Befreiung vom inneren Richter - Byron Brown - E-Book

Befreiung vom inneren Richter E-Book

Byron Brown

4,4

Beschreibung

"In sehr klarer und zugänglicher Sprache erklärt dieses Buch im Detail, wie wir den inneren Kritiker erkennen und erfolgreich mit ihm umgehen können. Für alle, die sich vom inneren Leiden und der Bedrängnis durch diesen uralten Feind der Menschheit befreien wollen, stellt Byron Browns Darstellung eine große Hilfe dar. Besonders aber richtet es sich an all jene, deren Interesse und Engagement der inneren Reise zur Verwirklichung und Erleuchtung gilt." A.H.Almaas

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BYRON BROWN

BEFREIUNGVOMINNERENRICHTER

DIE INTELLIGENZDER SEELEERKENNEN

Herausgegeben von

Shambhala Publication, Inc.

Titel der Originalausgabe

„Soul Without Shame“,

erschienen 1999

Übersetzung: Christine Bolam

Lektorat: Hans-Jürgen Zander

© J. Kamphausen Verlag &

Umschlag-Gestaltung,

Distribution GmbH, Bielefeld 2001

Typografie und Satz:

[email protected]

Wilfried Klei

www.weltinnenraum.de

Projektleitung: Marianne Nentwig

8. Auflage 2012

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eISBN 978-3-89901-829-5

ISBN 978-3-933496-04-1

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

In liebender Erinnerungan meinen SchwiegervaterMonroe (Jim) Friedman

Das Problem liegt nicht darin, dass wir glücklich sein wollen, sondern darin, dass wir es verkehrt angehen. Wenn wir wirklich einsehen, dass wir es verkehrt angehen, dann geben wir auf. Und dann kann sich das Leben von allein entfalten. Wir können es nicht zur Entfaltung bringen. Wir können unsere Abwehr, unser Urteilen und unsere Intoleranz aufgeben, doch diese Muster geben wir erst auf, wenn wir ganz und gar erkennen, was sie anrichten – dass sie uns verletzen.

A. H. Almaas

Diamond Heart, Buch 2

Vorwort

Danksagungen

Geleitwort

Einführung

Hinweis an den Leser

1 Die Seelenperspektive

2 Was ist der Richter?

3 Die wahre Natur und die Wirklichkeit

4 Urteile erkennen

5 Gewahrsein

6 Was wird verurteilt?

7 Annehmen

8 Die Verwicklung mit dem Richter

9 Der persönliche Wille

10 Der Richter sein

11 Stärke

12 Warum urteilen wir?

13 Freude und Wissbegierde

14 Tiefer schauen

15 Mitgefühl

16 Disidentifikation

17 Weite

18 Den Verrat an sich selbst beenden

19 Wert

20 Wie man sich gegen Urteile verteidigt

21 Friede

22 Nach dem Urteil

23 Wahrheit

24 Kurze Zusammenfassung der Reise

25 Gegenwärtigkeit

Abschließende Gedanken

Liste der Übungen und Praxisanleitungen

Hinweise und Literaturvorschläge

Index

VORWORT

Wir alle möchten gerne frei und glücklich sein. Viele von uns glauben, das durch äußeren Erfolg erreichen zu können und neigen deshalb dazu, die Hindernisse in der Außenwelt, den Menschen und den Lebenssituationen zu suchen. Sobald wir erkennen, dass sowohl die mögliche Erfüllung als auch das, was ihr entgegensteht, in unserem Inneren zu Hause sind, beginnen wir unsere innere Reise. Es ist eine Reise in unser eigenes Bewusstsein und Erleben, ein Pfad, auf dem wir die inneren Reichtümer menschlichen Potenzials entdecken und erkennen werden. Zwar ist sie ein spannendes Abenteuer, doch wie alle echten Abenteuer ist auch die innere Reise nicht einfach, sie ist voller Herausforderungen und Schwierigkeiten, Hindernisse und Barrieren.

Viele der Weisheitsschulen und Lehrer kennen und diskutieren diese inneren Hindernisse seit Tausenden von Jahren, doch einige der grundsätzlichsten Hindernisse konnten erst mit der Entwicklung der modernen Tiefenpsychologie auf präzise und detaillierte Art verstanden werden. Durch dieses Verständnis wird die innere Reise heutzutage auf eine Weise unterstützt, die es früher nicht gab. Eines dieser Hindernisse zur spirituellen Arbeit und spirituellen Verwirklichung liegt in der schmerzhaften und schwierigen Behinderung durch den inneren Kritiker, die bedrängende innere Instanz, welche uns und andere gnadenlos und beständig kritisiert, beurteilt, vergleicht, verurteilt, beschuldigt und angreift.

Die Tiefenpsychologie hat uns gezeigt, dass wir einen Teil unserer selbst stets dahingehend entwickeln, die Rolle des inneren Gewissens – traditionell des Über-Ich – zu übernehmen. Doch diese Ichstruktur, das Gewissen, fußt hauptsächlich auf der Identifikation mit dem urteilenden, kritischen, anklagenden und strafenden Umfeld, in dem wir aufwachsen. Es wird zu einem harten Richter und einer grausamen Strafinstanz, anstatt das Licht des wahren Bewusstseins zu verkörpern. Gewöhnlich entwickelt es sich zu einem rigiden Anteil unseres Verstandes, der unflexible Regeln und Befehle verkörpert, sich unserem Verständnis entzieht, und der Realität gegenüber taub ist. Das Über-Ich wird zu einer der Hauptquellen inneren Leidens durch niedrigen Selbstwert, Schuld, Scham, Entwertung und Selbstvorwürfe. Wann immer der innere Kritiker in unserem Selbsterleben oder unserer Wahrnehmung anderer irgendetwas entdeckt, das er nicht gutheißt, schreitet er zur Tat. Neben dem alles durchdringenden Leiden, welches er in unserem Erleben verursacht, erschweren die Starrheit und Urteile des inneren Kritikers den tiefen inneren Kontakt zu uns selbst – denn jedesmal, wenn wir etwas aufdecken, das er ablehnt, greift er uns an. Also leiden wir auf der inneren Reise entweder unnötig, oder wir schweifen von Teilen unserer eigenen Erfahrung ab, um dieses Leiden zu vermeiden. In beiden Fällen wird unsere innere Arbeit schwierig, begrenzt und kommt oft zum Stillstand.

Aufgrund des größeren Verständnisses von der Entstehung und Struktur des inneren Kritikers durch die moderne Tiefenpsychologie können wir heute besser mit ihm umgehen als je zuvor. Wir können ihn als das erkennen, was er ist und ihm auf eine Weise begegnen, die uns von seinen grausamen inneren Angriffen befreit, um daraufhin unsere Reise nach Innen mit mehr Freiheit und größerem Vergnügen an den spannenden Entdeckungen anzutreten.

Dieses Buch ist insofern einzigartig, als es den Leser mit dem Verständnis und der Methodik versieht, um genau das zu tun. In sehr klarer und zugänglicher Sprache erklärt es detailliert, wie man den inneren Kritiker erkennen und erfolgreich mit ihm umgehen kann. Byron Browns Darstellung ist für den Einzelnen von Nutzen, der sich vom inneren Leiden sowie dem Zwang zu befreien wünscht, welchen dieser alte Feind der Menschheit ausübt, – es richtet sich aber insbesondere an all jene, die sich auf der inneren Reise zur Verwirklichung und Erleuchtung befinden.

Byron war viele Jahre lang mein Schüler und ist darüber hinaus ein Lehrer mit beträchtlicher Erfahrung des Diamond Approach zur inneren Reise. Er hat seinen eigenen Erkenntnissen zur Arbeit mit dem inneren Kritiker, welche er vielen Jahren der eigenen inneren Arbeit sowie der Arbeit mit Schülern verdankt, auf eine Weise Ausdruck verliehen, die erkennen lässt, dass ihre Wurzeln in den tatsächlichen essenziellen Zuständen innerer Verwirklichung zu suchen sind. Deshalb ist dieses Buch nicht nur eine Studie des inneren Kritikers und des Umgangs mit ihm, sondern eine klare Darstellung der Möglichkeiten, diese Arbeit auf eine Weise zu verrichten, die uns wirklich dabei hilft, unser wahres und spirituelles Wesen zu enthüllen. In anderen Worten – es legt dar, wie die Arbeit am inneren Kritiker ein Pfad zur Erkenntnis unseres wahren Gewissens, zur Verwirklichung des essenziellen Gewissens werden kann, von dem der innere Kritiker nur einen begrenzten Abklatsch darstellt. Ebenfalls ist es Byron gelungen darzustellen, inwiefern die Arbeit mit dem inneren Kritiker und das Erscheinen spiritueller Zustände verwandt sind, und wie sie sich ergänzen und unterstützen. Sein umfassendes Verständnis dieses Themenbereichs enstammt nicht allein seiner eigenen inneren Arbeit sowie der Arbeit mit Studenten der Ridhwan School, sondern ist auch den vielen Seminaren zu verdanken, die er entwickelt und unterrichtet hat, und die spezifisch der Arbeit mit dem inneren Kritiker gewidmet sind.

Ich bin mir sicher, dass dieses Buch dem Leser die einzigartige Möglichkeit zur Verfügung stellt, mit einem uralten Problem intelligent und effektiv umzugehen. Die Anwendung dieses Wissens wird einen bedeutungsvollen Beitrag zu seiner inneren Entwicklung leisten.

