Bedingungslose Annahme - Andreas Nager - E-Book

Bedingungslose Annahme E-Book

Andreas Nager

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Beschreibung

Wenn uns das Leben aus der Komfortzone reißt, brechen existentielle Fragen in uns auf. Dann ist es Zeit, dem Geheimnis des Lebens auf den Grund zu gehen. Der integrale Therapeut und Psychologe Andreas Nager nimmt uns mit auf eine Reise durch vier Bereiche der bedingungslosen Annahme: JA zum Fließen und Sich-Wandeln JA zur Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung JA zu Leid und Schmerz JA zum göttlichen Ursprung Dieses Buch ist eine Einladung, die zu werden, die wir zutiefst sind.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1 JA zum Fließen und Sich-Wandeln

Einleitung

Kontrolle und Anhaftung

Die Angst des Menschen vor Veränderung

Das Gesetz der Polarität

Die Furcht vor dem Tod

Vom Sich-Einbetten und Sich-Trennen

Die Lebensmitte

Übergänge

Das Lebensdrama

Das energetische Weltbild

Die Evolution des Bewusstseins

Durchbruch nach vorn

Kapitel 2 JA zur Selbstverwirklichung

Einleitung

Blockierte Lebenskraft befreien

Spannung

Erkenne dich selbst

Der Schatten

Projektionen

Träume als Wegweiser

Vom Ich zum Du

Gehorchen

Yin und Yang

Die Selbstverwirklichung bei C.G. Jung

Der Archetyp des Helden

Gnade

Der Wille

Das Ego

Sein, Haben und Tun

Eigensinn

Hindernisse und Widerstände

Die Maslowsche Bedürfnispyramide

Was „selbstverwirklichende“ Menschen auszeichnet

Schlussgedanken

Kapitel 3 JA zu Leid und Schmerz

Einleitung

Alles, was kommt, willkommen heißen

Ursachenforschung

Krankheit

Wandlung und Reifung

Das Symptom als Wegweiser

Der Sinn von Leid und Schmerz

Den Widerstand lockern

Der Zeuge

Die Jagd nach dem Glück

Zeitloses Sein im Hier und Jetzt

Körperbewusstsein

Der Körper als Spiegel der Seele

Körperverspannungen und Emotionen

Energy in motion

Die drei Grundnöte des Menschen

Der verwundete Heiler

Kapitel 4 JA zu Gott

Einleitung

Gott erfahren

Religion

Rituale

Meditation und Gebet

In allem Gott sehen

Mystik

Glaube, Ich-Befreiung, Liebe

Schöpfer sein

Die drei Gesichter Gottes

Auf Unendliches bezogen

Engel

Der verlorene Sohn

Involution und Evolution

Schlussgedanken

Personenregister

Literaturempfehlungen

Quellenangaben

Vorwort

Solange es uns gut geht, fällt es uns leicht, unser Dasein zu bejahen. Wieso denn sollten wir das Leben und seine Gesetze hinterfragen, wenn alles rund läuft?

Im Angesicht einer Lebenskrise jedoch beginnen bohrende Fragen in uns aufzutauchen. Das Wort Krise entspringt dem griechischen „krisis“ und bedeutet „Entscheidung“ oder „entscheidende Wende“. Eine Krise zwingt uns zu einer Entscheidung. Sie möchte uns wandeln. Jede Krise bietet uns die Chance, in eine uns bisher unbekannte Tiefe vorzudringen. Die Angst, zugrunde zu gehen, weckt im Menschen die Notwendigkeit, dem Geheimnis des Lebens auf den Grund zu gehen.

Täglich begegne ich in meinem Beruf Menschen, die durch eine Krise aus der Komfortzone ihres Lebens gerissen werden. Dieser neuen, schwierigen Lebenslage stehen sie erst einmal hilf- und ratlos gegenüber. Ihre innere Not und die daraus entspringende Suche nach Antworten auf das Wieso und Wozu weckt in ihnen ein tiefes Bedürfnis, sich mit den großen Lebensfragen auseinanderzusetzen: Wer bin ich? Was ist meine Aufgabe? Was ist der Sinn des Lebens? Woher komme ich und wohin gehe ich? Was ist Gott?

