst dich sicher darüber, dass du von mir Post bekommst. Eines vorneweg: Ich verstehe es, wenn du meine Worte anzweifelst, doch bitte ich dich, sie zu glauben und zu beherzigen. Ich weiß, dass du für meinen Sohn wie eine Schwester bist; allein ihm zuliebe würde ich dir nie etwas Böses wollen.

Nun die harten Fakten:

Dein Vater war der gefallene Engel Azazel. Er hat deine gesamte Familie ausgelöscht und glaubte bis zu seinem Tod, dass auch du gestorben wärst. Du fragst dich sicher, warum er das getan hat.

Er fürchtete dich und die anderen Engel tun es ebenfalls.

Ich habe auf Bitten von Azazel hin in deine Zukunft geschaut. Ich wollte ihn belügen, doch er las meine Gedanken, ehe ich sie vor ihm verbergen konnte. Du solltest deinen Vater stürzen, was du indirekt getan hast, indem du nicht wirklich gegen Grigori und seine Freunde vorgegangen bist. Weiter wirst du aber die Macht des Himmels in die Hölle bringen. Was das bedeutet, weiß selbst ich nicht, ich denke aber, du wirst dazu beitragen, den Frieden zwischen den Welten zu sichern. Diese Prophezeiung reicht dennoch aus, um dich zu einer Verfolgten zu machen. Azazel sah darin den Untergang der Hölle und fürchtete zudem, dass du ihn daran hindern würdest, in den Himmel zurück zu gelangen. Er konnte dich aber nicht finden. Denn ich brachte dich zu Pflegeltern, schaffte es aber nicht mehr, auch deine Familie nach Paris in die Sicherheit des Bündnisses und der Mauern des Geisterjäger - Hauptquartiers zu schaffen. Zudem belegte ich dich mit einem Zauber, der dich für Azazel unsichtbar und für alle anderen Dämonen gewöhnlich machte. Nicht einmal Grigori erkannte das Zeichen deines Vaters, das ich mit dem Siegel Luzifers überdeckt habe. Mein Zauber verliert seine Wirkung mit dem Eintritt deiner Reife. Sie steht nun kurz bevor oder ist schon erfolgt. Azazels Zeichen kommt nun wieder zum Vorschein. Er selbst kann dir nichts mehr anhaben, doch es gibt genügend andere, die die Prophezeiung kennen und dich töten wollen. Verlasse Paris und suche meinen Sohn auf. Er gründet mit Gábor Farkas ein kleines Internat für Halbdämonen in Heidelberg. Sie werden dich dort aufnehmen. Wenn du im Hauptquartier bleibst, kann niemand mehr für deine Sicherheit garantieren. Die Gegner Luzifers werden nicht hinnehmen, dass die Prophezeiung Wirklichkeit wird. Meide die Hölle und begib dich unter den Schutz meines Sohnes. Was dir und deiner Familie passiert ist, wird mich bis in alle Ewigkeit schmerzen. Ich hoffe, du vertraust mir trotz allem und befolgst meinen Rat.

Barbatos

Das musste ich erstmal sacken lassen. Noch einmal las ich den Brief durch. Grigoris Vater würde sich kaum einen derart üblen Scherz mit mir erlauben. Ich zog mein T-Shirt aus und stellte mich vor den Spiegel neben der Tür. Dort verwandelte ich mich und versuchte, mittels einer üblen Verrenkung einen Blick auf das schwarze Zeichen zwischen meinen drachenschuppigen Flügeln zu erhaschen.

Mir stockte der Atem. Das übliche Zeichen, das von Luzifer, war nicht mehr zu erkennen. Stattdessen entdeckte ich ein fremdes Zeichen, ähnlich einer Tätowierung, auf meiner hellen, fast weißen Haut. Eine Raute, deren Linien jeweils verlängert waren. Jeder dieser sechs verlängerten Linien endete mit einem kleinen Kreis.

Barbatos hatte nicht gelogen. Mit zitternden Fingern nahm ich mein Handy vom Schreibtisch und versuchte erneut Grigori zu erreichen. Ich war beunruhigt, aber er wusste normalerweise Rat.

„Anuschka?“, meldete er sich. Allein der vertraute Klang seiner tiefen, grollenden Stimme nahm mir einen Teil meiner plötzlichen Unruhe. Vor meinem inneren Auge erschien seine riesenhafte, kräftige Gestalt, sein helles, kurzgeschorenes Haar, das sich ganz weich anfühlte und sein freundliches Gesicht, das mir immer das Gefühl gab, bei ihm willkommen zu sein. Viele fürchteten Grigori, und das zu Recht, schließlich war er ehemaliger Heerführer einer Höllenarmee und ein erfahrener Kämpfer, aber mir hatte er noch nie einen Grund gegeben, Angst vor ihm zu haben, im Gegenteil. Er hatte es eine Zeit lang vermocht, die schlimmen Träume fernzuhalten.

„Grigori! Dein Vater hat mir geschrieben, dass ich so schnell wie möglich das Internat verlassen muss. Die Hölle ist vielleicht schon hinter mir her.“

„Ich weiß, Chaton. Mir hat er auch einen Brief geschickt. Noch suchen sie nicht nach dir. Aber das kann sich bald ändern. Batarel sammelt laut Vater Verbündete, um erst gegen Luzifer und danach gegen Lilith ins Feld zu ziehen. Er wird früher oder später auf dich zurückkommen. Der bessere Fall wäre der, dass er dich zu einer Allianz zwingt, der schlechtere, dass er dich tötet oder an einen Ort verbannt, wo dich niemand findet.“ Das hörte sich ja sehr optimistisch an.

„Kann ich zu euch kommen? Also, falls Renard und die neue GHA-Führung mich einfach so gehen lässt.“

„Gábor hat dich schon angefordert, aber rede persönlich mit Renard. Er mag dich und wird dir eher zuhören als mir.“

„Ich nenne ihn ja auch nicht Riesenschnauzer.“ Er lachte.

„Das tue ich nur, wenn er es nicht mitkriegt. Geh nicht mehr spazieren, bis du herkommen kannst. Ein paar Wochen wird es noch dauern, bis wir alles fertig haben. Es kann sein, dass du vorher fliehen musst. Aber in der Regel denken die Höllenfürsten, sie hätten alle Zeit der Welt. Kein Grund also, noch irgendjemandem außer Renard davon zu erzählen.“

„Danke, Grigori.“

„Du fehlst mir, Chaton. Es wird schön, wieder zusammen unter einem Dach zu wohnen. Tut mir leid, dass ich einfach so mit Katharina abgehauen bin. Ich hätte dich vorwarnen sollen.“ Das hatte er mit schon einmal gesagt.