A. H. Almaas

Berkeley, Kalifornien

Februar 1998

DANKSAGUNGEN

Meinen besonderen Dank möchte ich Hameed Ali (A. H. Almaas) aussprechen, bei dem ich die letzten sechzehn Jahre studiert und eine Ausbildung als Lehrer gemacht habe. Er ist der Begründer des Diamond Approach, eines modernen spirituellen Pfades auf der Basis des Selbst-Verstehens. Durch die Arbeit seiner Ridhwan School habe ich diesen Zugang zum Richter oder dem Über-Ich gewonnen. Für die tiefgründigen Lehren über die Essenz und ihre Aspekte fühle ich mich Hameed ebenso verpflichtet, wie für seine erleuchtenden Hinweise zu der Art und Weise, wie das Über-Ich uns daran hindert, unser wahres Wesen zu erkennen. In den ersten Stadien des Diamond Approach besteht ein fundamentaler Schritt darin, zu lernen, sich von dem Über-Ich zu lösen. Ich hoffe, dass dieses Buch den Schülern der Ridhwan School sowie allen interessierten Menschen – überall – als hilfreiche Unterstützung dienen kann. Auch Karen Johnson, Hameeds Kollegin und meiner persönlichen Lehrerin gilt meine herzlichste Anerkennung. Sie hat mich jahrelang geduldig durch das Labyrinth meiner eigenen psychischen Realität geleitet.

Ich danke Michael Torresan, einem ehemaligen Lehrer der Ridhwan School, der dieses Material als Erster geordnet und als eigenständige Lehre im Workshop-Format präsentiert hat. Mit der Art und Weise, wie er andere dabei begleitet hat, ihrem inneren Richter zu begegnen, hat er ein inspirierendes und herausforderndes Vorbild gesetzt. Für vieles, was ich in diesem Buch entwickelt habe, diente seine Arbeit als wichtiger Ausgangspunkt.

In all den Jahren als Lehrer des Diamond Approach und besonders als Lehrer dieses Materials habe ich mit vielen Studenten gearbeitet. Ich bin jedem und jeder Einzelnen dankbar für alles, was sie mich gelehrt haben. Viele von ihnen erscheinen direkt oder indirekt auf den Seiten dieses Buches.

Ein Großteil der Schreibarbeit an diesem Buch wurde durch die Abgeschiedenheit und Ruhe des Vedanta Retreat in Marin, Kalifornien ermöglicht, und ich spreche hiermit meinen Dank für die Einladung aus, ein stille Zeit zu genießen und zu schreiben. Auch Deborah Meyer möchte ich danken – sowohl für ihren Glauben an den tiefen Wert dieser Arbeit für ihre psychotherapeutischen Klienten als auch für ihre Ermutigung und ihr Feedback nach einer ersten Lesung dieses Manuskripts. Mein besonderer Dank gilt meinem Vater Quentin, der meine holperige Grammatik geduldig und detailgenau redigiert sowie meine ungewohnten Konzepte infrage gestellt hat. Er hat mich auf meinem Weg des Schreibens immer bestätigt und mir einen hohen Standard für einen achtungsvollen Umgang mit der englischen Sprache gesetzt. Danke auch an Alia Johnson und Sara Hurley, die mir Rückmeldung gaben und mich während der vier Jahre, die ich brauchte, um dieses Buch fertigzustellen, immer wieder aufgemuntert haben. Viele Menschen ermutigten mich, nachdem sie die Vorentwürfe gelesen hatten. Zu ihnen gehören Loie Rosenkrantz, Ward Stoneman, Sherry Anderson, Robert Birnbaum, Barry Rothman, Pam Weiss, Jessica Britt, Karen Johnson und Hameed Ali.

Nachdem ich vier Entwürfe auf eigene Faust geschrieben hatte, fasste ich am Neujahrstag 1997 den Vorsatz, eine Redakteurin zur Zusammenarbeit zu gewinnen. Ich danke sowohl meinem Schwiegervater Jim Friedman als auch meinem Vater dafür, mir diesen Schritt ermöglicht zu haben. Als Folge kam das Buch mit einem großen Sprung voran zu seiner endgültigen Fassung – dank der unschätzbaren Aufmerksamkeit von Elianne Obadia, der „Hebamme für Schriftsteller“. Wir entwickelten eine wunderbare Partnerschaft, während der sie mir half, die Energie und Klarheit zu verwirklichen, welche das Gedankengut am effektvollsten zum Sprechen brachte. Danke, Elianne, für den Enthusiasmus, die Wertschätzung und die kritische Aufmerksamkeit, die du meinem Schreiben hast zuteil werden lassen.

Tausendmal danke sage ich dem Team von Shambala Publications, insbesondere meiner Herausgeberin Emily Hilburn Sell, für den Glauben an dieses Buch und die Geburtshilfe in die Welt.

Schließlich bin ich meiner Frau Ellen Friedman unendlich dankbar für ihre beständige Unterstützung, ihr Interesse und ihre Energie, die mich während des gesamten Vollendungsprozesses dieses Projekts gestärkt haben. In meinem Leben mit ihr als letztendlichem Labor und Prüfstand sind die in diesem Buch dargestellten Prinzipien auf ihren Erfolg getestet worden.

GELEITWORT

Während der vielen Jahre, in denen ich Menschen beigebracht habe, mit Selbstkritik zu arbeiten, ist mir viel Leid begegnet, das direkt aus der negativen Art und Weise resultiert, wie die Menschen sich selbst behandeln. Ich habe auch ihre Überraschung und Betroffenheit gesehen, als sie den Ernst der Situation erkannten. Doch wohl das Wichtigste, was ich sehe, ist ihr Hunger danach, ein Gefühl der persönlichen Integrität auf der Grundlage von Mitgefühl und Verständnis zu empfinden, anstatt aufgrund ihrer Selbstbeschuldigungen zu glauben, mangelhaft zu sein.

Nichts ist schmerzlicher oder herzerweichender als zu erleben, wie ein Freund in der Absicht, das Beste zu tun, sich selbst schlecht behandelt. Es schmerzt, seine Selbstbestrafung zu sehen, ihre Unangemessenheit zu erkennen und sich zugleich die eigene Hilflosigkeit einzugestehen, ihn davon abzuhalten. Man ist hilflos, weil der Freund seine Handlungen für die logische und nötige Folge dessen hält, was er ist. Selbst wenn er den Schmerz und den Kampf erkennt, die von seinen Selbstbeschuldigungen herrühren, kann er deshalb nicht unbedingt eher damit aufhören. Man erkennt vielleicht, dass er sich eine Verantwortung aufbürdet, die ihm gar nicht gebührt, und man möchte ihm helfen, das zu erkennen. Man möchte mit diesem Freund darüber reden oder ihm die richtigen Bücher zu lesen geben. Doch all diese Dinge hinterlassen keine bleibenden Spuren, wenn sie in ihm nicht den Hunger erwecken, sich selbst jenseits seiner Hoffnungen und Ängste kennen zu lernen.

Genauso schwer ist es, die eigenen Muster der Selbstverurteilung in Angriff zu nehmen. Die schlichte Einsicht, wie hart und intolerant man mit sich selbst umgehen kann, ist schon extrem unbequem. Doch diesen Teil seiner selbst bloßzustellen und zu erforschen bedeutet auch, die Grundannahmen über die eigene Kindheitsentwicklung und -erziehung sowie über die Gesellschaft, in der man lebt, infrage zu stellen. Das kann bedeuten, persönliche Prioritäten zu setzen, die zu denen der Familie, Freunde und Kollegen im Gegensatz stehen – und das ist alleine kaum zu schaffen.

Aus diesem Grund kann man von fortlaufenden Seminaren oder Workshops zum inneren Kritiker, in denen man mit Gleichgesinnten arbeitet, in großem Maße profitieren. Man erkennt, dass man nicht der Einzige ist, der diese Muster der Selbstbeschuldigung mit sich herumschleppt und erhält äußere Unterstützung, um diese Muster in Angriff zu nehmen. Die Arbeit mit anderen kann der Isolation entgegenwirken, die man befürchtet, wenn man die allgemeinen Maßstäbe der Umgebung sowie die eigenen Erwartungen infrage zu stellen beginnt.

Für alle, die nicht die Möglichkeit haben, an einer Gruppe teilzunehmen, die diesen Fokus unterstützt, kann die Arbeit mit dem inneren Kritiker ein einsamer und oft entmutigender Prozess sein. Ein Buch kann Hintergrundwissen vermitteln, Vorgehensweisen vorschlagen und einige Leitfäden anbieten, doch es kann den persönlichen Kontakt mit anderen Menschen oder das Feedback eines Therapeuten oder Lehrers nicht ersetzen. Dieses Buch bietet eine Perspektive, die Sie von dem allgegenwärtigen Ansinnen, sich selbst zu verbessern, befreit – einem Ansinnen, welches das Leiden der Selbstbeschuldigung eher verstärkt als auflöst. Ich hoffe, es wird Ihnen als Unterstützung für Ihr eigenes Wachstum dienen, indem es klar macht, wie wichtig es für den Pfad der Selbsterkenntnis ist, der Selbstverurteilung den Kampf anzusagen.

Byron Brown

Albany, Kalifornien

November 1997

EINFÜHRUNG

Dieses Buch macht Sie mit dem lebenslangen Prozess des Sich-Lösens aus der Selbstverurteilung bekannt, und dadurch – sowie darüber hinaus – mit der Erkenntnis Ihrer selbst als lebendiger Seele. Im Besonderen wird es Sie auf einem erfahrungsbetonten Prozess begleiten, in dem die Urteile Ihrer inneren Welt aufgelöst werden. Die umfangreichen Informationen sind hier nicht zu einem theoretischen Traktat zusammengetragen, sondern wollen Ihnen mit einem interaktiven Prozess und praktischen Anleitungen dabei helfen, sich von Selbstangriffen zu befreien. Sie finden im Buch viele Beispiele von Einzelfällen sowie aus der Arbeit mit Studenten, welche die vorgestellten Prinzipien illustrieren; außerdem Übungen und Anleitungen, um Sie zu ermutigen, eigene Entdeckungen zum Verständnis des Themas zu machen. Das angebotene Wissen wird keine großen Auswirkungen haben, solange Sie dessen Bedeutung nicht anhand eigener Erfahrungen aktiv erforschen.

