Belgrave Square - Anne Perry - E-Book

Belgrave Square E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Seine Ermittlungen in einem grausamen Mordfall führen Inspektor Thomas Pitt in die höchsten Kreise der Londoner Gesellschaft. Bei seiner Suche nach dem Täter stößt er auf einen Geheimbund, dem viele ehrenwerte Herren angehören – und nicht wenige von ihnen hatten ein Motiv.

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Das Buch

Ein Geldverleiher und Wucherer übelster Sorte wird in einem Londoner Armenviertel bestialisch ermordet. Was als ein ganz gewöhnlicher Fall beginnt, entwickelt sich für Inspektor Thomas Pitt zu einer diplomatischen Herausforderung, denn ein angesehener Lord ist in die Angelegenheit verwickelt. Damit nicht genug, entdeckt er im Verlauf seiner Ermittlungen einen Geheimbund, dem einige ehrenwerte Mitglieder der Londoner Gesellschaft angehören – und viele von ihnen hatten ein Motiv für den grausamen Mord.

»Geben Sie ihr einen Mord und einen gesellschaftlichen Mißstand, und Anne Perry schreibt Ihnen einen viktorianischen Kriminalroman, daß Dickens staunen würde.« The New York Book Review

»Sie sind schon Kult, die Spürnasen Inspektor Pitt, seine vornehme Frau Charlotte und ihr cleveres Dienstmädchen Gracie.« Frau im Spiegel

Die Autorin

Anne Perry, 1938 in London geboren und in Neuseeland aufgewachsen, lebt und schreibt in Schottland. Sie hat sich vor allem durch ihre historischen Kriminalromane um Oberinspektor Pitt von Scottland Yard und seine Ehefrau Charlotte ein Millionenpublikum in aller Welt erobert.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinWidmung1. - Kapitel2. - Kapitel3. - Kapitel4. - Kapitel5. - Kapitel6. - Kapitel7. - Kapitel8. - Kapitel9. - Kapitel10. - Kapitel11. - KapitelCopyright

Für meine Freundin Cathy Ross

1.

Kapitel

Pitt stand auf den Stufen, die zum Fluß hinunterführten. Die Heckwellen der Kähne, die vom Pool of London den Fluß hinaufschipperten, schwappten an die Uferbefestigung. Es war Mittagszeit. In der einen Hand hielt Pitt einen kleinen Topf mit Aal in Aspik, den er an einem Stand unweit der Westminster Bridge gekauft hatte, in der anderen eine dicke Scheibe Brot. Die Sommersonne schien heiß und hell auf sein Gesicht, und die Luft roch herb und ein wenig scharf. Hinter und über sich auf der Uferstraße hörte er das Rattern der Karren und Kutschen, die Gentlemen in die City zu ihren Geschäften oder zur Entspannung in ihre Clubs beförderten und feine Damen zu ihren Nachmittagsbesuchen, wo sie Visitenkarten und Neuigkeiten austauschten und Verabredungen für die endlosen gesellschaftlichen Vergnügungen der Saison trafen.

Der durch die Whitechapel-Morde verursachte Schrekken und das Entsetzen hatten sich gelegt, obwohl man der Polizei immer noch das Versagen anlastete, den grausamsten Mörder in der Geschichte Londons, die Zeitungen hatten ihn »Jack the Ripper« getauft, nicht dingfest gemacht zu haben. Der Polizeichef hatte sogar seinen Rücktritt erklärt. Die Königin lebte in Schloß Windsor und trauerte, wie sie es die letzten achtundzwanzig Jahre getan hatte, obwohl einige sagten, sie schmolle, doch davon abgesehen waren die Aussichten gut und versprachen noch besser zu werden. Pitt selber war so glücklich wie nie zuvor. Er liebte seine Frau und lebte gerne mit ihr zusammen, er hatte zwei gesunde Kinder, und es erfüllte ihn mit großer Freude, sie aufwachsen zu sehen. Er leistete gute Arbeit in seinem Beruf und hatte genügend Geld zur Verfügung, um ein angenehmes Leben zu führen, zuzeiten sogar fast ein luxuriöses, wenn er dafür zwischendurch immer wieder sparsam war.

»Herr Inspektor!« Die Stimme klang atemlos und dringend, und Schritte polterten laut auf den Stufen. »Inspektor Pitt, Sir!« In seinen schweren Stiefeln stürmte der Wachtmeister mit lärmenden Schritten die Treppe hinunter. »Inspektor Pitt, ah!« Er blieb stehen und atmete befriedigt auf. »Mr. Drummond hat mich nach Ihnen geschickt. Er braucht Sie, is’ was Wichtiges. Se sollen kommen, so schnell Se können.«

Pitt drehte sich zögernd um und erblickte den schwitzenden jungen Mann, der mit rotem Gesicht in seiner Uniform dastand und so aussah, als befürchte er, seinen Auftrag vielleicht nicht schnell genug ausgeführt zu haben. Micah Drummond war der ranghöchste Beamte auf der Polizeiwache in Bow Street und zweifelsohne ein Gentleman, und Pitt war ein Inspektor, dessen Fähigkeiten langsam die verdiente Würdigung fanden.

Pitt vertilgte den Rest des Aals in Aspik, stopfte den Karton in seine Manteltasche und warf die Brotrinde für die Vögel ins Wasser. Im Nu stieß ein halbes Dutzend Möwen herab, ihre Flügel funkelten in der Sonne.

»Danke, Wachtmeister«, sagte Pitt. »Ist er im Büro?«

»Ja, Sir.« Er schien etwas hinzufügen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. »Ja, Sir«, wiederholte er und folgte Pitt zur Straße hinauf.

»Alles klar, Sie können wieder auf Streife gehen«, wies Pitt ihn an und machte sich mit ausholenden Schritten auf den Weg zur Bow Street. Die Polizeiwache lag in der Nähe, so daß es schneller war, zu Fuß zu gehen, als sich an diesem ungünstigen Ort eine freie Droschke zu suchen, wo doch bei dieser lauen Luft alle Welt zu ihrem Vergnügen unterwegs zu sein schien.

Er betrat die Wache – was den Polizisten am Dienstschalter sichtlich erleichterte –, ging auf Drummonds Büro zu und klopfte.

»Ja?« Drummonds Stimme war voll gespannter Erwartung.

Pitt trat ein und schloß die Tür hinter sich. Drummond stand am Fenster. Wie immer war er tadellos angezogen. Er besaß die mühelose Eleganz eines Mannes, für den guter Geschmack von Geburt an eine Selbstverständlichkeit ist, doch sein längliches, hageres Gesicht wirkte angespannt, und seine Haltung sowie seine verkrampften Schultern drückten Besorgnis aus.

»Ah, Pitt! Gut.« Er lächelte mit einem Anflug von Wärme, doch dann wurde sein Gesicht wieder von Sorge überschattet. »Ich habe Parfitt angewiesen, Ihren Fall zu übernehmen. Ich habe etwas viel Wichtigeres. Eine heikle Angelegenheit …« Er zögerte, schien etwas sagen zu wollen und sah dann davon ab, was nicht seine Art war. Pitt hatte ihn immer als einen Mann erlebt, der eine unumwundene Sprache liebte, ohne Schmeicheleien und Ausflüchte – ohne die Beeinflussungsversuche, derer sich so viele Männer geringeren Kalibers bedienten. Es zeugte von dem Druck, unter dem er jetzt stand, daß er die richtigen Worte nicht finden konnte.

Pitt wartete schweigend.

Drummond begann noch einmal. »Pitt, ich habe da einen Fall, den ich Ihnen übertragen möchte.« Ihre Zusammenarbeit war von gegenseitigem Respekt, ja sogar Freundschaft geprägt. Das bestimmte auch jetzt seine Worte. »Ein sehr einflußreicher Mann hat mich soeben angerufen, im Namen unserer – Freundschaft.« Bei dem Wort zögerte er nur einen kurzen Augenblick, doch Pitt bemerkte es überrascht und nahm den Hauch einer Färbung auf Drummonds Gesicht wahr.

Drummond wandte sich vom Fenster ab, das einen Blick auf die Straße gewährte, und stellte sich hinter den großen Schreibtisch mit der Lederauflage.

»Er hat mich gebeten, die örtliche Polizeiwache zu umgehen«, fuhr er fort, »und möglicherweise auch die Presse und den Fall zu übernehmen. Sie sind am besten befähigt, in einer Angelegenheit wie dieser zu ermitteln. Tatsächlich habe ich bereits mit dem Gedanken gespielt, Sie in Zukunft mit politischen Fällen zu betrauen – und solchen, die sich zu politischen Fällen auswachsen könnten. Ich weiß, daß Sie eine Beförderung ausgeschlagen haben, weil Sie nicht am Schreibtisch arbeiten wollten …« Er unterbrach sich und sah Pitt ins Gesicht.

Pitt hätte ihm geholfen, wenn er gewußt hätte wie, aber er hatte keine Ahnung, was die Situation erforderte oder wer betroffen war, noch verstand er, warum Drummond dermaßen aus der Fassung geraten war und sich augenscheinlich so unbehaglich fühlte.

»Ich erzähle Ihnen alles auf dem Weg.« Drummond zuckte die Schultern, ging durch den Raum, nahm seinen Hut vom Garderobenständer und öffnete die Tür. Pitt folgte ihm mit einem zustimmenden Kopfnicken.

Sie traten auf die Straße und fanden gleich eine leere Droschke. Sobald Drummond dem Fahrer die Richtung angegeben hatte und sie beide auf ihren Plätzen saßen, begann er mit seiner Erklärung. Er sah Pitt dabei nicht an, sondern starrte vor sich hin, den Hut auf den Knien.

