Beethoven für eine spätere Zeit - Edward Dusinberre - E-Book

Beethoven für eine spätere Zeit E-Book

Edward Dusinberre

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Beschreibung

Beethovens sechzehn Streichquartette gehören zu den anspruchsvollsten und weit in die Zukunft weisenden Werken der Musikgeschichte. Da viele seiner Zeitgenossen sie als unverständlich betrachteten und zum Teil gar nicht als "Musik" empfanden, beschied Beethoven seinen Kritikern, die Stücke seien auch nicht für sie, sondern "für eine spätere Zeit" geschrieben. Was bedeutet es für ein heutiges Streichquartett, diese außergewöhnliche Musik zu proben und aufzuführen? Wie nähert es sich in seinem Verständnis diesen Gipfelwerken der Klassik? Und wie harmonieren eigentlich vier musikalisch eigenständige Persönlichkeiten zusammen in einem Quartett? Edward Dusinberre, 1. Geiger des renommierten Takács-Quartetts, verbindet in seinem Buch geschickt die Erläuterung der Beethovenschen Streichquartette und deren zeitgeschichtlichen Hintergründe mit persönlichen Erfahrungen und interessanten Einblicken in das Arbeiten einer gegenwärtigen Streichquartettformation. Die kurzweilige Lektüre bietet einen vortrefflichen Zugang zu Beethovens Kammermusik.

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EDWARD DUSINBERRE

Beethoven für eine spätere Zeit

Unterwegs mit einem Streichquartett

Aus dem Englischenvon Astrid von dem Borne

Für Beth und Sam

«Die Kunst will es von uns, dass wir nicht stehen bleiben.»

Ludwig van Beethovenüber seine späten Quartette

«Sie sind auch nicht für Sie, sondern für eine spätere Zeit.»

Beethoven gegenüber demGeiger Felix Radicati bezüglichder Quartette Opus 59

INHALT

Prolog: Opus 131

1 Vorspiel: Opus 59, Nr. 3

2 Eintritt in das Quartett: Opus 18, Nr. 1

3 Fraktur: Opus 59, Nr. 3

4 Rekreation: Opus 127

5 Rekonvaleszenz: Opus 132

6 Alternativer Schluss: Opus 130

Danksagung

Mitglieder des Takács-Quartetts

Verzeichnis der Musikbeispiele

Anmerkungen

Bibliografie

Register

PROLOG

OPUS 131

Kaum habe ich meine ersten Töne von Beethovens spätem Streichquartett gespielt, hustet ein Mann in der ersten Reihe der Wigmore Hall in London; das verheißt nichts Gutes. Ein Lehrer sagte mir einmal, Husten im Auditorium während eines Konzertes komme immer von einer langweiligen Interpretation. Wenn das zutrifft, hat sich diese Feststellung jetzt schon bewahrheitet. Ich frage mich, warum der Mann nicht aufsteht und geht. Vielleicht weiß er, dass es zwischen den sieben Sätzen von Opus 131 keine Pause gibt – wenn er hinausginge, würden ihn die Platzanweiser möglicherweise nicht mehr einlassen. Ich hoffe also, dass Langeweile und Gleichgültigkeit bald verfliegen werden.

Die Eröffnungsphrase von Opus 131 sollte nicht allzu schwierig sein. Als Erster Geiger des Takács-Quartetts spiele ich Beethovens vierzehntes Streichquartett1 nunmehr seit fast zwanzig Jahren.

Die ersten zwölf Töne spiele ich allein:

Der Rhythmus ist unkompliziert, das Tempo angenehm langsam, aber selbst der am einfachsten scheinende Melodiebogen ist eine Herausforderung; es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, ihn zu spielen. Von meinen lieben Quartettkollegen habe ich während der vergangenen zwanzig Jahre zahlreiche Vorschläge bekommen. Wie vor allem sollte das Sforzando (im Beispiel auf S. 11 mit sf markiert) umgesetzt werden? Heißt die Anweisung, dass eine bestimmte Note mit Nachdruck gespielt oder dass sie scharf akzentuiert werden soll?

«Das klingt zu aggressiv. Könntest du es mit mehr Ausdruck versuchen?»

«Jetzt hört es sich zu leichtfertig an. Es ist nicht empfindsam genug.»

Und was für ein Tempo wähle ich?

«Wenn es zu langsam ist, fehlt ein wenig die Linienführung. Es ist ja erst der Anfang einer langen Geschichte.»

«Aber nicht so fließend, dass es lässig scheint.»

Oder wie gestalte ich die Dynamik und die Klangfarbe?

«Versuche ein bisschen leiser zu spielen: Es ist ein innerer, kein ausdrücklicher Kummer.»

«Nicht zaghaft – und auch nicht so, dass es dünn klingt.»

Bei Beethoven kann eine Melodie oder eine Phrase scheinbar widersprüchliche musikalische Anforderungen stellen. Dramatisch und doch dezent. Langsam, aber mit einer gewissen Zielgerichtetheit. Ein persönlicher Schmerz, der in einem Saal vor fünfhundert Menschen ausgedrückt wird. Kein Wunder, dass diese Eingangsmelodie zu Diskussionen führt: Meine Entscheidung wirkt sich auf die Möglichkeiten aus, die meine Kollegen haben, wenn sie mit der gleichen Phrase an der Reihe sind.

Einer nach dem anderen schließt sich mir an: der Zweite Geiger, Károly Schranz («Karcsi»), der eines der beiden ursprünglichen Mitglieder des Quartetts ist; Geraldine Walther, seit zehn Jahren unsere Bratschistin; und schließlich András Fejér, der Cellist des Quartetts seit seiner Gründung 1975 in Budapest. Wenn es nicht eine gewisse Übereinstimmung in unserer Herangehensweise an diese Melodie gibt, werden die Zuhörer unsicher sein, welchen Gesamteindruck wir vermitteln wollen. Und doch wünscht Beethoven nicht, dass die vier Präsentationen des Themas identisch klingen. Bei jedem Einsatz geht die Melodie in der Stimmlage nach unten. Sie beginnt im mittleren Tonspektrum der ersten Geige, dann bewegt sie sich bis zur tiefsten Saite in der zweiten Geige, darauf folgen der dunklere Klang der Bratsche und schließlich der volltönende Bass des Cellos: eine Intensivierung von Stimmengeflecht und Emotion, die sich aus dem Solo der ersten Geige entwickelt.

Auch wenn wir die Melodie grundsätzlich mit der gleichen Dynamik und im gleichen Tempo spielen, gestaltet sie jeder Einzelne leicht unterschiedlich, mit einer anderen Färbung: In Karcsis Sforzando schwingt der höchste Schmerz mit; Geris warmer Ton enthält beides: Trauer und Trost; András’ Version ist zurückhaltender, er spielt mit einem schlankeren Ton, der der Melodie eine introvertierte Note verleiht. Was ich für das Ganze beitrage, kann ich nicht beurteilen – vielleicht sollte ich das den bronchialen Herrn in der ersten Reihe fragen. Auch wenn es mir leid tut, dass das Konzert für ihn nicht vielversprechend beginnt, muss ich sagen, dass ständiges Husten mehr ablenkt als ein kurzer Zwischenfall, über den man auf der Bühne leicht hinweggehen kann – etwa ein Programm, das herunterfällt, oder ein Gesprächsfetzen, der lauter zu hören ist, als der Redner es ahnt, beispielsweise: «Feine Plätze haben wir heute Abend.»