Unzählig sind die Bücher, die sich mit den großen existentiellen Fragen beschäftigen. Auch ich habe über die Jahre unzählige davon gelesen. Auslöser für diese eingehende Lektüre war seinerzeit auch bei mir eine tief schürfende Lebenskrise. Ich kann mich erinnern, dass ich mich anfangs im Dschungel des unermesslichen Bücherangebots regelrecht verirrt habe. Die Auswahl ist unüberschaubar. Womit sollte ich beginnen?

Da boten sich zahllose psychologische Ratgeber und esoterische Selbsthilfebücher an. Die meisten versprachen mehr, als sie hielten. Da wimmelte es von teils abenteuerlichen New-Age-Publikationen, die mich nicht selten etwas verwirrt in einem luftleeren Raum zurückließen. Des Weiteren findet sich eine umfangreiche Auswahl an östlicher Literatur, vorwiegend über Buddhismus, Hinduismus, Taoismus und Sufismus. Ihre tiefe Weisheit übte zwar eine große Anziehungskraft auf mich aus, schien aber anfangs nur schwer mit meinem westlich geprägten Weltbild vereinbar. Schließlich waren da die klassischen philosophischen Werke, die mich aber in ihrer Komplexität überforderten.

Als Einstieg hätte ich mir eine einfache Orientierungshilfe gewünscht – in Form eines Buches, das in geraffter Form einen Überblick über die bedeutenden Fragen des Daseins bietet und mir Anregungen zu einem neuen, schöpferischen und heilsamen Umgang mit meiner Lebenssituation geben sollte. Demselben Wunsch begegne ich heute bei vielen meiner Klienten.

Das vorliegende Buch soll ein Beitrag sein, diesem Bedürfnis entgegenzukommen. Ich wage den Versuch einer kurzen Einführung in meiner Ansicht nach essentielle Fragen menschlicher Existenz.

In vier Kapiteln beleuchte ich vier zentrale Bereiche der Lebensbejahung, vier „JA-Bereiche“: JA zum Fließen und Sich-Wandeln, JA zur Selbstverwirklichung, JA zu Leid und Schmerz und JA zu Gott.

Heil sein bedeutet ganz sein. Meiner Erfahrung nach wird ein Mensch in dem Maße heil, in dem es ihm gelingt, diese vier “JA-Bereiche“ zu betreten, zu erforschen und zu beleben.

Erste Voraussetzung für unser Heil-Werden ist ein „JA“ zu Veränderung, ist unsere Bereitschaft, uns zu verwandeln. Wer sich für eine Umgestaltung im Innen wie im Außen öffnet, wer stetig von neuem dazu bereit ist, alte, festgefahrene Vorstellungen und Gewohnheiten von seinem Leben loszulassen und neue, ungesicherte Wege zu betreten, ist im Einklang mit dem fundamentalen Lebensgesetz, wonach alles im Fluss ist, sich stetig wandelt, erneuert.

Der zweite „JA-Bereich“ handelt von Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Wir alle sehnen uns danach, die zu werden, die wir zutiefst sind. In uns allen schlummern unzählige Entfaltungsmöglichkeiten und individuelle Fähigkeiten. Jede/r von uns besitzt ein einmaliges schöpferisches Potenzial, das es zu erkennen, zu entfalten und ins Leben einzubringen gilt. Gelingt uns dies, fühlen wir uns der Welt zugehörig, fühlen wir uns lebendig und heil.

Wer das Leben in seiner ganzen Fülle gutheißen möchte, muss auch „JA“ sagen zu Leid und Schmerz. Unsere Einwilligung in die Tatsache, dass Leid und Schmerz ein unausweichlicher Bestandteil unserer menschlichen Existenz sind, fällt uns nicht leicht. Meist geht ihr ein längerer intensiver Entwicklungsprozess voraus. Erst wenn wir verinnerlicht haben, dass Freude und Leid, dass Lust und Schmerz einander bedingen wie Licht und Schatten, kommen wir in eine heilsame Berührung mit der Ganzheit des Lebens.