„Ist schon okay. Ich hätte es sowieso nicht verhindern können. Du wärst ihr überallhin gefolgt.“

„Ich bin ihr überallhin gefolgt. Katharina ist jetzt meine Frau, Anouk. Kannst du das akzeptieren?“

„Bleibt mir was anderes übrig, wenn ich dich nicht verlieren will, Grigori?“, fragte ich rhetorisch. „Du liebst sie.“

„Danke, Anuschka. Du wirst auch jemanden finden, der dich liebt. Ich habe es gesehen.“

„Hast du auch gesehen, wer es ist?“ Ich lächelte unwillkürlich. Grigori und seine Orakelsprüche. Er besaß die Gabe des Sehens, ging aber nicht hausieren damit.

„Sein Gesicht war von einer Sturmhaube verdeckt. Das spricht für einen Geisterjäger. Mehr weiß ich nicht. Auch nicht, wann ihr euch trefft.“

„Ein Jäger ist nicht schlecht. Mit einem Normalsterblichen will ich nichts anfangen. Und mit einem Dämon schon gar nicht. Ich liebe dich wie meinen eigenen Bruder, aber ich wollte keinen von unserer Sorte als festen Freund haben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen weiß ich, zu was Halbdämonen fähig sind.“ Ich erbebte bei der Erinnerung an den harten Boden der Garage und den schweren Körper über mir. Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, um die unliebsamen Bilder zu vertreiben. Seit der neuen Zeitrechnung hatten meine Albträume nachgelassen. Es ging mir besser. Aber überwunden hatte ich diesen Abend in der Banlieue noch lange nicht. Grigori brummte am anderen Ende der Leitung.

„Nicht alle Halbdämonen sind solche Monster. Tristan, Louis, Luc oder ich würden nie ein wehrloses Mädchen angreifen. Und Gábor sieht vielleicht manchmal zum Fürchten aus, aber er ist im Grunde seines Herzens ein riesiges Weichei. Wenn du uns irgendwann hundertprozentig vertraust, schaffst du das bestimmt auch bei fremden Dämonen.“

„Du bist und bleibst ein Optimist.“

„Ich habe zu viele schlimme Dinge gesehen, um keiner zu sein. Weil sie sich ganz oft doch noch gewendet haben.“

Mit diesen kryptischen Worten beendeten wir das Gespräch.

Nach dem Abendessen stand ich mit dem Brief in der Hand vor Renards Bürotür und klopfte mit den Fingerknöcheln dagegen.

„Herein“, grummelte unser Trainer.

Er saß nicht an seinem Schreibtisch, sondern in einem Sessel unter dem Fenster und las in einem Tolstoi-Roman.

Aha. Krieg und Frieden. Den hatte ich schon gelesen. Im letzten Jahr hatte ich einen Haufen Bücher über Russland gelesen, um meinen besten Freund besser zu verstehen.

„Dupont! Was führt dich zu mir?“

„Das hier.“ Ich hielt Renard die Pergamentrolle hin, damit er sie las. Ungeduldig wartete ich darauf, dass er fertig war und etwas dazu sagte. Sein gewaltiger, grauer Schnurrbart bewegte sich immer wieder auf und ab. Wen Grigori auch immer gesehen hatte, wenn mein Zukünftiger sich einen solchen Schnauzer wachsen ließe, ich würde ihn zwingen, ihn abzurasieren oder mich von ihm trennen. Ich verdrehte über mich selbst die Augen, was Monsieur Renard glücklicherweise nicht sah. Ich war keine eiserne Jungfrau, wie mich die anderen Schüler gerne betrachteten, aber bisher war mir noch kein lohnenswertes männliches Exemplar über den Weg gelaufen, abgesehen von Grigori, der schon immer unerreichbar für mich gewesen war. Dass ich Schlimmes mit Männern erlebt hatte, bedeutete nicht, dass ich mich nicht nach einem Partner sehnte. Und allem, was so dazu gehörte. Darüber Bescheid wusste ich aber mehr vom Hörensagen. Vor einer Weile hatte ich Grigori geküsst, einfach weil ich wissen musste, wie es sich anfühlte. Leider fanden wir es beide so komisch, dass wir nie wieder ein Wort darüber verloren. Für mich zählte das auch nicht als erster Kuss. Den hatte ich noch vor mir. Und hier im Internat würde sich so bald keine Gelegenheit ergeben, einen Kuss zu bekommen. Ich grinste verhalten. Barbatos hätte mir nicht extra schreiben müssen, dass meine Reife kurz bevorstand. Der innere Dämon zeigte mir ganz neue Seiten an mir. Sehr weibliche Seiten. Marinette hatte mich vor ihrer Abreise so weit aufgeklärt, dass es normal war, quasi von heute auf morgen jeden Kerl unter die Lupe zu nehmen und damit aufzuhören, seine eigenen Reize zu verstecken. Für weibliche Halbdämonen markierte nicht die erste Monatsblutung die Reife. Vielmehr war es die Entdeckung der eigenen Sexualität. Ich nahm mich nicht mehr als mädchenhafte Kriegerin wahr, ich war eine Frau. Jung zwar, aber eine Frau. Es wurde Zeit, dass ich dieses Haus verließ und in die Welt hinauszog.

Renard hatte den Brief ausgelesen.

„Ich misstraue zwar allem, was aus der Hölle kommt, aber das klingt sehr ernst. Die Führung hat noch nicht darüber entschieden, ob du nach Deutschland umziehen darfst.“

„Können Sie etwas tun?“

„Ich muss etwas tun. Welchen Fürsprecher hast du, wenn nicht mich, Anouk?“

„Vielen Dank, Monsieur.“

„Immer gerne, Anouk. Immer gerne.“ Ich kam als eine der Letzten im Speisesaal an. Besonderen Appetit hatte ich aber ohnehin nicht mehr. Ich löffelte meine Kartoffelsuppe mit Würstchen und knabberte an einem trockenen Stück Baguette, während ich noch immer versuchte zu verarbeiten, dass mein leiblicher Vater einer der Anführer des Aufstandes gegen Luzifer in den vergangenen Monaten gewesen war, einer der mächtigsten gefallenen Engel. Und dass er tot war. Ich würde nie mit ihm sprechen. Wahrscheinlich war das besser so, falls er mich immer noch umbringen wollte so wie seine früheren Kameraden. Trotzdem wünschte ich, ich hätte nie erfahren, dass ich Azazels Tochter war.

3

Matthias

Oktober

Das trockene Laub stob raschelnd neben meinen Fahrradreifen auf, als ich Ruben überholte und mich in die nächste Kurve legte. Downhill fahren war einfach das Beste.