Die Kombination von Miteinander und individuellem Ausdruck, wie die Eingangsphrase von Opus 131 sie verlangt, ist entscheidend für die Herausforderungen und den Erfolg beim Quartettspiel. Zu viele Köche mögen den Brei verderben, aber in einem Streichquartett kann nur dann eine zufriedenstellende Übereinstimmung erreicht werden, wenn alle vier Spieler dem Gericht ihre würzigen Zutaten beimischen. Während der letzten zehn Jahre habe ich das Glück, dieses Bestreben mit Karcsi, Geri und András zu teilen, die unentwegt Fragen stellen und sich immer bemühen, Wege zu finden, durch die wir unser Spiel verbessern können.

Während der morgendlichen Probe auf der Bühne der Wigmore Hall konzentrierte sich die unvermeidliche Diskussion über die Eingangsmelodie auf die Frage nach dem Tempo und darauf, wie es den Charakter der Musik beeinflusst. Geri und ich waren besorgt, dass wir immer langsamer wurden und deshalb zu «notig» klangen. Das war kein schmeichelhafter Begriff in unserem Probenvokabular. Er besagt, dass jede einzelne Note zu viel Gewicht hat – wie bei einem Satz, in dem jedes Wort ohne ersichtlichen Grund mit derselben Betonung gesprochen wird. Wir wollten die Aufmerksamkeit der Zuhörer nicht gleich zu Beginn des Stückes verlieren. Doch für András galt es als größte Sünde, zu flüssig zu spielen und unbedeutend oder oberflächlich zu klingen: Oft beginnt Beethoven mit einer kurzen, langsamen Einführung, aber sein kühner Entschluss, diese Idee auf einen ganzen Satz auszudehnen, sollte uneingeschränkt wahrgenommen werden.

Karcsi hielt sich aus der Diskussion heraus. Er bot sich stattdessen an, vom Saal aus zuzuhören. Wenn er die Bühne verließ, konnte er unser Spiel aus der Zuhörerperspektive beurteilen. Wir probierten eine langsamere und eine schnellere Version und bemühten uns, jede so überzeugend wie möglich zu präsentieren – schließlich könnte Karcsi die beiden Möglichkeiten nicht objektiv beurteilen, wenn ich während der langsameren Version, die András vorzog, wie ein Kind spielen würde, das sich auf einem unerwünschten Familienausflug nur widerwillig mitziehen lässt.

Die vorangegangene Diskussion hatte unser Spiel schon beeinflusst. Jetzt wollten Geri und ich unbedingt zeigen, dass wir ein rascheres Tempo durchaus mit genügend Tiefe kombinieren konnten. András hingegen konzentrierte sich darauf, so fließend wie möglich von einem Ton zum nächsten zu gehen. Damit wollte er demonstrieren, dass man durchaus langsam spielen kann, auch wenn man in zwei Schlägen pro Takt denkt.

«Der Unterschied ist nicht groß», verkündete Karcsi. «Es ist gut, wenn unser Bogenstrich gleich schnell bleibt. Wenn einer plötzlich mehr Bogen nimmt, klingen wir zu unruhig.» In diesem Fall hatte die Tatsache, dass wir uns gegenseitig die verschiedenen Anforderungen der Eingangsmusik bewusst machten, uns geholfen, unsere Herangehensweise zu vereinheitlichen.

Wenn wir uns wieder einmal ein Beethoven-Quartett vornehmen und erneut über so fundamentale Fragen wie das Tempo und den Charakter diskutieren, mag es so aussehen, als seien wir eine Gruppe, die diese Musik zum ersten Mal entdeckt. Ein Freund und Mitglied im Komitee der Kammermusikreihe der Corcoran Gallery, die in Washington D. C. stattfindet, lud uns einmal zu einer Probe in seinem Wohnzimmer ein. Bis dahin hatte er uns lediglich im Konzert gehört. Am Ende unserer Probe sagte er überrascht: «Leute, ihr hört euch manchmal an, als wüsstet ihr gar nicht, was ihr tut.»

Aber selbst wenn wir uns am Tag eines Konzerts auf eine nervenaufreibende nochmalige Diskussion einlassen, koste ich den Prozess aus, der uns dabei hilft, für eine Musik, die wir seit vielen Jahren aufführen, ein Gefühl von Unmittelbarkeit zu bewahren. Viele Stunden Vorbereitung mögen für ein Konzert förderlich sein, aber die spannendste Verbindung entsteht dann, wenn sowohl Zuhörer als auch Interpreten alle Zweifel beiseitelassen können und die Musik ganz neu entdecken. Das Erscheinen des Geistes zu Beginn von Hamlet wäre weniger eindrucksvoll, wenn der Schauspieler dem Publikum nebenbei zuflüsterte, dass diese Begegnung auch in einer früheren Matineevorstellung schon stattgefunden hat.

An diesem Abend profitiert unser Spiel des ersten Satzes von Opus 131 von der morgendlichen Diskussion. Geri genießt es, durch einen besonderen Bratschenton Aufmerksamkeit zu wecken. András drängt mit mehr Nachdruck vorwärts als während der Probe. Karcsi experimentiert mit einem transparenteren Klang; er weiß, dass die hervorragende Akustik der Wigmore Hall auch die kleinste Änderung der Klangfarbe oder der Tonqualität bis in die hinterste Ecke des Saales projiziert. Ich versuche, mich ihm anzupassen. Der arme Mann in der ersten Reihe hustet dagegen immer wieder jäh auf – er ist sich der Eigenheiten des Saales wohl weniger bewusst.

Es ist immer ein Abenteuer, Opus 131 aufzuführen. Im Laufe der sieben Sätze, die ohne Pause gespielt werden, umfasst Beethoven eine außerordentliche Bandbreite an Emotionen und wechselt dabei mit der geringsten Vorbereitung von einer Stimmung zur anderen. Sooft wir auch proben, frage ich mich immer, was ich empfinden werde, wenn ich nach dem ätherischen langsamen Satz das flüchtige, hektische Scherzo spiele, oder ob es uns gelingt, in dem heftigen Finalsatz einen ausreichend mächtigen Klang zustande zu bringen.

Einem Freund gegenüber äußerte sich Beethoven zu der erstaunlichen Eigenwilligkeit seiner späten Quartette und erklärte: «Die Kunst will es von uns, dass wir nicht stehen bleiben.»2 Er komponierte seine sechzehn Streichquartette – oder sogar siebzehn, wenn man die «Große Fuge» separat zählt, die ursprünglich als letzter Satz von Opus 130 entstand, später jedoch getrennt davon als Opus 133 herausgegeben wurde – in verschiedenen Phasen seines Lebens. Sie stellen das unterschiedlichste und vielfältigste Werk in dieser Gattung dar, das von einem einzigen Komponisten stammt. Das Bedürfnis, unsere Interpretationen immer von Neuem zu hinterfragen, ist zum Teil von dem Forschergeist inspiriert, der auch die Quartette selbst beflügelt.