Der vierte „JA-Bereich“ beschäftigt sich mit der Gottesfrage. C.G. Jung sagte, er sei keinem Patienten jenseits 35 begegnet, „dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre.“ Auch ich glaube, dass letztlich jede Lebenskrise einer Entfremdung vom göttlichen Ursprung entspringt. Heilung kann in dem Maße geschehen, in dem wir den Bezug zu unserem ewigen Wesenskern wiederherstellen, wir unser Leben mit einem übergeordneten Sinn erfüllen und es uns gelingt, selbst schöpferisch an der universalen Schöpferkraft teilzuhaben.

Andreas Nager, Sommer 2017

Kontakt: [email protected]

Der Anhang des Buches enthält Informationen zu den genannten oder zitierten Personen und ihren wichtigsten Werken, außerdem Literaturempfehlungen zur Vertiefung der in den einzelnen Kapiteln behandelten Themen.

KAPITEL 1

JA zum Fließen und Sich-Wandeln

„Es soll sich regen, schaffend handeln,

Erst sich gestalten, dann verwandeln;

Nur scheinbar steht’s Momente still.

Das Ewige regt sich fort in allem:

Denn alles muss in nichts zerfallen,

wenn es im Sein beharren will.“

(Goethe)

Einleitung

„Existenz ist Wandel, Wandel Reifung,

Reifung ewige Selbsterneuerung.“

(Henri Bergson)

Leben ist stetig fließende schöpferische Bewegung. Alles Seiende ist im Fluss und in kontinuierlichem Wandel. In jedem Augenblick ist immer alles neu. Leben ist ein immerwährender gestalterischer Prozess, der keinen Stillstand kennt. Sein ist Werden. Stete Veränderung ist die Natur aller Dinge. Das Einzige, das sich nie verändert, ist die Veränderung selbst. Leben und Veränderung sind Synonyme. Alles, was ist, ist ein bloßes momentanes Aufblitzen und augenblickliches Wieder-Vergehen. Die einzige Wirklichkeit ist der Augenblick.

Leben ist ein unermüdliches Schwingen von Pol zu Pol. Die ganze Natur – oft mit Ausnahme des Menschen – gibt sich diesem Schwingen widerstandslos hin, folgt ihren natürlichen Rhythmen und Zyklen. Die fließende Unbeständigkeit der Natur ist ein wunderbares Gleichnis für die Grundwahrheit, dass unser Sein niemals wirklich fassbar ist, dass das Leben in keine greifbare, dauerhafte Gestalt gemeißelt werden kann. Leben ist Pulsation, ist ein ständiges Werden und Vergehen, ein rhythmisches Kommen und Gehen, Öffnen und Schließen, Füllen und Leeren, Anziehen und Abstoßen, Ausdehnen und Zusammenziehen.

Wer versucht, das Leben in seiner Vielschichtigkeit und Größe zu erklären und zu ergründen, wer es mit seinem Verstand begreifen möchte, muss scheitern. Wer das Leben rational erfassen und definieren will, der trennt sich vom Leben ab. Wann immer ich mir einbilde, ich könne das Geheimnis des Lebens entschlüsseln und deuten, muss ich schließlich realisieren, dass ich nur die Oberfläche eines sich dauernd wandelnden Prozesses berühren kann – zu tiefschichtig, komplex und beweglich ist das Leben in seiner ganzen Fülle.

Zu jeder Zeit jedoch kann ich das Leben und mich selbst als Teil davon spüren. Ich kann es sehen, schmecken, riechen, hören, berühren und fühlen..... Wann immer ich mich aufmerksam meiner augenblicklichen sinnlichen Erfahrung widme, erahne ich im Leben einen Sinn. Dann fühle ich mich lebendig und kann das Pulsieren des Lebens als Teil von mir selber spüren und mich ihm anvertrauen.

In solchen Momenten kann ich JA sagen zum Leben als Ausdruck ewigen Wandels, kann ich JA sagen zu ständiger Selbsterneuerung, zum bewegten Tanz zwischen Schöpfung und Vernichtung.....