„Warte auf mich!“, brüllte mir Ruben hinterher, doch ich bremste nur minimal ab. Er musste mich schon einholen, nachdem er groß getönt hatte, die Downhill-Strecke am Königstuhl bis zur Molkenkur mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von vierzig Kilometern pro Stunde zu fahren, ohne sich lang zu legen. Das schaffte ich nicht und ich hatte keine Angst mehr vor Knochenbrüchen. Trotzdem trug ich brav meine Protektoren und einen Integralhelm. Unnötige Schmerzen brauchte ich auch mit rascher Selbstheilung nicht unbedingt. Zumal Ruben Verdacht schöpfte, wenn ich mich ungeschützt auf die Strecke wagen würde. Mein Herzschlag beschleunigte, als der nächste Sprung in Sicht kam. Das Rad hob ab und ich flog über den Waldboden. Ich liebte das. Diese ruhige Konzentration, die schnellen Reaktionen, die dieser Sport verlangte. Nicht einmal beim Schwertkampf konnte ich so völlig im Hier und Jetzt aufgehen wie hier auf meinem schlammbespritzten Fahrrad. Mal sehen, ob er nächste Woche am Weißen Stein schneller war als ich. Ich hatte richtig Spaß. Enge Wendungen und langgezogene Sprünge gefielen mir viel besser als reine Geschwindigkeit, weil sie mich richtig forderten. Wenn ich einfach nur schnell den Berg runterfahren wollte, nahm ich das Rennrad und rauschte den Steigerweg hinunter. Wenn ich genügend Kilometer gemacht hatte, gönnte ich mir eine solche Abfahrt als Belohnung.

Ich hörte Rubens Fahrrad hinter mir durch Laub und feuchte Erde pflügen, sogar die schwere Atmung meines Freundes hörte ich. Er klang zu angestrengt, ich fuhr wohl schneller, als es mir vorkam. Ein wenig bremste ich, damit ich nicht dafür verantwortlich war, wenn Ruben sich überschätzte und stürzte, nur weil er mit mir mithalten wollte. Soweit ich das beurteilen konnte, war er ein sicherer Fahrer mit der nötigen Portion Risikobereitschaft, aber ich durfte nie vergessen, dass sein Herz und seine Muskeln früher ihre Belastungsgrenze erreichten als meine.

Ein Zweig knackte unter meinen Reifen, meine Pedale ächzten, als ich mich beinahe aus der nächsten Kurve herauskatapultierte.

In wenigen Metern konnten wir die Strecke verlassen und rasten. Ruben würde es nicht zugeben, aber ich konnte behaupten, dass etwas mit meinem Rad nicht stimmte.

Schnaufend kam Ruben kurz darauf neben mir an einem dicken Baum zum Stehen und hängte sich vornüber über seinen Lenker.

Als er wie ich seinen Helm auszog, kamen sein rotes Gesicht und schweißnasse Haare zum Vorschein. Augenblicklich überrollte mich das schlechte Gewissen.

„Warum hast du angehalten?“, keuchte er.

Weil du fast abnippelst, dachte ich. Stattdessen sagte ich laut: „Meine Kurbeln knarzen irgendwie ungesund. Ich wollte das anschauen, bevor während der Fahrt eine bricht.“

„Mach das.“ Er legte sein Rad ins Laub und plumpste daneben auf den Hintern, um seine Wasserflasche leerzutrinken.

Ich untersuchte fachmännisch meine völlig intakten Kurbeln, deren Geräusche noch unbedenklich waren. Dafür brauchte ich solange, bis Rubens Atmung sich normalisiert hatte.

Der kühle Wind tat sein Übriges. Auch mein Schweiß trocknete rasch und fing unangenehm zu kleben an. Zuhause brauchte ich eine Dusche.

„Was meinst du? Wollen wir weiter?“, fragte ich schließlich. Rubens Gesicht wirkte jetzt nicht mehr stark gerötet wie das Herbstlaub an dem niedrigen Bäumchen neben ihm.

„Klar. Aber jetzt lässt du mich vor. Ich kenne die Strecke besser als du und es gibt noch ein paar fiese Stellen.“

Ich war beide Freeride – Strecken in den Ferien gefahren, aber da es streng genommen ein halbes Jahr her war und ich außerdem nicht auffliegen durfte, nickte ich.

Das Tempo kam mir gemächlich vor, bis ich einen Blick auf meinen Tacho warf. Fast sechzig Sachen und auf der langen Geraden beschleunigte Ruben noch mal.

Krasser Typ.

Beim Abendessen erzählten Papa und Joshua meiner Mutter von den Fortschritten von Gábors kleinem Geisterjägerinternat in Oma Waltrauds Nachbarschaft. Der ältere Bruder von Milán, dem verstorbenen Exfreund meiner Stiefschwester, war früher Luzifers Erster Offizier in der Hölle gewesen. Mir fiel es immer noch schwer, mir diesen harten Höllenkrieger als Herbergsvater vorzustellen.

Da ich ständig zum Renovieren geholt wurde, wusste ich sehr gut über den Stand der Dinge Bescheid und aß in aller Ruhe meine Lasagne, ohne richtig hinzuhören.

„Morgen müssen wir alle zum Möbelaufbau kommen“, sagte Papa gerade, ehe er einen großen Schluck Mineralwasser trank. Da ging es hin, mein freies Wochenende. Aber ich schwieg.

Ich half Gábor und den anderen gerne. Die ganzen Halbdämonen, die in die Villa der Familie Farkas eingezogen waren, hatten mich keinen Tag ausgegrenzt oder irgendwie anders behandelt. Sie sahen darüber hinweg, dass ich streng genommen ihr Feind war.

„Nächste Woche kommen die Schüler, da muss alles picobello sein“, fuhr Papa fort. „Die GHA schickt einen Prüfer, um die Räumlichkeiten in Augenschein zu nehmen. Nicht dass Gábor wegen fehlender Nachttische oder einem anderen Bockmist doch keine Zulassung erhält.“

Mama nickte. „Ich komme mit und koche euch Kürbissuppe mit Würstchen. Die Küche ist ein Traum.“

Joshua verdrehte die Augen.

„Pass auf, dass Gábor nicht dauernd um dich herumwuselt. Er liebt seine Küche.“

„Ich mache schon nichts kaputt. Du liebe Güte, ich koche seit über zwanzig Jahren“, gab Mama zurück. „Wo steckt eigentlich Katharina schon wieder?“

„Sie isst bei Joelle und den anderen zu Abend. Sorry, hab vergessen, es dir auszurichten“, kam es von Joshua.

„Sie hätte ihren Freund ja auch mitbringen können, wenn sie sich nicht für ein paar Stunden von ihm trennen kann.“

„Grigori futtert mir alles weg!“, hakte Joshua gleich ein. „Der soll schön bei Gábor den Kühlschrank leermachen.“

Papa lachte leise. „Als ob du viel weniger vertilgen würdest. Ihr beide esst uns die Haare vom Kopf.“

Ich erstarrte mit der Hand am Pfannenwender, mit dem ich mir gerade die zweite Ladung Lasagne auf den Teller häufen wollte.

„Nimm ruhig, mein Schatz! Damit du groß und stark wirst!“, ermutigte Mama mich.

Joshua lachte. „Viel größer und stärker sollte Matti nicht mehr werden.“ Ich legte das Besteck hin und boxte meinen Bruder gegen die Schulter. Jetzt wurde ich sauer.

„Au! Wofür war das denn?“

„Dafür, dass du neidisch auf mich bist. Du kannst gerne ein paar Zentimeter abhaben. Hast du eigentlich eine Ahnung davon, wie ich angeguckt werde? Wie hinter meinem Rücken geredet wird, weil ich aussehe wie zwanzig und dreimal sitzengeblieben?“

Papa mischte sich ein: „Joshua hat es nicht so gemeint. Ist es so schwierig in der Schule für dich? Warum hast du nicht früher was gesagt?“

Ich unterdrückte ein entnervtes Stöhnen.

