Schatten über Bedford Square - Anne Perry - E-Book

Schatten über Bedford Square E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Was zunächst nach einem Mordfall aussieht, entwickelt sich zu einer Verschwörung gegen die respektabelsten Mitglieder der Londoner Gesellschaft. Wieder einmal ist Inspektor Pitts Spürsinn gefragt. Wie gut, dass ihm auch diesmal seine kluge Frau Charlotte zur Seite steht.

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Das Buch

Was zunächst nach einem Mordfall aussieht, entwickelt sich zu einer Verschwörung gegen die respektabelsten Mitglieder der Londoner Gesellschaft. Wieder einmal ist Inspektor Pitts Spürsinn gefragt. Wie gut, dass ihm auch diesmal seine kluge Frau Charlotte zur Seite steht.

Die Autorin

Anne Perry, 1938 in London geboren und in Neuseeland aufgewachsen, lebt und schreibt in Schottland. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen London. Weltweit haben sich die Bücher von Anne Perry bereits über zehn Millionen Mal verkauft.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinWidmungKAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFCopyright

Für meine Mutter

KAPITEL EINS

Pitt beugte sich im Nachthemd aus dem Schlafzimmerfenster und sah auf die Straße hinab. Der Streifenpolizist, der auf dem Gehweg stand, hob den Blick zu ihm. Die Anspannung und der Gram auf seinen im gelben Licht der Straßenlaternen erkennbaren Zügen waren keineswegs ausschließlich darauf zurückzuführen, dass er um vier Uhr morgens den Vorsteher der Revierwache in der Bow Street aus dem Schlaf gerissen hatte.

»Er is tot, Sir«, beantwortete er Pitts Frage. »So, wie der aussieht, kann ich mir nich’ vorstell’n, dass das ’n Unfall war. Ich muss gleich wieder dahin, wo ich ’n gefunden hab, Sir. Könnte ja einer Spuren verwischen, Sir.«

»Da haben Sie Recht«, pflichtete ihm Pitt bei. »Kehren Sie an den Fundort der Leiche zurück. Sie haben sich richtig verhalten. Ich ziehe mich an und komme schnellstens nach. Vermutlich hatten Sie noch keine Gelegenheit, den Polizeiarzt zu benachrichtigen oder für den Abtransport der Leiche zu sorgen?«

»Nein, Sir, ich bin auf dem kürzesten Weg hergekommen.«

»Ich erledige das. Gehen Sie zurück und halten Sie Wache.«

»Ja, Sir. Entschuldigung, Sir.«

»Dazu gibt es keinen Grund. Sie haben sich richtig verhalten«, wiederholte Pitt. Er fröstelte unwillkürlich, als er vom Fenster zurücktrat. Obwohl es Juni und damit zumindest dem Kalender nach Sommer war, hing ein leichter Dunst über London und die Nächte waren nach wie vor kühl.

»Was gibt’s?« Charlotte hatte sich im Bett aufgesetzt und tastete nach einem Streichholz. Er hörte, wie es angerissen wurde, und sah, wie die Flamme den Docht der Kerze entzündete. In ihrem Licht wurden Charlottes Züge und der dunkle, warme Farbton ihres sich auflösenden Zopfes sichtbar. Sie machte ein besorgtes Gesicht.

»Leichenfund am Bedford Square«, gab er zur Antwort. »Es sieht ganz nach Mord aus.«

»Musst du dich wirklich selber darum kümmern?«, fragte sie ärgerlich. »Ist das ein wichtiger Mensch?«

Seit seiner Beförderung wurde von Pitt erwartet, dass er sich auf politisch bedeutsame Fälle konzentrierte oder auf solche, die sich zu Skandalen auszuweiten drohten.