Kontrolle und Anhaftung

Das Leben wird häufig mit einem Fluss verglichen, mit einem großen Strom auf seinem Weg zum Ozean. Immerfort ist er in Bewegung. In jedem Augenblick ist er neu, nie kannst Du zweimal in denselben Fluss steigen. Könnte sich der Mensch ohne Wenn und Aber auf das Abenteuer „Leben“ einlassen, er würde sich diesem Fluss unverzagt und furchtlos anvertrauen. Wach, neugierig und staunend ließe er sich vom Wasser in Richtung Ozean tragen, dorthin, wo es alle Flüsse hinzieht, dorthin, wo sich alle Flüsse vereinen.

Doch gewöhnlich zieht es der Mensch vor, sich seinen eigenen kleinen, überschaubaren Teich zu graben. Er sucht eine sichere Existenz abseits des bewegten, vermeintlich gefährlichen Lebensflusses, meist ohne zu merken, dass sein Teich wie jedes stehende, unbewegliche Gewässer langsam zu faulen beginnt.

Gerade weil das Leben fortlaufende Veränderung ist, stellt es uns Menschen vor eine immense Herausforderung, denn die Tatsache, dass es dauerndem Wandel unterworfen ist, macht das Leben unkontrollierbar und unberechenbar. Dies steht in krassem Widerspruch zu den zwei Hauptanliegen unseres Ego: Kontrolle und Anhaftung. Unser Ego will tun und es will haben. Es nährt sich aus seinen Vorstellungen, Konzepten und Erwartungen, wie das Leben sein sollte. Es kann sich dem Fluss des natürlichen Wandels nicht hingeben, sondern es möchte - seinen Vorstellungen entsprechend – entweder Veränderung verhindern oder Veränderung willentlich erzwingen.

Die Angst des Menschen vor Veränderung

Immer, wenn wir etwas festhalten wollen, wenn wir uns gegen die Vergänglichkeit einer Sache oder eines Moments sträuben, ist unser tiefster Beweggrund Angst. Die Angst vor dem Neuen ist die Angst vor dem Unsicheren. Doch die Angst vor dem Unsicheren wiederum ist die Angst vor dem Leben selbst, denn Leben ist nun mal von Natur aus absolut unsicher.

Für unser Ego, das ständig die Illusion von Dauerhaftigkeit und Sicherheit nährt, das dauernd darauf erpicht ist, die Welt unter seine Kontrolle zu bringen, stellt jede drohende Zerstörung bestehender Strukturen eine große Gefahr dar. So ist es stets darum bemüht, jede in der Welt erschaffene Form und Position zu bewahren. Die zentrale Funktion unseres Ego, das Denken, orientiert sich mit Vorliebe an der Vergangenheit, am Altbekannten, Erinnerten, Gewohnten – sogar dann, wenn dieses keineswegs als behaglich und angenehm empfunden wird. Das Wagnis, ein neues und somit unberechenbares, unsicheres Feld zu betreten, ist unserem Ich meist zu groß. „Einen neuen Schritt zu machen, ein neues Wort zu äußern, das ist es, was die Menschen am meisten fürchten“, sagt Dostojewski. Diese lebensverneinende Haltung beraubt uns Menschen der Chance zu Weiterentwicklung und Wachstum.

Wer jedoch das Leben bejaht, fühlt sich, wie Erich Fromm bemerkt, „von Lebens- und Wachstumsprozessen in allen Bereichen angezogen. Er will lieber neu schaffen als bewahren. Er vermag zu staunen und erlebt lieber etwas Neues, als dass er in der Bestätigung des Altgewohnten Sicherheit sucht. Das Abenteuer zu leben, ist mehr als Sicherheit.“