Die Arbeit mit dem inneren Richter und die Entdeckung der Wahrheit ist eine Reise in die Freiheit. Wenn Sie zu der Einsicht kommen, dass Sie sich in einem Gefängnis befinden, dessen Wärter der innere Richter ist, dann werden Sie die mächtige Sehnsucht der Seele nach Freiheit schätzen lernen. In der Geschichte der Menschheit spiegelt jede äußere Form der Knechtschaft die psychische Gefangenschaft der Seele aufgrund von Unwissen und blinden Überzeugungen wider. Sie sind der Sklave Ihrer eigenen Vorstellungen darüber, wer Sie sind und wie Sie sein sollten.

Die Fähigkeit, sich gegen die Angriffe des Richters zur Wehr zu setzen und sich aus seinem Tätigkeitsfeld zu lösen, ermöglicht Ihnen zu entdecken, wer Sie sind – unabhängig von Vorstellungen. Aktiv für die Wahrheit Ihres eigenen Erlebens einzustehen zerbricht die gewohnten Muster Ihrer bekannten Identität. Wo Erwartungen und Normen das Regiment geführt haben, können jetzt Offenheit und Gewährenlassen ihren Einzug halten. Die Angst vor Rache räumt ihren Platz für Selbstvertrauen und Wissbegierde. Aus Hoffnungslosigkeit und Niederlage können sich Akzeptanz und Gewissheit erheben. Und Eingegrenztsein sowie Anspannung können sich in Weite und Leichtigkeit verwandeln.

Eine Reise der Wahrheit

Und die Wahrheit leitet die Reise. Gepaart mit den bodenständigen und pragmatischen Qualitäten unseres persönlichen Willens wird sie zum objektiven Gewissen für jede weltliche Handlung. Eine der ursprünglichen Funktionen des Richters bestand darin, als Ihr Gewissen zu agieren. Seine Maßstäbe von Richtig und Falsch hat der Richter von den Eltern und der Gesellschaft gelernt. Während Ihrer Kindheit hat er daraufhin Schuld und Scham benutzt, um Ihnen dabei zu helfen, brav zu sein und sich im Sinne dieser Moralvorstellungen richtig zu verhalten. Unglücklicherweise hat dieser Prozess mit dem Ziel, Sie auf das Leben in der Gesellschaft vorzubereiten und Ihnen Anerkennung zu verschaffen, Ihre Spontaneität, Lebendigkeit und Instinktkraft unterdrückt. Während Sie Ihre eigene Wahrnehmungs- und Unterscheidungsfähigkeit sowie Ihr Verständnis entwickelten, waren Sie auf die feste Unterstützung und Leitung des Richters angewiesen. Doch diese Entwicklung führte zu einem Resultat, das nicht in Ihrem wahren Wesen verankert war. Noch als Erwachsener haben Sie sich weiterhin auf die verinnerlichten Wertmaßstäbe des Richters verlassen. Nur ein wahrer Reifungsprozess kann den Richter durch ein lebendiges Gewissen ersetzen. Diese Fähigkeit der Seele hängt von Ihrer Erkenntnis Ihres wahren Wesen und von der Entwicklung Ihres Vermögens ab, wirklich und authentisch Sie selbst zu sein.

Das Ablösen vom Richter erfüllt mithin zwei Funktionen: Sie aus dem Gefängnis alter, begrenzender Muster und Überzeugungen zu befreien und gleichzeitig von Ihnen zu fordern, eine Lebensweise zu üben und auszuüben, welche das Bedürfnis nach einem Richter aufhebt. Man kann eine Struktur, die einen charakterisiert und unterstützt hat, nicht einfach abwerfen ohne etwas Besseres an ihre Stelle zu setzen. Sie müssen lernen, ohne die Maßstäbe des Richters – und das heißt, im Einklang mit der Wahrheit und Wirklichkeit Ihres eigenen gegenwärtigen Lebens – zu handeln, zu wählen und sich zu beziehen. Daraus entsteht ein lebendiges Gewissen, das sich nicht auf Regeln stützt. Ein derartiges Gewissen erlaubt Ihrer lebendigen Seele, sich in ihrer Fülle auszudrücken, und das geschieht, wenn Sie die Selbstgerichtetheit der Triebimpulse, die selbstzerstörende Tendenz der zwanghaften Muster und die Starre der inneren Autorität transformiert haben. Das ist keine einfache Aufgabe. Es bedeutet die Arbeit und den Lernprozess, ein verantwortlicher und reifer Mensch zu werden. Das kann man weder planen, noch reicht es, darüber zu lesen oder einfach den Anweisungen eines anderen zu folgen. Man muss lernen, spontan zu leben, indem man sich von dem, was man als die Wahrheit erkennt, leiten lässt.

Eine Reise der Gesundung

Die Arbeit mit dem Richter ist zugleich eine Reise der Gesundung. Sich von ihm abzulösen unterstützt Ihre Befreiung aus seiner brutalen Tyrannei und beschleunigt außerdem Ihr Erleben der Lebendigkeit Ihrer Seele. Dieses Tor gilt es zu durchschreiten, um Ihre Seelennatur wiederzugewinnen und eine frische, dynamische Lebendigkeit im Herzen Ihres Lebens wiederherzustellen. Und Lebendigkeit bedeutet die Gegenwart von Leidenschaft und Spontaneität, zweier Qualitäten, die in der Welt des Urteils fehlen. Außerdem bedeutet sie, sich selbst als Lebensquelle zu erfahren. Das Leben entströmt Ihnen und durchströmt Sie und nimmt dabei bekannte und bisher unbekannte Formen an. Die Lebendigkeit der Seele entspricht dem Gefühl von etwas Bewusstem und Unvorhersagbarem, etwas Wachem und Mysteriösem.

Es ist mein Wunsch, Sie dabei zu unterstützen, den direkten Kontakt zu Ihrer eigenen gelebten Erfahrung – ohne den Richter als Vermittler – wiederherzustellen. Die zentrale Praxis dieses Prozesses besteht darin, zu Ihrem Erleben Ihrer selbst in diesem jeweiligen Augenblick zurückzukehren. Wenn Sie lernen, sich jeden Augenblick mit Interesse und Offenheit selbst zu erkennen, dann erlauben Sie diesem Selbstentdeckungsprozess, neue Türen für Sie zu öffnen. Sie finden Ihre natürlichen Hilfsquellen wieder, die neben dem kontrollierenden Einfluss des Richters ohne Beachtung geblieben waren. Indem Sie sich aktiv ablösen, beginnen Sie die so genannte Gegenwärtigkeit oder Präsenz als eine unterstützende Grundlage zu erkennen, auf der Sie von Moment zu Moment Sie selbst sein können. Kostproben werden Ihnen angeboten, die zeigen was es bedeutet, eine lebendige, dynamische und unmittelbare Seele zu sein – eine Seele, die offen, veränderlich und empfänglich ist und zugleich in der Realität der Wahrheit wurzelt.

Die verschiedenen Schattierungen der Wahrheit treten hervor, um Ihr Erleben zu bereichern: Das Gewahrsein lässt Sie, die immer neuen Elemente eines jeden Tages erfahren, und der persönliche Wille führt Sie zu Ihrer direkten Erfahrung dessen zurück, was im Moment wahr ist. Das Annehmen oder die Akzeptanz gibt Ihnen den Mut zur Verletzlichkeit angesichts der Höhen und Tiefen Ihrer inneren Welt, und die Kraft verleiht den Mut, Ihre Grenzen zu erweitern und über alles hinauszugehen, was Ihnen jemals möglich schien. Freude und Wissbegierde unterstützen Sie dabei, das Mysterium, welches Sie und die Welt sind, zu feiern, während das Mitgefühl Sie mit der Fülle Ihres Herzens sowie seinem Schmerz, seiner Trauer und seiner Sehnsucht in Kontakt bringt und so empfindsam werden lässt. Die Weite verwandelt die Sorge, zu wenig zu sein oder zu haben in die Fähigkeit, Offenheit zu erlauben, und Wertschätzung verleiht Ihrer Seele Süße und Zufriedenheit, indem sie Ihnen dabei hilft, Ihr wahres Wesen schätzen zu lernen. Frieden bringt den inneren Aktivismus zum Schweigen, der die Stille und Einfachheit Ihres Selbstseins untergräbt. Zugleich erlaubt er der Wahrheit dessen, was Sie und Ihr Leben sind, immer sichtbarer zu werden.

Die Reise der Seele trennt Sie nicht von den physischen, emotionalen und sozialen Gegebenheiten Ihres Lebens. Sie hat nichts mit außerweltlichen Erfahrungen zu tun. Die Wiederherstellung der Seele bringt die Dimension der Gegenwärtigkeit und ihre Qualitäten zum Tragen – die unsichtbare Essenz dessen, was Lebendigsein bedeutet – und bereichert dadurch Ihr gegenwärtiges Leben. Spiritualität ist das Herz menschlichen Lebens –, die feinstoffliche Dimension der Tatsache, eine Seele zu sein. Sie verleiht Ihrem Erleben Fülle und Unmittelbarkeit sowie das Gefühl, mit jedem einzelnen Moment ihres täglichen Lebens besser im Kontakt zu sein.

Zum Aufbau dieses Buches

Dieses Buch befasst sich mit dem menschlichen Dilemma der Seele, indem es zwei Fragen beantwortet: Was ist diese Seele, zu der Sie den Kontakt verloren haben, und was hindert Sie daran, sie wiederzuerkennen? Beide bilden die Grundlage einer jeden spirituellen Arbeit und es gibt viele verschiedene Wege, sie zu beantworten. In diesem Fall betrachten wir das Hindernis, indem wir mit der Selbstverurteilung sowie mit den verschiedenen Möglichkeiten arbeiten, wie diese uns daran hindert, unsere Seele zu erkennen. Wir erforschen die Seele selbst, indem wir uns auf einige ihrer essenziellen Aspekte konzentrieren, die größtenteils abgeleugnet werden oder in Vergessenheit geraten sind.