»Möglicherweise nicht«, gab er zur Antwort, schloss das Fenster und trat zu dem Stuhl, über dessen Lehne seine Kleidungsstücke hingen. Er zog das Nachthemd aus und begann sich anzukleiden, ohne aber Kragen oder Halstuch umzubinden. Er goss ein wenig Wasser aus der Kanne in die Schüssel auf dem Waschtisch. Es blieb nicht genug Zeit, den Küchenofen anzuheizen und Rasierwasser heiß zu machen. Unglücklicherweise blieb auch nicht genug Zeit für eine Tasse Tee, die ihm noch lieber gewesen wäre. Während er sich das Gesicht mit kaltem Wasser besprengte, spürte er, wie es ihm in die Haut biss. Mit geschlossenen Augen tastete er nach dem Handtuch.

Charlotte hielt es ihm hin und er nahm es ihr mit einem »Danke« aus der Hand. Er rieb sich kräftig das Gesicht mit dem groben Baumwolltuch und spürte, wie das den Blutkreislauf anregte. Allmählich wurde ihm warm. »Es sieht ganz so aus, als wäre die Tat unmittelbar vor einem der großen Häuser geschehen.«

»Ach so.« Sie begriff, was das bedeutete. Zur Zeit reagierte man in London besonders empfindlich auf Skandale. Dafür hatte ein Vorfall gesorgt, zu dem es im Vorjahr, 1890, auf dem Landsitz Tranby Croft gekommen war. Der Prozess in dieser bedauerlichen Angelegenheit erschütterte das ganze Land. Es hieß, ein gewisser Sir William Gordon-Cumming habe beim Baccarat, einem verbotenen Glücksspiel, betrogen. Selbstverständlich hatte dieser den Vorwurf hell empört zurückgewiesen. Allerdings ließ sich weder vertuschen noch entschuldigen, dass der Prinz von Wales, der Thronfolger also, mit in den Fall verwickelt war und daher als Zeuge vor Gericht aussagen musste. Halb London schlug morgens die Zeitungen mit angehaltenem Atem auf.

Pitt kleidete sich fertig an. Er umarmte Charlotte und spürte die Wärme ihrer Haut, als er sie küsste. Er schob ihren schweren Zopf mit den Fingern beiseite und genoss die Weichheit der Haare mit einem Wohlbehagen, das zu seinem Bedauern nur flüchtig war.

»Leg dich doch noch einmal schlafen«, sagte er zärtlich. »Ich komme zurück, sobald ich kann, glaube aber nicht, dass ich schon zum Frühstück wieder da bin.« Um die Kinder und das Dienstmädchen Gracie nicht zu wecken, die ein Stockwerk über ihnen schliefen, ging er auf Zehenspitzen zur Schlafzimmertür und öffnete sie leise. Im Schein der Gasbeleuchtung auf dem Treppenabsatz, die auf kleiner Flamme die ganze Nacht hindurch brannte, ging er nach unten. In der Diele trat er ans Telefon, das er seit kurzem im Hause hatte, und bat die Vermittlung, ihn mit der Revierwache in der Bow Street zu verbinden. Als sich der Dienst tuende Beamte meldete, wies Pitt ihn an, den Polizeiarzt und den Leichenwagen zum Bedford Square zu schicken. Dann hängte er den Hörer wieder auf, zog die Straßenschuhe an, nahm sein Jackett vom Haken neben der Haustür, schob den Sperrriegel zurück und trat hinaus.

Die Luft war feucht und kalt, aber bald würde es Tag werden. Rasch schritt er über den im frühen Morgendämmer schimmernden Gehweg auf die Ecke zur Gower Street zu, wo er sich nach links wandte. Da der Bedford Square nur wenige Schritte entfernt lag, sah er schon bald einen Polizeibeamten, der etwa auf halbem Wege bedrückt Wache hielt. Er schien unendlich erleichtert zu sein, als er Pitt aus dem Halbdämmer auf sich zukommen sah. Jedenfalls hellte sich seine Miene sichtlich auf, während er seine Handlaterne schwenkte.

»Hierher, Sir«, rief er.