»Heute erhielt ich einen Anruf von Lord Sholto Byam, der mir flüchtig bekannt ist. Wir haben gemeinsame Freunde.« Seine Stimme klang merkwürdig angespannt. »Er war recht bedrückt, da er soeben von dem Mord an einem ihm bekannten Mann gehört hatte, einem äußerst abstoßenden Mann.« Drummond atmete schwer, die Augen hatte er immer noch von Pitt abgewandt. »Und aus Gründen, die er uns darlegen wird, befürchtet er, daß er selbst des Verbrechens verdächtigt werden könnte.«

Verschiedene Fragen drängten sich Pitt auf. Wie hatte Lord Byam von dem Mord erfahren? Die Nachricht davon konnte noch nicht in der Zeitung gestanden haben. Wieso kannte er einen solchen Mann? Und warum sollte der Verdacht auf ihn fallen? Doch mehr noch als diese Fragen drängten sich ihm Drummonds Unbehagen, ja seine Verlegenheit auf. Die knappe Enthüllung ließ darauf schließen, daß die Schilderung von Drummond vorbereitet war. Er hatte sie abgeliefert, ohne abzuschweifen und ohne einen Blick auf Pitt zu werfen, um dessen Reaktion einzuschätzen.

»Wer ist das Opfer, Sir?« fragte Pitt laut.

»Ein Mann namens William Weems, ein kleiner Wucherer aus Clerkenwell«, erwiderte Drummond.

»Wo hat man ihn gefunden?«

»In seiner Wohnung, in der Cyrus Street, mit einem Kopfschuß.« Drummond schüttelte sich bei diesen Worten. Er verabscheute Feuerwaffen, wie Pitt wußte.

»Wir fahren in westliche Richtung«, bemerkte Pitt.

Clerkenwell lag im Osten der Stadt.

»Wir statten Lord Byam einen Besuch ab«, war Drummonds Antwort. »In Belgravia. Ich möchte, daß Sie soviel wie möglich wissen, bevor Sie nach Clerkenwell fahren. Es ist schon schwierig genug, die Ermittlungen von einem anderen Beamten zu übernehmen, da müssen Sie nicht auch noch in Unwissenheit darüber sein, womit Sie es zu tun haben oder warum Sie da sind.«

Pitt hatte einen ersten heftigen Zweifel. Seine Fragen ließen sich nicht länger aufschieben.

»Wer ist Lord Sholto Byam, Sir, abgesehen davon, daß er einer Ihrer Bekannten ist?«

Drummonds Unbehagen ließ etwas nach. Hier bewegte er sich auf dem Gebiet handfester Tatsachen.

»Die Byams sind eine sehr distinguierte Familie, seit Generationen bekleiden sie Posten im Handels- und im Außenministerium. Natürlich sind sie begütert. Der gegenwärtige Lord Byam ist im Finanzministerium beschäftigt, wo er besonders mit Auslandskrediten und Handelsbündnissen zu tun hat. Ein brillanter Kopf.«

»Wieso kennt er dann einen kleinen Wucherer in Clerkenwell?« fragte Pitt und legte soviel Takt in seine Stimme, wie er aufbringen konnte. Dennoch klang die Frage lächerlich.

Ein grimmiges Lächeln huschte über Drummonds Gesicht und verschwand.

»Ich weiß es nicht. Das wollen wir ja gerade in Belgravia herausfinden.«

Pitt schwieg ein paar Sekunden, in seinem Kopf schwirrten Fragen und Zweifel umher. Die Droschke kam in flottem Trab voran. Sie schlängelte sich durch den Verkehr auf der Eccleston Street, überquerte Eaton Square und bog dann in Belgrave Place ein. Zweispänner mit Familienwappen an den Türen blieben hinter ihnen zurück. Es war der Beginn der Hochsaison, und alles, was Rang und Namen hatte, war unterwegs.

»Stand es schon in der Zeitung?« fragte Pitt schließlich.

Drummond wußte, was Pitt mit seiner Frage andeuten wollte, und lächelte spöttisch.

»Ich bezweifle, daß es in die Zeitung kommt. Was ist schon ein Wucherer mehr oder weniger? Es handelt sich nicht um einen aufsehenerregenden Mord, sondern lediglich um eine Erschießung in einem schmuddeligen Büro in Clerkenwell durch einen oder mehrere unbekannte Täter.« Er rutschte ein wenig auf seinem Sitz hin und her. »Vermutlich ist die Verwendung einer Feuerwaffe ungewöhnlich. Nur wenige Menschen besitzen eine. Doch sonst ist nichts Auffälliges daran.«

»Wie hat dann Lord Byam so schnell davon erfahren?« Pitt mußte diese Frage stellen.

Wieder starrte Drummond vor sich hin.

»Er hat Freunde bei der Polizei …«

»In Belgravia kann ich mir das vorstellen.« Pitt konnte nicht einfach lockerlassen. »Aber in Clerkenwell?«

»Anscheinend.«

»Und warum hat man angenommen, daß ihn der Mord an einem Wucherer etwas angeht? Warum dieser Mann?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Drummond geknickt. »Ich kann mir nur vorstellen, daß jemand von Byams Verbindung mit dem Mann wußte und ihn warnen wollte.«

Pitt ließ es für den Moment dabei bewenden. Sie fuhren schweigend die letzten paar Meter, bis die Droschke am Belgrave Square anhielt und sie im Schatten der Bäume, in deren Laub die hellen Sonnenstrahlen spielten, ausstiegen. Die Häuser waren groß, aus hellem Stein gebaut und im klassischen georgianischen Stil gehalten. Die Türen wurden von je zwei dorischen Säulen flankiert, die Vorgärten waren mit schmiedeeisernen Zäunen umgeben, und auf den Balkonen prangten Blumenkästen mit ihrer blühenden Pracht.

Mit verkrampften Schultern, aber erhobenen Hauptes stieg Drummond langsam die Stufen zu Nummer 21 hoch. Pitt folgte in seinem schlaksigen Gang zwei Schritte hinter ihm. Seine Manteltaschen waren vollgestopft, die Krawatte saß zu locker, und der Hut war ein wenig verrutscht. Nur seine Stiefel, ein Geschenk seiner Schwägerin, waren blitzblank geputzt und sehr beeindruckend.

Die Tür wurde von einem hochnäsigen Diener, wie er für diese Gegend typisch war, geöffnet. Er warf einen Blick auf Drummond und taxierte ihn in wenigen Sekunden, was ja zu seinen Aufgaben gehörte. Dann sah er Pitt hinter ihm und änderte seine Einschätzung. Seine unterwürfige Haltung verschwand.

»Sie wünschen?« fragte er zweifelnd.

»Micah Drummond«, sagte Drummond würdevoll. »Lord Byam erwartet mich.«

»Und der andere – Herr?« Der Diener hob seine Augenbraue nur eine Idee, doch sein Gesichtsausdruck spiegelte eine köstliche Mischung aus angestrengter Höflichkeit und Unwillen wider.

»Sie haben es genau erfaßt«, sagte Drummond unterkühlt. »Dieser Herr ist in meiner Begleitung. Ich versichere Ihnen, das wird Lord Byam genügen. Bitte melden Sie uns.«

Der Diener war in seine Schranken gewiesen. »Ja, Sir.« Er gab den Weg frei, um weitere Verdrießlichkeiten zu vermeiden, und bat sie hinein. Die Ausstattung der großen Eingangshalle war erstaunlich altmodisch und erinnerte in ihrer Schlichtheit an die spätgeorgianische Epoche, womit sie in deutlichem Gegensatz zu dem überladenen und eher wuchtigen Stil der modernen Zeit stand. Die Wände waren dunkel, aber schlicht, und die Holzeinbauten weiß gestrichen. Der Mahagonitisch im Adamstil hatte schnörkellose Beine und war wunderbar poliert. In einer großen Vase leuchtete ein Strauß roter und gelber Rosen, deren kräftige Farben sich in dem glänzenden Holz spiegelten. Augenblicklich stieg Pitts Meinung von Lord Byam – oder von Lady Byam?

Sie wurden in das Empfangszimmer geführt und warteten dort, während der Diener seinen Herrn von ihrer Ankunft unterrichtete. Nach kurzer Zeit kam er zurück und führte sie in die Bibliothek, wo Lord und Lady Byam im hellen Sonnenlicht standen, das durch die Fenster flutete. Lord Byam befand sich in der Mitte des Zimmers. Er war schlank, von großem Wuchs, hatte dunkles Haar, das an den Schläfen bereits grau wurde, und ein sinnliches, fast träumerisches Gesicht, in dem seine dunklen Augen wunderbar leuchteten. Erst auf den zweiten Blick fielen die Entschlossenheit seiner Züge, sein kräftiger Kiefer und die Stämmigkeit seiner Figur auf. Ganz offensichtlich plagten ihn Sorgen, denn seine Hände bewegten sich nervös, und seine Haltung war angespannt.

Lady Byam, die zu seiner Rechten stand, war ebenfalls dunkelhaarig und kaum kleiner als er, doch ihr Gesichtsausdruck unterschied sich grundlegend von dem seinen. Sie wirkte weniger lebhaft, eher nachdenklich. Ihr Gesicht war nicht von Stärke und Leidenschaft gezeichnet, aber vielleicht waren diese nur unter der äußeren Beherrschung verborgen.

»Ah, Drummond!« Byams Züge entspannten sich, als ob allein der Anblick von Micah Drummond Erleichterung gebracht hätte. Seine Augen wanderten fragend zu Pitt.