Auf den folgenden Seiten wird eine Methode vorgestellt, die Ihnen die Möglichkeit gibt, sich Schritt für Schritt Ihrer Selbstverurteilung zu stellen. Sie werden lernen, die Präsenz des Richters zu erkennen und zu bemerken, wie er auf Sie wirkt. Sie werden herausfinden, wie er vorgeht, erforschen, wie Sie seine Aktivität unterstützen, entdecken, was ihn motiviert, und – besonders wichtig – Sie werden Wege finden, um sich von seinem Einfluss zu befreien. Dieser Prozess ist notwendig, um Ihnen die Freiheit zu verschaffen, hinter einer Vielzahl von jahrelang angesammelten Überzeugungen über sich selbst zu entdecken, wer Sie wirklich sind. Die Anordnung der Informationen dieses Buches soll das selbständige Arbeiten erleichtern: schrittweise entwickeln sich Bewusstsein und Fähigkeiten für eine wahre und effektive Abwehr der Selbstverurteilung. Sollten Sie bei Ihrer Arbeit die fortlaufende Unterstützung eines Lehrers oder einer Gruppe zur Verfügung haben, kann sich die Reihenfolge, in der das Material bearbeitet wird, auch ändern.

Die erste Hälfte des Buches konzentriert sich darauf, das Urteilen sowie dessen Wirkung auf Sie zu verstehen. In der zweiten Hälfte werden Sie angeleitet, schrittweise gegen die Aktivität der Selbstverurteilung anzugehen. Jedes der zwölf den „Richter-Prozess“ behandelnden Kapitel endet mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Punkte sowie einer oder mehrerer Übungen, die Ihr selbständiges Arbeiten unterstützen.

In gleichem Maße richtet sich dieses Buch auf die Rückverbindung mit Ihrer Seele, dem vergessenen Potenzial dessen, was und wer Sie wirklich sind. Dieser Prozess, der Ihnen hilft, die inhärenten Qualitäten Ihres wahren Wesens wiederzufinden, zu denen Sie beim Heranwachsen den Kontakt verloren haben, ergänzt Ihre Arbeit mit dem Richter – und das betrifft besonders die Eigenschaften, die Sie benötigen, um sich von den Selbstverurteilungen zu befreien.

In der traditionellen spirituellen Arbeit gibt es die Tendenz, sich auf die Aspekte des eigenen Wesens zu konzentrieren, die man für spirituell (im Sinne von ‘jenseits der weltlichen Dinge’) hält, wie zum Beispiel allumfassende Liebe, Selbstverwirklichung, transzendente Einheit, höchste Leere oder spirituelle Erkenntnis. Alle sind wichtig, um die tieferen Dimensionen menschlichen Erlebens kennenzulernen, doch Sie besitzen auch andere häufig übersehene essenzielle Eigenschaften, die für das Leben in der Welt relevanter sind.

Die Arbeit mit dem Richter ist eine besonders irdische Angelegenheit und braucht die Unterstützung grundlegender und vertrauter Seeleneigenschaften, die von Überzeugungen und persönlicher Geschichte befreit werden müssen. In den Seelenkapiteln werden Sie eingeladen, mit der klaren Einfachheit des Gewahrseins, der energievollen Expansion der Stärke, der soliden Zuverlässigkeit des Willens und der sanften Wärme des Mitgefühls in Kontakt zu kommen. Diese und andere Qualitäten bilden einen Kontrast zu der Erfahrung Ihrer selbst im Umfeld des inneren Kritikers. Gleichzeitig verschaffen Sie Ihnen Zugang zu Ihren inneren Hilfsquellen, sodass Sie sich seiner Macht entgegenstellen können. Jede der vorgestellten Qualitäten ist für einen bestimmten Aspekt Ihrer Arbeit mit dem Richter von Bedeutung. Die Kapitel zu den Eigenschaften der Seele wechseln sich mit denjenigen über den Richter ab, und jedes enthält eine Praxisanleitung, die Ihnen helfen kann, sich mit der jeweiligen Qualität wieder zu verbinden.

Diese beiden Bereiche – das Umgehen mit dem Richter und der Kontakt zu den Seeleneigenschaften – unterstützen und verstärken sich gegenseitig. Wenn Sie die Attitüden und Überzeugungen des Richters durchschauen, ermöglicht das Ihnen, sich selbst und Ihr eigenes Erleben mit neuen Augen zu betrachten und zu beginnen, Ihre tiefere Seelennatur zu erkennen. Sie erschaffen einen Raum, in dem Sie sich auf andere Weise kennen lernen können. Zugleich stellt die direkte fühlende Wahrnehmung eines Aspekts Ihres wahren Wesens eine lebhafte und definitive Alternative zur reaktiven Natur Ihrer Selbstverurteilungen dar.

Zusätzlich zieht sich die Geschichte eines jungen Paars, Frank und Sue, die einen Sonntag miteinander verbringen, durch das gesamte Buch. Zu Beginn eines jeden Kapitels wird eine kurze Episode aus ihrem Tagesablauf erzählt, die sich auf das Material des anschließenden Kapitels bezieht und dazu beiträgt, den Gegenstand dieses Buches im Kontext des täglichen Lebens zu verankern. Wenn im Denken oder der wörtlichen Rede der Protagonisten ein Urteil auftaucht, wird ihm generell ein - Symbol vorangestellt, um es Ihnen zu erleichtern, festzustellen, wie häufig Urteile in allen inneren und äußeren Aktivitäten vorkommen und wie vielfältig sie sich äußern. Wenn Frank oder Sue einen inneren Dialog abhält – urteilend oder nicht – dann sind die Wörter kursiv gedruckt. Es dürfte hilfreich sein, am Ende eines Kapitels die vorangestellte Episode noch einmal zu lesen.

Der Beginn eines Prozesses

Hier geht es um die lebenslange Reise, Ihre Seele zu befreien und dabei in Ihrem Leben die Wahrheit zu entdecken. Das Erkennen und die Würdigung des inneren Richters sowie die Ablösung von ihm stellen eine wesentliche Möglichkeit dar, sicher zu sein, dass es sich dabei um Ihre Reise handelt. Dieses Buch ist nur ein Anfang, stellt jedoch ein nützliches und grundlegendes Werkzeug zur Verfügung, um die Gefängnistür zu öffnen und hinaus in das Herz des Lebens zu treten.

HINWEIS AN DEN LESER

Dieses Buch wendet sich nicht allein an Ihren Verstand – es richtet sich an Ihre Seele. Zeitweilig wird es in Ihrem Körper, Ihrem Herzen oder in der Tiefe Ihres Seins eine Resonanz erzeugen. Die Kapitel sind voller Informationen, Einsichten und Erforschungen. Das macht das Lesen nicht leicht. Es empfiehlt sich daher, dieses Buch langsam durchzuarbeiten und sich von ihm anregen, erschüttern und berühren zu lassen. Genießen Sie es in kleinen Bissen, um Konsistenz- und Geschmacksvarianten wirklich aufzunehmen. Lassen Sie es eine Weile liegen und kehren Sie dann zu ihm zurück. Machen Sie Pausen und lesen Sie es noch einmal.

Während des Lesens werden Sie bemerken, dass Sie auf die Ideen reagieren, die für den derzeitigen Stand Ihrer eigenen Entwicklung relevant sind. Sie werden aus dem angebotenen Stoff die Nahrung ziehen, die Sie im Moment für Ihre eigene Entwicklung brauchen. Das heißt: Vieles von dem, was Sie gelesen haben, wird keine besonderen Spuren in Ihrem Geist hinterlassen. Das ist natürlich. Es bedeutet allerdings auch, dass Sie zu jedem Teil dieses Buches in einem Monat, sechs Monaten oder einem Jahr zurückkehren und mit Inhalten in Einklang kommen können, welche beim ersten Mal für Sie unwichtig waren.

Besonders empfehle ich Ihnen, während des Lesens auf Ihren Körper und Ihre Energie zu achten und festzustellen, wie sich das Lesen auf sie auswirkt. Wenn Sie bemerken, dass Sie sich nur mit Mühe konzentrieren können oder unruhig werden, dann machen Sie eine Pause. Vielleicht hat irgendetwas im Text einen wichtigen Punkt getroffen und eine körperliche oder emotionale Reaktion herbeigeführt. Wenn ein Teil von Ihnen stark betroffen ist, kann er Sie daran hindern, noch mehr aufzunehmen. Da dieses Buch sich darauf konzentriert, Sie mit Ihrem Erleben in jedem Moment zu verbinden, ist es der ideale Lernbegleiter für diese Art der Selbstbeobachtung. Wenn Sie beim Lesen auftretenden Reaktionen Raum geben, vertieft das die Wirkung des Buches und lässt zugleich zu, dass das Material weitere Aspekte Ihrer Seele nährt und erweckt.

Erwarten Sie keine sofortigen Veränderungen oder Entwicklungen; haben Sie Geduld mit sich selbst und respektieren Sie das Bedürfnis Ihrer Seele, ihr eigenes Schritttempo vorzugeben. Die Integration der verschiedenen Elemente dieses Selbstentdeckungsprozesses in Ihr Leben kann viele Jahre dauern. Die Übungen und Praxisanleitungen dieses Buches sind darauf zugeschnitten, Sie allmählich mit verschiedenen inneren Erlebnisdimensionen in Kontakt zu bringen. Das hat eine kumulative Wirkung: Jede Facette der Arbeit wird von allen anderen verstärkt.

EIN TAG MIT FRANK UND SUE

Sue wurde davon geweckt, dass Frank aus dem Bad ins Bett zurückkehrte. Es brauchte eine ganze Weile, bis sie einsah, dass sie nicht wieder einschlafen konnte. Er dagegen schien sofort wieder in tiefen Schlaf gefallen zu sein. Sie wandte ihren Kopf zur Seite und öffnete die Augen – der leuchtende Radiowecker zeigte 3:30 Uhr an. Zu spät erinnerte sie sich daran, was ein Schlafexperte neulich im Radio erzählt hatte: Wenn man mitten in der Nacht aufwache, solle man auf keinen Fall auf die Uhr schauen, weil dadurch das Einschlafen erschwert werde. Jetzt fiel ihr auf, wie oft sie in letzter Zeit mitten in der Nacht aufgewacht war. Glücklicherweise war heute Samstag und sie konnte ausschlafen, doch war sie über sich selbst frustriert und ihr graute davor, die ganze Nacht wach zu liegen.

