Beifang - Martin Simons - E-Book
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Beifang E-Book

Martin Simons

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Beschreibung

Der neue Roman von Martin Simons – über die Unfreiheit der Herkunft und eine andere Geschichte aus dem Wirtschaftswunderland Deutschland.

Die Zechensiedlung Beifang am Rande des Ruhrgebiets: Hier lebt in den Nachkriegsjahren der Hilfsarbeiter und zwölffache Vater Winfried Zimmermann ein Leben zwischen Verzweiflung, Armut und lebensbejahender Anarchie. 
Als Frank, sein Enkel, Jahrzehnte später mit seinem eigenen Vatersein hadert, macht er sich auf Spurensuche. Weil sein Vater schweigt, sucht Frank den Kontakt zu seinen zahlreichen Onkeln und Tanten, die alle von der Kindheit in Armut und der Enge einer Zechenhaushälfte gezeichnet sind. 


Martin Simons erzählt präzise und leicht von dem verborgenen Fortwirken eines von Mittellosigkeit, Gewalt und Stolz geprägten Milieus, das trotz aller äußeren Widrigkeiten kein Selbstmitleid kennt, und vom Vater- und Sohnsein in einer ungewöhnlichen Familie.



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Seitenzahl: 208

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Über das Buch

Beifang: Was ungewollt ins Netz geraten ist, als Abfall zurückgelassen wird, stirbt – oder schwer verletzt überlebt. 

Zechensiedlung Beifang am Rande des Ruhrgebiets während der Wirtschaftswunderjahre: Hier lebt der Weltkriegsveteran, Hilfsarbeiter und zwölffache Vater Winfried Zimmermann ein Leben zwischen Verzweiflung, bitterster Armut und lebensbejahender Anarchie.

Jahrzehnte später macht sich sein Enkel Frank auf Spurensuche: Wer war Winfried? Was trieb ihn an? Und was lebt fort von ihm in seinem Sohn und seinem Enkel? Da zwischen Frank und seinem Vater Schweigen herrscht, entscheidet sich Frank, den Kontakt zu seinen zahlreichen, ihn zum Teil noch unbekannten Onkeln und Tanten zu suchen, um mit ihnen über die Vergangenheit zu sprechen. Sie alle sind von ihrer elenden und bitterarmen Kindheit in der Enge einer Zechenhaushälfte gezeichnet, vom Aufwachsen mit der vom Schicksal gebrochenen Mutter und dem im Krieg traumatisierten, brutalisierten Vater.

Je mehr sich Frank auf die Ereignisse im Beifang jener Jahre einlässt, desto stärker wird ihm bewusst, welchen großen Schatten seine Herkunft auf die Gegenwart wirft.

Über Martin Simons

Martin Simons, 1973 geboren, lebt mit seiner Familie in Berlin. Er hat Rechtswissenschaft studiert und ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher. Zuletzt erschien von ihm "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon" (2019).

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Martin Simons

Beifang

Roman

Übersicht

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Widmung

Motto

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Impressum

Vaterschaft ist eine Geschichte, selbst wenn man dies noch so sehr zu vermeiden sucht; eine Geschichte, die nicht nur anderen erzählt, sondern auch von anderen erzählt wird.

John Burnside

Für meinen Vater

Beifang

Was ungewollt ins Netz geraten ist, als Abfall zurückgelassen wird, stirbt – oder schwer verletzt überlebt.

1.

Inzwischen ging es mir schon gar nicht mehr um den Sex. Marie traf ich vor allem, damit ich schweigend mit ihr zusammenlag, versunken im Hier und Jetzt, mein Kopf nahe an ihrem Kopf, in der Strahlung eines fremden, für mich unzugänglichen Bewusstseins. In diese verwunschene Stille hinein schrillte jäh das Telefon.

»Viel zu tun?«

Wie gewöhnlich sprach mein Vater, ohne sich vorzustellen. Wie hätte er sich auch nennen sollen, Vater, Papa, Otto?