Wo immer Entfaltung und Wachstum nicht mehr möglich sind, herrscht Stillstand, Zerfall, Tod. Um wieder das Bild vom sicheren Teich zu benutzen: Wasser, das nicht mehr fließt, wird zu einem faulen, stinkenden Tümpel, in dem kein Leben mehr möglich ist. Wer sich festfährt, sich Wandlung und stetiger Entwicklung widersetzt, wird früher oder später mit Leid oder Krankheit konfrontiert. Aus dieser Perspektive ist jeder Schmerz und jede Erkrankung als Korrekturversuch einer uns tief innewohnenden Intelligenz zu verstehen, die beabsichtigt, Veränderung zu initiieren und uns wieder in Bewegung zu bringen. Die Not lässt sich dann nur noch durch Erneuerung und innere Weiterentwicklung abwenden. Wandlung wird „notwendig“. In jedem therapeutischen Kontext sollte es deshalb Priorität sein, den betroffenen Menschen in Richtung innerer Wandlung und Veränderung zu begleiten. Hat sich die Person einmal für die Möglichkeit einer Veränderung geöffnet, ist meist der entscheidende Schritt in Richtung Heilung getan.

Gerade die Vergänglichkeit der Dinge ist es, die auch unseren Vergnügungen ihren speziellen Reiz verleiht und die Schönheiten des Lebens so besonders macht. Nicht umsonst heißt es, man solle dann mit etwas aufhören, wenn es am schönsten ist. Und die Entscheidung, jegliches lustvolles Vergnügen zu meiden, nur weil der Abschied davon weh tut, wäre feige. Es ist die Bewegung, das Kommen und Gehen, das Sterben und Geboren-Werden, das unserem Dasein seine Lebendigkeit verleiht. „Es gehört zu unserem Pensum, die Dinge genießen zu lernen, weil sie unbeständig sind. Das gelingt uns jedes Mal, wenn wir Musik hören. Wir halten nicht einen bestimmten Akkord oder Satz fest und verlangen nicht vom Orchester, diesen den ganzen Abend lang zu wiederholen; ganz im Gegenteil, wie wir auch diesen speziellen Moment der Musik lieben mögen, wir wissen doch, dass seine ständige Wiederholung den Fluss der Melodie unterbrechen und damit zerstören würde.“1

Leben ist schöpferische Dynamik und alles Statische, das sich gegen Veränderung sträubt, beraubt das Leben seiner Schöpferkraft. Für den kreativen Menschen, der mit der schöpferischen Dynamik des Lebens im Einklang steht, ist das Leben ein immerwährender Geburtsprozess, ein in immer neuen Varianten sich manifestierendes „Stirb und Werde“. Auf jeden kleinen Tod folgt eine Neugeburt und bei jeder Neugeburt erklimmt der Mensch eine neue, höhere Sprosse seiner Entwicklungsleiter. Sicherlich: Jedes Abschiednehmen ist begleitet von Schmerz und Wehmut, doch jeder darauf folgende Neubeginn hat seine ihm eigene, ganz besondere Magie und Kraft.

Das Gesetz der Polarität

„Leben ist Energie in Bewegung“, ein unaufhörliches Schwingen von Pol zu Pol. Jedes Menschenleben handelt von der Auseinandersetzung mit einer fast unendlichen Vielzahl von Gegensatzpaaren. Die Begegnung des Menschen mit den Gegensätzen hat ihren Anfang beim ersten Lebensdrama der Menschheitsgeschichte, dem „biblischen Sündenfall“, als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis essen. Durch ihre Erkenntnis von Gut und Böse fiel die Welt der Einheit und paradiesischen Symbiose auseinander. Die Welt der Polarität war entstanden und die Beschäftigung des Menschen mit den vermeintlich einander widerstreitenden Gegensätzen nahm ihren Lauf....

Alle Ausdrucksformen unserer Welt sind dem Gesetz der Polarität unterworfen. Wir brauchen immer einen Kontrast, damit wir etwas wahrnehmen können. Jeder Aspekt dieser Welt wird erst durch seinen Gegensatz Wirklichkeit. Ohne das Positive könnten wir nicht vom Negativen sprechen, ohne das Dunkle könnten wir das Helle nicht erkennen, ohne die Erfahrung von Leid wäre die Erfahrung von Freude undenkbar.