„Ist schon gut. Ich habe zwei nette Kumpels gefunden, die beide noch nichts gemerkt haben. Und nein, ich verrate ihnen nicht, dass es sowas wie Geisterjäger gibt. Oder Geister und Dämonen. Ruben hat zwar erkannt, dass ich Geheimnisse habe und eindeutig zu alt aussehe, aber er stellt keine Fragen und ist einfach cool. Jonas kann ich noch nicht einschätzen. Vielleicht hält er seine Neugierde irgendwann nicht mehr aus. Dann fällt uns schon was ein.“

„Willst du eigentlich mal deine neue Trainingspartnerin sehen?“, erkundigte sich Joshua.

„Wie heißt sie noch mal? Anouk?“

„Genau. Warte, ich habe ein Bild von ihr auf dem Handy.“

„Wieso hast du ein Bild von ihr auf dem Handy?“

„Hat Gábor mir geschickt, damit ich dich schon mal vorbereite.“

„Schielt sie und hat einen Buckel?“

„Matthias!“, ermahnte mich meine Mutter. „Und Joshua! Keine Smartphones am Esstisch!“ Er schüttelte den Kopf.

„Mensch Mama, wir sind doch schon alle fertig. Papa liest heimlich Spiegel online unterm Tisch. Ich seh‘s genau.“ Wir lachten, als Papa ertappt sein Handy auf den Tisch legte und Mamas strafender Blick ihn traf.

„Julius! Du solltest ein besseres Vorbild sein! Ich hoffe, in der Schule machst du so etwas nicht.“

„Da lese ich Zeitung.“

„Ihr seid alle unmöglich. Dafür dürft ihr jetzt die Küche aufräumen. Ich habe noch ein Kapitel zum Übersetzen vor mir.“ Sie verließ die Küche.

Mama war immer leicht gereizt, wenn die Abgabetermine für ihre Übersetzungen näher rückten. Im Moment saß sie an einem amerikanischen Frauenroman. Am besten, wir machten einen weiten Bogen um ihre Arbeitsecke im Wohnzimmer.

„Hier!“ Joshua hielt mir sein Handy unter die Nase. Ich wollte das Foto nur ganz kurz anschauen, doch meine Hand hielt das Telefon gegen meinen Willen fest.

Wow. Anouk schielte nicht und hatte definitiv keinen Buckel. Man sah nur ihr Gesicht und den schmalen Oberkörper in einem schwarzen, eng anliegenden Wollpullover, aber das reichte aus, um ein Urteil zu fällen. Was für eine Frau! Ich wusste, dass sie genauso alt war wie ich, aber als Halbdämonin erwachsener aussah und gut und gerne für neunzehn oder sogar Anfang zwanzig durchging.

Mühsam hielt ich meine entgleisende Mimik in Schach. Anouks Haar war lang, wellig und rot, etwas heller als mein eigenes. Ihr ebenmäßiges Gesicht musste aus einer Manufaktur für Porzellanpuppen stammen, dennoch wirkte es kein Stück leblos oder starr. Auf ihrer vorwitzigen, schmalen Nase saßen ein paar Sommersprossen. Als ich ihre rosigen, vollen Lippen betrachtete, schoss mir das Blut ins Gesicht und in tiefere Regionen. Sie war nicht einmal nackt! Ich musste Joshua das Handy zurückgeben. Aber Anouks Lächeln hielt mich gefangen. Sie lächelte den Menschen hinter der Kamera voller Zuneigung an. Außer meiner Mutter hatte mich noch nie jemand auf diese Weise angelächelt. Ein seltsames Gefühl kroch durch meine verknoteten Eingeweide. Sehnsucht? Es war ein beschissenes Foto!

„Hör auf, mein Display voll zu sabbern, Matti“, witzelte Joshua lachend. Papa lachte auch. Zuhause war er manchmal ein mieser Pädagoge.

„Sie hat keinen Buckel“, krächzte ich. Ich wollte im Boden versinken. Joshua lachte so sehr, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Ich räusperte mich und stürmte aus der Küche.

„Hey! Du hast noch nicht abgetrocknet!“, rief Papa mir nach, doch ich rannte ins Bad, wo ich die Tür hinter mir zuknallte. Verwirrt setzte ich mich auf die Waschmaschine und atmete tief durch. Wie konnte es sein, dass ein Foto solche Reaktionen in mir hervorrief? Ich kannte das Mädchen nicht einmal, war ihr noch nie begegnet. Und doch fühlte es sich an, als wäre es das schlimmste Los, sie niemals kennenzulernen.

Wie verrückt war das denn bitte?

4

Gábor

Oktober

Im Hauptquartier der Ghost Hunter Association wehte immerhin zum Teil ein neuer Wind. In Paris sollten nur noch Halbdämonen ab der Mittelstufe aufgenommen werden, jüngere, sofern sie nicht in ihren Familien bleiben konnten, verteilte man auf die kleinen Internate mit Familienanschluss, die nun überall gegründet wurden. Julius Wolf, oberster Geisterjäger in Heidelberg, hatte sich mit meinem Onkel Tibór für diese neue Form der Organisation stark gemacht.

Es war vor allem meiner Verlobten Joelle zu verdanken, dass wir die Kinder bekamen, die tatsächlich Waisen und zudem die jüngsten Halbdämonen dort waren. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass es eine andere Situation war, ins Internat zu kommen ohne eine Familie zu haben, die man jederzeit anrufen oder in den Ferien besuchen konnte.

Obwohl Madame d’Hibou dort nicht mehr die unbestrittene Führung innehatte, sondern in der Hölle lebte, war ich noch immer ein nerviger Bittsteller, den man auf notwendige Informationen warten ließ und ihm lieber mit sinnloser Korinthenkackerei und

Bürokratie auf die Nerven ging. Nachdem ich einen einzigen lächerlichen Brief erhalten hatte, der meinen Antrag auf ein Internat in meinem Haus immerhin bewilligte, war nichts mehr gekommen. Ich wusste zwar ab wann, jedoch nicht, wie viele Kinder kommen würden, wie alt sie waren, welche Vorgeschichten sie hatten. Ich hatte keine Namen und keine anderen Daten, um sie in der Schule anzumelden. Bis Februar würden sie alle miteinander Ferien haben. Daran ließ sich nichts mehr ändern.

Die Ausnahme bildete Anouk Dupont. Grigori Wolkow, mein langjähriger Freund und nun Mitbewohner, hatte mir mit ihrer Aufnahme in unser kleines Internat in den Ohren gelegen, seit er zum ersten Mal nach der Apokalypse in meinem Haus die Augen geöffnet hatte. Ich konnte ihm nichts versprechen, tat aber mein Möglichstes, nachdem Joelle es abgesegnet hatte, dass Grigoris Wahlschwester bei uns leben würde, sofern Renard seine Musterschülerin hergab.