»War einiges los.«

»Wann kommst du vorbei?«

»In den Herbstferien, mit Vincent.«

»Du kannst ja auch vorher kommen.«

»Ja – aber warum?«

Ich sollte kommen, stellte sich heraus, um zu entscheiden, was von meinen seit Jahrzehnten auf ihrem Dachboden lagernden Dingen ich in meine Wohnung nehmen wollte, damit sie nicht auf dem Sperrmüll landeten. Meine Eltern hatten ihr Haus verkauft.

Als ich auflegte, bemerkte ich, dass Marie mich ansah.

»Alles in Ordnung?«

Ich machte eine unbestimmte Geste und stellte mich ans Fenster, aus dem der Blick auf eine – der Hinterhof war schmal – vielleicht zehn Meter entfernte, seit einigen Jahren glatt verputzte und hell gestrichene Brandwand ging. Sooft ich zum Fenster hinaussah, war es, als schaute ich in einen ewig wabernden Nebel. Anfangs hatte ich noch versucht, die Aussicht in diese gestaltlose Leere als meditativ zu empfinden und darin ein Geheimnis zu entdecken. Doch leider wurde mir, sooft ich länger aus dem Fenster sah, einfach bloß übel.

Ich legte mich wieder hin. Marie angelte nach dem Päckchen auf dem Nachttisch, und ich betrachtete die zarte Andeutung von Muskulatur unter ihrer glatten Haut. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund, ohne sie anzuzünden. Sie rauchte überhaupt nicht, sie hatte bloß Freude daran, so zu tun, wenn sie bei mir war. Sie probierte dann verschiedene Posen aus, imitierte Gesten aus Filmen oder bekannte Persönlichkeiten. Gerade hielt sie die Zigarette kraftlos zwischen Mittel- und Ringfinger, und ich sagte: Michel Houellebecq, woraufhin ihre Augen, ohne dass sich ihr Gesicht sonst veränderte, kurz aufstrahlten.

Ich verstand nicht gleich, warum mich die Nachricht vom Hausverkauf so traf. Eine frühere Freundin war von dem Verlust des von ihr stets als Schlumpfhausen bezeichneten Elternhauses in eine tatsächlich mittelschwere Krise gestürzt worden. Sie hatte Vater und Mutter den Lebensabend auf einer Kanareninsel mit abwechselnd einem Tennisschläger und einem Glas Wein in der Hand durchaus gönnen wollen, doch war sie einfach nicht über den Verlust der Topographie ihrer Kindheit, die verräterisch knarrende Holztreppe, das kleine Guckloch in der Wand zum Zimmer ihrer großen Schwester, die geheime Süßigkeitenschublade in der Garage, die immer volle Vorratskammer mit dem fermentierten Gartengemüse und überhaupt all die Sedimentablagerungen der Kleinfamilienerinnerung, die nur eine Handvoll Menschen erfassen konnte, hinweggekommen. Ich war von ihrer starken, sich über Wochen hinziehenden Trauer so abgestoßen gewesen, dass ich sie schließlich nicht mehr hatte sehen können. Ich hatte in ihrer Anhänglichkeit an ein Haus das Zeichen für einen kleinlichen Egoismus gesehen, der in letzter Konsequenz für den Erhalt des eigenen bequemen Lebensglücks sozusagen über Leichen zu gehen bereit war.

Das war damals vielleicht etwas überspannt gewesen. Aber im Grunde dachte ich noch immer, dass mit solcher Art Sentimentalität etwas Böses begann. Ich jedenfalls war mit achtzehn voller Euphorie bei meinen Eltern ausgezogen und dann viele Jahre nur selten zu Besuch gewesen. Ich hatte ihr Haus nie auch nur eine Sekunde vermisst. Allerdings war für Vincent das in einer Bergarbeitersiedlung gelegene Zechenhaus der Großeltern mit dem vollgestopften Dachboden, dem unter einer Falltür gelegenen Kohlenkeller und dem an eine wilde Wiese angrenzenden Garten in den vergangenen zwölf Jahren zu seiner zweiten Heimat geworden. Dort hatte er die Erfahrungen machen können, die weder bei seiner Mutter in München noch bei mir in Berlin möglich gewesen waren, hatte er Buden unter Bäumen gebaut, nach Regenwürmern gegraben, Gemüse angepflanzt und beim Ernten und Einkochen von Äpfeln, Birnen und Pflaumen geholfen. Das Großelternhaus war für ihn ein Sehnsuchtsort; nicht zuletzt deswegen, weil wir uns dort, vielleicht nur dort, meistens gut verstanden.