Seine ersten sechs Streichquartette vollendete Beethoven im Oktober 1800, im Alter von neunundzwanzig Jahren, und fast neun Jahre, nachdem er von seiner Geburtsstadt Bonn nach Wien gezogen war. Diese ersten Quartette, Opus 18, stehen noch in der Tradition der Streichquartette Haydns und Mozarts, entwickeln sich aber in eine erstaunlich neue Richtung. Seine nächsten drei Quartette schrieb Beethoven zwischen 1804 und 1806: Opus 59, die sogenannten «Rasumowski»-Quartette, die nach dem russischen Grafen benannt wurden, der sie in Auftrag gegeben hatte. Die formalen Neuerungen und die außerordentliche Ausdrucksvielfalt dieser späteren Werke schockierten die ersten Musiker und Zuhörer, die sie erlebten. Als Beethoven sich mit scharfer Kritik konfrontiert sah, entgegnete er, das sei eben Musik «für eine spätere Zeit».3 Es folgten zwei weitere Quartette, Opus 74 und Opus 95, die er 1809 bzw. 1810 komponierte. Viel später, drei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1827, wandte Beethoven seine Aufmerksamkeit dann vor allem der Gattung des Streichquartetts zu. Er stellte die Grundform der Quartettkomposition infrage, er erfand und definierte die Art, wie sich die vier Stimmen aufeinander beziehen, auf neue Weise und schuf fünf Meisterwerke, die kühn höchst verfeinerte und sublime Passagen neben Musik von kindlicher Einfachheit stellen. Niemals hat jemand Werke geschrieben, die so viele Fragen über Form und emotionalen Gehalt eines Streichquartetts stellen, und niemand sonst hat darauf so viele unterschiedliche Antworten gegeben. 1812 beschrieb Beethoven die Faszination und den Fluch seiner Berufung: «Der wahre Künstler hat keinen Stolz; leider sieht er, daß die Kunst keine Gränzen hat, er fühlt dunkel, wie weit er vom Ziele entfernt ist …»4

Die Auseinandersetzung mit Beethovens Streichquartetten ist auch ein Reifeprozess, der seit mehr als vierzig Jahren die Arbeit des Takács-Quartetts geprägt hat. Von Beginn an waren diese anspruchsvollen Stücke mit unserer Entwicklung verbunden. Das Quartett wurde 1975 in Ungarn gegründet, als Gábor Takács-Nagy, Károly Schranz, Gábor Ormai und András Fejér Studenten an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest waren. 1979 reisten sie zum ersten Internationalen Streichquartettwettbewerb in Portsmouth, den sie mit der Aufführung von Beethovens Opus 59, Nr. 2 gewannen; dadurch wurden sie international bekannt. Vier Jahre später wurden sie in die USA eingeladen, um bei Dénes Koromzay, dem Gründungsbratschisten des berühmten Hungarian Quartet, der nach seinem Rückzug vom Quartettspiel an der University of Colorado lehrte, Beethovens Quartette zu studieren. Dieser Besuch war der Beginn einer Zusammenarbeit mit der Universität von Colorado, die das Leben der Musiker auf den Kopf stellte: 1986 setzten sich alle vier Mitglieder des Takács-Quartetts mit ihren Familien aus Ungarn ab und ließen sich in Boulder nieder.

Im Sommer 1993 wurde ich der erste nicht-ungarische Musiker der Gruppe, nachdem ihr außergewöhnlicher Erster Geiger und Gründungsmitglied, Gábor Takács-Nagy, das Quartett verlassen hatte – ein aufregender und aufgeschlossener Musiker, der inzwischen eine vielseitige Karriere als Dirigent, Geiger und Lehrer eingeschlagen hat. 1993 spielte ich für mein Probespiel den letzten Satz aus einem der mittleren Quartette, Opus 59, Nr. 3.

Nach meinem Beitritt kam es noch zu mehreren Veränderungen. Der englische Bratschist Roger Tapping ersetzte den ursprünglichen Bratscher Gábor Ormai, der 1995 an Krebs starb. Das letzte Musikstück, das wir mit Gábor spielten, war der langsame Satz aus Opus 59, Nr. 2. Es war dasselbe Stück, das die Takács’ in der Finalrunde des Streichquartettwettbewerbs von Portsmouth aufgeführt hatten, als der neunzehnjährige Roger Tapping unter den Zuhörern war. Mit Roger spielten wir zuerst alle Beethoven-Quartette in sechs Konzerten im Middlebury College, Vermont, bevor wir uns während der folgenden Zyklen in London, Paris und Sydney weiter gründlich mit der Musik vertraut machten. Zwischen 2001 und 2004 nahmen wir sämtliche Quartette Beethovens mit der Plattenfirma Decca auf und gaben in dieser Zeit zusätzliche Konzerte in New York, Aspen, Napa und Berkley.

Nachdem Roger das Quartett verlassen hatte, um in Boston zu musizieren und zu unterrichten und mit seiner Familie mehr Zeit verbringen zu können,* kam 2005 die in den USA geborene Bratschistin Geraldine Walther zu uns, die 29 Jahre lang Erste Bratschistin des San Francisco Symphony Orchestra gewesen war. Sie begegnete Beethovens Quartetten zum ersten Mal als siebzehnjährige Studentin an der Marlboro School of Music und beim Vermont Festival. Hier wurde jedem Studenten-Ensemble ein erfahrener Kammermusiker zugeteilt, der unterrichtete und gleichzeitig in der Gruppe mitspielte. Geri spielte ihr erstes spätes Beethoven-Quartett unter der einschüchternden Begleitung von Sándor Vegh, dem Ersten Geiger und Gründer des Hungarian Quartet und später des Végh-Quartetts. In unserer neuen Gruppierung überarbeiteten wir unsere Interpretationen der Beethoven-Quartette und führten einen weiteren Zyklus im South Bank Centre in London auf. Im Frühjahr 2014 wandten wir unsere Aufmerksamkeit Beethovens transzendentalem Opus 132 zu, das der Komponist nach der Genesung von einer lebensbedrohlichen Krankheit vollendet hatte. Wir spielten es an verschiedenen Orten, unter anderen beim Aspen Music Festival und dem Edinburgh Festival.

Wie Beethoven es vorausgesagt hatte, erfahren seine sechzehn Streichquartette in einem späteren Zeitalter Wertschätzung, und ihre Existenz ist mittlerweile tröstlich für solche Kammermusikabonnenten, die sich an weniger bekannten oder eher zeitgenössischen Werken stören. Doch ich kann mir vorstellen, dass Beethoven amüsiert auf jene Konzertbesucherin reagiert hätte, die neulich hinter die Bühne kam und sich über den munteren Marsch in einem der späten Quartette beschwerte, der die himmlische Stimmung des vorhergehenden langsamen Satzes jäh zertrümmert. «Warum musste er dieses schreckliche kurze Stück schreiben? Es macht alles kaputt!» Ihre Reaktion verknüpft die Erfahrung heutiger Hörer mit derjenigen der ersten Musiker und Zuhörer, die mit den Streichquartetten Probleme hatten, und unterstreicht, dass auch vertraute Musik uns immer noch stark befremden kann.

Während meiner ersten Jahre als Quartettmusiker konnte ich die Irritation der Interpreten und der Hörer, die als Erste mit diesen Quartetten konfrontiert wurden, gut verstehen. Heute frage ich mich, ob eine Haltung von Betroffenheit und Verwirrung – und damit meine ich nicht die leicht spöttische Attitüde eines Hörers, dem klassische Musik ganz fremd ist – tatsächlich dazugehört, um das Wesentliche dieser Musik zu erkennen und zu würdigen. Indem ich mich mit den Umständen befasste, die mit der Komposition der Beethovenschen Quartette zusammenhingen, und mich vertraut machte mit den Motiven der Gönner, die die Musik in Auftrag gaben, sowie den Reaktionen der ersten Zuhörer, konnte ich vermeiden, dass diese Streichquartette für mich zur bequemen Gewohnheit werden, und sicherstellen, dass die geistige Herausforderung bei jeder Aufführung gegeben ist.

Inzwischen hat der Mann in der ersten Reihe aufgehört zu husten, und ich wage einen dankbaren Blick in seine Richtung. Ich sollte mich nicht ablenken lassen, aber das Podium ist klein, und die erste Sitzreihe befindet sich direkt darunter. Sobald der Bühnenmeister uns die Tür geöffnet hat, haben wir das Gefühl, direkt ins Publikum zu laufen.