»Guten Tag, Mylord, Lady Byam.« Drummond bestand auf dem üblichen Begrüßungszeremoniell. Wahrscheinlich war die Gewohnheit so tief verwurzelt, daß er über sein Verhalten gar nicht nachdachte. »Ich habe Inspektor Pitt mitgebracht, damit die Situation nicht zweimal erklärt werden muß. Sicher ist es besser, wenn er alles von Ihnen erfährt und seine Fragen stellen kann, statt sich die Einzelheiten später zusammenzureimen. Er ist der beste Mann für delikate Ermittlungen.«

Byam betrachtete Pitt mit einigem Zweifel. Pitt hingegen erwiderte seinen Blick mit Interesse. Vielleicht war er durch die Situation und Drummonds Nervosität voreingenommen gewesen, aber der Mann, den er vor sich sah, entsprach nicht seinen Erwartungen. Das Gesicht zeugte von einer wachen Intelligenz, von Fantasie und Scharfsinn und, so konnte er sich vorstellen, von einem ausgeprägten Sinn für Humor.

Ganz offensichtlich hatte Drummond nicht vor, Pitt näher vorzustellen oder ihn anzupreisen, als ob er eine Ware sei, die er an den Mann bringen wollte. Er hatte genug gesagt, und Byam konnte Pitt so nehmen, wie er war, oder sich anderswo nach Hilfe umsehen.

Byam akzeptierte das ohne weitere Worte. »Dann habe ich Ihnen für Ihr Kommen zu danken.« Er wandte sich Lady Byam zu. »Eleanor, meine Liebe, es gibt keinen Grund, warum du dich ein weiteres Mal quälen und dir die Geschichte anhören solltest. Ich bin dir aber sehr dankbar, daß du bis zu Drummonds Ankunft bei mir geblieben bist.«

Eleanor lächelte liebenswürdig und nahm es hin, daß sie weggeschickt wurde. Vielleicht hatte sie die Geschichte wirklich schon gehört und hätte es als quälend empfunden, sie erneut hören zu müssen.

Drummond deutete eine Verbeugung an, die sie mit einem Kopfnicken erwiderte, dann ging sie leichten Schrittes aus dem Raum und schloß die Tür hinter sich.

Byam forderte sie auf, Platz zu nehmen, was sie aus Höflichkeit beide taten, doch er selbst konnte sich anscheinend nicht entspannen. Langsam schritt er auf dem creme- und rosafarbenen chinesischen Teppich auf und ab und begann ohne weitere Aufforderung zu erklären, warum er sie zu sich gebeten hatte.

»Heute morgen habe ich von einem Freund in der Polizeiwache in Clerkenwell erfahren …« Sein Blick war auf den Boden gerichtet, so daß sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnten, und die Hände hielt er hinter dem Rücken verschlungen. »Es handelt sich um einen Mann, dem ich einen kleinen Dienst erwiesen habe …« Er kam auf sie zu, ohne sie jedoch anzusehen. »… daß die Leiche des William Weems in seinem Büro in der Cyrus Street gefunden wurde. Soweit ich weiß, wurde er erschossen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht bekannt, mit was für einer Waffe. Man weiß nur, daß der Schuß aus nächster Nähe abgefeuert wurde und es sich um ein großkalibriges Gewehr handeln muß.« Er atmete schwer. »Möglicherweise ein Sportgewehr.«

Drummond öffnete den Mund, vielleicht um zu fragen, warum irgend jemand vermuten sollte, daß Byam an dem Tod William Weems’ interessiert sei, oder um ihn darauf hinzuweisen, daß er sich nicht um die forensischen Einzelheiten zu kümmern brauchte, die besser von der Polizei in Clerkenwell erläutert werden konnten. Statt dessen solle er lieber mit seiner eigenen Geschichte fortfahren. Doch in dem Moment drehte ihnen Byam halb den Rücken zu und starrte auf die sonnenbeschienenen Buchrücken der ledergebundenen Bände mit Goldprägung im Bücherschrank, und Drummond sagte nichts.

»Normalerweise wäre das nur ein schmutziges Verbrechen, um das ich mich nicht weiter kümmern müßte, das ich lediglich bedauern würde«, fuhr Byam mit einiger Mühe fort, drehte sich wieder um und schritt auf den Tisch am anderen Ende des Raumes zu. »Aber in diesem Fall haben mich besonders unangenehme Umstände mit diesem Mann zusammengeführt. Durch ein Dienstmädchen, mit dem er in Verbindung stand …«, er blieb stehen und berührte einen Gegenstand, als wolle er ihn geraderücken, »…erfuhr er von einem tragischen Ereignis aus der Vergangenheit, bei dem ich eine bedauernswerte Rolle gespielt habe, und er hat mich damit erpreßt.« Byam stand stocksteif da und hatte Drummond und Pitt den Rücken zugekehrt. Sonnenlicht lag auf seinem Haar und brachte das Muster seines Jacketts besonders zur Geltung.

Drummond war offenbar völlig verblüfft. Er saß regungslos auf dem grünen Ledersofa, sein Gesicht starr vor Erstaunen. Pitt vermutete, Drummond hatte erwartet, von einem Streit oder schlimmstenfalls von einer Geldschuld zu hören, und war jetzt überrascht und peinlich berührt.

»Ging es um Geld?«

»Selbstredend«, erwiderte Byam, besann sich aber sofort.

»Entschuldigung. Ja, in der Tat, es ging um Geld. Zum Glück hat er keine anderen Gefälligkeiten von mir verlangt.« Er zögerte, und weder Pitt noch Drummond unterbrachen die knisternde Stille. Byam stand immer noch von ihnen abgewendet.

»Vermutlich werden Sie mich fragen, um welche Angelegenheit es sich handelte, wegen der ich bereit war, einem Mann wie Weems Geld für sein Schweigen zu zahlen. Sie haben ein Recht, es zu wissen, wenn Sie mir helfen wollen.« Er atmete tief durch, Pitt sah, wie sich seine schmalen Schultern hoben und senkten. »Vor zwanzig Jahren, vor meiner Ehe, verbrachte ich viel Zeit auf dem Landsitz von Lord Frederick Anstiss und seiner Frau Laura.« Seine angenehme, klangvolle Stimme war heiser. »Anstiss und ich waren gute Freunde, und ich darf sagen, wir sind es noch.« Er schluckte. »Doch damals standen wir uns fast so nahe wie Brüder. Wir teilten viele Interessen, sowohl intellektuelle Neigungen als auch sportliche Betätigungen wie Schießen, Treibjagd und Pferdezucht.«

Keiner rührte sich. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug die Viertelstunde und schreckte Pitt auf.

»Laura, Lady Anstiss, war die schönste Frau, die ich je gesehen habe«, nahm Byam den Faden wieder auf. »Ihre Haut war lilienbleich, ja, ein Künstler, der ihr Porträt gemalt hatte, nannte es Die Mondblume. Niemals habe ich eine Frau von ähnlicher Anmut gesehen.« Wieder zögerte er, offenbar fiel es ihm schwer, die Worte zu finden, mit denen er eine so alte und persönliche Wunde wieder aufreißen sollte. »Es war sehr dumm von mir. Anstiss war mein Freund, ich war sein Gast, und ich habe ihn hintergangen – nur in Worten, müssen Sie wissen, niemals in Taten!« Seine Stimme klang eindringlich, als sei es für ihn von äußerster Bedeutung, daß sie ihm glaubten, und trotz seiner Angespanntheit und Besorgnis war seine Aufrichtigkeit herauszuhören.

Drummond murmelte etwas Unverständliches.

»Wahrscheinlich habe ich ihr den Hof gemacht«, sagte Byam und ließ seinen Blick aus dem Fenster auf die Bäume und die Rhododendronbüsche auf dem Platz schweifen. »Ich kann mich kaum noch daran erinnern, aber ich muß mich häufiger in ihrer Nähe aufgehalten haben, als sich ziemte, und ganz sicherlich habe ich ihr gesagt, wie schön sie sei – das war sie auch, unglaublich schön.« Er zögerte. »Erst als es schon zu spät war, wurde mir bewußt, daß sie mir zugeneigt war, und zwar mit einer Leidenschaftlichkeit, die weit über das hinausging, was ich angeregt hatte.«

Er sprach jetzt hastiger, mit atemloser Stimme. »Es war so dumm, so überaus dumm von mir und schlimmer noch, ich hinterging meinen Freund und Gastgeber. Ich war über das, was ich so gedankenlos angerichtet hatte, entsetzt. Ich hatte mich geschmeichelt gefühlt, weil ich ihr gefiel. Welcher junge Mann wäre das nicht gewesen? Ich hatte ihr erlaubt zu denken, daß ich mit meiner Aufmerksamkeit weit mehr beabsichtigte als eine harmlose Liebelei, eine kindische Tändelei. Sie hatte sich verliebt und erwartete, daß etwas Dramatisches geschah.« Er stand wieder mit dem Rücken zu ihnen. »Ich sagte ihr, daß es nicht nur aussichtslos sei, sondern auch moralisch verwerflich. Ich nahm an, daß sie dies akzeptierte – wahrscheinlich, weil ich selbst so fest davon überzeugt war.« Er schwieg, selbst in seiner reglosen Haltung war seine Anspannung offensichtlich.

Pitt und Drummond blickten sich an, aber ihn zu unterbrechen schien sinnlos und aufdringlich. Mitleidsbezeugungen zu diesem Zeitpunkt hätten nur ihr Unverständnis bekundet.