Ich wünschte, Vincent hätte seinem Kindheitsparadies langsam entwachsen können; wobei ich mich durchaus zu meinem Missvergnügen fragen musste, ob diesem Wunsch nicht die gleiche Haltung zugrunde lag, die ich damals meiner um ihr Elternhaus trauernden Freundin vorgeworfen hatte.

Vor der offenen Wohnungstür drückte mir Marie ihre Faust gegen die Brust und winkte im Gehen über die Schulter. Ich war zu abgelenkt, um ihre Unverbindlichkeit als aufgesetzt zu empfinden, und dachte, während ihre Schritte im Hausflur leiser wurden, dass ich die Entscheidung meiner Eltern letztlich nachvollziehen konnte. Mein Vater hatte sich vor zwei Jahren an einer undurchlässigen Halsschlagader operieren lassen müssen, meine Mutter litt schon wer weiß wie lange still an Rheuma. Haus und Garten wurden für beide zur Belastung. Es war im Grunde bewundernswert, dass sie sich frühzeitig dazu durchringen konnten, ihrem bisherigen Leben zu entsagen und in eine von ihrem bisherigen Haus nur zweihundert Meter entfernte, neu errichtete Anlage mit Eigentumswohnungen für Senioren umzuziehen, wo die Betreuung durch professionelle Kräfte ihrem möglichen Pflegebedarf angepasst werden konnte. Meine Schwester und ich würden uns jedenfalls später einmal nicht mit uneinsichtigen Eltern über die Unterbringung in einem Pflegeheim streiten müssen.

*

Die rote Kiste stand oben auf einem Sperrmüllhaufen. Im ersten Moment glaubte ich an ein Versehen und trug sie in die Garage, wo mein Vater Regale abmontierte.

»Willst du sie wegwerfen?«

»Sie stand dreißig Jahre nur im Schrank.«

Meine Eltern hatten verabredet, ausschließlich Dinge in ihre neue Wohnung mitzunehmen, die sie regelmäßig benutzten oder die ihnen wirklich etwas bedeuteten. Ich war irritiert, dass das Einzige, was mein Vater von seinem Vater geerbt hatte, nicht dazugehören sollte. Aber ich zögerte, das anzusprechen. Nicht bloß, weil wir miteinander nicht leicht über Gefühle redeten. Es erschien mir vermessen, ihm einen achtlosen Umgang mit einer schuhkartongroßen leeren Holzkiste vorzuwerfen, für die ich nie Interesse gezeigt hatte. Dabei gehörte der Moment vor beinahe dreißig Jahren, als mein Vater mir sein Erbe gezeigt hatte, zu meinen unvergesslichen Erinnerungen.

Damals, ich war vierzehn oder fünfzehn gewesen, hatte er mich an einem Nachmittag in sein sogenanntes Büro im Schuppen gerufen, das tatsächlich eine Art Aufbewahrungsraum für alles gewesen war, was er für zu kostbar gehalten hatte, um es einfach unserem verschwenderischen Zugriff zu überlassen – Briefmarken, Briefumschläge, Ersatzbatterien. Als ich eintrat, lehnte er steif an seinem vor allem von »Auto, Motor und Sport«-Heften bedeckten Schreibtisch, machte einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf eine verschrammte Holzkiste mit rostigem Scharnier frei, die dafür gemacht schien, Schrauben und Nägel aufzunehmen.

»Die gehörte deinem Opa«, sagte er, klappte den Deckel auf und zu und sah mich, ganz kurz, aus ungeschützten Augen an.