Heute Abend sind viele Menschen im Saal, die das Takács-Quartett seit seinem Auftreten in den frühen Achtzigerjahren gehört haben: Freunde, Verwandte und Förderer. Sie haben das Ensemble auf unterschiedliche Weise im Laufe der Jahre unterstützt, und sie zeigen an unserem Wohlergehen ebenso viel Interesse wie an unserem Spiel. Bei jedem Konzert in der Wigmore Hall kämpfe ich während der ersten Minuten gegen die Sorge an, ich könnte sie enttäuschen. Wenn wir uns nach dem Konzert im Green Room, dem Künstlerzimmer hinter der Bühne, über ihre enthusiastischen Reaktionen freuen, ist uns klar, dass sie jedwede Kritik für später aufheben. Im Gegensatz übrigens zu einer unbekannten Zuhörerin, die vor einigen Jahren in meinen Umkleideraum in Aspen, Colorado, kam und mich überschüttete: «Sie sind ein bisschen zu laut für den Zweiten Geiger, wenn er die zweite Melodie im ersten Satz hat. Das Scherzo schien mir zu schnell, und ganz allgemein könnte die Phrasierung mehr Atem haben. Der Beethoven war heute Abend nicht Ihr stärkstes Stück. Aber ich habe das Konzert genossen – kommen Sie bald wieder!» Als ich meinte, ich sei solche Offenheit und detaillierte Aufmerksamkeit hinter der Bühne nicht gewohnt, blickte sie erleichtert und sagte: «Ich bin so froh, dass Sie nicht böse sind. Die meisten Künstler ärgern sich ziemlich über mich.»

Auch wenn ich bei unserem nächsten Besuch in Aspen das Schloss an der Tür meiner Garderobe überprüfte, finde ich, es sollte das Ziel eines jeden Musikers sein, solch interessierte Zuhörer zu haben. Es ist immer unsere Aufgabe, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen und aufrechtzuerhalten. Die Art des Zuhörens während einer Aufführung kann wiederum die Musiker sehr stark beeinflussen: Wir werden eher einen wunderbaren Harmoniewechsel oder den letzten Hauch der Töne am Ende eines langsamen Satzes nachklingen lassen, wenn im Saal Stille herrscht, als wenn jemand seinen Pullover in einer raschelnden Plastiktüte verstaut oder – was in einem anderen unserer Konzerte passierte – eine Dame aus der ersten Reihe ihren linken Schuh auszieht und ihn intensiv im Scheinwerferlicht der Bühne betrachtet.

Als wir uns dem Ende des ersten Satzes von Opus 131 näherten, schienen meine Kollegen vollkommen von der Musik vor ihnen absorbiert zu sein. Geri schaute zu Karcsi und passte ihren Bogenstrich genau seinem Tempo an, um den gleichen Klang zu erreichen, András neigte sich etwas nach rechts, als er von Karcsi die Melodie übernahm. Glücklicherweise haben wir eine meiner Lieblingsstellen erreicht. Die letzten beiden Töne dieses Eingangssatzes haben die gleiche Tonhöhe, aber mit einer Oktave Unterschied. Das Pausenzeichen über der zweiten Note erlaubt es uns, sie so lange zu spielen, wie wir es für angemessen halten. Dann wiederholt Beethoven im nahtlos sich anschließenden Satz das gleiche Oktavintervall, aber einen Halbton höher, und gestaltet so den Beginn einer zarten, schwebenden Melodie. Fast übergangslos wird der musikalische Charakter verändert.

Sollte der letzte Ton des vorangegangenen Satzes im Nichts verklingen, sodass die ersten Töne der neuen Melodie mit neuer Klangfarbe einsetzen – also mit einem überraschenden Richtungswechsel? Oder sollen wir beim Klang der letzten langsamen Note bleiben, damit der Übergang so weich und zusammenhängend wie möglich vonstattengeht und wir die neue Melodie mit der gleichen Stimmung beginnen, mit der wir den vorhergehenden Satz beendet haben? Es wäre ideal, wenn wir scheinbar widersprüchliche Vorstellungen kombinieren könnten: Wir wollen den überraschenden Effekt des plötzlichen Wechsels vermitteln und gleichzeitig das Gefühl aufrechterhalten, dass es eine logische Weiterführung gibt.

Während der Probe am Vormittag diskutierten wir vor allem darüber, ob wir die neue Melodie von Anfang an mit einem lebendigeren Klang und etwas lebhafterem Tempo spielen sollten. Aber an diesem Abend halten wir – vielleicht wegen der aufmerksamen Stille im Saal – die vorhergehende Note länger als sonst und dehnen unser «Diminuendo» aus. Die nächste Melodie taucht mit demselben zerbrechlichen Klang auf und braucht noch ein paar Töne, um das neue, raschere Tempo einzuführen. Heute Abend ist der Wechsel des musikalischen Charakters zwischen dem Ende des ersten Satzes und dem Beginn des zweiten nicht so abrupt wie sonst gelegentlich.

Im vierten Satz von Opus 131 ist die Balance zwischen Einheit und Kontrast wieder ein Diskussionspunkt für unsere Interpretation. Dieser langsame Satz beginnt mit einer schlichten, heiteren Melodie, die von Grundakkorden gestützt wird; sie erlauben alle Möglichkeiten der Entwicklung. In den folgenden Variationen verwandelt Beethoven das Thema und bringt dabei eine solch schwindelerregende Vielfalt von Rhythmen, Stimmungen und Strukturen hervor, dass es manchmal genauso schwierig ist, der musikalischen Handlung zu folgen, wie bei der kühnsten Jazzimprovisation. Die erstaunlichste Neuerung kommt am Ende des Satzes. Nachdem jedes Instrument allein kurze Kadenzen zu spielen hat, die das Thema weiter erkunden, vergeht die Musik fast im Nichts und findet dann wieder zum Eingangsthema zurück. Es wird diesmal von der zweiten Violine und der Bratsche gespielt, ist aber in eine völlig andere Begleitung eingebettet: Erste Geige und Cello imitieren die Piccoloflöte und die Trommel einer Marschkapelle und stellen dadurch die ätherische Atmosphäre infrage, die in der vorangegangenen Musik immer wieder gegenwärtig war – wie bei Volksmusikanten, die eine feierliche Versammlung unterbrechen. Wie sollte die Melodie auf diese respektlose Begleitung reagieren? Heute Abend gefällt es mir, wie Geri und Karcsi in ihrem Spiel meiner und András’ Begleitung widerstehen. Sie rufen eine sehnsuchtsvolle Erinnerung hervor, trotz des vorwärtstreibenden Rhythmus des Cellos. Veränderung und Kontinuität stehen nebeneinander.

Das Wilde, Ausgelassene des siebten und letzten Satzes von Opus 131 steht in keinerlei Zusammenhang mit allem, was vorausgegangen ist. Nach so viel zartem Spiel in den Sätzen zuvor verlangt das Finale mit seinen treibenden Rhythmen und angriffslustigen Fortissimi nach der Wucht eines ganzen Streichorchesters. Werden wir genügend Energie aufbringen können, um dieses mächtige Musikstück zu einem mitreißenden Schluss zu führen? Heute Abend empfinde ich die Extreme als anregend: Endlich kann ich mich ganz und gar in das Drama hineinstürzen, ohne Rücksicht auf irgendeinen Vorfall im Publikum oder ein Büschel abgerissener Bogenhaare, das mich an der Stirn kitzelt – bis sich ein Haar in meiner linken Hand verwickelt und mir kurz den Bogen von der Saite zieht. Doch selbst ein solches Missgeschick fügt dieser letzten glühenden Verwandlung, die für die Struktur des Stücks und die Gesundheit der Interpreten eine Bedrohung zu sein scheint, ein Gefühl berauschender Gefahr hinzu. Das Risiko, die Kontrolle zu verlieren, birgt im Grunde genommen jede intensive Begegnung mit einem der späteren Beethoven-Quartette in sich. Es ist eine Musik, die zuweilen Hörer und Musiker tröstet, die sie aber auch destabilisieren kann.