   Na, was ist denn in letzter Zeit mit dir los, Sue?

Du hast doch früher keine Schlafprobleme gehabt.

Da stimmt doch etwas nicht. Du weißt genau, dass du zu spät zu Abend isst und dir dann noch diese schlechte Angewohnheit zugelegt hast, hinterher schwarzen Tee zu trinken.

Ich glaube, das muss etwas damit zu tun haben, dass ich mir zu wenig Bewegung mache, oder dass ich mich so um meine Arbeit sorge. Ich muss mir morgen unbedingt etwas von dem Melatonin im Bioladen kaufen...

Während ihr Verstand so weitermachte, geriet sie körperlich immer mehr aus dem Gleichgewicht. Sie konnte die Schwere des Schlafs noch in ihrem ganzen System spüren und ihre Augen schmerzten. In ihren Gliedern entwickelte sich ein vages Unruhegefühl, als wäre ein subtiler Energiestrom eingeschaltet worden, der sie hinderte, sich zu entspannen. Sie sehnte sich verzweifelt danach, ihn abzuschalten und wieder einzuschlafen.

Es kostete Sue einige Mühe, dieses obsessive Denken zu beenden und ihre Aufmerksamkeit auf Arme und Beine zu lenken. Sie begann, kontrolliert zu atmen, um sich zu entspannen. Die damit verbundene Konzentration brachte zunächst nicht die erwünschte Entspannung, sondern verstärkte ihre Anspannung noch. Doch dann wandelte sich die Kontur ihres Körpers allmählich zu einer lebhaften, mit einer etwas stacheligen Energie geladenen Präsenz und wurde zu einem pulsierenden, sie durchströmenden Fluss, der sich beruhigend und zugleich belebend anfühlte. Für einen Augenblick erlebte sie sich schwebend, mitten in einem dunklen, ausgedehnten Feld mit leicht vibrierendem Umfang. Sie spürte sich selbst auf unmittelbare und unbekannte Weise, als plötzlich eine vertraute Stimme dazwischenfuhr:

   Aber du solltest doch eigentlich einschlafen!

Diese innere Stimme brachte sie wieder dazu, Sue zu sein, die schlaflos im Bett lag. Wo war sie gewesen? Sie hatte weder geschlafen noch war ihr der Ort bekannt vorgekommen. Als sie sich den Kopf darüber zerbrach, was da soeben geschehen war, fiel ihr auf, dass sie gähnte. Sue drehte sich auf die andere Seite, zog die Decke hoch und war bald eingeschlafen.

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DIE SEELENPERSPEKTIVE

Sie sind eine Seele. Und wenn Sie es erlauben, kann Ihr Leben für Ihre Seele zu einer Reise der Entfaltung werden. Tatsache ist, dass Sie sich selbst nicht als Seele erkennen. Sie kennen den Ursprung Ihrer eigenen Lebendigkeit nicht. Sie sind sich des Potenzials an Freiheit und offener Präsenz, das Ihr wahres Wesen ist, nicht bewusst. Damit Sie Ihren inneren Kritiker im richtigen Verhältnis zu dem, was Sie in Ihrer Ganzheit sind, sehen können, brauchen Sie ein Gefühl dafür, eine Seele zu sein. Was bedeutet das?

Was ist die Seele?

Immer, wenn jemand das Wort ich gebraucht, meint er damit normalerweise eine Person, die geboren wurde, bestimmte Eltern und eine bestimmte Geschichte hat und auf bestimmte, bekannte Art handelt und sich verhält. Das wird häufig auch als das Ego oder die Persönlichkeit bezeichnet. Doch in Wirklichkeit ist die Seele das wahre „Ich“. Sie entspricht der gegenwärtigen Erfahrung Ihrer selbst als Handlungsinstanz in Ihrem Leben, dem Empfinden eines Lebendigseins im Hier und Jetzt. Wenn Sie sich nicht darauf beziehen, wer Sie in der Vergangenheit gewesen sind – können Sie dann sagen, was Sie jetzt sind?

Die Seele ist der Teil von Ihnen, welcher Ihr Leben erlebt – welcher wahrnimmt, handelt, lernt und sich verändert. Sie ist nicht der Körper, der vor vielen Jahren geboren wurde, nicht das Selbstbild eines Menschen mit bestimmten Fähigkeiten und Eigenschaften, auch nicht der Verstand, der sich über alles, was geschieht, seine Sorgen und Gedanken macht. Die Seele beinhaltet all dies, ist jedoch als die Erlebende viel grundlegender und zugleich viel weniger fest umrissen als sie alle. Wer ist es, der die Erfahrung macht, ein Ich, ein Körper oder ein Verstand zu sein? Wer liest diese Worte in diesem Moment? Können Sie beschreiben, wer oder was das ist? Das meine ich mit der Seele.

Alle Aspekte unseres Erlebens entspringen unserer Seele. Sie ist nicht allein der Erlebende, sondern auch das, was erlebt wird und zugleich der Ort des Erlebens. Anders ausgedrückt: Unsere Seele ist das, was allen Teilen unser selbst und unseres Erlebens zugrunde liegt, was sie zu einem Ganzen vereint. Die tiefe Sehnsucht danach, ganz zu sein, sich integriert zu fühlen und ungetrennt man selbst zu sein, entspricht der Sehnsucht danach, die Seele zu erleben.

Je stärker Sie Ihre eigene unmittelbare Lebendigkeit verspüren, desto näher sind Sie Ihrer Seele. Die Seele ist die Substanz des lebendigen Gewahrseins. Sie zu fühlen bedeutet, die geheimnisvolle und mysteriöse Qualität dessen was wir sind – eine fließende, dynamische, lebendige und stets im Wandel begriffene Gegenwärtigkeit – zu erkennen. Zu spüren, dass wir eine Seele sind, bedeutet, die Grenzenlosigkeit des Lebens zu erkennen. Die Seele erstreckt sich über alle Begrenzungen und Kategorien des menschlichen Verstandes sowie die vertraute Vorstellung eines Menschenlebens hinaus. Sie wird durch Geschichte, Konzepte oder den physischen Körper nicht begrenzt, sie entzieht sich jeder exakten Definition oder Analyse. Somit kann die Seele besser vom Herzen als von den Strukturen und Wahrnehmungen des Verstandes gefühlt, erspürt und erkannt werden. Haben Sie sich jemals ein Herz voller Leichtigkeit und Spontaneität gewünscht? Haben Sie sich jemals von der Vorstellung eingeschränkt gefühlt, auf bestimmte Art sein und handeln zu müssen? Wenn ja, dann stellen Sie sich einmal vor, was für ein Gefühl Ihrer selbst es Ihnen ermöglichen würde, spontan, leicht, einfach und frei zu sein. Wer wären Sie dann und wie würden Sie sich fühlen? Was Sie sich jetzt vorstellen, ist eine grundlegende Eigenschaft Ihrer Seelennatur.

Die Natur der Seele besteht aus reinem Bewusstsein, welches wir als ein Feld des Gewahrseins in Bezug auf die physische Realität erleben. Dieses Gewahrseinsfeld enthält Ihren Körper und Ihren Verstand, ohne von beiden begrenzt zu werden. Normalerweise erleben Sie sich als einen physischen Körper, der einen Verstand besitzt, dessen eine Eigenschaft das Gewahrsein ist. Aber Ihre Seele ist eher so etwas wie eine Ausdehnung von Gewahrseinspartikeln, die sich an Ihrem Standort zu einer soliden physischen Präsenz verdichten, die wir als einen Körper kennen. Und diese Gewahrseinspartikel durchdringen jede Ihrer Zellen, jede Ihrer Empfindungen und jeden Ihrer Gedanken. Der äußerlichste Ausdruck Ihres Bewusstseins oder Ihrer Seele ist Ihr Körper, der Ihrem Bewusstsein zu einem intimen Kontakt mit der Ihnen vertrauten physischen Welt verhilft. Was würde es für einen Unterschied bedeuten, wenn Sie wahrnehmen könnten, dass Ihr gesamter Körper aus diesem Bewusstsein gemacht ist – und dass Ihr Gewahrsein bewusst jede Zelle Ihres Körpers bewohnt und sich durch sie ausdrückt!

Die Präsenz der Seele

Mit Ihrem gegenwärtigen Bewusstsein, der Substanz Ihrer Seele, im Kontakt zu sein, bedeutet, sich der eigenen Existenz – der Präsenz oder Gegenwärtigkeit in jedem Moment bewusst zu sein. Gegenwärtigkeit bedeutet das Gefühl unmittelbarer Existenz, des unmittelbaren Seins. Und Gegenwärtigkeit ist eine der Haupteigenschaften der Seele. Sie können sich Ihrer eigenen Seele nicht gewahr sein, bevor Sie nicht in Ihrem eigenen Erleben gegenwärtig sind und den gegenwärtigen Zustand Ihrer Wirklichkeit kennen. Gegenwärtigkeit ist Ihr direkt erlebtes Wissen der Tatsache, im gegenwärtigen Moment lebendig zu sein. Dieses Wissen ist keine Vorstellung oder Gedanke, sondern ein wirkliches, gefühltes Gewahrsein. Es verleiht Ihrem Körper seine fühlende Empfindsamkeit. Die Gegenwärtigkeit der Seele besitzt Substanz ohne körperlich zu sein, und diese Substanz vermittelt dem physischen Körper ein Gefühl lebendiger Fülle.