Ich vermute, er hoffte, ich würde ihn etwas fragen. Aber ich war, daran kann ich mich gut erinnern, viel zu verdutzt, weil er das vertrauliche »Opa« für meinen Großvater verwendete. Ich war seinem Vater in den acht Jahren bis zu seinem Tod nur zwei oder drei Mal begegnet, obwohl er die ganze Zeit weniger als einen Kilometer Luftlinie entfernt von uns gewohnt hatte. Wünschte er, ich würde ihn Opa nennen?

Nach einer Weile rang ich mich doch zu einer Frage durch: »War sie schon leer?«

Mein Vater blickte abwechselnd mich und die Kiste an, nickte stumm und strich dabei auf eine Weise über das billige, schlecht gefügte, mit ochsenblutroter Dielenfarbe wie übergossene Holz, die selbst dem Teenager, der ich war, etwas von den Gefühlen vermittelte, die er für seinen Vater gehegt haben musste. Wir verharrten beide noch einen Moment unschlüssig vor seinem Erbe; dann schüttelte mein Vater, fast unmerklich, den Kopf und verstaute die Kiste in einem Schrank.

In den kommenden Jahren hatte ich immer mal wieder darüber nachgedacht, ob mein Vater und ich damals die Chance, endlich über die Vergangenheit zu sprechen, leichtfertig vertan haben könnten. Doch gleichzeitig hatte ich immer angenommen, irgendwann schon zu erfahren, wie es wirklich für ihn gewesen war, im Elend einer engen Zechenhaushälfte mit elf Geschwistern groß zu werden, von denen ich die Hälfte nie kennengelernt hatte.

Als ich meinem Vater am Tag der Entrümpelung in der bald ausgeräumten Garage gegenüberstand, hielt ich diesen Moment für gekommen. Es konnte kein Zufall sein, dass die Kiste, unübersehbar, oben auf dem Haufen für die Müllabfuhr gelegen hatte.

»Ich habe immer gedacht, dass sie dir wichtig ist.«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil du sie mir gezeigt hast, gleich nachdem Hilde sie vorbeigebracht hat.«

»Hilde, was hat die damit zu tun?«

Meine Tante Hilde hatte – ich weiß nicht, woher ich das zu wissen meinte, vermutlich hatte es mir mein Vater erzählt, und nun erzählte ich es ihm – nach dem Tod meines Großvaters dessen wenige Sachen unter Schock an sich genommen, in ihrer Garage untergebracht und dort vergessen – bis ihr der ganze Kram, darunter die rote Kiste, Jahre später beim Ausmisten wieder in die Hände geraten war. In meiner Vorstellung hatte sie mit sich gehadert, ob sie den einst betrunken ihr gegenüber so dahingesagten, also wahrscheinlich nicht einmal ernst gemeinten Letzten Willen ihres Vaters, dass ausgerechnet sein Sohn Otto, mein Vater, die Kiste einmal bekommen soll, einfach weiter ignorieren konnte oder sie den 300 Kilometer langen Hin- und Rückweg zu uns und die Kosten für das Benzin auf sich nehmen musste. Ich fand es bemerkenswert, dass die Kiste nicht schon damals auf dem Sperrmüll gelandet war.

»Daran erinnerst du dich?«

»Natürlich.«

»Ich überhaupt nicht.«

Ich verstummte. Erst nach einer Weile fragte ich: »Kann ich sie haben?«

Mein Vater antwortete nicht, bewegte aber seinen Kopf auf eine Weise, die ich als Kopfschütteln deutete. Ich gab auf, weiter zu ihm durchdringen zu wollen, und stellte die Kiste zurück auf den Sperrmüll.

*

Mein Vater wurde seit je einsilbig, sobald das Gespräch auf seine Kindheit kam. Fragte ich ihn direkt – vielleicht zu zaghaft, aber als Sohn fürchtete ich seine Schwäche –, schien ihm mein Interesse zu gefallen. Nur beantwortete er meine Fragen trotzdem nicht. Meistens behauptete er bloß, sich nicht erinnern zu können.