»Das konnte sie aber nicht«, nahm Byam den Faden wieder auf, und seine Stimme sank zu einem Flüstern. »Nie zuvor war ihr etwas versagt worden. Jeder Mann, dem sie ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und viele andere auch, waren wie Wachs in ihren Händen. Sie empfand meine Haltung als brüske Zurückweisung. Wir können nur raten, was in ihr vorging, aber es scheint ihr Selbstbewußtsein völlig vernichtet zu haben.« Er zog die Schultern hoch, als wolle er sich an einen wärmeren und sicheren Ort zurückziehen. »Ich kann nicht glauben, daß sie mich so sehr geliebt hat. Ich hatte nichts getan, um diese Gefühle zu fördern. Es war eine Dummheit, ein Flirt, weiter nichts. Keine großartigen Liebeserklärungen, keine Versprechungen  – nur …«, er seufzte, »… nur ein Gefallen an ihrer Gesellschaft, ein Entzücken ob ihrer Schönheit – wie jeder Mann es empfunden hätte.«

Die darauffolgende Stille hielt so lange an, daß man Schritte in der Eingangshalle und fernes Stimmengemurmel, als der Diener mit einem der Dienstmädchen sprach, hören konnte. Drummond war es, der das Schweigen schließlich brach.

»Was ist geschehen?«

»Sie hat sich von der Brüstung des Balkons gestürzt«, erwiderte Byam, und seine Stimme war so leise, daß sie sich beide anstrengen mußten, ihn zu hören. »Sie war sofort tot.« Er stand steif und reglos da, neigte den Kopf und legte die Hände an die Wangen, so daß seine Züge nicht nur vor ihnen, sondern auch vor dem Licht verborgen waren.

»Das tut mir leid«, sagte Drummond mit heiserer Stimme. »Wirklich sehr leid.«

Langsam hob Byam den Kopf, wandte aber sein Gesicht wieder von ihnen ab.

»Danke.« Seine Stimme klang brüchig. »Es war entsetzlich. Ich hätte es nur zu gut verstanden, wenn Anstiss mich verstoßen und mir niemals verziehen hätte.« Er richtete sich auf und rang um Beherrschung. »Ich hatte ihn auf niederträchtigste Weise hintergangen«, fuhr er fort. »Auch wenn es Blindheit und Dummheit waren und keine Absicht, aber Laura war tot, und weder meine Unschuldsbeteuerungen noch mein Bedauern konnten das ändern.« Er holte tief Luft und stieß den Atem mit einem leisen Seufzer wieder aus. Als er weitersprach, klang seine Stimme weniger bewegt, fast so, als wären seine Emotionen erschöpft. »Doch er machte die größte Anstrengung, die einem Menschen möglich ist, und verzieh mir. Seine Trauer war rein und frei von Haß oder Zorn. Er rang sich dazu durch, ihren Tod als Unfall, als eine tragische Begebenheit zu sehen. Er stellte es so dar, daß sie nachts auf den Balkon getreten und in der Dunkelheit ausgerutscht und gestürzt sei. Keiner stellte das in Frage, selbst wenn er etwas anderes argwöhnte. Es hieß, daß Laura Anstiss durch ein Unglück ums Leben gekommen sei. Sie wurde in der Familiengruft beigesetzt.«

»Und William Weems?« fragte Drummond. Takt war hier der falsche Weg.

Byam drehte sich zu ihnen um, seine Augen waren ausdruckslos, und um seine Lippen spielte ein winziges Lächeln.

»Vor etwa zwei Jahren kam er zu mir und sagte, er sei mit einer Frau, die zu jener Zeit zu dem Hauspersonal auf dem Landsitz gehörte, verwandt und wüßte, daß Lady Anstiss und ich ein Liebespaar gewesen seien und sie sich umgebracht habe, als ich die Affäre beendete.« Byam kam zu dem Sofa, das Drummond und Pitt gegenüber stand. »Ich war völlig überrascht, daß jemand mehr davon wußte als das, was allgemein bekannt war«, er zuckte kaum merklich die Schultern, »daß sie auf tragische Weise umgekommen war. Wahrscheinlich stand mir die Schuld ins Gesicht geschrieben, und damit hat er mich gepackt.«

Endlich setzte er sich. »Natürlich habe ich geleugnet, daß ich ihr Geliebter war, und vielleicht hat er mir auch geglaubt, aber er hat es jedenfalls nicht gezeigt.« Sein Lächeln wurde breiter und bitterer. »Ohne Zweifel, um mir zu beweisen, daß auch die Gesellschaft mir keinen Glauben schenken würde. Man hätte allgemein angenommen, daß eine so wunderbare und charmante Frau wie Laura Anstiss sich niemals umgebracht hätte, nur weil ein harmloser Flirt zu Ende gegangen war.« Er schlug die Beine übereinander. »Nur eine heftige Leidenschaft hätte das bewirken können.« Sein Gesicht drückte düstere Selbstironie aus. »Das war es aber nicht, das versichere ich Ihnen. Es war weit davon entfernt, einfach lächerlich! Aber wer würde das jetzt glauben?« Er sah Drummond an. »Ich wäre ruiniert, und ich mag gar nicht daran denken, wie es meiner Frau ergehen würde. Die mitleidvollen Blicke, das Geflüster, der stille Spott und die Türen, die sich ihr, ach so diskret, verschließen würden. Und natürlich wäre meine Laufbahn beendet, man würde mich meines Postens entheben.« Er machte eine abfällige Bewegung mit der Hand. »Es würde keine Erklärung geben, man würde ein paar höfliche Worte murmeln und mein Verständnis voraussetzen, aber alles wäre so unerbittlich wie das Steigen der Flut und ebenso sinnlos, sich dagegen zu stemmen.«

»Aber es stünde Aussage gegen Aussage«, erklärte Drummond. »Und wer würde schon einem solchen Mann Gehör schenken?«

Byam war sehr blaß. »Er hatte einen Brief, oder Teil eines Briefes, um genau zu sein. Ich hatte ihn zuvor nicht gesehen. Er war von Laura an mich gerichtet und sehr – sehr deutlich.« Die Röte schoß ihm ins Gesicht, als er das sagte, und er wandte den Blick von Drummond ab.

»Also haben Sie ihm das Geld gezahlt.« Drummond formulierte das nicht als Frage, sondern als Feststellung, da die Antwort bereits bekannt war.

»Ja«, bestätigte Byam. »Es war keine große Summe, zwanzig Pfund im Monat.«

Pitt unterdrückte ein Lächeln. Zwanzig Pfund weniger im Monat würden ihn zu einem armen Mann machen, genau wie jeden anderen Polizisten, außer solchen wie Drummond, die über ein privates Vermögen verfügten. Er fragte sich, wie Drummond über die riesige Kluft zwischen Byams Welt und der der meisten Menschen dachte oder ob er sich ihrer überhaupt bewußt war.

»Und Sie glauben, daß Weems diesen Brief aufbewahrt und über Ihre Zahlungen Buch geführt hat, so daß man sie zurückverfolgen könnte?« fragte Drummond leicht überrascht.

Byam biß sich auf die Lippen. »Ich weiß, daß er es getan hat. Er hat es mir deutlich gesagt, um sich abzusichern. Er sagte, er habe Aufzeichnungen über jede Zahlung, die ich an ihn geleistet habe. Was auch immer ich sagen würde, mir würde doch niemand glauben, daß es die Zinsen für ein Darlehen wären. Ich bin nicht in einer Lage, in der ich Darlehen von einem Wucherer in Anspruch nehmen müßte. Wenn ich Bedarf an liquiden Mitteln hätte, würde ich zur Bank gehen wie jeder andere Mann meines Standes auch. Ich spiele nicht und habe mehr als genug, um meinen Lebensstil zu finanzieren. Nein …«, zum ersten Mal sah er Pitt an, »Weems machte es unmißverständlich klar, daß er ordentliche Eintragungen über die genauen Zahlungen meinerseits führte, zusammen mit allen Einzelheiten, die ihm über Laura Anstiss’ Tod und meine Beteiligung daran bekannt waren. Deswegen richtet sich mein Hilferuf an Sie.« Sein Blick war sehr direkt. »Ich habe Weems nicht umgebracht, noch habe ich ihn je bedroht. Doch es würde mich sehr wundern, wenn die Polizei nicht gegen mich ermitteln wollte, und ich habe keine Beweise für meinen Aufenthalt zur Tatzeit. Der exakte Zeitpunkt seines Todes ist mir nicht bekannt, aber gestern abend war ich für mindestens anderthalb Stunden allein hier in der Bibliothek. Keiner der Bediensteten ist in diesem Zeitraum hereingekommen.« Er warf einen kurzen Blick zum Fenster hinüber. »Und Sie werden sich selbst überzeugen können, daß es keinerlei Schwierigkeiten bereiten würde, aus diesem Erkerfenster in den Garten hinunterzugelangen, von dort zur Straße zu gehen und eine Droschke mit einem beliebigen Ziel zu nehmen.«

»Ich verstehe«, stimmte Drummond ihm zu, und in der Tat war es sehr augenfällig. Die Fenster waren hoch und breit und befanden sich kaum mehr als einen Meter über dem Boden. Jeder einigermaßen gelenkige Mann, oder auch eine Frau, hätte ohne Schwierigkeiten und ohne Aufsehen zu erregen, hinaus- und wieder hereinklettern können. Man müßte sich lediglich aus dem Fenster lehnen, um sicherzugehen, daß niemand auf dem Gehweg vorbeikam, und wäre in wenigen Sekunden aus dem Haus gewesen.

Byam beobachtete sie. »Sie verstehen, Drummond, ich bin in einer Notlage. Im Namen der Mitmenschlichkeit«, er betonte das Wort deutlich, »bitte ich Sie, mir in dieser Angelegenheit Beistand zu leisten und Ihre Verbindungen zu nutzen, um meine Interessen zu fördern.« Es war eine merkwürdige Ausdrucksweise, fast klang es, als würde er eine festgelegte Formel aufsagen.