Gegenwärtigkeit ist für die Seele, was Nässe für das Wasser ist: Eins ist die untrennbare Eigenschaft vom anderen. Würde man das Wasser allerdings nur betrachten oder es mit Gummihandschuhen berühren, dann wüsste man vielleicht gar nicht, dass es nass ist. Auf die gleiche Weise kann die Gegenwärtigkeit der Seele zwar nicht ausgelöscht oder abgetrennt werden, sie kann uns jedoch verborgen bleiben, wenn wir nicht im Kontakt mit ihr sind. Die Gegenwärtigkeit unserer Seele nicht zu kennen bedeutet einen tiefen und schmerzhaften Verlust, welcher die Sehnsucht weckt, uns selbst besser und näher zu kennen. Diese Sehnsucht äußert sich vielleicht als Suche nach Bedeutung und Wahrheit, als Verlangen nach Selbsterkenntnis oder als Streben nach Ungebundenheit und Befreiung. Sie alle werden dadurch erfüllt, dass wir die lebendige Präsenz der Seele erleben, die wahre Natur dessen, was wir sind.

Die Gegenwärtigkeit der Seele hat viele subtile, jedoch ausgeprägte Nuancen, auf welchen der Reichtum des Lebens beruht. Das sind die Grundelemente menschlicher Existenz wie Kraft, Klarheit, Mitgefühl, Freude, Liebe, Intelligenz, Würde, Akzeptanz und Verletzlichkeit. Diese essenziellen Aspekte machen unser wahres Wesen aus, also das an uns, was uns angeboren oder von Gott verliehen wurde und nicht von unseren Eltern, unserem Aussehen, Verhalten oder unseren Errungenschaften abhängig ist.

Eigenschaften der Seele

Der Seele entspringen auch die Eigenschaften, welche die physische Existenz prägen: Leben, Wachstum, Dynamik und Fluss. Der physische Körper bezieht seine Lebendigkeit aus der Gegenwärtigkeit der Seele; er wird zu dem Zeitpunkt, an dem das Leben oder die Seele ihn verlassen hat, als tot empfunden. Ihr eigenes Gefühl von Lebendigkeit ist nur teilweise auf physische Faktoren zurückzuführen – sein viel grundlegenderer Ursprung liegt in Ihrer Offenheit der Seele gegenüber. Genauso entwickelt sich Ihr Körper zwar nach einem physiologischen Wachstumsmuster, doch Ihre Entwicklung ist weitaus mehr als nur physisch. Sie entwickeln und wandeln sich, Sie lernen und reifen auf eine Weise, die mit dem biologischen Wachstum des Körpers zwar in Verbindung steht, von ihm aber nicht verursacht wird.

Als die Seele, welche Sie sind, besitzen Sie eine Dynamik, die Sie als Vitalität, inhärente Bewegung und Transformation erfahren. Alle Objekte verbleiben, wenn nicht auf sie eingewirkt wird, im Ruhezustand, während das Wesen Ihrer Seele Aktivität, Veränderung und fortwährende Enthüllung implizit beinhaltet. Und diese Dynamik fließt – sie ist nicht statisch, rigide oder mechanisch. Unsere Seele ist eine Bewegung in Raum und Zeit, welche nie zu einem Ende gelangt, sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Strom von Bewusstsein, also kein Objekt, das anhält und wieder beginnt, reagiert und widersteht. Wenn Sie sich leblos, festgefahren und an äußere Mächte ausgeliefert fühlen, dann sind Sie sich Ihrer Seelennatur nicht mehr bewusst. Und wenn Sie sich jemals danach gesehnt haben, sich selbst als dynamische Quelle von Lebendigkeit und Transformation zu erleben, dann ist die Lebendigkeit der Seele Ihr Geburtsrecht, welches nur darauf wartet, entdeckt zu werden.

Doch jenseits all dieser Eigenschaften zeichnet sich die menschliche Seele durch zwei einzigartige Merkmale aus. Da ist zunächst das außergewöhnliche Potenzial der Seele, alles zu erleben, was überhaupt erlebt werden kann. Anders ausgedrückt: Als ein Feld von Bewusstsein ist die Seele grenzenlos formbar. In ihrer reinen Form lässt sie sich widerstandslos von jedem Impuls, der in ihrem Inneren aufsteigt, formen, und wird von dem dynamischen Bewusstseinsstrom, den Sie als die Erfahrungen Ihres Lebens kennen, gestaltet und verwandelt. Dieses Potenzial, Erfahrungen zu machen, ist Ihnen als die zutiefst menschliche Fähigkeit bekannt, mit Gefühlen, Wissensdurst und Einsichten auf die Welt einzugehen. Auf subtileren Ebenen können Sie mit anderen mitfühlen und sich unvertraute Seinsweisen vorstellen, ja, sich sogar direkt in die Erfahrungen anderer Lebensformen hineinversetzen. Darin besteht die wahre Freiheit der Seele – von keiner äußeren Form bestimmt oder begrenzt zu sein. Das ist nicht allein die Freiheit von allen Begrenzungen, die damit einhergehen, etwas Bestimmtes zu sein, sondern auch die Freiheit, alles und jedes zu sein. Ihr Körper ist begrenzt, doch Ihre Seele nicht – sie ist reines Bewusstsein.

Das zweite Merkmal der Seele besteht in ihrer Fähigkeit, sich zu identifizieren. Nicht allein können Sie alles erleben – Sie können auch glauben, dass Sie alles sind, was Sie erleben. Das hat mit der menschlichen Fähigkeit zur Selbstreflexion zu tun: Sie sind sich Ihrer eigenen Existenz bewusst und können sich daher selber kennen. Weil aber die Seele durch die Wirkungen, welche die Erfahrungen auf sie ausüben, verschiedene Formen annimmt, können Sie sich selbst auf verschiedenste Art kennen. Sie als Seele sind nicht darauf begrenzt, sich als Seele wahrzunehmen. Tatsächlich haben Sie vor langer Zeit aufgehört, sich selbst als Seele zu erkennen. Stattdessen identifizieren Sie sich mit Emotionen, Gedanken, Überzeugungen, Körperwahrnehmungen, Vorstellungsbildern, Beziehungen mit anderen Seelen, Erinnerungen an vergangene Erfahrungen oder Bewusstseinszustände – um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Diese Formen, in welchen die Seele erscheint, sind Ihnen viel vertrauter als die Seele selbst – ungeachtet der Tatsache, dass sie die Substanz ist, welche allen Formen zugrunde liegt. Daraus folgt, dass Sie sich als Seele eher in Ihren Formen und weniger als eine Präsenz reinen Bewusstseins erkennen.

Die Identifikation der Seele kann sich im Zuge ihres Wachstums und ihrer Entfaltung fließend verschieben oder sie kann sich auf bestimmte Formen festlegen. Wenn sich die Identifikation auf einen Teil Ihres Bewusstseins, eine bestimmte Form fixiert, können Sie leicht das Ganze – sich selbst als Seele – aus dem Blick verlieren. Vielleicht haben Sie sich stets nur als eine Form der Seele gekannt (als Ihren Körper, Ihre Geschichte, Ihre Gedanken, Ihre Emotionen). Oder vielleicht erinnern Sie sich daran, Ihr Leben mit einem gewissen Gewahrsein der Seele begonnen zu haben, welches Ihnen später, als Ihre Identifikation mit einer oder mehrerer ihrer Formen begann, abhanden kam. In beiden Fällen erkennen Sie Ihr wahres Wesen jetzt nicht mehr als Gegenwärtigkeit, Transformation, sich entfaltende Erfahrung und Lebendigkeit.

Dieser Seelenverlust wird häufig erst bemerkt, wenn Sie spüren, dass es Ihrem Erleben an Substanz oder innerer Bedeutung mangelt. Dann haben Sie den Punkt erreicht, an dem sich Ihre Identität so umfassend auf vertraute Formen verlegt hat, dass Ihnen jeglicher Kontakt zur lebendigen und dynamischen Substanz dessen, was Sie wirklich sind, verloren gegangen ist. Ihr Leben ist saft- und kraftlos geworden. Sie sagen sich: „Es kann nicht angehen, dass ich nichts weiter sein soll als dieses. Das Leben hat bestimmt mehr zu bieten, als das hier.“ Viele Menschen nehmen das als Anzeichen für die Midlife Crisis. Doch tatsächlich ist es der Schrei Ihrer Seele, der Sie an Ihre Seelennatur erinnert.

Wie wir den Kontakt zu unserer Seelennatur verlieren

Weil Sie sich identifizieren und diese Tatsache dann aus dem Bewusstsein verlieren, erleben Sie sich selbst nicht als eine Seele. Sie haben sich fest in dem Glauben verankert, ein Anteil der Seele zu sein – also erleben Sie Ihr Leben durch diesen Anteil. Nehmen wir einmal an, Sie glauben, dass Ihre wesentliche Natur körperlich ist. Selbst wenn Sie lieber etwas anderes glauben würden, gründet Ihr Verhalten doch stets in der tiefen Überzeugung, ein physischer Körper zu sein. Dieser Glaube, der in den ersten zwei Jahren Ihres Lebens entstand, zwang Ihnen viele weitere Überzeugungen auf, die für das Überleben jenes Körpers notwendig waren. Damals war Ihr Körper klein, unentwickelt und wehrlos, und in ihm zu sein bedeutete hilflos und völlig abhängig von den Eltern zu sein, was wiederum mit sich brachte, dass Sie deren Überzeugungen über das Leben annehmen mussten, um zu überleben. Und so wurde die Erfahrung, eine Seele zu sein, zunehmend schwächer.