Ich telefonierte an diesem Nachmittag Anfang Oktober in der Küche noch einmal mit Paris, um endlich Genaueres über die Kinder zu erfahren, die schon in wenigen Tagen vor der Tür stehen würden. Heute Morgen hatte ich mehrmals erfolglos versucht, jemanden ans Telefon zu bekommen. Endlich hatte jemand die Gnade besessen, abzuheben.

Von oben schallten Metallicas Greatest Hits herunter, weil die Jungs am Streichen waren und sich nicht auf einen Radiosender einigen konnten. Hier unten war es hoffentlich nicht so gut zu hören, wie es mir mit meinen feinen Dämonenohren vorkam. Vielleicht lauschte ich aber auch lieber der Musik als dem Gelaber der Tante von der GHA. Sie erklärte mir doch tatsächlich noch einmal die wichtigsten Regelungen zur Unterbringung minderjähriger Geisterjäger. Vielen Dank dafür. Als ob ich das nicht alles als Jugendlicher in Frankreich am eigenen Leib erfahren und den Rest bereits nachgeschaut hätte!

Joelle hibbelte neben mir auf und ab, statt sich um die Würstchen zu kümmern, die in einer Pfanne zischten. Schließlich schob ich sie vom Herd weg und wendete die Bratwürste, ehe sie schwarz wurden. Eine große Köchin würde aus dieser Frau nicht mehr werden. Aber dafür hatte sie ja mich. Und sie war eben eine Kriegerin, keine Hausfrau. Beiläufig strich ich über ihr leicht gewelltes, schwarzes Haar, das sie heute in einem unordentlichen Knoten trug. Sie war zwei Köpfe kleiner als ich, aber nicht nur mir hatte sie schon oft genug gezeigt, dass Körpergröße keine Rolle spielte. Der mongolische Einschlag in ihrem Gesicht verlieh ihrem Aussehen etwas Fremdartiges und machte sie noch attraktiver, als sie als Halbdämonin ohnehin war. Doch nicht einmal ihr Anblick vertrieb den aufwallenden Ärger in meinem Innern.

„Ja, wir haben Doppelzimmer. Hören Sie, ich habe sämtliche Unterlagen ausgefüllt. Sie haben einen Grundriss des Hauses, die Anzahl der Zimmer, alles, was Sie wollten. Wir haben soweit fertig renoviert, dass die Schüler einziehen können.“

Ich rollte mit den Augen, weil die Frau auf der anderen Seite der Leitung ständig nachhakte. Leider hatte ich ihren Namen direkt wieder vergessen, nachdem sie ihn mir genannt hatte. Irgendwas mit U …

„Ihr Schlafzimmer sowie das Ihres Cheftrainers Monsieur Wolkow befinden sich auf demselben Stockwerk wie die Zimmer der Schüler. Ist das so beabsichtigt?“

Himmel! Sie erklärte mir meine eigenen vier Wände!

Ich versuchte nicht mit den Zähnen zu knirschen, während ich den Herd ausschaltete. Vermutlich ging es allen so, die eine der neuen Zweigstellen gründeten.

„Was stört Sie daran?“, erkundigte ich mich so geduldig wie ich konnte. Joelle tätschelte meinen Arm, dann rührte sie den etwas zu fest gewordenen Kartoffelbrei noch einmal herum und begann, den Tisch zu decken.

„Es ist nur ungewöhnlich. Wie sieht es mit den sanitären Einrichtungen aus?“

Verdammt nochmal, sie hatte alles vor ihrer Nase liegen!

„Wie viele Badezimmer finden Sie denn auf dem Grundriss?“ Langsam riss mir der Geduldsfaden. Ich hatte ganz andere, wichtigere Fragen! Die GHA blieb doch eine dämliche Behörde.

„Ich sehe gerade, dass Sie drei Badezimmer und insgesamt vier Toiletten im Haus haben. Das sollte genügen.“ Das meinte ich aber auch.

„Könnten Sie mir jetzt vielleicht Auskunft darüber geben, wer zu uns kommen wird? Ich hatte ja extra Anouk Dupont angefordert, obwohl sie über der angegebenen Altersgrenze liegt. Wie haben Sie in dieser Angelegenheit entschieden?“

„Monsieur Renard hat sich dafür eingesetzt, dass die betreffende Schülerin zu Ihnen und besonders zu Monsieur Wolkow kommt.“ Die erste gute Nachricht heute. Ich lächelte.

„Richten Sie ihm meinen Dank aus!“

„Sehr gerne. Nun, ich hole eben mal die Akten Ihrer Schüler. Einen Moment, bitte.“ Ich hörte ihren Bürostuhl knarzen. Mein verspätetes Mittagessen würde wohl kalt werden.

Während ich auf die Rückkehr der Sekretärin wartete, verzog ich mich ins obere Stockwerk, aus dem Tristan, Louis, Grigori, Matthias und Joshua herunterkamen, farbverschmiert, aber bester Laune. Ich suchte Grigoris Blick, als ich an ihm vorbeiging und reckte den Daumen hoch.

„Anouk kommt her?“, flüsterte er. Ich nickte und ging weiter die Treppe hinauf. Trotz des unerquicklichen Telefonats amüsierte ich mich darüber, dass die jungen Männer, ausgenommen der menschliche Matthias, allesamt wie Models aussahen, die sich für ein Fotoshooting in Farbe gewälzt hatten und alte, löchrige Klamotten trugen.

Tristan, der trotz seines rötlichen, kurzen Haares einmal mehr wie der junge Alain Delon wirkte, lächelte charmant und winkte Joelle in der Küche zu. Die beiden waren beste Freunde, seit sie im Alter von zehn Jahren nach Paris ins Internat der GHA gekommen waren. Auch dessen Freund Louis war von Paris mit nach Heidelberg gekommen. Letzterer wurde der Bezeichnung „Surferboy“ auch ohne Surfbrett gerecht, seine fröhliche und unkomplizierte Art tat ihr Übriges. Freunde kann man sich aussuchen, Familie nicht. Mit einem letzten Blick auf unseren Malertrupp schätzte ich mich glücklich, solche Freunde gefunden zu haben.

5

Gábor

Drei Tage später rollten am späten Vormittag drei schwarze Porsche Cayenne am Straßenrand beim Haus aus. Diese für meinen Geschmack ganz schön protzigen Autos bildeten einen Großteil der GHA-eigenen Fahrzeugflotte.

Quasi in letzter Minute waren die Zimmer fertig geworden und mit frischer Bettwäsche und Willkommensschokolade bestückt. Jetzt versammelten wir uns alle in der Einfahrt, um die Neuankömmlinge aus Paris zu begrüßen.

Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Joelle erging es nicht anders, ihre Nervosität war beinahe noch schlimmer als meine. Während Tristan, Louis und Matthias sich im Hintergrund hielten, Joshua beneidenswert cool neben mir stand und Katharina sich augenscheinlich dafür wappnete, Anouk erneut gegenüberzutreten, rannte Grigori zu den Wagen, um seine sehnsüchtig erwartete Freundin aus dem vordersten herauszuziehen. Sie stürzte sich quietschend auf ihn und beide hüpften albern auf dem Gehweg herum, ohne sich loszulassen. Katharinas Lächeln wurde eine Spur verbissen und ich lachte auf einmal.

„Halt bloß die Klappe, Gábor“, zischte sie mir zu. Gerade wie eine Kirchenkerze stand die Halbdämonin mit ihren niedlichen Einssechzig neben mir und warf energisch das lange schwarze Haar nach hinten. Grigoris Freundin brauchte keine Angst zu haben, dass Anouk ihn ihr wegschnappte. Ihre Eifersucht zu sehen, war trotzdem lustig und lenkte mich kurzzeitig von meiner Aufregung ab.

„Ist aber echt schwer“, sagte ich glucksend.

Joshua grinste mich an. Seine halblangen dunklen Locken sahen genauso unordentlich aus wie meine eigenen, aber jeder Kamm versagte und ich hoffte, dass die GHA mir dafür keine Punkte abzog.

„Süß, wenn sie eifersüchtig ist, was?“, meinte Joshua. Katharina hatte nichts für unsere Witzchen übrig.

„Ihr seid jetzt beide ruhig, ihr zwei Idioten!“

„Genau, Klappe zu! Was macht ihr denn für einen Eindruck?“, beendete Joelle unser Gefrotzel. Womit sie recht hatte: Eine schlecht gelaunt wirkende GHA-Mitarbeiterin in einem Etuikleid und mit elegantem Dutt betrat mit einem Klemmbrett in der Hand die gekieste Einfahrt. Ihre Schritte knirschten unheilvoll, als sie näherkam und jeder Anflug von Coolness verabschiedete sich.

„Herr Farkas?“, erkundigte sie sich und ich hob die Hand.

Wir begrüßten uns mit Handschlag.

„Ours.“ Frau Bär, wie nett. Irgendwo klingelte es bei mir, aber ich hatte keine Ahnung, ob wir uns kannten.

Musternd glitt ihr Blick an meiner Gestalt herab. Leider nicht auf die Art, wie ich es gewohnt war. Ich hatte mich zwar nicht in Schale geworfen, trug aber ausnahmsweise mal ein kariertes Hemd statt eines schwarzen T-Shirts.

„Sie sehen jünger aus als auf dem Bild, das Sie mir geschickt hatten.“ Ah, die Frau am Telefon, die testen wollte, ob ich mich in meiner eigenen Hütte auskannte. Himmel und Hölle, steht mir bei!

Joelle drückte meine Hand, ehe sie sich losmachte. Außer für mich interessierte sich die Klemmbrett-Tante sowieso für niemanden. Was für eine gute Entscheidung, dass Grigori nicht Hausvater geworden war. Mit seinem Auftritt hatte er sich in den Augen von Madame Ours bestimmt schon als unreif geoutet.

„Wir führen die Begehung gleich durch, dann können Sie die gewünschten Änderungen schneller vornehmen“, informierte sie mich. Ja, klar. War ich froh, wenn die wieder abreiste.

Zwei Männer mittleren Alters in schwarzer Jägerkluft geleiteten unsere neuen Mitbewohner auf das Grundstück. Sie nickten mir zu, was ich erwiderte. Dann hatte ich nur noch Augen für die Kinder, ein Mädchen und vier Jungen im Grundschulalter. Anouk kam mit ihrem Kofferträger Grigori hinterdrein. Viel Gepäck hatte keiner von ihnen dabei.

Anouk scherte sich nicht um irgendein Protokoll, schob sich an Madame Ours vorbei und schloss erst Joelle, dann mich in die Arme. Ich lächelte unwillkürlich über die herzliche Begrüßung. Anscheinend war sie dankbar, das Hauptquartier verlassen zu dürfen, um bei uns zu leben. Solange sie sich den anderen zuwandte, beschloss ich, die wichtigsten Leute hier zu begrüßen. Unsere kleinen Gäste.

„Schön, dass ihr hier seid“, sagte ich zu den unerwartet still abwartenden Kindern.

Das Mädchen hatte einen blonden Flechtzopf und blaue Kulleraugen. Ihr Puppengesicht war makellos. Auch die Jungen waren unheimlich niedlich. Schon jetzt sah man ihr höllisches Erbe, wenn man richtig hinguckte. Der mutigste und älteste der Jungen, ein hochaufgeschossener, dunkelblonder Franzose reichte mir die Hand und sprach mich an: „Hallo. Bist du unser Hausvater? Ich bin André und das ist meine kleine Schwester Feline.“

„Ich bin nur ein Jahr jünger als du und schon neun“, herrschte sie ihn an, verstummte aber gleich wieder, als ihr einfiel, wo sie sich befand.

„Hallo, André.“

Ich schüttelte auch seiner Schwester die Hand. „Hallo, Feline. Ja, ich bin euer Hausvater. Ich heiße Gábor.“

Hinter Feline versteckte sich der kleinste Junge, Philippe. Seinen Namen hatte ich mir als Erstes gemerkt, auch wenn ich nicht viel über ihn erfahren hatte. Seine hellblonden Löckchen ließen ihn ein bisschen wie eine Putte aussehen. Die eingefallenen Wangen hatten aber so gar nichts mit den dicklichen Engelchen gemein. Mein Beschützerinstinkt erwachte augenblicklich.

Madame Ours bemerkte meinen Blick.

„Philippe kommt nicht aus dem Hauptquartier. Wir haben ihn vor ein paar Tagen bei einem Einsatz in der Banlieue entdeckt. Er lebte alleine bei seinem Stiefvater. Leider wissen wir nichts über seinen richtigen Vater.“

„Das ist schon in Ordnung. Wir werden ihn nicht fortschicken“, stellte ich klar.

Philippe wirkte nicht nur schüchtern, sondern geradezu verängstigt. Ich wagte es nicht, näher zu treten oder ihn gar anzufassen.

„Hallo Philippe“, sagte ich nur.

„Hallo“, flüsterte er und senkte sofort wieder den Blick. Das dürfte ein hartes Stück Arbeit werden. Umso neidischer war ich auf Grigori, der seinen Dämonencharme anknipste und sich neben Philippe auf den Boden kniete.

„Hallo Philippe, ich bin Grigori. Ich wohne auch hier“, begrüßte er den Jungen. Selbst in meinen Ohren klang seine grollende Stimme sanft und beinahe einlullend. Verflixter Grigori und seine Gabe! Doch ich würde mich nicht beschweren, wenn er dem Kleinen half, sich schneller hier einzuleben. Die zwei übrigen Jungen beobachteten gebannt Grigoris Schlangenbeschwörer-Taktik.

Tatsächlich gab Phillipe ihm die Hand und kicherte sogar, als Grigori so tat, als könnte er nicht alleine aufstehen.

„Wer seid ihr?“, fragte ich die anderen zwei, damit ich die Namen richtig zuordnen konnte.