»Ja«, sagte Drummond langsam. »Natürlich. Ich – ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Pitt wird die Ermittlungen von der Polizei in Clerkenwell übernehmen. Das läßt sich einrichten.«

Byam warf ihm einen kurzen Blick zu. »Wissen Sie von wem?«

»Selbstverständlich weiß ich das«, gab Drummond etwas scharf zurück, und für einen Moment hatte Pitt das Gefühl, daß er von der Verständigung zwischen den beiden ausgeschlossen war. Ihre Worte schienen eine tiefere Bedeutung zu haben.

Byams Anspannung ließ etwas nach. »Ich stehe in Ihrer Schuld.« Er blickte Pitt direkt an. »Wenn ich Ihnen mit weiteren Informationen dienen kann, Inspektor, dürfen Sie mich jederzeit aufsuchen. Sollten Sie in mein Büro im Finanzministerium kommen müssen, möchte ich Sie bitten, Diskretion zu wahren.«

»Selbstverständlich«, versicherte Pitt ihm. »Ich werde einfach meinen Namen hinterlassen. Vielleicht könnten Sie jetzt schon ein paar Fragen beantworten, Sir, dann erübrigt es sich möglicherweise, Sie zu einem späteren Zeitpunkt zu stören.«

Byam sah erstaunt aus, als habe ihn das plötzliche Ansinnen überrascht, aber er machte keine Einwände.

»Wenn Sie wünschen.«

Pitt rutschte auf seinem Sitz etwas nach vorn. »Haben Sie die Zahlungen an Weems auf Forderung oder in regelmäßigen, im voraus vereinbarten Abständen geleistet?«

»In regelmäßigen Abständen. Warum?«

Neben Pitt rührte sich Drummond und lehnte sich weiter zurück.

»Wenn Weems ein Erpresser war, waren Sie vielleicht nicht das einzige Opfer«, erläuterte Pitt höflich. »Möglicherweise hat er nach demselben Muster auch andere erpreßt.«

Byams Gesicht verriet seinen Unmut darüber, daß er auf diese Idee nicht selbst gekommen war.

»Ich verstehe. Ja, ich habe meine Zahlungen am Ersten des Monats in Goldmünzen gemacht.«

»Wie?«

»Wie?« wiederholte Byam mit gerunzelter Stirn. »Wie ich schon sagte, in Goldmünzen.«

»Persönlich oder durch einen Boten?« fragte Pitt.

»Persönlich natürlich. Es ist nicht meine Absicht, die Neugier meines Hauspersonals zu erregen, indem ich sie mit einem Sack voller Goldmünzen zu einem Wucherer schicke!«

»Nach Clerkenwell?«

»Ja.« Byams schöne Augen weiteten sich. »Zu seinem Haus in der Cyrus Street.«

»Interessant …«

»Wirklich? Ich verstehe nicht, warum.«

»Weems hatte keine Angst vor Ihnen, sonst hätte er es nicht zugelassen, daß Sie sowohl seinen Namen als auch seinen Wohnort erfuhren«, erläuterte Pitt. »Er hätte ebensogut durch einen Vermittler handeln können. Erpresser sind nicht so direkt.«

Die Verärgerung wich aus Byams Gesicht.

»Ja, wahrscheinlich ist das tatsächlich bemerkenswert«, gab er zu. »Daran hatte ich nicht gedacht. Es scheint wirklich etwas unvorsichtig. Vielleicht war ein anderes Opfer nicht so zurückhaltend wie ich?« Ein Fünkchen Hoffnung schwang in seiner Stimme, und er musterte Pitt beinahe beeindruckt.

»Waren Sie noch zu anderen Zeiten in der Cyrus Street, Sir?« beharrte Pitt.

Drummond holte Luft, sagte dann aber nichts.

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Byam spitz. »Ich hatte keinen Wunsch, den Mann zu sehen, wenn ich nicht mußte.«

»Haben Sie je eine Unterhaltung mit ihm geführt, an die Sie sich erinnern können?« hakte Pitt nach, ohne dem Ton von Byams Antwort Beachtung zu schenken. »Irgend etwas, woraus man entnehmen könnte, woher er Informationen über Sie oder andere bezog? Über Männer mit Rang und Namen, mit denen er zu tun hatte, sei es als Wucherer oder als Erpresser?«

Ein kleines Lächeln huschte über Byams Gesicht, aber ob es der Frage und der Sprache, derer Pitt sich bediente, galt, war nicht zu ersehen.

»Ich fürchte, nein. Ich gab ihm einfach das Geld und verließ sein Haus so schnell wie möglich. Der Mann war ein Blutegel, in jeder Hinsicht verabscheuenswürdig. Ich habe mich jedem Gespräch mit ihm entzogen.« Sein Gesicht war vor Verachtung verzerrt – nicht nur bei dem Gedanken an Weems, sondern, wie Pitt es vorkam, auch sich selbst gegenüber. »Jetzt wäre es wahrscheinlich von Vorteil, wenn ich mit ihm gesprochen hätte. Es tut mir leid, daß ich so wenig dienlich sein kann.«

Pitt erhob sich. »Es war ja nicht vorhersehbar«, sagte er mit ähnlich trockenem Humor. »Ich danke Ihnen, Mylord.«

»Was werden Sie jetzt tun?« fragte Byam, und sofort zeichnete sich Verärgerung in seinem Gesicht ab, doch die Frage ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Seine Schwäche war deutlich.

»Ich werde zur Polizeiwache in Clerkenwell gehen«, sagte Pitt, ohne Drummond anzusehen.

Auch Drummond erhob sich langsam. Er und Byam sahen sich einen Moment schweigend an, beide schienen etwas sagen zu wollen, taten es aber nicht. Vielleicht verständigten sie sich auch ohne Worte. Dann bedankte Byam sich und streckte seine Hand aus. Drummond ergriff sie, und nachdem Byam Pitt mit der nötigen Höflichkeit verabschiedet hatte, gingen die beiden. Sie wurden von demselben Diener, der sich ihnen gegenüber jetzt jedoch weitaus höflicher verhielt, zur Tür geleitet.

In einer anderen Droschke, in der sie die ruhigen Straßen von Belgravia verließen und in die überfüllten und lärmenden von Clerkenwell eintauchten, stellte Pitt nun unumwunden die Fragen, zu denen er die Antworten brauchte, wenn er überhaupt erfolgreich sein wollte.

»Welche Verbindungen haben Sie, Sir, daß man der Polizei in Clerkenwell einen Mordfall wegnehmen kann, ohne daß Fragen gestellt werden?«

Drummond wand sich voller Unbehagen.

»Es gibt Fragen, die kann ich nicht beantworten, Pitt.« Er wandte seinen Blick nicht von der Innenwand der Droschke ab. »Sie müssen es mir einfach abnehmen, daß es möglich ist.«

»Ist es dieselbe Person, die auch Lord Byam die Nachricht von Weems’ Tod überbracht hat?« fragte Pitt.

Drummond zögerte. »Nein, nicht dieselbe, aber jemand, der dieselben Interessen vertritt – die, das versichere ich Ihnen, wohltätiger Art sind.«

»Wem erstatte ich Bericht?«

»Mir – Sie erstatten mir Bericht.«

»Wenn dieser Wucherer Lord Byam erpreßt hat, vermute ich, daß es auch andere einflußreiche Männer gab, die er erpreßte.«

Drummond richtete sich auf. Offenbar war ihm dieser Gedanke noch nicht gekommen.

»Vermutlich«, sagte er schnell. »Um Himmels willen, Pitt, üben Sie Diskretion!«

Pitt lächelte spöttisch. »Das ist doch eine Aufgabe von höchster Diskretion – wenn man die Indiskretionen eines Adligen bereinigt, oder?«

»Das ist ungerecht, Pitt«, sagte Drummond ruhig. »Der Mann ist den Umständen zum Opfer gefallen. Er hat einer schönen Frau Komplimente gemacht, und sie hat sich in ihn verliebt. Sie kann nicht fest in sich geruht haben und muß zur Melancholie geneigt haben, die Arme, wenn sie eine Zurückweisung nicht ertragen konnte. Es ist verständlich, daß er die Sache nicht an die Öffentlichkeit tragen wollte, nicht nur seinetwegen, sondern auch wegen Lord Anstiss. Es kann keinem von Nutzen sein, wenn die Angelegenheit zwanzig Jahre später wieder hervorgezerrt wird.«

Pitt bestritt das nicht. Er empfand beträchtliches Mitleid für Byam, aber gleichzeitig störte es ihn, mit welcher Sicherheit Byam sich an Drummond gewandt und die Sache so gedeichselt hatte, daß ein Inspektor, der ihm wohlgesonnen war, den Fall übernahm. Erst vor wenigen Stunden war die Leiche gefunden worden, und Drummond hatte Pitt bereits von seinen gegenwärtigen Pflichten entbunden, mit ihm Byam in dessen Haus aufgesucht, und jetzt fuhren sie zur Polizeiwache in Clerkenwell, wo sie dem zuständigen Ermittlungsbeamten den Fall wegnehmen würden, um ihn selbst zu bearbeiten.

Sie legten den Rest des Weges schweigend zurück. Pitt fiel nichts Wesentliches zu dem Fall mehr ein. Ein Austausch höflicher Floskeln hätte dem Respekt widersprochen, den sie füreinander empfanden. Drummond hing offenbar seinen eigenen Gedanken nach, die, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, durchaus nicht angenehm waren.

In Clerkenwell stiegen sie aus. Drummond betrat die Wache als erster, stellte sich vor und verlangte, den Leiter der Dienststelle zu sprechen. Er wurde fast umgehend die Treppe hinaufgeführt, und Pitt blieb am Dienstschalter zurück. Zehn oder zwölf Minuten vergingen, bevor er wieder hinunterkam. Sein Gesichtsausdruck war grimmig, aber er wirkte weniger angespannt. Er blickte Pitt offen ins Gesicht.