Dann wuchsen Sie heran und fügten den anfangs erlernten Überzeugungen weitere hinzu. Vielleicht hatten Sie als kleines Kind gesehen, dass Ihr Vater alles Mögliche tun konnte. Das weckte Ihre natürliche Neugier, zu erfahren, wie die Dinge funktionieren. Und weil er Ihre Fragen beantwortete, begannen Sie ihn für die Quelle der Intelligenz zu halten. Es mag sein, dass er Ihre Intelligenz nicht gewürdigt hat, woraufhin Sie versuchten, ihm gleich zu werden, um Intelligenz zu „gewinnen“. Bald glaubten Sie, keine angeborene Intelligenz zu besitzen, sondern nur das, was Sie im Nachahmen Ihres Vaters gelernt hatten. Und noch heute messen Sie Ihr Gefühl, intelligent zu sein, an den Maßstäben, die er Sie gelehrt hat. Sie glauben, dass andere Ihre Intelligenz auf die gleiche Weise beurteilen, und zweifeln darüber hinaus den Nutzen oder die Glaubwürdigkeit Ihrer Intelligenz immer dann an, wenn Sie etwas auf andere Art wissen als Ihr Vater. Ihr Selbstgefühl in puncto Intelligenz wird schließlich völlig von diesen Überzeugungen bestimmt, und jegliches Gefühl, dass die Intelligenz implizit zu Ihrem wahren Wesen, Ihrem Seelenpotenzial gehört, ist abgeschnitten worden.

Auf diese Weise haben Sie sich als Erwachsener meilenweit von der Erfahrung Ihrer selbst als einer Seele entfernt und werden von Ihrer körperlichen, emotionalen und persönlichen Geschichte fest definiert. Ihr Selbstgefühl ist nicht fließend, wandelbar, dynamisch, sich entfaltend – Ihnen ist das Gefühl von Beeindruckbarkeit abhanden gekommen, das der Seele zu Eigen ist, wo jede Erfahrung auf Ihre Gegenwärtigkeit einwirkt und sie berührt. Sie neigen hingegen zu dem Glauben, dass Ihre Unabhängigkeit, Ihre Integrität und alles, was Sie vermögen, auf Ihrer Fähigkeit basiert, eine definitive Vorstellung Ihrer selbst aufrechtzuerhalten und sich von den Erfahrungen in Ihrem Leben nicht so leicht beeinflussen oder umwerfen zu lassen. Das Leben in unserer modernen Gesellschaft führt sehr häufig zu diesem Resultat, und das ist völlig in Ordnung. Es bedeutet allerdings auch, dass Sie sich der wahren Tiefe Ihres Wesens – Ihrer Seelennatur und des Potenzials, welches sie beinhaltet – nicht bewusst sind.

Und an diesem Punkt beginnt die Reise, die unsere Seele gesunden lässt.

PRAXISANLEITUNG: DAS LEBENDIGSEIN SPÜREN

Diese Praxis unterstützt Sie dabei, mit der lebendigen Qualität, die in jedem Augenblick in Ihnen vorhanden ist, stärker in Kontakt zu kommen. Sie ist nicht dazu da, irgendeinen bestimmten Energiezustand herzustellen oder zu fördern.

Schritt 1.

Wählen Sie irgendeine alltägliche Betätigung, wie zum Beispiel das Geschirrspülen, das Aufräumen Ihres Arbeitsplatzes oder das Unkrautjäten im Garten. Bevor Sie beginnen, achten Sie darauf, wie sich Ihr Körper anfühlt (angespannt, müde, energiegeladen, träge, dumpf...). Spüren Sie Ihre Füße auf dem Boden, strecken Sie Ihre Finger aus, reiben Sie Ihre Hände aneinander und atmen Sie ein paar Mal tief durch. Wenn Sie mit Ihrer Tätigkeit beginnen, achten Sie darauf, wie jeder Gegenstand, den Sie berühren, sich in Ihren Händen anfühlt. Beachten Sie seine Beschaffenheit, sein Gewicht und seine Form. Beginnen Sie, ein Gefühl für diesen Gegenstand zu entwickeln – mögen Sie den Teller, den Sie gerade waschen? Kommt Ihnen, wenn Sie den Besen halten, Ihre Mutter in den Sinn? Ärgern Sie sich darüber, nicht genug Platz für all Ihre Papiere zu haben? Würden Sie bei der Gartenarbeit lieber Handschuhe tragen oder gefällt Ihnen das Gefühl von Erde auf der Haut?

Schritt 2.

Halten Sie während der Betätigung regelmäßig inne und achten Sie darauf, wie sich die Energie in Ihrem Körper anfühlt. Wie ist Ihr Atem: flach, verhalten, entspannt, tief? Was ist mit Ihrer Konzentration? Fällt es Ihnen leicht, sich zu konzentrieren oder neigt Ihr Verstand dazu, abzuschweifen, so dass Sie leicht abgelenkt werden? Spüren Sie beim Arbeiten irgendeine bestimmte Emotion? Fühlen Sie sich besorgt, traurig, hoffnungsvoll, erregt, friedlich, ängstlich, schuldig? Wie fühlt sich in diesem Moment Ihr eigenes Lebendigsein oder dessen Abwesenheit an?

Schritt 3.

Lassen Sie nun Ihr körperliches und emotionales Gefühl für sich selbst mit in Ihre Beschäftigung einfließen. Sie arbeiten weiter und sind sich gleichzeitig Ihres Energiezustandes bewusst. Wird die Erfüllung Ihrer Aufgabe durch dieses Gewahrsein erleichtert oder erschwert? Eine gute Praxis, um während einer Routinearbeit Ihre eigene Lebendigkeit zu spüren, besteht darin, Ihrem Atem zu folgen. Wenn Sie aktiv auf Ihr Ein- und Ausatmen achten, hindert das Ihre Aufmerksamkeit daran, sich zu fixieren, zu verschließen oder zu erstarren.

Wenn die Seele in starren Identifikationen mit anderen und der Welt gefangen ist, macht sie das unzufrieden. Jede Seele besitzt einen Drang zur Wahrheit, eine innewohnende Sehnsucht, sich erfüllt, echt und frei zu fühlen. Obwohl es viele Menschen nicht vermögen, dieser Sehnsucht erfolgreich nachzugehen, ist uns allen der Antrieb gegeben, das Selbst zu verwirklichen. Das beginnt mit den ersten kleinen Bewegungen des Bewusstseins und zieht sich – ob wir uns dessen direkt bewusst sind oder nicht – durch unser ganzes Leben. Dieser Antrieb taucht spontan im Bewusstsein als wichtige Aufgabe eines psychologisch und spirituell reifenden menschlichen Wesens auf. Wenn die Reife bei einem sich optimal entwickelnden Menschen zur Weisheit wird, beginnt diese Aufgabe in seinem Leben eine Vorrangstellung vor allen anderen einzunehmen und allmählich zu dem Zentrum zu werden, welches sein Leben ausrichtet, unterstützt und ihm Bedeutung verleiht, bis es schließlich die Gesamtheit seiner Existenz umfasst.

A. H. Almaas, The Point of Existence, S. 16

Frank wälzte sich im Bett auf die andere Seite und öffnete die Augen. Sonnenlicht strömte durch das Fenster, und die Luft war frisch und klar. Ihm fiel ein, dass heute Samstag war und er vormittags keine festen Termine hatte. Er lächelte und drehte den Kopf zur Seite um seine Frau Sue anzuschauen. In diesem Moment spürte er unvermittelt den Schmerz im Nacken. Sein Lächeln schwand und die Stimmen in seinem Kopf setzten ein:

   Da hast du’s. Das kommt davon, wenn man bis Mitternacht mit verspanntem Nacken im Bett lesen muss. Du warst doch gestern erst beim Chiropraktiker, und jetzt kannst du vor Montag nicht wieder hin – da wirst du also das ganze Wochenende einen steifen Hals haben. Wann begreifst du das endlich?

Das ist aber nicht allein meine Schuld. Dieser Typ kriegt meinen Nacken einfach nicht eingerenkt. Ich glaube, der hat sein Händchen verloren. Ich habe jahrelang im Bett gelesen, ohne dass es meinem Nacken geschadet hat. Außerdem habe ich gestern gar nicht gelesen; ich habe verdammt nochmal Fernsehen geguckt.

Es ist deine Schuld – du bewegst dich einfach nicht genug. Du sitzt den ganzen Tag nur rum.

Du hast recht. Ich bin faul.

Frank atmete tief durch und seufzte. Zeit zum Aufstehen. Sue schlief noch immer. Er verspürte den Drang, sich zu ihr herüberzubeugen und ihr einen Kuss zu geben.

   Lass das lieber sein, du weckst sie sonst noch auf. Du weißt doch – letzte Nacht hat sie wegen ihrer Schlaflosigkeit kaum ein Auge zugetan. Wenn du sie jetzt aufweckst, wird sie wieder mal schlechter Laune sein.

Das kann ja sein, aber was ist, wenn sie mich nachher fragt, warum ich an meinem einzigen freien Morgen nicht mit ihr im Bett geblieben bin? Wenn ich sie nicht wenigstens küsse oder umarme, dann wird sie mir das den ganzen Tag vorwerfen.

Mann, Frank, du hast wirklich ein Problem. Die ganze Zeit denkst du nur darüber nach, wie du vermeiden kannst, dass sie sauer wird. Du liebst sie doch gar nicht wirklich – oder wieso machst du dir solche Gedanken darüber, immer der Nette sein zu müssen?

Frank setzte sich auf die Bettkante und streckte seinen Rücken, wobei er den Schmerz im Nacken spürte. Er fragte sich, was ihm dieser Tag noch groß bringen konnte... schon jetzt fühlte er sich zerknautscht und ruhelos. Der Morgen, der sich gerade noch so frisch und leuchtend angelassen hatte, erschien ihm nun allzu banal und niederdrückend. Na okay, dann esse ich mal was. Frühstück war etwas, was er immer mochte. Er stand auf, zog seinen Morgenmantel an und huschte leise aus dem Zimmer, wobei er die Tür hinter sich zuzog.

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WAS IST DER RICHTER?