Opus 131 endet überraschend. Erste Geige und Bratsche spielen eine absteigende Melodie, eine erschöpfte Antwort auf meine Eröffnungsgeste des ganzen Stückes, während zweite Violine und Cello im schnelleren Rhythmus weiter erregt unter der Melodie spielen. Dem Klagelied scheint es zu gelingen, den unterlegten Rhythmus zu befrieden, bis András plötzlich aus der Tiefe des Ensembleklanges wieder das schnellere Anfangstempo und den Anfangsrhythmus aufleben lässt und durch ein Cis-Dur-Arpeggio nach oben drängt. Wir stimmen alle mit ein und beenden das Stück mit drei Dur-Akkorden im Fortissimo – eine jähe, überstürzte Auflösung.5

Wie viel Kraft wir für die Akkorde auch aufwenden, sie können dennoch dieses ungeheure Musikstück nicht ganz zum Abschluss bringen, und sie werden heute Abend, wie schon so oft, mit kurzem, sprachlosem Schweigen entgegengenommen. Die Reaktion der Hörer auf diesen Schluss unterscheidet sich von der Art, wie Beethovens mittlere Werke aufgenommen werden, zum Beispiel die Fünfte Sinfonie, bei der die Wiederholung der Schlussakkorde so eindringlich ist, dass man absolut nicht daran zweifelt, dass dies das Ende ist. Die Frage ist dort nur, welcher der vielen Akkorde der endgültige Schlussakkord sein wird – ein typisches Merkmal, das in Dudley Moores köstlicher Beethoven-Parodie des «Colonel Bogey-Marsches» aufgegriffen wird.6

Aber wir werden am Ende von Opus 131 kaum einen Zuhörer begeistert ausrufen hören – wie das einmal jemand unmittelbar nach dem letzten Ton eines anderen Stückes tat, das wir in der Wigmore Hall spielten: «Das ist’s!» Es ist vielleicht unmöglich, in einem so vielschichtigen Werk, das ohne Unterbrechung durch seine sieben Sätze fortschreitet, einen überzeugenden Schluss zu gestalten. Wenn ich von dem kleinen praktischen Problem der physischen Erschöpfung einmal absehe, so möchte ich bei den letzten drei Akkorden gleich zurück zu meinen Anfangstönen und die Reise von Neuem beginnen.

Von allen Beethoven-Quartetten ist Opus 131 das anspruchvollste: Wie ist es möglich, dass sieben derart kontrastreiche Sätze sich gegenseitig so sehr ergänzen und so überzeugend miteinander verbunden sind? Das ist ein Wunder, das keine musikalische Analyse erklären kann. Und dennoch beruht mein Urteil über das Werk als einer zufriedenstellenden Einheit auf jahrelanger praktischer Erfahrung, die ich im Leben mit dieser Musik erworben habe; als ich es zum ersten Mal mit Opus 131 zu tun bekam, hatten mich die ungeheuren Gegensätze noch entmutigt, sie schienen mir unüberbrückbar.

Aber die Streichquartette von Beethoven haben das Takács-Quartett in glücklichen wie in schweren Zeiten begleitet. Kein Wunder, dass diese Musik, die selbst um die Balance zwischen Einheit und Kontrast, Kontinuität und Verwandlung ringt, immer ein treuer Wegbegleiter war. Sie hat uns geholfen, die Veränderungen anzunehmen und ihnen gleichzeitig standzuhalten. Als ich vor fünfundzwanzig Jahren Student an der Juilliard School in New York war, vermochte ich mir nicht vorzustellen, wie diese Werke das Leben von Musikern und Hörern verbinden können – eine Musik, die selbst aus einem komplexen Gewebe von Handlungen und Beziehungen zwischen Beethoven, seinen Förderern und den Streichern, die seine Werke als Erste einstudierten, entstanden ist.

Wir verbeugen uns am Ende unseres Konzerts, und ich habe gerade noch Zeit, meine Geige in den Kasten zu legen, bevor wir es an der Tür unseres Green Rooms klopfen hören …

*Es fällt schwer, den Quartett-Bazillus loszuwerden, und nach acht Jahren Unterbrechung ist Roger jetzt Bratschist des Juilliard String Quartet.

1

VORSPIEL: OPUS 59, NR. 3

Durch Üben wird man nicht unbedingt perfekt. Immer wieder mogelte ich mich durch schwierige Passagen, aber ich bekam den Part der ersten Geige in Beethovens Streichquartett Opus 59, Nr. 3 einfach nicht besser hin. Ich lief schon Gefahr, in eine zwiespältige Beziehung zum letzten Satz zu geraten, da hörte ich innerlich Beethovens spöttische Bemerkung, als sich Ignaz Schuppanzigh – der Wiener Geiger, der am engsten mit Beethovens Quartetten verbunden war – über die Schwierigkeiten dieser letzten Quartette beklagte: «Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?»1

Dieses Allegro molto war einer von mehreren Sätzen, die das Takács-Quartett für mein Probespiel im Januar 1993 ausgewählt hatte. Ich wunderte mich, warum eine Gruppe, die seit achtzehn Jahren weltweit Konzerte gab, in Betracht zog, einen vierundzwanzigjährigen Graduierten von der Juilliard School ohne jede professionelle Erfahrung im Quartettspiel aufzunehmen. Meine Lehrerin, Dorothy DeLay, war von Fay Shwayder, einer Freundin des Takács-Quartetts, gebeten worden, einen ihrer Studenten zu empfehlen. Sie hatte dazu erklärt, manchmal sei es für ein Quartett leichter, einen noch formbaren Spieler auszuwählen, der frisch vom College kommt, als einen etablierten Künstler, der sich vielleicht nicht so einfach der ausgeprägten musikalischen Persönlichkeit eines Ensembles anpassen kann, die sich über die Jahre entwickelt hat.

Mein erstes Probespiel beim Takács sollte in Boulder, Colorado, stattfinden, wo das Quartett seit 1986 einen dauerhaften Lehrauftrag an der Universität innehatte. Ich nahm an, die Takács’ hatten diesen bestimmten Beethoven-Satz wegen seiner technischen Schwierigkeiten ausgewählt. Die Viola beginnt mit einem schnellen Solothema, das dann nacheinander von der zweiten Violine und dem Cello aufgegriffen wird; die erste Violine schließt sich als Letzte der Raserei an. Noch nie war mir ein so unverhohlen prunkvoller und sprühender Beethoven-Satz begegnet, ein virtuoses Schaustück, bei dem die Herausforderung, die richtigen Töne zu treffen, dringlicher schien als irgendwelche Fragen nach der musikalischen Interpretation. Ich konnte zwar die Finger der linken Hand und den Bogen schnell genug bewegen, aber eben nicht exakt zur selben Zeit. Es blieb zu hoffen, dass mit wachsender Vertrautheit auch die Schnelligkeit zunahm und sich eine geschicktere Koordination einstellte. Unterdessen schien sich Beethoven über mein langsames Übungstempo zu amüsieren, er schien über meine limitierten Geigenkünste zu lachen und meine Eignung für das Vorspiel bei den Takács’ infrage zu stellen.

Für die ersten Streicher, die mit diesen Werken in Berührung kamen, waren solche Stellen ebenfalls eine Herausforderung. Ignaz Schuppanzigh war sechs Jahre jünger als Beethoven. Er begann seine musikalische Ausbildung als Bratschist und wechselte erst 1793, als Sechzehnjähriger, zur Violine. Etliche Jahre später bezeichnete Beethoven Schuppanzigh einmal als elenden Egoisten und hätte wohl auch an dem nachfolgenden Witz seinen Spaß gehabt: «Warum sieht eine Violine kleiner aus als eine Viola? Sie sind gleich groß, aber der Geiger hat einen dickeren Schädel.»