Aber manchmal, immer ungefragt, erinnerte er sich doch. Dann erwähnte er seine chronischen Mittelohrentzündungen, an denen er seine Kindheit hindurch gelitten hatte, ohne sich weiter zu beklagen, nachdem seine Mutter gegen die Schmerzen mit heißem, langsam ins Ohr getröpfeltem Öl vorgegangen war. Oder er sprach von dem unvergesslichen Tag, an dem er, fassungslos beäugt von seinen Geschwistern, als Einziger eine Banane zu essen bekommen hatte, weil er vom Schularzt für gefährlich mangelernährt befunden worden war. Ganz selten erzählte er auch die Geschichte von seinem Blinddarmdurchbruch. Wie mein Großvater morgens von der Zeche nach Hause kam und seinen vor Schmerz brüllenden Sohn auf der Stange eines vom Nachbarn ausgeliehenen Fahrrads ins fünfzehn Kilometer entfernte Krankenhaus fuhr, ihn dort der Obhut der Schwestern und Ärzte überließ und erst eine Woche später, mit dem erneut ausgeborgten Rad, wieder nach Hause holte. Vor jedem Schlagloch ermahnte er den Vierjährigen, die Hand auch ja fest auf die frisch vernähte Narbe zu drücken.

Andere Geschichten als diese kannte ich von ihm nicht. Einmal behauptete mein Onkel Martin auf einer Geburtstagsfeier, mein Vater und er wären als kleine Jungen vom »Alten« mit einem Beil durchs Haus gejagt worden, nachdem sie das Pfand für einige Bierflaschen einkassiert hatten, um sich davon Schokolade zu kaufen. Dabei sei die Schneide des Beils nur um Millimeter am Ohr meines Vaters und seiner Stirn vorbeigesaust und habe die Küchentür gespalten.

Obwohl mein Vater gerade diesem Bruder, der zu wilden Phantastereien neigte, sonst so gut wie in allem widersprach, senkte er bloß den Blick und sagte leise, ein merkwürdiges Grinsen im Gesicht: »Ich erinnere mich nicht.«

Vielleicht erinnerte er sich tatsächlich nicht. Vielleicht schützte sich seine Psyche auch bloß mit einer Art Amnesie. Vielleicht war die Fassade des ungerührten Mannes für sein Selbstbild wichtig. In jedem Fall hatte ich von seinem Schweigen genug. Das Bild von der Kiste auf dem Sperrmüll wirkte in mir nach. Ich wollte endlich herausfinden, was sich in ihrer Leere verbarg. Bevor es zu spät war.

2.

Aber dann wurde es Frühling und Sommer, ohne dass ich etwas unternahm. Es änderte ja nichts, in der Vergangenheit zu wühlen, dachte ich, wenn ich mich um etwas kümmern sollte, dann doch wohl um mein gegenwärtiges Leben, das nicht gerade witzig war. Ein in Paris lebender, inzwischen wohl ehemaliger Freund hatte immer behauptet, die Franzosen wüssten in ihrer Seele, dass das Leben eine Scheiße sei; jedoch verstünden sie sich immerhin darauf, sich mit Essen, Trinken, Sex, ihrer weltweit gerühmten, vielleicht zum Klischee erstarrten, aber gleichwohl noch immer praktizierten Lebensart einigermaßen darüber hinwegzutrösten. Die Deutschen hingegen könnten die Zumutungen der Existenz nur durch Verklärung ertragen, durch Ideologien und Ideale, weshalb sie ja auch Hitler nachgekrochen seien in den Untergang.

Ich weiß nicht, vielleicht hatte er recht. Ich besaß weder Überzeugungen noch Lebenskunst und war, wenn ich Maries Spott glauben konnte, überhaupt unfähig, ein normales Leben zu führen.

Das war aber nicht immer so gewesen. Früher, ich erinnerte mich mit Staunen, war ich nach intensiven Stunden am Schreibtisch stundenlang durch die Stadt gestreift, damals hatten mich offenbar noch Menschen und Begegnungen interessiert, ich hatte Tennis gespielt, Yoga- und Spanischstunden genommen, war Mitglied in dem Förderverein eines Museums gewesen und hatte mich sogar in einer Stadtteilinitiative engagiert, die geflüchteten Kindern beim Lernen helfen wollte – ohne Erfolg, glaube ich.