Nie kann ein Pol des Gegensatzpaares isoliert existieren, sie bedingen sich gegenseitig, sind eine untrennbare Einheit. Jeder Pol lebt durch die Existenz seines Gegenpols. Entferne ich den einen Pol, so verschwindet auch der andere. Die beiden Pole eines Gegensatzpaares sind jederzeit dynamisch aufeinander bezogen, in einem dauernden Zusammenspiel. So gibt es kein Einatmen ohne ein Ausatmen, kein Gut ohne ein Böse, keine Kälte ohne Hitze, keinen Käufer ohne einen Verkäufer, keine Gesundheit ohne Krankheit, kein Leben ohne Tod.

Trotzdem sind wir immerzu versucht, uns jederzeit mit ausschließlich einem der zwei komplementären Pole zu identifizieren, nur einen der beiden Pole zu würdigen, uns einer der beiden Seiten zuzuordnen. So machen wir unsere Welt zu einem Kampfplatz von Dualitäten: gut gegen schlecht, schön gegen hässlich, Freude gegen Leid, Körper gegen Geist, Teilchen gegen Welle und so weiter.... Doch gerade die Kommunikation und Kooperation, die Vereinigung der scheinbar gegensätzlichen Pole ist es, die Leben erzeugt und Entwicklung initiiert. So kann beispielsweise ein neues Menschenleben nur durch Vereinigung des männlichen und weiblichen Pols entstehen.

Leben ist Energie im Fluss. Damit Energie fließt, braucht es ein Spannungsfeld zwischen zwei Polen gegensätzlicher Ladung. Dieses polare Feld ermöglicht Bewegung, erschafft Leben. Fruchtbares Leben ist ungehindertes Fließen und Schwingen zwischen den Polen. Doch immer wieder zieht es uns einseitig zu nur einem der beiden Pole. Wir klammern uns an die Lust aus Angst vor dem Leid, an unsere lichte Seite aus Furcht vor unserem Schatten, an jugendliches Aussehen aus Angst vor dem Altern, ans Leben aus Furcht vor dem Tod. Auf diese Weise erstreben wir ein besseres und glücklicheres Leben, ohne zu realisieren, dass unser Antrieb Angst ist. Resultat dieser Taktik ist halbe Lebensfreude, reduzierte Lebenskraft, denn wer einen der Pole unterdrückt, beraubt das Leben seiner Ganzheit.

Männlich und weiblich beispielsweise bedingen einander wie Licht und Dunkelheit. Trotzdem hat das weibliche Prinzip in unserer Gesellschaft einen schweren Stand. Das Weibliche wird assoziiert mit dunkel, negativ, unbewusst, passiv, nachgiebig, verletzlich – alles Attribute, die in unserem Denken meist einen schlechten Ruf haben. Viel lieber identifizieren wir uns mit dem männlichen, dem hellen, positiven, bewussten, aktiven, standhaften Pol. Doch genau so wie die Dunkelheit den Raum für die Sterne zum Leuchten bildet, so ist das Weibliche der nährende Boden für alles Leben.

Immer wieder zieht es uns zum hellen, konstruktiven Pol – zu Licht, Leben und Sommer, zu Freude und Gesundheit. Den Gegenpol versuchen wir wenn möglich zu meiden. Das Leben aber sucht jederzeit den Ausgleich, es strebt nach einem Gleichgewicht zwischen den zwei Polen. Je größer das Ungleichgewicht ist, umso vehementer meldet sich früher oder später der unterdrückte, abgespaltene Pol. Die beiden Pole streben stets nach Vereinigung und wer nur auf den einen fixiert ist, ruft unweigerlich den andern auf den Plan – meist auf unangenehme und schmerzhafte Art.