Die ganze Zeit während ihrer beruflichen Verbindung, die über dreißig Jahre anhielt, machte Beethoven sein Späße über Schuppanzigh. Er belegte ihn – nach Shakespeares Drama – mit den Spitznamen «Falstaff», «Mylord Falstaff» oder einfach «Mylord», nicht wegen der Größe seines Schädels, sondern wegen seines Bauchumfangs. «Er könnte mir Dank wissen, wenn ihn meine Kränkungen Mägerer machten», schrieb er an Ferdinand Ries.2

Aber seine Haltung war nicht immer so jovial. In einem Brief an einen engen Freund, Carl Amenda, beschrieb Beethoven Schuppanzigh und den Amateurcellisten Nikolaus Zmeskall als «bloße Instrumente, worauf ich, wenn’s mir gefällt, spiele». Diese Musiker aber können nie «volle Werkzeuge meiner innern und äußern Thätigkeit, eben so wenig als wahre theilnehmer Von mir werden, ich taxire sie nur nach dem, was sie mir leisten.»3

Während ich weiter an den Musikstücken für mein Probespiel arbeitete, gaben mir Beethovens Vorbehalte seinen Musikern gegenüber einen nützlichen Denkanstoß. Während der letzten drei Jahre, als ich viele Stunden im Übungsraum verbracht und mich mit dem Gedanken gequält hatte, wie ich in meinem Beruf als Musiker Fortschritte erreichen könnte, hatte ich erkannt, dass es nicht ganz falsch war, erst einmal auf sich selbst zu achten. Doch mich mit Beethovens Brief an Amenda zu beschäftigen war für mich jetzt interessanter als die müßige Frage, ob ich wohl ein geeigneter Kandidat für das Takács-Quartett wäre. Denn das Schreiben lieferte eine faszinierende Momentaufnahme von Beethovens seelischer Verfassung fast zehn Jahre, nachdem er nach Wien übergesiedelt war. Da es nicht möglich war, ganz in die «innere und äußere Thätigkeit» seines Lebens einzudringen, vermochte eine zusätzliche Information auch einen neuen Blickwinkel zu liefern, von dem aus ich an die Musikstücke für mein Probespiel herangehen konnte.

Beethoven zog im November 1792, mit einundzwanzig Jahren, von Bonn nach Wien, um bei Europas meistgefeiertem Komponisten, Joseph Haydn, zu studieren. Fünf Jahre zuvor war seine Mutter gestorben, und er hatte seine letzten Jugendjahre als Ernährer für seinen alkoholabhängigen Vater und seine beiden jüngeren Brüder zugebracht. Den Großteil seines Einkommens bezog er aus seiner Anstellung als Hofmusiker des Kurfürstentums Köln. Das sogenannte «Kurköln» war einer von etwa dreihundert deutschsprachigen Staaten, die zum losen Verbund des Heiligen Römischen Reiches gehörten. Der Habsburger Kaiser, der eine Oberherrschaftsfunktion über das Reich innehatte, residierte derweil in Wien. Doch vor dem Hintergrund der wachsenden Instabilität in Europa verblassten für Beethoven auch die schwierigen Familienverhältnisse: Im April 1792 erklärte Frankreich der Habsburgermonarchie den Krieg; der Machtaufstieg Napoleon Bonapartes 1799 und die Napoleonischen Kriege sollten das europäische Leben in den nächsten fünfzehn Jahren dominieren.

Während der ersten zehn Jahre in Wien etablierte sich Beethoven vor allem als Pianist, der für seine ausdrucksvollen Improvisationen berühmt war, doch er entwickelte sich auch als junger Komponist weiter, dem Graf Ferdinand von Waldstein, sein Bonner Förderer, prophezeit hatte: «Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart’s Geist aus Haydens Händen.»4 (Dazu muss man wissen, dass Mozart ein Jahr zuvor, im Dezember 1791, gestorben war.) Ein Brief von Waldstein führte Beethoven in ein ganzes Netz aristokratischer Mäzene ein, die einen Anteil an seinem Aufstieg zur Berühmtheit hatten. Aber spätestens 1801 fühlte Beethoven, dass seine frühen Erfolge durch die Verschlechterung seines Gehörs bedroht waren, wie er Amenda anvertraute:

«O wie glücklich wäre ich jezt, wenn ich mein vollkommnes Gehör hätte, dann eilte ich zu dir, aber so von alles muß ich zurückbleiben, meine schönsten Jahre werden dahin fliegen, ohne alles das zu wirken, was mir mein Talent und meine Kraft geheißen hätten – traurige resignation zu der ich meine Zuflucht nehmen muß (…).»5

Beethovens Gefühl der Isolation wurde vielleicht noch durch den Entschluss verstärkt, sein öffentliches Ansehen zu wahren, indem er seinen Zustand Musikern gegenüber, wie etwa Schuppanzigh, geheim hielt. Im «Heiligenstädter Testament» von 1802 – ein Dokument, das an seine Brüder adressiert, aber nie abgeschickt worden war und erst nach seinem Tod entdeckt wurde – äußerte Beethoven ebenfalls seine Besorgnis, dass seine Glaubwürdigkeit als Komponist ruiniert sei, wenn seine Taubheit bekannt würde. Im Zuge dessen hatte er das Gefühl, als Einsiedler leben zu müssen, auch wenn er manchmal seinem Wunsch nach Gesellschaft nachgab.

«(…) aber welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten Singen hörte, und ich auch nichts hörte. Solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie, die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte (…).»6

In den vier Jahren nach der Krise, die zum «Heiligenstädter Testament» geführt hatte, komponierte Beethoven unter anderem die Dritte Sinfonie (die «Eroica»), die Kreutzer-Sonate für Violine und Klavier, die Waldstein- und die Appassionata-Sonate für Klavier, das Vierte Klavierkonzert und das Violinkonzert. Die Streichquartette Opus 59, die Graf Rasumowski, der russische Gesandte in Wien, in Auftrag gegeben hatte, gehören ebenfalls zu dem außergewöhnlichen Werkkomplex, der aus Beethovens Verzweiflung heraus entstand. Als er an dem Quartett arbeitete, das ich für die Takács’ vorbereiten sollte, hatte Beethoven in sein Skizzenbuch einen erstaunlichen Satz notiert, der eine bedeutende Veränderung seiner inneren Einstellung zum Ausdruck brachte: «Kein Geheimniß sei dein Nichthören mehr – auch bey der Kunst.»7 Vielleicht zelebrierte er mit dem Finale von Opus 59, Nr. 3 vor allem seine Trotzhaltung gegenüber seinem Zustand, und es war nicht so sehr das virtuose Schaustück, für das ich es gehalten hatte.

Als ich in einem Übungsraum meine Fleißarbeit fortsetzte und die Noten einstudierte, fragte ich mich, wie wohl im Zusammenspiel mit den Takács’ der Charakter dieser trügerisch-vielschichtigen Musik erhellt würde.

Ich konnte niemanden sehen, der dem weltmännischen Bratschisten des Takács-Quartetts glich, wie er auf dem CD-Cover abgebildet war: In einem Sessel zurückgelehnt, die Viola auf dem Schoß, strahlte Gábor Ormais Foto Ruhe und Selbstvertrauen aus. Im Bereich der Gepäckausgabe des Denver Stapleton Airport lief ein blasser Mann mit wildem, rötlich-gelbem Haarschopf in einem formlosen braunen Anorak mehrfach an mir vorbei, bis ich schließlich auf die Idee kam, meinen Geigenkasten in seine Richtung zu schwenken. Er schaute mich an und dann wieder weg, als suche er nach einer passenderen Alternative.