Mit all dem hatte ich nach und nach aufgehört. Heute konnte ich ganze Tage mit dem Mobiltelefonspiel 2048, dem Aufräumen und Putzen meiner Wohnung und dem Anstarren meiner Zimmerdecke verbringen. Meine sogenannte Arbeit bestand seit einigen Jahren darin, als freier Texter Dialoge für Werbefilme zu schreiben, was ich an durchschnittlich 8,4 Tagen im Monat tat und ausreichte, um meine Rechnungen zu bezahlen. Wenn lebendig zu sein bedeutete, von Emotionen und Sensationen durchströmt zu werden, dann war ich eher tot. Es gab Schlimmeres, wusste ich.

Marie war seit dem Anruf meines Vaters sechs Wochen nicht mehr bei mir gewesen, weswegen es in gewisser Weise nur natürlich war, dass sie, als wir wieder Kopf an Kopf nebeneinanderlagen, auf den Verkauf meines Elternhauses zu sprechen kam. Ich erzählte von den wenigen Dingen, die ich vor dem Wegwerfen hatte bewahren wollen, zwei Fotoalben, den Spielzeugcolt und die Schallplatte mit den größten Hits von Dschingis Khan, zu denen meine Eltern und ich wie übergeschnappt durch unser winziges Wohnzimmer getobt waren. Beiläufig erwähnte ich auch die rote Kiste meines Großvaters, die auf dem Sperrmüll gelandet war.

»Kanntest du ihn denn?«

»Nicht wirklich. Ich habe ihn sicher zwei, drei Mal gesehen. Es gibt ein Bild von einer Geburtstagsfeier, auf dem er bei uns im Wohnzimmer sitzt. Ich erinnere mich an nur wenig.«

»Erzähl.«

Maries plötzliches Interesse an meiner Familie überraschte mich, bislang hatte sie dieses Thema gemieden.

Ich bewegte beim Nachdenken stumm die Lippen.

»Nun, ich sehe mich in ihrer kleinen Wohnung stehen. Ich bin fünf, vielleicht auch sechs. Aber auf jeden Fall noch kein Schulkind. Mein Großvater sitzt auf der Couch und schaut fern. Plötzlich hebt er sein Glas und fragt: Schon mal probiert? Im nächsten Moment habe ich sein Glas am Mund und schmecke das bittere Bier.«

»Ist das schon alles?«

»Ja, er schaute weiter fern, und mir lief das Bier übers Kinn. Jedenfalls in meiner Erinnerung.«

Marie gab sich noch nicht zufrieden. Ihre Anteilnahme war eine ziemliche Erleichterung. Ich spürte, wie eine gewisse Beklemmung von mir abfiel, und erzählte, leicht euphorisiert, alles, was ich von meinen Großeltern zu wissen glaubte. Von den ersten drei Kindern im Krieg und den neun weiteren danach, die sie bekommen hatten, obwohl sie nie in der Lage gewesen waren, sie auch nur mit dem Allernotwendigsten zu versorgen, mit Nahrung, Kleidung, einer ausreichend beheizten Wohnung.

»Von Aufmerksamkeit und Zuwendung braucht man da erst gar nicht zu reden. Mein Vater hatte auch im Winter nur eine kurze Lederhose anzuziehen und bei starkem Frost offene Wunden an den Beinen. An vielen Tagen gab es nichts zu essen außer ein einziges Brot, und das reichte nicht einmal fürs Frühstück. Und die Säuglinge wurden, statt mit Windeln, in Zeitungspapier gewickelt, man klaubte es aus den Mülltonnen der Nachbarn. Das war während der sogenannten Wirtschaftswunderzeit. Als die anderen Fernwärme und fließendes Wasser bekamen. Nur die Familie meines Vaters drängte sich auf den vielleicht 60 Quadratmeter ihrer Zechenhaushälfte zusammen. Und dort wurde es mit jedem Kind beengter. Es gab einen Ofen für das ganze Haus und statt eines Badezimmers die Wasserpumpe am Straßenrand und das Plumpsklo im Garten. In der Siedlung nannte man die Geschwister Karnickel und rief ihnen Sprüche hinterher. Zimmermannblagen, Scheiße im Magen, so etwas.«

Marie, die aus ganz anderen Verhältnissen kam, schwieg und hatte schimmernde Augen. Mich machte das seltsam stolz, aber worauf?