»Es ist alles geregelt, Pitt. Sie übernehmen den Fall. Sergeant Innes wird Sie unterstützen; er wird Ihnen zeigen, was sie bisher gefunden haben, und die Ermittlungen vor Ort übernehmen. Erstatten Sie mir Bericht über Ihre Fortschritte.«

Pitt verstand ihn bestens. Außerdem kannte er ihn gut genug, um seine Integrität nicht in Zweifel zu ziehen. Sollte es sich erweisen, daß Byam seinen Erpresser umgebracht hatte, wäre Drummond zutiefst erschüttert und berührt, aber er würde ihn nicht verteidigen oder ihn decken.

»In Ordnung, Sir«, sagte Pitt mit einem Lächeln. »Weiß Sergeant Innes, daß ich auf dem Weg bin?«

»In fünf Minuten wird er Bescheid wissen«, antwortete Drummond mit einem humorvollen Leuchten in seinen Augen. »Wenn Sie warten, wird er Sie hier treffen. Zum Glück war er auf der Wache – aber vielleicht war es auch kein Glück …« Er beendete seinen Satz nicht. Die ganze Angelegenheit war durch die Erfindung des Telefons möglich geworden. Es war ein großartiges, aber manchmal unberechenbares Instrument und ermöglichte auf der Stelle die Kommunikation zwischen zwei Menschen, die ein solches Gerät besaßen, wie zum Beispiel Byam und vermutlich einem der Beamten in der Wache in Clerkenwell.

Drummond verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zurück zur Bow Street, während Pitt in dem schäbigen, heruntergekommenen Flur auf Sergeant Innes wartete, der dann auch, wie angekündigt, nach gut fünf Minuten erschien. Er war klein und drahtig, hatte eine große Nase und ein spontanes Lächeln, das seine schief stehenden, weißen Zähne entblößte. Pitt mochte ihn auf Anhieb und war sich dessen unwürdiger Position durchaus bewußt.

»Sergeant Innes.« Innes stellte sich etwas steif vor, schließlich wußte er noch nicht, was er von Pitt halten sollte, doch dessen Rang machte ihm klar, daß nicht Pitt die unerwartete Übernahme des Falls veranlaßt haben konnte.

»Pitt«, gab Pitt zurück und streckte seine Hand aus. »Ich entschuldige mich für diese Situation – von oben angeordnet …« Er sprach nicht weiter. Er fühlte sich nicht befugt, Innes Näheres zu erläutern. Wahrscheinlich war das ja der Grund, warum die zuständige Wache den Fall nicht selbst bearbeiten sollte.

»Verstehe«, sagte Innes kurz. »Is’ mir unklar, warum. Ganz gewöhnliche Sache, schmutzig – bisher. Elendiger Wucherer – in seinem eignen Büro erschossen.« Sein ausdrucksstarkes Gesicht spiegelte seinen Abscheu. »Wahrscheinlich ’n armer Wicht, den er ausgequetscht hat un’ der’s nich’ länger ausgehalten hat. Schrecklicher Broterwerb. Vampire!«

Pitt stimmte ihm aus vollem Herzen zu.

»Was haben Sie denn bisher?«

»Nich’ viel. Keine Zeugen, aber das wär’ ja sowieso unwahrscheinlich.« Innes zeigte sein nettes Lächeln. »Wucherei is’n Geschäft voller Heimlichtuerei. Wer will schon, daß die ganze Welt weiß, daß man von so ’nem Schwein Geld borgt? Man muß schon in ’ner verzweifelten Lage sein, wenn man zu so einem geht.« Er ging auf die Tür zu. »Am besten, wir gucken uns erst mal die Leiche an«, fuhr er fort. »Se liegt im Leichenschauhaus hier gleich um die Ecke. Danach könn’ wir ja in die Cyrus Street gehen, da hat er gelebt. Hatte noch gar nich’ die Zeit, mich da richtig umzugucken. Wollte gerade anfangen, als ’n Wachtmeister reingerannt kam und sagte, wir sollen alles stehen- un’ liegenlassen un’ wieder zur Wache kommen. Ham alles abgeschlossen un’n Wachtmeister vor die Tür gestellt, is’ ja klar.«

Pitt stieg die Stufen zur Straße hinab, wo das Leben toste. Es war immer noch warm und drückend, und in der Luft lag der scharfe Geruch von Pferdemist. Sie gingen nebeneinander, Pitt mit weit ausholenden und Innes mit kurzen, festen Schritten.

»Ham schon angefangen, die Leute in der Nachbarschaft zu befragen«, berichtete Innes. »’türlich weiß keiner was.«

»Natürlich nicht«, pflichtete Pitt ihm trocken bei. »Vermutlich ist niemand besonders traurig, daß er tot ist.«

Innes grinste und warf Pitt von der Seite einen amüsierten Blick zu. »Un’ keiner tut so als ob, bisher. ’ne Menge Schulden, die abgeschrieben sind.«

»Kein Erbe?« Pitt war überrascht.

»Bisher hat sich keiner gemeldet.« Innes’ Miene verfinsterte sich.

Seine eigenen Gefühle in dieser Angelegenheit waren eindeutig. Es würde Pitt nicht überraschen, wenn die Polizei die Unterlagen über die Schuldner zum Teil länger als nötig als wichtiges Beweismaterial zurückhielte. Sollten sie ganz und gar verschwinden, dann würde ihn das persönlich auch nicht übermäßig schmerzen. Die Gefühle von Hunger und Kälte und die nagende Angst vor der Armut waren ihm aus seiner Kindheit überaus lebhaft in Erinnerung, und er verstand, wie man an Geldschulden verzweifeln konnte, und wünschte das niemandem.

Auf ihrem Weg passierten sie Frauen mit Tuchballen, mit Körben voller Brot und Gemüse und anderen Waren, die sie zum Verkauf feilboten. Straßenhändler schoben ihre Karren am Bordstein entlang und priesen ihre Waren mit lauter Stimme, andere boten Streichhölzer, Schnürsenkel, aufziehbare Spielzeuge und ähnliche Kleinigkeiten in Bauchläden an. Ein Händler verkaufte kaltes Pfefferminzwasser und machte damit ein ausgezeichnetes Geschäft. Der eintönige Singsang eines Ausrufers verbreitete die neuesten Skandale in eingängigen Knittelversen.

Das Leichenschauhaus war düster, und ein penetranter Geruch von Karbol umfing sie, als sie durch die Tür traten. Der Wärter erkannte Innes sofort und musterte Pitt mit einigem Mißtrauen.

Innes stellte ihn vor und erklärte seine Anwesenheit.

»Se wollen wahrscheinlich Weems sehen?« sagte der Wärter und zog eine Grimasse. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf und strich sich eine einzelne Strähne hellen Haars aus der Stirn. »Unangenehm«, sagte er verbindlich. »Sehr unangenehm. Folgen Se mir, meine Herren.« Er führte sie zu einem Raum im hinteren Teil des Gebäudes. Der Boden war mit Steinfliesen ausgelegt, die Wände waren gekachelt, und an den Stirnseiten des Raumes stand je ein großes Becken. In der Mitte befand sich ein Steintisch mit Wasserrinnen, die in einen Abfluß führten. An den Wänden führten Gasrohre entlang, und von der Deckenmitte hing eine Lampe herab. Auf dem Tisch erkannte Pitt unter einem Tuch die Umrisse eines Körpers.

Innes zitterte, verzog aber keine Miene.

»Hier haben wir ihn«, sagte der Wärter frohgemut, »den verblichenen Mr. Weems. Von allen Bürgern in Clerkenwell wird man den am wenigsten vermissen.« Er zog die Nase hoch. »Tut mir leid, meine Herren, es steht mir nicht zu, so zu sprechen. Man sollte über die Toten nichts Schlechtes sagen – gehört sich nicht, stimmt’s?« Erneut zog er die Nase hoch.

Der Leichengeruch, die Mischung aus nassem Stein, Karbol und der süßliche Geruch von Blut brachten Pitts Magen in Aufruhr. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Er hob einen Zipfel des Lakens hoch und betrachtete die sterblichen Überreste des William Weems. Er war ein korpulenter Mann, der jetzt, da alle Spannung aus seinem Körper gewichen war und die Extremitäten schlaff auf der Seite lagen, schwammig wirkte, aber Pitt vermutete, daß er im Leben eine imposante Erscheinung gewesen war.

Die Todesart war auf entsetzliche Weise offenkundig. Die linke Gesichtshälfte war aus nächster Nähe weggeschossen worden, und zwar aus einem großkalibrigen Gewehr mit schrotähnlicher Ladung, möglicherweise sogar mit Metallstücken. Nichts war übriggeblieben, woran man seine Gesichtszüge hätte erkennen können, nicht das Ohr, nicht das Auge, nicht die Wange und nicht einmal der Haaransatz. Pitt hatte in seiner Laufbahn erlebt, daß mancher Wachtmeister sich bei einem weniger furchtbaren Anblick übergeben hatte oder gar ohnmächtig umgefallen war. Sein Magen krampfte sich zusammen, und er hörte die gepreßten Atemzüge von Innes neben sich, doch er zwang sich zu der Überlegung, daß der Tod auf der Stelle eingetreten sein mußte. Das, was er hier sah, waren lediglich die Reste eines Menschen, sonst nichts; es gab weder Schmerz noch Furcht für diesen Körper.