«Sind Sie Gábor?»

Mit einem kurzen Grinsen versuchte er seine Überraschung zu überspielen. «Sie sind Ed! Tut mir leid, dass ich Sie übersehen habe. Wir haben jemand Älteren erwartet.»

Ich war auf den gelassenen, selbstbewussten Gesichtsausdruck des CD-Covers vorbereitet, nicht auf diesen ruhelosen, scharfen Blick, der schwer zu fixieren war.

«Willkommen! Es ist nicht weit bis Boulder. Sind Sie müde vom Flug?»

Die Takács’ reisen sechs Monate im Jahr – da wollte ich doch nicht schon nach einem dreistündigen Flug Müdigkeit eingestehen. Als wir zu Gábors Auto liefen, deutete er auf die Rocky Mountains am Horizont. Er sprach mit sanfter Stimme und beugte den Kopf vor, sodass er kleiner wirkte, als er es von Natur aus war. Für jemanden, der gewöhnt ist, vor großem Publikum aufzutreten, war der Bratschist erstaunlich bescheiden.

Auf dem Weg nach Boulder erklärte mir Gábor, wir würden zuerst gemeinsam essen und uns die Musikstücke des Probespiels erst am nächsten Morgen vornehmen. Wäre ich Mitglied im Takács-Quartett gewesen, dann hätte ich gleich mit dem Spielen angefangen; falls sich der Kandidat durch eine schlechte Fingerkoordination in einem Beethoven-Satz selbst ausbootete, hätte die obligatorische gesellige Aktivität dann auf ein schnelles Sandwich und ein Rundgang über den Campus zum Andenken verkürzt werden können.

«Warum magst du Streichquartette?», fragte Gábor, als wir den Flughafen verließen.

«Ich habe nie an Quartettspielen als Beruf gedacht, aber ich mache immer gern Kammermusik. Und du?»

«Quartette sind nicht so glamourös wie ein Solokonzert, und manchmal fühlt man sich in die Enge getrieben. Wir hocken so dicht aufeinander: Wenn einer leidet, leiden wir alle. Aber zusammen können wir etwas Besonderes schaffen – viel mehr, als man das allein kann.»

Das war eine bessere Antwort als meine. Ich hätte es mir denken können, dass meine Persönlichkeit genauso wie mein musikalisches Können einer genauen Prüfung unterzogen würde – schließlich verbringen die Mitglieder eines Streichquartetts mehr Zeit miteinander als mit ihren Familien. Eifrig wollte ich meine Eignung für Gruppenarbeit hervorheben und erwähnte meine erfolgreiche kurze Zeit im Schulschachteam. Gábor versprach, mir das Schachprogramm auf seinem neuen Computer zu zeigen, und ich fragte mich währenddessen, warum ich ein Spiel erwähnt hatte, das nicht gerade dafür bekannt ist, dass man Wert auf Teamwork legt.

«Warum hast du an der Juilliard studiert?»

«Ich hatte eine Zeit lang Probleme mit meinem Spiel, vor allem mit dem Bogenarm.» Vielleicht konnte ich meine kläglichen Konversationsbemühungen mit mehr Offenheit aufwerten. «Ich muss noch daran arbeiten, dass der Bogenwechsel glatter vor sich geht, und darauf achten, dass mein Arm entspannt bleibt. Aber DeLay war da sehr hilfreich.»

Gábor blickte besorgt. In der Schule in England war es eine wichtige Überlebensstrategie, sich klein zu machen («Schau dir den eingebildeten Schwachkopf mit dem Geigenkasten an: was bildet er sich nur ein, wer er ist?»), doch hier schien es kein guter Trick zu sein, sich selbst abzuwerten.

«Nun, es gibt immer etwas, woran man arbeiten muss. Darf ich fragen, wie alt du bist?»

«Vierundzwanzig.»

«Das ist jung. Dorothy hat uns das nicht gesagt.»

Mir fiel keine Antwort ein. Als wir über den Kamm eines Hügels fuhren, deutete Gábor auf Boulder, das sich an die Ausläufer der Rocky Mountains schmiegte. Rosig schimmerten die Dächer des Universitätscampus in der späten Nachmittagssonne. Als Robert Fink, Dekan des College of Music, die Tákacs’ zum ersten Mal nach Boulder fuhr, hielt er bei diesem malerischen Anblick am Straßenrand an und sagte: «Genießt die Aussicht, sie ist ein Teil eures Gehalts.»

Gábors Bericht über Dekan Fink hatte meine Neugier über die Entwicklung des Quartetts geweckt: Vielleicht konnte ich beim Essen den Schaden begrenzen, den ich mit meinem ungeschickten Vorgehen im Gespräch angerichtet hatte, indem ich die Tákacs’ fragte, warum sie hier gelandet waren – dieser Umgebungswechsel von ihrer ungarischen Heimat nach Boulder war doch bestimmt dramatischer, als es für irgendeinen neuen Ersten Geiger der mögliche Eintritt in ein Quartett war.

«Du musst Ed sein!» Als ich das Restaurant betrat, sprang ein Mann in Jeansjacke und passender Hose, auf dem Kopf eine Pelzkappe, vom Tisch auf. Auch wenn er unmittelbar als der Zweite Geiger zu erkennen war, sah er gewitzter aus als auf seinem Foto. «Schranz, Károly. Nenn mich Kárcsi oder Charlie, wie du willst. Was möchtest du trinken?»

«Ein Ginger Ale, bitte.»

«Bist du sicher? Egal, wir werden sowieso alles über dich herausfinden.»

András, der Cellist, stellte ähnliche Fragen, die ich schon früher am Nachmittag abgeblockt hatte. Sein wild gelocktes braunes Haar und die rötliche Gesichtsfarbe deuteten auf eine entspannte Haltung, was in gewisser Weise im Widerspruch zu seinem formellen Englisch stand. Er hörte sich meine Antworten an, und seine wachen Augen zeigten Neugier, gemischt mit Skepsis.

«Gábor sagt, du bist jung.»

«Ich werde in wenigen Monaten fünfundzwanzig.»

«Das hat Dorothy uns nicht gesagt.»

«Aber ich bin ein ältestes Kind – wir müssen schneller erwachsen werden.»

«Károly ist auch ein ältestes Kind.» András zog zweifelnd die Augenbrauen hoch.

«Jünger ist gut», sagte Károly. «Mehr Energie!»

Ich erwähnte, dass der Erste Geiger des Tokyo String Quartet, Peter Oundjian, auch ein Student von Dorothy DeLay, in meinem Alter war, als er in das Ensemble eintrat. Als András nach meiner beruflichen Kammermusikerfahrung fragte, erwähnte ich die Handvoll bezahlter Konzerte mit meinem Studentenquartett, die wir gegeben hatten, während ich am Royal College of Music in London war, bevor ich an die Juilliard wechselte. Ein Höhepunkt war unser Auftritt bei einer Weihnachtsfeier in Downing Street, veranstaltet von der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher. Bei meinem Bericht über dieses grandiose Engagement verschwieg ich die Gage von fünfzehn Pfund und den Punkt, dass Thatcher das von uns gewählte Tempo in dem Weihnachtslied «Ding Dong Merrily On High» als zu langsam und zu schwermütig kritisierte.