Wer JA sagt zum Leben, sagt JA zum Gesetz der Polarität. Aufforderung des Lebens an uns ist es also, uns immer von neuem an die innere Einheit der Gegensätze zu erinnern und zu erkennen, wenn wir sie auseinander reißen, wenn wir uns in einem der Pole festfahren. Unsere Aufgabe heißt „Meditation“, das Finden der Mitte - durch Vereinigung und Transzendierung der Gegensätze. Nur durch das Erfahren des Kontinuums, das sich vom einen Pol zum andern erstreckt, durch die Begegnung mit dem mysterium coniunctionis, dem Geheimnis der Gegensatzvereinigung, können wir das Himmelreich auf Erden finden. Im Thomas-Evangelium heißt es dementsprechend: „Jesus sagte zu ihnen: Wenn ihr aus den zweien eines macht, und wenn ihr das Innere wie das Äußere und das Darüber wie das Darunter, und wenn ihr aus dem Männlichen und dem Weiblichen eines macht, dann werdet ihr ins Himmelreich eingehen.“ 2

Die Furcht vor dem Tod

„Der Tod gehört zum Leben wie die Geburt.

Das Gehen vollzieht sich im Heben wie im Aufsetzen des Fußes.“

(Tagore)

Ein lebensdienlicher Umgang mit den Polaritäten ist immer von neuem eine große Herausforderung für uns Menschen. Mit Vorliebe versuchen wir, die Auseinandersetzung mit ganz bestimmten Gegensatzpaaren zu meiden und oft sind es gerade die großen Lebensfragen, denen wir ausweichen. Viel lieber lassen wir uns von Nichtigkeiten in Beschlag nehmen und verlieren uns in den kleinen Dramen des Alltags.

Eine essentielle Auseinandersetzung, der wir gerne so lange wie nur möglich aus dem Weg gehen, ist die Konfrontation mit unserer Sterblichkeit, mit dem eigenen Tod. Unsere Vergänglichkeit ist das einzige „todsichere“ Faktum unseres Lebens. Doch trotz dieser Gewissheit trägt jeder von uns tief in sich die Sehnsucht nach einem ewigen Leben, nach einem Sieg über den Tod. Unser Hunger nach dem Leben führt oft zu einer Verdrängung der unabwendbaren Tatsache, dass wir es alle früher oder später loslassen müssen. Und je stärker wir uns ans Leben wie an einen Besitz klammern, umso mehr wächst unsere Furcht vor dem Tod. Am ehesten noch können wir uns mit dem drohenden Ende unseres physischen Daseins, mit der Sterblichkeit unseres Körpers, abfinden. Vielmehr hingegen fürchten wir das Ende unseres „Ich“, das Ende unseres psychischen Daseins. Unser Ich sträubt sich hartnäckig, sich dem Tod hinzugeben. Es lebt in dauernder Furcht davor, loszulassen, was es im Verlaufe des Lebens erlebt, erschaffen und sich angeeignet hat. Die Vorstellung, unsere Identität zu verlieren und „nichts“ mehr zu sein, bereitet uns panische Angst.

Ich denke, unsere Furcht vor dem Tod ist in mancher Hinsicht identisch mit der Furcht vor dem Unbekannten, dem Ungreifbaren, Unergründlichen. Vielmehr noch ist sie aber die Furcht vor der Auflösung jeglicher Form, davor, alles loszulassen, mit dem wir uns ein Leben lang identifiziert haben. Wenn wir alles mitnehmen könnten, unsere Erinnerungen, unsere Liebsten, unsere Besitztümer, unser Ansehen, unser Wissen, so würde der Tod wohl über weite Strecken seine Bedrohung verlieren. Während auf der einen Seite viele Menschen nahezu krampfhaft darum bemüht sind, die Unabwendbarkeit ihrer persönlichen Endlichkeit auszublenden, begegne ich auf der anderen Seite in meinem Beruf als Therapeut vermehrt Menschen mit einer großen Todessehnsucht. Bei genauerer Betrachtung jedoch entpuppt sich ihre Todessehnsucht als Lebenssehnsucht. Zutiefst nämlich ist sie Ausdruck eines unerfüllten Herzenswunsches, schöpferisch und gestaltend an der Welt teilzuhaben. Sofern der betroffene Mensch dies erkennt und wieder zunehmend in Kontakt mit seiner kreativen Ader kommt, kann es zu einem Sinneswandel kommen, der es ihm ermöglicht, wieder zurück ins Leben zu finden.