Er betrachtete die rechte Seite des Körpers. Hier waren die Züge unversehrt. Er konnte eine große, flache Nase erkennen, einen breiten Mund konnte er nur erahnen. Das grünbraune Auge mit dem schweren Lid stand offen, wirkte aber nicht mehr menschlich. Es schien kein besonders ansprechendes Gesicht zu sein, obwohl es nach Eintritt des Todes nicht möglich war, ein faires Urteil zu fällen, und schon gar nicht nach einem solchen Tod. Er schämte sich, weil er keine Trauer empfand.

»’ne Art von Schrotflinte«, sagte Innes düster. »Oder eins von diesen altmodischen Dingern, die von der Mündung her geladen werden, mit allem möglichen, Eisenstückchen un’ so. Sehr heimtückisch.«

Pitt wandte sich von der Leiche ab und sah Innes an.

»Ich nehme an, Sie haben das Gewehr noch nicht gefunden?«

»Nein, Sir. Zumindest glaub’ ich das nich’. An der Wand hängt ’ne altmodische Hakenbüchse. Möglich, daß er die benutzt hat und se dann wieder an die Wand gehängt hat.«

»Das würde bedeuten, er hat es nicht mitgebracht«, sagte Pitt zweifelnd. »Was sagt der Arzt?«

»Nich’ viel. Der Tod is’ gestern abend eingetreten, zwischen acht Uhr un’ Mitternacht, nimmt er an. Se sehn ja selbst, daß er gleich tot war. Mit so’m Loch lebt man nich’ lang. Wir wissen noch nich’, aus welcher Nähe die Schüsse abgefeuert wurden. Kann aber nich’ weit gewesen sein, das Zimmer ist nich’ besonders groß.«

»Vermutlich hat keiner was gehört?« fragte Pitt bedauernd.

»Keine Menschenseele.« Innes lächelte dünn. »Ich bezweifle mal sehr, daß wir von den Nachbarn viel erfahren werden. Er war nich’ sonderlich beliebt.«

»Ich wüßte nicht, daß Wucherer je beliebt sind.« Pitt warf einen letzten Blick auf das bleiche Gesicht, dann gab er dem Wärter einen Wink, die Leiche wieder abzudecken. »Es wird sicherlich eine Obduktion geben, oder?«

»Schon, obwohl ich nich’ weiß, wieso.« Innes verzog das Gesicht. »Is’ ja klar, woran er gestorben is’.«

»Wer hat ihn gefunden?« fragte Pitt.

»’n Bursche, der Botengänge für ihn gemacht hat und so Schreibarbeiten.« Der Geruch im Raum stieg Innes unangenehm in die Nase. »Wenn Se hier alles gesehen haben, können wir dann in die Cyrus Street gehen, Sir?«

»Aber sicher doch.« Mit einem Gefühl der Erleichterung ließ Pitt die nassen Steine, den Geruch von Karbol und Leichen hinter sich. Sie dankten dem Leichenschauhauswärter und traten hinaus in die Hitze, den Schmutz und den Lärm der übervollen Straßen mit ihren Rinnsteinen und ihrem Pferdedung. Pitt stellte die nächste Frage. »Hat er keine Haushälterin?«

»’ne Zugehfrau, die kocht und saubermacht.« Innes hielt mit ihm Schritt. »Se macht ihm morgens das Frühstück, un’ da se Licht in seinem Büro gesehen hat, nahm se an, daß er wach war, hat alles vorbereitet und es auf’n Tisch gestellt, ohne zu ihm reinzugehen. Se hat gerufen, als se gehen wollte; daß se keine Antwort bekam, hat se nich’ weiter gestört. Anscheinend war er kein besonders höflicher Mensch, so daß se keinen Verdacht geschöpft hat.« Er versenkte seine Hände in den Taschen und machte einen großen Schritt, um nicht in ein Häufchen Dreck zu treten. Es war ein herrlicher Tag und sehr heiß. Er blinzelte in die Sonne. »Natürlich is’ se fast hysterisch geworden, als wir ihr erzählt ham, daß se das Frühstück für’n Toten gemacht hat, nur wenige Meter von seiner Leiche entfernt. Wir mußten ihr ’nen doppelten Gin einflößen, um se wieder auf die Beine zu kriegen.«

Pitt lächelte. »Hat sie was Aufschlußreiches über ihn berichten können?«

»Se mochte ihn nich’ besonders. Allerdings gab es auch keine Streitigkeiten, soweit wir sehen konnten. Aber wahrscheinlich hätte se auch nichts darüber sagen wollen, wenn es welche gegeben hätte.«

»Irgendwelche interessanten Besucher?« Pitt ging einer dicken Frau mit zwei Kindern aus dem Weg.

»Wer weiß?« erwiderte Innes. »Die Leute hängen es ja nich’ an die große Glocke, wenn se zu ’nem Geldverleiher gehen. Man geht zur Hintertür rein und auf demselben Wege wieder raus. Seine Räume waren dafür eingerichtet. Gehört ja zum Beruf, sozusagen.«

Pitt runzelte die Stirn. »Das stimmt schon. Er würde eine Menge Kunden vergraulen, wenn sein Büro von allen Seiten einsehbar wäre. Aber gerade deshalb hätte ich erwartet, daß er sich irgendwie schützt.« Sie blieben am Straßenrand stehen, warteten auf eine Lücke im Verkehr und überquerten dann die Straße. »Schließlich muß er wohl eine Menge unglücklicher Kunden gehabt haben«, sagte er, als sie auf der anderen Seite angekommen waren. »Wahrscheinlich waren einige sogar verzweifelt. Wen hat er denn nachts allein zu sich gelassen?«

Innes gab die naheliegende Antwort. »Jemand, vor dem er keine Angst hatte. Fragt sich nur, warum nich’? Weil er sich beschützt glaubte?« Er zog die Nase hoch. »Oder hat er gedacht, der Mann is’ ungefährlich? Weil er jemand anders erwartet hat? Oder ist er von einem, den er kannte, reingelegt worden? Ganz schön spannend, wenn man drüber nachdenkt, finden Se nich’ auch?«

Pit hätte ihm gerne zugestimmt, aber vor seinem geistigen Auge sah er die schlanke Gestalt des charmanten Lord Byam. Hätte Weems damit gerechnet, daß der Herr aus dem Finanzministerium wegen einer Summe von zwanzig Pfund im Monat einen Mord begehen würde? Wohl kaum. Und wenn Byam es getan hätte, dann doch am Anfang und nicht jetzt, zwei Jahre später.

»Doch, ich finde auch«, sagte er laut. »Was haben Sie von seinem Schreiber und Laufburschen erfahren?«

»Nichts Besonderes.« Innes schüttelte den Kopf. »Einer von diesen farblosen, kleinen Männern, die in ganz Clerkenwell aus dunklen Gassen auftauchen, wieder verschwinden un’ immer am Bordstein ’langhasten. Man kann sich nie an ihr Gesicht erinnern, wenn man’s versucht. Man weiß nie, ob’s der is’, den man g’rade gesucht hat, oder ein andrer. Heißt Miller. Wird Windy genannt, keine Ahnung, warum. Vielleicht, weil er ’n Feigling is’.« Er verzog das Gesicht. »Aber ich glaub’, er war eher schlau; hat sich nich’ auf’n Kampf eingelassen, in dem er unterliegen würde.«

»Die Beschreibung paßt auf eine halbe Million farbloser Männer in London«, sagte Pitt lakonisch und passierte eine Gruppe von Frauen, die lautstark über einem Korb mit Fischen stritten. Ein Brauereiwagen polterte behäbig vorbei; das Fell der Pferde glänzte, das Zaumzeug war poliert, der Bierkutscher in makelloser Uniform saß stolz auf seinem Kutschbock. Ein fliegender Händler mit einer gestreiften Schürze und einer flachen, schwarzen Kappe rief ununterbrochen seine Waren aus, scheinbar ohne dabei Luft zu holen.

Von der Crompton Street bogen sie links in die Cyrus Street ein, und gleich darauf blieb Innes stehen und sprach mit einem Wachtmeister, der auf dem Bürgersteig Wache stand. Dieser straffte die Schultern und nahm Haltung an. Seine Uniform war tadellos gepflegt, die Knöpfe blinkten, und der Helm saß so gerade auf seinem Kopf, als sei er mit einem Senkblei ausgerichtet worden.

Pitt wurde vorgestellt.

»Ja, Sir!« sagte der Wachtmeister mit klarer Stimme. »Es is’ keiner dagewesen, seit ich hier steh’. Keiner hat nach Mr. Weems gefragt. Wahrscheinlich hat sich die Nachricht rumgesprochen, un’ keiner kommt mehr her. Alle tun so, als hätten se ihn nie gekannt.«

»Kein Wunder«, sagte Pitt trocken. »Ermordete Menschen sind häufig unbeliebt, außer bei denen, die einen schlechten Ruf lieben. Aber in dieser Gegend wollen die Leute sicher nicht diese Art von Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und schon gar nicht die, die ihn tatsächlich kannten. Seine Freunde werden sich nicht zu ihm bekennen wollen, und seine Feinde werden sich, so gut es geht, unsichtbar machen. Wie Sie schon sagen, die Nachricht wird sich verbreitet haben. Wir sollten jetzt ins Haus gehen und uns die Örtlichkeiten ansehen.«

»In Ordnung, Sir«, sagte Innes und ging voran. Im vorderen Teil des Hauses schien eine Apotheke untergebracht zu sein, doch hinter den Regalen mit verstaubten Gläsern und Flaschen war eine weitere Tür aus einem viel dickeren und stabileren Material, als man sie normalerweise an dieser Stelle erwartet hätte. Jetzt war sie unverschlossen und ließ sich geräuschlos öffnen, doch als sich Pitt in dem mit Teppich ausgelegten Flur umdrehte, fielen ihm die dicken Riegel auf. Hier hätte es mehrerer Männer mit einem Rammbock bedurft, um sich gewaltsam Einlaß zu verschaffen. William Weems war durchaus darauf eingestellt gewesen, sich zu verteidigen. Wer also hatte sich in sein Vertrauen eingeschlichen und wurde eingelassen, als Weems allein war?