»Was haben sich deine Großeltern nur gedacht? So viele Kinder. Da war das Elend ja absehbar.«

»Keine Ahnung. Geistig zurückgeblieben waren sie wohl nicht. Rosa, meine Großmutter, hatte, das erzählen jedenfalls meine Onkel und Tanten, denen das aber natürlich auch schmeichelt, jahrelang das inoffizielle Amt der Siedlungsschreiberin inne. Sie verfasste im Tausch gegen Eier, Kartoffeln oder ein paar Streifen Speck für die Nachbarn Schreiben an Ämter und dergleichen. Und mein Großvater las wohl alles, was er nur in die Hände bekam, die Bibel und Marx am liebsten aber Der Landser-Heftromane. Angeblich konnte er noch jedermann in Grund und Boden diskutieren, und der Pfarrer beklagte oft, der Zimmermann könne reden wie ein dreiköpfiger Teufel.«

»Das macht es nur unerklärlicher.«

»Meinst du? Ich stelle mir vor, dass da einfach eine katholische Erziehung, der Mutterkult der Nazizeit und vor allem ein erstaunlicher, auch den widrigsten Umständen trotzender sexueller Appetit zusammenkamen.«

»Vielleicht teilten sie aber auch einfach eine Art Wahnsinn und haben sich wer weiß was von den Kindern versprochen.«

Ich spürte, jetzt war der Moment, von Winfrieds Beerdigung zu erzählen, und schilderte, wie mein Onkel Raffi mit einer Pistole beim Leichenschmaus aufgetaucht war, weil er von den Gerüchten gehört hatte, die Martin verbreitet hatte. Er wollte den Bruder zwingen, alle Behauptungen zurückzunehmen, was der großmäulige, aber vor allem feige Martin auch sicher getan hätte, wäre es ihm nicht zuvor in einem akrobatischen Wunderakt gelungen, durch das schießschartenenge Klofenster des Gasthofs zu türmen. Soweit ich wusste, und das sagte ich auch Marie, wurde Martins Vorwurf danach nie eigentlich entkräftet oder auch bloß weiter diskutiert. Er stand bis heute unwidersprochen neben der Erzählung, mit der alle recht bald ihren Frieden gefunden hatten, dass Winfried die Gasexplosion selbst verursacht hatte – wahrscheinlich betrunken. Vielleicht hielten manche auch einen stümperhaften Selbstmord für möglich. Aber soweit ich wusste, gab niemand zu, Martins Unterstellung zu glauben, Raffi habe das Gas im Backofen absichtlich aufgedreht, nachdem der Streit mit seinem Vater, bei dem er gerade wieder einmal gewohnt hatte, immer weiter eskaliert war.

»Du meinst, keiner von euch weiß oder will wissen, ob dein Großvater vom eigenen Sohn … also.«

»Ja, so ungefähr.«

»So ungefähr?«

»Nun, so ist es.«

»Wie kannst du damit leben?«

Ich hatte mir diese Frage nie gestellt. Doch Maries Fassungslosigkeit gab mir zu denken. Ich hatte immer angenommen, dass in allen Familien über solche Dinge geschwiegen wurde.

»Was würdest du an meiner Stelle tun?«

»Ich weiß nicht. Irgendwas. Ich würde der Geschichte auf den Grund gehen. Meine Großmutter sagt immer: Alles, was nicht ins Bewusstsein steigt, kommt als Schicksal zurück.«

»Daran glaubst du?«

»Ich weiß, wie das klingt. Aber schau dich doch mal um!«

Wir beide ließen den Blick durch meine beinahe unmöblierte Wohnung streifen.