Das Thema meiner beruflichen Qualifikationen war rasch erschöpft, also fragte ich die Mitglieder des Takács-Quartetts, wie es dazu gekommen war, dass sie sich in Boulder niedergelassen hatten. 1982 hatten die Takács’ an einer Meisterklasse für das ungarische Fernsehen teilgenommen, die von dem Bratschisten Dénes Koromzay geleitet wurde; er war der einzige Streicher des Hungarian Quartet, der vom Anfang bis zum Ende seiner siebenunddreißigjährigen Quartettgeschichte in der Gruppe gespielt hatte. Von 1962 bis 1970 war das Ensemble ständiger Gast an der University of Colorado gewesen. Nachdem Koromzay das Quartettspiel aufgegeben hatte, kehrte er 1980 nach Boulder zurück, um dort zu unterrichten. Und als er die Takács’ bat, ihnen ein Studentenquartett für einen Meisterkurs bei ihm zu empfehlen, boten sie sich stattdessen selbst an. Obwohl sie schon auf dem Weg zu einer internationalen Konzertkarriere waren, wollten sie unbedingt ihr Repertoire erweitern – und besonders die Beethoven-Quartette spielen, von denen sie einige noch nicht einstudiert hatten. Nach mehreren kürzeren Studienbesuchen bei Koromzay beantragte das Quartett einen langfristigen Gastaufenthalt an der Universität und bekam ihn auch bewilligt. 1986 zogen die Mitglieder des Takács’ und ihre Familien von Budapest nach Boulder.

Die Veränderung brachte Anregung und Verunsicherung zugleich mit sich. Täglich waren die Musiker und ihre Familien mit den sprachlichen und kulturellen Unterschieden konfrontiert. Bei einem der ersten Konzerte in Boulder hinkte Karcsi mit einem bandagierten Fuß auf die Bühne. Er hatte bei einer Fahrradfahrt ein Verkehrsschild mit dem Hinweis «Absteigen» nicht verstanden – die Tour endete in einer kurzen, aber schmerzhaften Begegnung mit einem Steinhaufen.

Als die Gruppe zu einer sechswöchigen Konzerttournee aufbrach, mussten sich ihre zurückbleibenden Familien in dem verwirrenden Dschungel von Vorschriften zurechtfinden. András’ Frau Kati wusste, dass für die Anmeldung ihres Autos irgendwelche zusätzlichen Papiere benötigt wurden. Sie betrat (in Begleitung von Karcsis Frau Mari und allen Kindern) eine benachbarte Feuerwehrstation und fragte ein paar erstaunte Feuerwehrmänner, wo man denn einen «Persönlichkeitstest» bekomme.

Während des Essens legten die Musiker Wert darauf zu betonen, dass ihre Integration ins Gemeindeleben – obwohl Boulder von ihren Wurzeln so weit entfernt war – durch die Großzügigkeit einer Anzahl von europäischen Immigranten, unter ihnen auch einiger Ungarn, sehr erleichtert wurde; diese Bewohner bezogen die Takács’ in ihre Gastfreundschaft mit ein, wie sie es auch mit dem Hungarian Quartet während dessen früherem Aufenthalt in Boulder schon getan hatten. Zusätzlich wurden sie von Mitgliedern der Streicherfakultät in die Gemeinschaft der Universität aufgenommen, und man war ihnen bei der Organisation ihrer Gastaktivitäten behilflich. Die Freundin meiner Lehrerin, Fay Shwayder, hatte zu einem großen Teil – mit der Unterstützung von Dekan Fink – ihren Anfangsaufenthalt finanziert.

Aber die drei Ungarn sprachen dennoch über ihre gemischten Gefühle, was ihren Weggang aus Ungarn betraf, sie hatten Heimweh nach Freunden, nach ihren Familien, die sie zurückgelassen hatten, und waren sich durchaus ihres besonderen Status bewusst, den sie in Budapest genossen hatten. Die Gründungsmitglieder hatten an der Franz-Liszt-Musikakademie eine strenge musikalische Ausbildung erfahren. Zwei Stunden Einzelunterricht auf ihrem Instrument pro Woche wurden durch Kammermusikstunden und einen zusätzlichen Kurs im Sonatenrepertoire ergänzt. Die wöchentlichen musikalischen Aktivitäten wurden mit Musikgeschichte und -theorie und mit Orchesterproben vervollständigt.

Die obligatorischen Kurse in politischer Philosophie und Russisch, die vom kommunistischen Regime verlangt wurden, nahm man dagegen nicht ganz so ernst. Als András bei einem mündlichen Examen die Ursprünge des Kommunismus erläutern sollte, hatte er die lakonische Antwort parat, Feuerbach sei durch Säugen an Hegels Brust großgezogen worden. Ludwig Feuerbach war in der Tat, so wie Marx, ein großer Bewunderer von Hegel gewesen, und obwohl András’ respektlose Still-These von einem Prüfer mit versteinertem Gesicht nicht gerade geschätzt wurde, bekam er das Prädikat «Bestanden».

Auch wenn der Dekan der Franz-Liszt-Musikakademie ihnen einen flexibleren Stundenplan ermöglichte und ein Manager aus Budapest den Takács’ im frühen Stadium ihrer Karriere behilflich war, so waren andere Aspekte des Lebens hinter dem Eisernen Vorhang schwierig. Ungarn war nachsichtiger als andere sozialistische Länder, aber Reisevisa wurden oft erst in letzter Minute ausgegeben, und der Grenzübertritt war manchmal anstrengend; einmal wollte ein Soldat einen Stempel auf den Boden von Karcsis Violine drücken.

Vom üblichen zweijährigen Pflichtmilitärdienst waren Musikstudenten im Allgemeinen ausgenommen, aber Karcsi hatte nicht das Glück und war gezwungen, an einem neuen, versuchsweise durchgeführten einmonatigen Militärtraining für Musiker teilzunehmen. Täglich drehten die Rekruten Runden, stolperten über schlammige Hindernisstrecken und nahmen am Unterricht über Kommunismus teil. Die Erleichterung kam für Karcsi schließlich in Form eines eingewachsenen Zehennagels, der im weiteren Verlauf des Trainings seltsamerweise mehr Beschwerden machte. Ein verständnisvoller und womöglich gelangweilter Armeearzt bot an, den Nagel zu entfernen. Karcsis anschließende Genesungszeit bestand hauptsächlich aus Tischfußballspielen im Lazarett, sie wurde nur unterbrochen, wenn ein Armeekrankenwagen kam, um ihn zu jenen Tätigkeiten zu bringen, die die Heilung seines Fußes nicht übermäßig beeinträchtigten. Während ein genervter Prüfer versuchte, dreißig Studenten zu beurteilen, tat Karcsi nur so, als nehme er ein Gewehr auseinander, und hob dann die «wieder zusammengesetzte» Waffe triumphierend rechtzeitig zusammen mit jenen der pflichtbewussten Studenten hoch, die die Aufgabe schon erfüllt hatten. Der Test seiner Treffsicherheit wurde umgangen, weil der beaufsichtigende Offizier es nicht ertragen konnte, wie ungeschickt und bedrohlich Karcsi das Gewehr hielt, und es ihm abnahm und die Schüsse selbst absolvierte.

«Das sind gute Geschichten», sagte András müde und fixierte mich mit einem scharfen Blick. «Eigentlich sollten wir die meisten Fragen stellen. Wie stellst du dir die Balance zwischen deinem beruflichen und deinem persönlichen Leben vor?»

Während alle mich anblickten und ernst auf meine Antwort warteten, stopfte ich mir eine Frühlingsrolle in den Mund.

«Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht.» Da war wieder der rote Faden meiner Antworten. «Ich bin überzeugt, im Quartett gibt es so viel zu tun, dass es an erster Stelle stehen muss, wenigstens bis ich mehr Repertoire habe. Es wird nicht viel Zeit für ein Privatleben bleiben.»

«Du brauchst jemanden, mit dem du reden kannst», sagte Gábor. «Wir können ganz schön grob sein.»

«Mach ihm doch keine Angst», sagte Karcsi. «Wir sind Engel. Aber manchmal müssen wir streiten.»

«Wie geht ihr mit unterschiedlichen Auffassungen in der Musik um?», fragte ich.