„Ich heiße Julien“, stellte sich der schwarzhaarige Junge mit dem dunkleren Teint vor. Nordafrikaner, ohne Zweifel. „Deine Haare sind fast so wie meine. Kommt deine Mama auch aus Marokko?“, fragte er. Volltreffer.

„Meine Mutter kam aus Ungarn. Dort haben einige Leute dunkle Haare und solche Locken wie wir.“

„Ist Ungarn auch in Afrika?“ Was für ein seltsames Gespräch. Solche würde ich in nächster Zeit bestimmt häufiger führen.

„Nein, das liegt in Europa. Aber tausend Kilometer von hier entfernt. Man muss sehr lange mit dem Auto fahren, wenn man dorthin möchte.“

„Du kannst doch fliegen, oder?“, mischte sich jetzt der andere Junge ein, Jaques, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich ließ. Seine hellbraunen Haare waren kurz und glatt und das genaue Gegenteil von Juliens. Keine Verwechslungsgefahr.

„Ja, das kann ich. Aber wenn ich viel Gepäck habe, nehme ich lieber das Auto. Du bist Jaques, richtig?“

Er nickte.

„Wollt ihr eure Zimmer sehen?“, wandte ich mich an alle.

„Au ja! Dürfen Jaques und ich zusammen ein Zimmer haben?“, rief Julien. Ich lächelte über seine Begeisterung. Für sein Alter war er richtig forsch. Er und Julien würden nächstes Jahr in die erste Klasse kommen, davor blieben sie bei uns. Ich hatte erst heute Morgen von Joshua erfahren, dass man Schüler auch zurückstellen lassen konnte, was bei den beiden, die erst einmal Deutsch lernen mussten, tatsächlich kein Problem sein würde. Zur Not meldeten wir sie später hier in der Gemeinde an. Auf die Telefonate und Termine mit den zuständigen Ämtern freute ich mich allerdings nicht. Der Status französischer Internatsschüler, die in einer deutschen Zweigstelle des Internats lebten, würde persönliche Termine in Begleitung eines Dämons mit Gehirnwäsche-Fähigkeiten sowie einige gefälschte Dokumente erforderlich machen, die wir aber aus Paris bekamen. Geheimhaltung galt weiterhin zum Schutz der Normalsterblichen.

André und Feline konnten im Februar in der Schule anfangen, Anouk schon nächste Woche. Sie war die Einzige, die ich mit Julius‘ Hilfe unterm Jahr in Matthias‘ Klasse schmuggeln konnte. Es würde ihr nicht schaden, noch einmal die achte Klasse zu besuchen. Schließlich wollte sie unbedingt auf ein Gymnasium gehen und hatte trotz guter Deutschkenntnisse die ersten fünf Wochen Unterricht verpasst.

Ich schaute zu ihr herüber. Sie stand mit Joelle bei Matthias, Katharina und Joshua ein Stück entfernt Richtung Garten und unterhielt sich mit ihnen. Wobei Matthias mehr guckte als etwas zur Unterhaltung beisteuerte.

Ich stieß Grigori mit dem Ellbogen an und lachte in mich hinein.

„Schon hat sie dem ersten Kerl den Kopf verdreht.“

„Armer Matthias. Eine Halbdämonin in seinem Alter ist zu viel für ihn“, gab Grigori glucksend zurück. „Ich gehe mit ihnen rein und zeige ihnen die Zimmer. Madame Dingsbums will dich wieder sprechen. Viel Spaß mit der.“ Er schnitt eine Grimasse und bedeutete anschließend den Kindern, ihm zu folgen. Ich ging zu meinen Freunden hinüber.

„Anouk? Wir verteilen die Zimmer. Ist es okay für dich, dir einen Raum mit Feline zu teilen? Wenn nicht, kannst du auch unters Dach ziehen, müsstest dann aber ausweichen, wenn wir Gäste haben.“

„Ich brauche kein eigenes Zimmer“, erklärte sie. „Soll ich meinen Koffer reinbringen?“

„Geh damit am besten Grigori nach, der zeigt dir, wo du hinsollst. Bis gleich!“ Sie schlenderte davon.

Ich versuchte, sie durch Matthias‘ menschliche Augen zu sehen. Anouk bewegte sich selbstsicher und grazil wie eine Ballerina, selbst noch, als sie ihren schweren Koffer mitschleppte. Im letzten halben Jahr hatte sie den Rest ihrer kindlichen Figur verloren. Sie hatte ihre Reife erreicht und wirkte dadurch bereits wesentlich älter als fünfzehn Jahre. Schön war sie immer gewesen, aber jetzt erblühte sie.

Grigori lag ganz richtig, armer Matthias. Er blickte ihr ungeniert hinterher. Ich rechnete ihm nicht den Hauch einer Chance aus. Halbdämonen entfalteten nur unter ihresgleichen oder mit reinrassigen Dämonen die größte gegenseitige Anziehung. Menschen waren nicht vorgesehen. Nicht, dass ich Joshuas Bruder es nehmen würde, diese lehrreiche Erfahrung selbst zu machen.

Grigori räusperte sich. Die Klemmbretttante winkte mir zu.

„Verdammt. Ich bringe mal diese Hausführung hinter mich.“

6

Matthias

Ich war neugierig. Katharina und ihr Freund hatten mir von meiner neuen Mitschülerin Anouk Dupont erzählt. Grigori hatte mich dabei mehrmals darauf hingewiesen, dass sie wie eine kleine Schwester für ihn wäre. Wenn ich also keinen Ärger wollte, kehrte ich den Gentleman raus und ließ die Finger von ihr. Nicht dass mich Mädchen bisher sonderlich interessiert hätten. Außer harmlosen Flirts und dem ein oder anderen Kuss mit der Tochter unserer ehemaligen Nachbarin im Schwarzwald, wo wir früher gewohnt hatten, oder bei schrecklichen Flaschendrehaktionen auf Klassenfahrt hatte ich keine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht.

Allein aus Katharinas und Grigoris Erzählungen war mir von vorneherein klar, dass Anouk mir nicht nur trainingsmäßig haushoch überlegen sein dürfte. Selbst als ungewöhnlicher Mensch würde jemand wie Anouk mich nie als ebenbürtig betrachten. Also ja, Grigori brauchte sich nicht wie ein überfürsorglicher großer Bruder aufzuführen. Ich würde seine geliebte Anouk schon nicht anrühren. Zumindest nicht außerhalb der Sporthalle. Selbst meine lächerlich eifersüchtige Schwester musste zugeben, dass es ein Glücksfall für mich sein würde, mit Anouk zu trainieren.

Und jetzt stand ich mir hier mit den anderen in der Einfahrt der Farkas-Villa die Beine in den Bauch. Wenn Gábor jetzt noch einmal seine Hemdsärmel hochkrempelte, würde ich ihm eigenhändig das Hemd herunterreißen.

Alle waren schrecklich nervös. Als würde sie ein Hinrichtungskommando erwarten.