Willkommen im Gerichtssaal des Lebens

Sie erwachen am Morgen, und ehe Sie es sich versehen, fürchten Sie sich davor, aufzustehen und Ihren Tag zu beginnen. ...Sie fühlen sich schuldig, wenn Sie zuviel Marmelade auf Ihren Toast streichen und beglückwünschen sich dann, weil Sie nur eine Tasse Kaffee trinken. ...Wenn Sie im Büro ankommen, sagt Ihnen der Chef, dass er Ihre Arbeit fantastisch findet und kaum glauben kann, die glückliche Wahl getroffen zu haben, Sie einzustellen. Sie spüren, wie sich Ihnen der Magen zusammenzieht – vor lauter Angst, ihn zu enttäuschen. ...Sie gehen in Ihr Büro und hören den Anrufbeantworter ab; Ihre beste Freundin hat eine begeisterte Nachricht hinterlassen, dass sie den Job bekommen hat, um den Sie sich selber gerade beworben hatten – und Sie brechen innerlich zusammen. ...Sie wollen nicht zurückrufen, weil Sie Angst haben, Ihr zu sagen, wie neidisch Sie sind. ...Sie erkennen, wie sehr all Ihre Beziehungen von Ihrem Kindheitsbedürfnis nach Anerkennung geprägt sind, und Sie können es sich nicht vorstellen, mit irgendjemandem zu reden. ...Später wollen Sie das bohrende und unbehagliche Gefühl, das sich den ganzen Morgen lang aufgestaut hat, wieder abschütteln, also entschließen Sie sich, Ihrer Partnerin ein paar Blumen zu kaufen – lassen es dann aber bleiben, weil sie die Sorte, welche Sie gekauft hätten, vielleicht gar nicht mag. ...Dabei kommt Ihnen in den Sinn, dass Ihre Partnerin nicht versteht, warum Sie sich so oft zurückziehen, obwohl Sie sie doch wirklich lieben – und Sie verstehen es auch nicht. ...Sie versuchen zu arbeiten, können sich aber auf den Bericht, der morgen fertig sein muss, nicht konzentrieren. Sie holen sich einen Schokoriegel aus dem Automaten und befehlen sich selber, endlich mit dem Quatsch aufzuhören und sich nicht so gehen zu lassen...

Sie können sich nicht entspannen und Ihr eigenes Leben genießen.

Der rote Faden in diesem Szenario hat mit einer bestimmten Art Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Erleben zu tun. Diese Beziehung beinhaltet Erwartungen, Maßstäbe, Einschätzungen, Urteile und Konsequenzen. In welchem Ausmaß wird Ihre Reaktion auf das, was Sie erleben – und das Erleben selbst – davon bestimmt, dass Sie ganz bestimmte Auswirkungen erwarten? Wie viel Zeit verwenden Sie darauf, Ihre Leistungen, Ihr Aussehen, Ihre Fähigkeiten und Ihre Geschichte zu bewerten? Wie schwer ist es, den Maßstäben gerecht zu werden, die Sie anlegen, um sich selbst zu beurteilen? Wie häufig wird Ihr eigentliches Selbstgefühl von Ihren Ideen darüber bestimmt, was richtig oder falsch ist?

Das ist der Gerichtssaal des Lebens. Und Sie sind derjenige, der vor Gericht steht.

Manchmal haben Sie das Gefühl, Ihnen würde eine unrechte oder unvorstellbare Handlung vorgeworfen; dann wieder kommen Sie sich vor, als seien Sie auf frischer Tat ertappt worden. Manchmal machen Sie Ihrer eigenen Schuld und Korruption den Prozess, um dann wiederum heftigst zu argumentieren und Ihre Unschuld zu verteidigen. Manchmal drohen Sie sich selbst mit den schlimmsten Konsequenzen, falls Sie ungehorsam sein sollten; dann wiederum gestehen Sie all Ihre Sünden, um dadurch eine Strafminderung zu erwirken. Manchmal wägen sie die Beweise auf beiden Seiten ab, um zu einem Urteil zu gelangen; dann wiederum verkünden Sie Ihr Urteil rücksichtslos und ohne zu zögern.

Aus diesen Aktivitäten besteht der Urteilsprozess, dieser Gerichtssaal des Lebens, dem der Richter vorsteht.

Der Richter ist ein Teil Ihres Verstandes. Er hält sich in Ideen und Gedanken, Überzeugungen, Vorstellungen und inneren Bildern verborgen. Zur gleichen Zeit lebt er auch durch Ihren Körper und Ihre Energie. Der Richter ist ein Meister der Worte, doch zugleich können Sie ihn in Ihrem Bauch, Ihren Schultern und Ihren Kiefern fühlen, ohne sich dabei irgendwelcher Worte bewusst zu sein. Der Richter durchdringt alles und ist zugleich unsichtbar. Er spricht zu Ihnen aus der Fernsehwerbung, aus Illustriertenanzeigen und Filmen, aus dem Gesichtsausdruck Ihres Partners, dem dreckigen Geschirr in der Spüle und dem Unterton in der Stimme Ihres Vorgesetzten.

Er hat Zugang zu einem Warenhaus voll gelernter Informationen – dem angesammelten Wissen, welches Sie für nötig halten, um in der Welt erfolgreich, sicher, unterstützt und anerkannt zu sein sowie geliebt zu werden. Der Richter setzt die Maßstäbe für alles, was aus Ihnen eine gute, akzeptable und glückliche Person macht. Er besitzt natürlich auch Maßstäbe für alle anderen. Seine Stimme begleitet Ihr äußeres Leben – bewusst und unbewusst – durch Meinungen, Ratschläge, Warnungen, Vorschläge, Überzeugungen, Einschätzungen und Ermahnungen zu allen Aspekten Ihres Verhaltens. Und als ob das nicht genug wäre, bestimmt der Richter darüber hinaus fast alle Aspekte Ihres inneren Lebens.

Vergleich und Urteil

Eine weitere Aktivität, die ebenso wie das Maßstäbe-Setzen zum Urteilsprozess gehört, ist das Vergleichen. Ihr Richter bewertet Sie nicht nur anhand seiner Maßstäbe, er vergleicht Sie auch ständig mit anderen Menschen, um Ihren Wert zu ermitteln. Vergleich und Selbstverurteilung sind eng verwandt. In der Tat können Sie sich jedes Mal, wenn Sie beim Vergleichen sind, sicher sein, dass ein Urteil dahinter steckt. Der Richter benutzt beide abwechselnd um das gewünschte Resultat zu erzielen. Selbst wenn bei Ihnen einem Maßstab zufolge alles gut läuft, können Sie immer noch mit jemandem verglichen werden, bei dem es besser klappt. Und wenn es Ihnen besser als den anderen gelingt, gibt es immer noch Maßstäbe höchster Perfektion, an denen Sie gemessen werden können. Einige Menschen fühlen sich eher dem Vergleichen ausgeliefert, andere leiden mehr unter inneren Maßstäben, doch jeder hat mit beiden zu tun.

In der modernen Gesellschaft zu leben bedeutet, unablässig irgendwelchen Vergleichen ausgeliefert zu sein – so in der Werbung, im sozialen Miteinander, durch die Unterhaltungsindustrie und den Druck, in der Arbeit erfolgreich zu sein. Es fällt schwer, sich eine Aktivität vorzustellen, in der kein Vergleich erlebt wird. Vergleiche bilden die Basis des Wettbewerbs, der einen integralen Teil des westlichen Lebens ausmacht. Niemand würde seinen Nutzen als Preisbrecher, als Ansporn für große athletische Leistungen, als Stimulus für wissenschaftliche Entdeckungen und generell im Verbessern vieler Aspekte unserer Welt bestreiten. Indes wird das Vergleichen immer dann selbstzerstörerisch, wenn es zur Brille wird, durch die Sie sich selbst erleben. Dann wird es zum Handwerkszeug des Richters. Das führt zu ständiger Selbstüberwachung in Bezug auf das Verhalten und die Erscheinung der anderen, wobei Ihnen das Gespür für die Wahrheit Ihrer eigenen Erfahrung verloren geht.

Das Leben durch die Vergleichsbrille zu betrachten führt dazu, sich von seiner eigenen Seelennatur zu entfernen. Wenn der Richter an der Macht ist, dient der Vergleich immer der Ermittlung von Würde oder Wert – der Feststellung, wer „der Bessere“ ist. Wenn Sie sich also von jemandem auf irgendeine Weise unterscheiden, dann muss einer von Ihnen besser sein als der andere. Das ist das Heimtückische beim urteilenden Vergleich, wo jeder Unterschied zu einem Hinweis auf den relativen Wert wird. Der Richter will wissen, wer Recht hat, wer besser ist und warum das so ist. Er hat kein Interesse daran, die Feinheiten und Komplexitäten zu begreifen, welche eine Sache ausmachen. Insbesondere die Seele kann durch den urteilenden Vergleich nie erfasst werden – zumal ihr von Natur aus ein impliziter Wert zu Eigen ist, der sich auf keine andere Seele bezieht. Seelen können weder anhand ihres Wertes noch ihrer Güte verglichen werden, wie sehr sie sich auch voneinander unterscheiden mögen.

Sogar in der Selbsterforschung neigt der Richter dazu, die gegenwärtige Erfahrung mittels des Vergleiches herabzuwürdigen und zu banalisieren, indem er Sie dafür kritisiert, sich in Ihrem Sein und Ihrem Handeln nicht verändert zu haben. Oder er wird Ihnen erzählen, dass Sie sich verschlechtert haben – als könne der Wert Ihrer gegenwärtigen Erfahrung an dem, was in der Vergangenheit passiert ist, gemessen werden. Der beurteilende Vergleich macht, wenn er unablässig auf Gefühle, Handlungen und Interaktionen angewendet wird, jegliche Möglichkeit von Frische oder Spontaneität zunichte. In einer Atmosphäre von Vergleich und Urteil kann die Seele keine Lebendigkeit und Offenheit zum Tragen bringen. Wenn Sie verstehen, wie diese miteinander verwobenen Prozesse Ihr Leben im Griff haben und Sie in der Welt der Vergangenheit gefangen halten, dann haben Sie einen wichtigen Schritt getan, um sich selbst von der Selbstverurteilung zu befreien.

Aus dem Leben gegriffen