Unermüdlich erteilt das Leben dem Menschen kleinere oder größere Lektionen in Sterbekunst. Wie? Zum Beispiel beim Tod ihm nahe stehender, geliebter Menschen. Oder wenn es ihn zwingt, angesichts einer eigenen schweren Erkrankung dem Tod ins Auge zu schauen. Dann wird das Leben selbst zum Lehrmeister und Bewusstmacher seiner Vergänglichkeit. Vielleicht erst durch die Nähe des drohenden Todes kommt er in Berührung mit seinem Lebenswillen und beginnt zu spüren, wie lieb und wertvoll ihm das Leben eigentlich ist.

Je unmittelbarer und bewusster wir uns mit unserer eigenen Vergänglichkeit auseinandergesetzt haben, umso weniger unheimlich und bedrohlich erscheint uns der Tod. In der Folge können wir auch im Leben mutiger und beherzter agieren – ohne die dauernde hemmende Sorge über all das, was uns zustoßen könnte. Wer gelernt hat, die Vergänglichkeit aller Dinge anzunehmen, insbesondere die Vergänglichkeit seiner individuellen Ich-Persönlichkeit, der wird auch, wenn seine Zeit gekommen ist, die Schwelle in eine andere Dimension widerstandsloser und furchtloser überqueren können. Er hat verinnerlicht, dass Leben und Tod eine Einheit bilden, dass Sterben und Wiedergeboren-Werden zusammengehören wie die zwei Phasen unserer Atmung. „Bei jedem Ausatmen bedingungslos dem Tod nachgeben heißt, mit jedem Einatmen wiedergeboren zu werden. Andererseits bedeutet das Zurückweichen vor dem Tod und der Vergänglichkeit jeden Augenblicks ein Zurückweichen vor dem Leben jedes Augenblicks, da beide ein und dasselbe sind.“ 3

Vom Sich-Einbetten und Sich-Trennen

Bei genauerer Betrachtung unserer großen Lebensrhythmen entdecken wir folgende spannende Dynamik: Phasen des Sich-Einnistens an einem sicheren Ort der Geborgenheit wechseln sich ständig ab mit Phasen der Loslösung von diesem sicheren Ort. Das ‚Stirb und Werde’ unseres Lebens drückt sich aus in einem Wechselspiel von Eingebettet-Sein und Trennung.

Immer wieder zieht es uns in die Regression, wollen wir uns an einem sicheren Ort des Genährt-Werdens niederlassen, sehnen wir uns nach einem Zustand von Verschmelzung und Symbiose. Aus diesen Phasen schöpfen wir ein Gefühl von Sicherheit, sie dienen der Regeneration und dem Aufbau neuer Lebensenergie. Doch diese neue Lebenskraft möchte früher oder später in Bewegung kommen, sie möchte expandieren und Neues erschaffen. Irgendwann wird der sichere Raum zu eng. Die Energie drängt nach außen, sucht Neues, verlangt nach Wachstum, nach Autonomie, nach Progression. Wer zu lange am geschützten Ort verweilt, droht zu erschlaffen. Das Leben sehnt sich nach neuen Räumen, fordert uns immer wieder heraus, neue Bereiche zu betreten, zu beleben, zu erforschen. Nur so sind Entwicklung und Wachstum möglich.

Das Wechselspiel von Sich-Einbetten und Sich-Trennen widerspiegelt sich in eindrücklicher Weise in unserem ganzen Entwicklungsprozess. Bereits bei der Konzeption nimmt es seinen Anfang und begleitet uns in der Folge durch unser ganzes Leben. Beim Zeugungsakt müssen die männlichen Spermien sowie das weibliche Ei ihren vertrauten Raum verlassen und finden sich plötzlich in einem unbekannten Gebiet wieder. Obwohl im neuen Raum anfangs vielleicht eine gewisse Orientierungslosigkeit herrscht, kennen doch beide instinktiv ihren Weg. Nach der Befruchtung streben sie danach, sich an einem neuen schützenden Ort, in der Gebärmutter wieder einzubetten. Doch nach neun Monaten wird auch dieser Ort zu eng, eine neue Trennung steht an: die Geburt.