„Ihr habt immer noch Angst vor der GHA?“, raunte ich Gábor zu, um ihn abzulenken. Joelle achtete nicht auf mich. Sie war damit beschäftigt, mit der Münze an ihrem Armband herumzuspielen und mit Adleraugen die Straße zu scannen.

„Anscheinend waren sie damals viel zu nett zu dir, Matthias“, antwortete Gábor. Endlich ließ er seine Ärmel in Ruhe. Stattdessen nahm er Joelles Hand. Niedlich die beiden. Fast so widerlich glücklich wie Grigori und Katharina. Meinen Bruder und seine Freundin aus der Hölle sah ich nicht oft zusammen.

Da fuhren die schwarzen Wagen vor. Grigori rannte davon. Hoffentlich hatte keiner der Anwohner aus dem Fenster gesehen. Der Halbdämon hatte sich nicht gerade in menschlicher Geschwindigkeit bewegt.

Dann stach mir flammend rotes Haar ins Auge. Das war sie. O Mann, in echt sah sie noch besser aus, als auf Grigoris Handybildern. Sie war ziemlich groß und schlank, mit endlos langen Beinen in schwarzen Jeans. Ihre Figur war makellos. Sogar von weitem wirkte sie älter als fünfzehn.

Anouk hing am Arm ihres großen Freundes und lächelte ihn so freudig an, dass ich mir einen Moment deplatziert vorkam. Sie war wegen ihm hergekommen, nicht wegen der anderen. Schon gar nicht wegen mir. Ich schüttelte das ungebetene Gefühl ab und stellte mich näher zu meinen Geschwistern.

Grigori lud Anouk bei uns und Joelle ab, um mit Gábor die Jüngeren zu begrüßen. Anouks fester Händedruck war keine Überraschung. Offenbar achtete sie nicht auf ihre übermenschlichen Kräfte, denn mein armer Bruder zuckte zusammen, als sie ihm die Hand schüttelte. Sie ließ ihn schnell los. Anscheinend war sie aufgeregter als sie nach außen hin zeigte. Ihre Wangen überzog ein zartes Rot, das jedoch nicht lange vorhielt.

Sofort fingen Katharina und Joshua an, über Heidelberg und die neuen Zimmer zu reden, doch ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung. Erstens hatte ich keine Lust gegen die Quasselstrippe Joshua anzureden, zweitens ähnelte ich Katharina in einer Sache: Wir beobachteten gerne Menschen.

Heute beobachtete ich Anouk. Ihr langes Haar leuchtete je nach Lichteinfall dunkelrot bis kupferfarben. Als die Sonne hinter dichten Wolken verschwand, wurde es mit einem Mal rotbraun wie mein eigenes. Ich betrachtete ihr symmetrisches, feines Gesicht mit den wenigen Sommersprossen und den großen, hellblauen Augen. Ein paar Mal wanderten sie zu mir, ruhten kurz auf mir und wandten sich wieder ab. Ich bemühte mich, sie nicht zu auffällig anzustarren. Das wäre ihr sicher unangenehm. Und ich würde mich vor blöden Witzen nicht mehr retten können.

Ein kühler Wind wehte hier draußen, doch der Einzige, der ihn wirklich spürte, war Joshua. Nicht dass er leicht fror, nur hielt er als Vierteldämon, was Kälteresistenz anging, mit uns anderen nicht mit.

Anouk trug keine Jacke, nur einen schwarzen Kapuzenpullover, der ihren zierlichen Busen kaum verbarg. Da durfte ich auf keinen Fall hinglotzen. Ich schaute zu meinem gestikulierenden Bruder und lauschte auf Anouks Stimme. Sie war glockenhell, aber nicht piepsig. Vermutlich gab es gar keine Halbdämonen mit hässlichen Stimmen.

Ihre ganze überirdische Perfektion beeindruckte mich dennoch kein Stück. Was mich an Anouk faszinierte, war ihr ganzer Ausdruck. Sie hielt sich gerade und erwiderte den Augenkontakt, wenn jemand sie ansprach. Alles an ihr wirkte hart, unbeugsam, streng. Doch das war zum größten Teil Fassade. Auf dem kurzen Weg vom Auto bis in den Garten, den sie mit Grigori zurückgelegt hatte, war die andere Anouk zum Vorschein gekommen. Und genau diese Anouk wollte ich kennenlernen. Die lächelnde, weiche Anouk. Allerdings machte ich mir nichts vor: In den wenigen Minuten mit uns hatte sie diese Version von sich gründlich versteckt. Sie wieder herauszukitzeln konnte ich im Moment vergessen. Ich kannte Grigoris Geheimnis nicht, warum er in Anouks Augen würdig war, ihre lockere Seite zu sehen. Aber ich musste dahinterkommen, damit ich mit diesem Mädchen zusammenarbeiten konnte. Mit der kerzengeraden Anouk hatte ich weder Lust zu trainierten noch in der Schule zu lernen.

Als Anouk ihr Zimmer beziehen sollte, überlegte ich zu lange, ob ich sie begleitete und netterweise ihren schweren Koffer trug. So reagierte ich erst, als sie schon ein paar Schritte entfernt war. Jetzt musste ich ihr nachlaufen.

Katharina und Joshua lachten mich aus. Sollten sie doch.

„Warte, ich helf‘ dir tragen“, rief ich, doch sie blieb nicht stehen, sondern stapfte trotz des zusätzlichen Gewichts in ihrer Hand schnell zum Haus. Erst in der Diele holte ich sie ein.

„Lass mich den Koffer die Treppe hochtragen“, bat ich sie.

Sie blieb stehen, runzelte die Stirn und fixierte mich mit schmalen Augen.

„Warum willst du Koffer tragen?“ Ihr französischer Akzent klang irgendwie niedlich. Zumindest hätte ich dieses Wort benutzt, wenn ich nicht von Anouk betrachtet würde wie ein Verbrecher. Ich räusperte mich. Vor ihr brauchte ich mich gar nicht erst zum Affen zu machen. Ich hatte nicht vor, mich die nächsten Wochen so anschauen zu lassen. No way.

„Weil ich nett sein will? Weißt du, was das Wort bedeutet?“

„Ich lerne besser Deutsch!“, motzte sie. Uh, da hatte ich direkt einen wunden Punkt getroffen. Unabsichtlich. Trotzdem zuckten meine Mundwinkel, weil ich mir das Grinsen verkniff.

„Ich meinte eigentlich, ob du nett sein kannst.“

Mit böse funkelnden Augen drängte sie mich zur Seite und trug ihren Koffer nach oben, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ein toller Anfang.

7

Gábor

Die Villa war soweit in Ordnung.

Natürlich meckerte Madame Ours über den noch nicht fertiggestellten Aufenthaltsraum und mahnte die Anschaffung weiterer Turnmatten an, doch im Großen und Ganzen war sie zufrieden. Ich atmete auf. Meine größte Sorge war gewesen, dass sie das Haus und Grigori, Joelle und mich für untauglich erklärte und alle Kinder wieder mitnahm.