»Dass du so lebst, hat vielleicht einen Grund, meinst du nicht?«

»Bestimmt. Aber ich glaube nicht, dass der in meiner Familiengeschichte zu finden ist.«

»Warum nicht?«

»Sie hat für mich nie eine Rolle gespielt. Meine Eltern haben sich nicht mehr in mein Leben eingemischt, seit ich …«, ich überlegte, »eigentlich seitdem ich aufs Gymnasium gegangen bin. Ich war für sie in Sphären gelangt, wo sie sich nicht mehr auskannten.«

»Das ist dein Argument?«

»Ich weiß nicht, ob Schuld in diesem Zusammenhang der richtige Begriff ist. Aber wenn, dann bin ich an all dem hier ganz alleine schuld.«

»Dann machst du es dir zu einfach. Schon das, was du von dieser Kiste erzählst. Es ist nicht normal, dass man sein Erbe einfach in den Sperrmüll gibt und nicht mehr davon spricht.«

»Gut, aber …«

»Erwachsenwerden heißt eben auch zu wissen, was vor der eigenen Geburt geschehen ist.«

»Das ist auch so ein Spruch.«

»Aber er trifft einen Punkt.«

Es überraschte mich, dass Marie dem therapeutischen Denken zuneigte. Allerdings, fiel mir ein, dachten so inzwischen die allermeisten. Es würde mir besser gefallen, wenn sie sich, wie bislang auch, einfach über mich lustig machte.

Natürlich war es seltsam, dass ich die Wohnung eines Freundes, in der ich immerhin seit über zehn Jahren günstig zur Untermiete wohnte, unter dem fadenscheinigen Vorwand nie eingerichtet hatte, dass mein Freund sie ja zurück brauchte, sobald seine Ehe scheiterte und er vom Stadtrand zurück in die Stadt ziehen würde. Selbstverständlich war es komisch, dass ich mit Leuten zusammenarbeitete, die ich nur von E‑Mails oder Telefonaten kannte, die mich auch nach Jahren noch für einen endzwanzigjährigen Freelancer auf Weltreise hielten, der zwischen zwei Anstellungen seine Reisekasse aufbesserte. Es war ohne Zweifel erbärmlich, dass ausgerechnet Marie meine engste Bezugsperson war, obwohl wir uns ja bloß alle vier bis sechs Wochen sahen und sie mit ihrem Mann und den zwei kleinen Kindern in Leipzig lebte. Und mir war sehr wohl bewusst, dass ich meinen eigenen Sohn nur zweimal im Jahr traf.

Aber all das hatte in meinen Augen nichts mit meinem Vater oder dessen Vater zu tun.

*

Einige Tage darauf rief ich meinen Vater an und fragte, ob er Bedenken habe, wenn ich Kontakt zu seinen Geschwistern aufnahm.

»Hast du sonst nichts zu tun?«

»Nein, gerade nicht.«

»Wenn’s dir Spaß macht.«

»Mal sehen. Hast du die Telefonnummern?«

Er hatte überraschend viele. Von Martin und Alf, den Brüdern meines Vaters, die mir am vertrautesten waren, von Isi und Hilde, seinen beiden ältesten Schwestern, aber auch von Kalle, Raffi und Gunter, die eher der verruchten Seite der Familie angehörten. Insgesamt war das, so schien mir, ein repräsentativer Querschnitt. Über diese Mischung ließ sich die Familie kennenlernen. Mittlerweile war ich der Meinung, das könnte für mich interessanter sein, als meine Sommerpause missmutig in Berlin zu vertrödeln.

Zuerst meldete ich mich bei Alf. Er erschien mir als der logische erste Schritt.

Alf war vergleichsweise sortiert, gutmütig und mochte mich. Er war mir von allen Geschwistern meines Vaters der nächste. Ich nahm an, er würde gerne von früher erzählen. Er neigte nicht oder nur kaum zum Lügen.

Obwohl ich Alf viele Jahre weder gesehen noch gesprochen hatte, lud er mich sogleich ein, ihn bei seinem Wohnwagen zu besuchen, der zu meiner Überraschung auf einem Platz für Dauercamper am Ternscher See, nur wenige hundert Meter außerhalb seiner Heimatstadt Selm stand, von der Beifang ein Ortsteil war. Da ließe sich über alles entspannt reden.

3.