Das Büro befand sich im oberen Stockwerk am Ende eines kurzen Flurs und maß ungefähr dreieinhalb mal vier Meter. Ein Fenster führte auf die Cyrus Street hinaus. Ein großer Eichenschreibtisch mit mehreren Schubladen stand im Raum und dahinter ein großer, bequemer Stuhl. Außerdem gab es drei Aktenschränke mit Schubladen und Fächern sowie einen Stuhl für Besucher. Die Tür am anderen Ende des Zimmers führte wahrscheinlich in die Küche und die Wohnräume.

Augenscheinlich hatte Weems am Schreibtisch gesessen, als er erschossen wurde. Eine Menge Blut war im Raum verspritzt, und die Hitze hatte schon etliche Fliegen angezogen.

An der Wand hingen drei Jagdszenen, deren Wert nicht erkennbar war, eine sehr hübsche Wärmepfanne aus blankpoliertem Kupfer und die Hakenbüchse, von der Innes im Leichenschauhaus gesprochen hatte. Sie war ein wunderschön gearbeitetes Stück mit Gravuren auf dem Metallkolben, und der Lauf war auf Hochglanz poliert. Pitt hob sie sehr sorgfältig von dem Haken an der Wand, wobei er sie mit seinem Taschentuch anfaßte, um etwaige Spuren wie Faserreste oder Blutspritzer nicht zu verwischen. Er betrachtete sie sehr genau und drehte sie mehrfach um. Sie lag gut in der Hand. Er blickte in den Lauf und schnüffelte daran. Der Geruch von Politur stieg ihm in die Nase. Schließlich legte er sie an, richtete den Lauf auf den Boden und zog den Abzug. Nichts geschah. Er zog erneut.

»Der Schlagbolzen ist abgefeilt worden«, sagte er schließlich. »Wußten Sie das?«

»Nein, Sir. Wir haben es nich’ angerührt.« Innes war überrascht. »Dann kann es ja nich’ das Gewehr gewesen sein, womit er getötet wurde!«

Pitt betrachtete das Gewehr noch einmal. Der Schlagbolzen glänzte nicht. Er war nicht erst kürzlich mit einer Feile bearbeitet worden. Der Bolzen hatte bereits Patina angesetzt.

»Unmöglich«, sagte er kopfschüttelnd. »Das Stück ist lediglich Dekoration.« Er hängte es wieder an den Haken zurück. Auf dem Bord darunter standen sechs kleine Dosen, drei aus Metall, eine aus Speckstein, eine aus Ebenholz und eine aus Blech. Er öffnete sie, eine nach der anderen. Drei waren leer, in einer lagen zwei Schrotkugeln, und in den anderen beiden befanden sich Reste von Schießpulver.

»Ich wüßte gern, wann die zuletzt gefüllt waren«, sagte er nachdenklich. »Allerdings würde es uns mit dem Gewehr nicht weiterbringen.« Er blickte auf den Boden und bemerkte erstaunt die ausgezeichnete Qualität des Teppichs. Er war weich und dick und in satten, gedämpften Farben gehalten. Pitt hockte sich hin, drehte eine Ecke herum und fand seine Erwartung bestätigt: Dutzende von winzigen, handgeknüpften Knoten auf jedem Quadratzentimeter.

»Was gefunden?« fragte Innes neugierig.

»Nur, daß er eine Menge Geld für diesen Teppich ausgegeben hat«, erwiderte Pitt und richtete sich auf. »Es sei denn, er hat ihn von einem Kunden in Zahlung genommen.«

Innes zog die Augenbrauen hoch. »In dieser Gegend? Keiner, der von Weems un’ Konsorten Geld leiht, hat überhaupt Teppiche, un’ schon gar keine, die man verkaufen könnte.«

»Stimmt«, gab Pitt zu. »Es sei denn, er hatte noch Kunden einer anderen Klasse. Ein Gentleman, dem die Spielschulden über den Kopf gewachsen sind, und Weems hat sich für den Teppich erwärmt.«

»Das würde bedeuten, Weems is’ zu ihm in sein Haus gegangen«, stellte Innes fest. »Un’ ich kann mir nich’ vorstellen, daß ein Gentleman Gefallen daran finden würde, Weems bei sich zu Haus zu empfangen, Sie etwa?«

Pitt grinste. »Nein. Sie sollten vielleicht wissen, daß der Grund dafür, daß die zuständigen Stellen an diesem Fall so interessiert sind, der ist, daß Mr. Weems nebenher auch als Erpresser tätig war. Er hatte wichtige Kontakte, durch einen Verwandten, der bei einem Gentleman in Diensten stand.«

»Sieh mal einer an.« Innes hörte interessiert zu. Sein waches Gesicht drückte Befriedigung aus. »Ich hab’ mich schon gewundert, hab’ aber gedacht, daß Se vielleicht nichts sagen dürfen. Normalerweise nimmt man uns ähnliche Fälle nich’ weg. Wem macht es schließlich was aus, ob es einen Wucherer mehr oder weniger gibt? Aber ein Erpresser, das is’ was andres. Se nehmen also an, es war jemand, den er in ’ner Zange hatte?«

»Hoffentlich nicht. Es wird eine sehr peinliche Sache sein, wenn es so ist«, sagte Pitt mit unerwarteter Heftigkeit. »Aber es ist durchaus möglich.«

»Un’ wahrscheinlich dürfen Se nich’ sagen, wer’s is’?«

»Es sei denn, es läßt sich nicht umgehen.«

»Dacht’ ich mir doch.« Innes fügte sich ohne Unmut in die Gegebenheiten. Ihm war klar, daß Pitt ihn im Rahmen seiner Befugnisse eingeweiht hatte, vielleicht war er sogar schon über den Rahmen hinausgegangen, und Innes wußte das zu schätzen. »Wie auch immer, es gibt verschiedne Möglichkeiten«, sagte er nachdenklich. »Es war jemand hier, vor dem er keine Angst hatte, un’ er hätte vor Angst gezittert, wenn’s ein großer Fisch gewesen wäre, von dem er Geld erpreßt hatte.«

Pitt grinste. »Wer es auch war, Weems hätte Todesangst vor ihm haben müssen!« sagte er trocken.

Innes sah ihn freimütig an. »Halb wünsch’ ich mir, daß wir den armen Teufel nich’ schnappen. Ich hass’ Erpresser noch mehr als Geldverleiher. Widerliche Natternbrut.«

Pitt stimmte ihm schweigend zu. »Wo war er zur Tatzeit?«

»Er saß auf seinem Stuhl hinterm Schreibtisch, so als hätt’ er mit jemandem geredet oder Geld entgegengenommen. Er hat nich’ damit gerechnet, das is’ schon mal sicher. Nichts war in Unordnung, der Stuhl nich’ umgestürzt …«

Pitt betrachtete den Raum und versuchte sich den beleibten, selbstzufriedenen Weems in seinem Sessel hinter dem Schreibtisch vorzustellen, den Blick auf jemanden gerichtet, der sich ungefähr da befand, wo er selbst jetzt stand. Es war fast sicher, daß die Person in der Absicht zu töten gekommen war. Kaum jemand besaß ein Gewehr, und mit Sicherheit trug niemand eines mit sich herum. Vielleicht war die Zusammenkunft zunächst ganz normal verlaufen, war dann plötzlich umgeschwungen, vielleicht war ein Streit ausgebrochen, oder der Besucher hatte einfach den Punkt erreicht, wo er sich nicht länger verstellen wollte, hatte das Gewehr herausgenommen und abgefeuert. Aber wie konnte man ein Gewehr verbergen, das groß genug war, um diese Wunde anzurichten?

Er sah sich um. Alle Schubladen waren geschlossen, nichts war zerwühlt, durcheinander oder zerbrochen.

Innes schüttelte den Kopf, als ob er seine Gedanken gelesen hätte.

»Wenn er was gesucht hat, dann hat er’s sehr vorsichtig getan«, bemerkte er.

»Haben Sie die Sachen durchsucht?« fragte Pitt.

»Noch nich’. Wir ham erst nach Zeugen gesucht, weil wir gehofft ham, jemand hätte vielleicht was gesehen. Aber wenn’s Zeugen gibt, dann sagen die jetzt nichts.«

»Was ist denn mit diesem Laufburschen – Miller?«

»Bisher nichts, aber ich nehm’ ihn mir noch mal vor.«

»Bleiben Sie dran, vielleicht taucht doch noch etwas auf. In der Zwischenzeit schauen wir uns mal um. Weems’ Papiere sind vielleicht ganz aufschlußreich, nicht nur in dem, was sie uns verraten, sondern auch in dem, was sie uns verschweigen.«

»Sie vermuten, daß der Mörder seine eignen Unterlagen mitgenommen hat?« fragte Innes hoffnungsvoll.

»Das ist ja wohl recht wahrscheinlich«, erwiderte Pitt und öffnete die erste Schublade des Schreibtisches.

Innes fing mit dem Aktenschrank neben ihm an, und die beiden arbeiteten eine Stunde lang mit voller Konzentration. Innes fand die allgemeinen Unterlagen mit den Namen und Adressen einer Reihe von Leuten aus dem Bezirk, dazu sorgfältige Eintragungen über die geliehenen Beträge und die eingegangenen Rückzahlungen mit zum Himmel schreienden Zinssätzen. Alles war bis zum letzten Penny notiert, genaue Daten, Restbeträge und das jeweilige Fälligkeitsdatum mit ständig steigenden Wucherzinsen.