Pitt sah in die Richtung, in die er wies. Dann erkannte er eine dunkle Gestalt auf den Eingangsstufen eines der großen Häuser gleich links von ihm. Es sah fast so aus, als hätte sie noch im Fallen die Hand nach der Türklingel ausgestreckt. Die Todesursache ließ sich auf den ersten Blick erkennen: eine klaffende, blutige Wunde seitlich am Kopf. Es war nicht so recht vorstellbar, wie sich der Mann die bei einem Unfall hätte zuziehen sollen. Kein Fahrzeug hätte ihn so weit von der Fahrbahn herüberschleudern können und eine weitere Verletzung wies er, soweit man sehen konnte, nicht auf.

»Halten Sie mir die Laterne«, forderte Pitt den Polizisten auf, kniete sich neben den Toten und sah ihn aufmerksam an. Dann legte er leicht die Fingerspitzen an dessen Kehle. Zwar spürte er keinen Puls, aber der Körper war noch nicht kalt. »Wann haben Sie ihn gefunden?«, fragte er.

»Um sechzehn Minuten vor vier, Sir.«

Pitt sah auf seine Taschenuhr. Es war dreizehn Minuten nach vier. »Und wann sind Sie davor zuletzt hier vorbeigekommen?«

»Gegen Viertel vor drei, Sir. Da war er noch nich hier.«

Pitt wandte sich um und hob den Blick zu den Straßenlaternen. Sie brannten nicht. »Schaffen Sie den Laternenanzünder herbei«, sagte er. »Er muss erst vor kurzem hier gewesen sein. In der Keppel Street brennen die Lampen noch, und es ist kaum hell genug, dass man etwas erkennen kann. Der gute Mann scheint es mir ein wenig eilig zu haben.«

»Ja, Sir«, stimmte ihm der Polizist diensteifrig zu.

»War sonst noch jemand hier?«, fragte Pitt, während jener ein wenig beiseite trat.

»Nein, Sir. Für die Lieferanten is es noch zu früh. Die komm’ nich vor fünf. Die Hausmädchen sind ja noch nich mal auf. Das dauert mindestens noch ’ne halbe Stunde. Für Nachtschwärmer is es schon zu spät. Von denen sind die meisten um drei zu Hause. Natürlich weiß man nie. Man könnte sich ja mal erkundigen …«

Pitt lächelte belustigt. Es war unüberhörbar, dass der Mann nicht im Entferntesten daran dachte, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Von ihm aus durfte Pitt sich gern die feinen Leute, die am Bedford Square wohnten, selbst vornehmen und fragen, ob sie zufällig eine Leiche vor ihrer Haustür gesehen hatten oder Zeugen einer Auseinandersetzung auf der Straße geworden waren, während sie von ihren nächtlichen Eskapaden heimkehrten.

»Wenn es unbedingt sein muss«, gab Pitt zurück. »Haben Sie in seinen Taschen nachgesehen?«

»Nein, Sir. Ich wollte Ihn’ nich vorgreifen.«

»Vermutlich wissen Sie nicht, um wen es sich bei dem Toten handelt? Könnte es ein Dienstbote aus einem der Häuser der näheren Umgebung oder ein Lieferant sein, der einem der Dienstmädchen nachsteigt?«

»Nein, Sir, den hab ich noch nie geseh’n. Ich glaub auch nich, dass der hierher gehört. Soll ich jetz den Laternenanzünder suchen, bevor er zu weit weg is?«

»Ja, und bringen Sie ihn her, sobald Sie ihn gefunden haben.«

»Ja, Sir.« Bevor Pitt weitere Fragen stellen konnte, hatte der Mann seine Handlaterne auf eine Treppenstufe gestellt, auf dem Absatz kehrt gemacht und war in der Morgendämmerung verschwunden.

Pitt nahm die Laterne und betrachtete den Toten genauer. Sein hageres Gesicht war wettergegerbt, wie bei jemandem, der sich viel im Freien aufhält. Bartstoppeln bedeckten seine Wangen. Das früher vermutlich einmal blonde Haar war von stumpfem Braun. Er hatte recht angenehme, wenn auch ein wenig verhärmte Gesichtszüge. Die Oberlippe war zu kurz und in einer seiner nicht besonders buschigen Augenbrauen klaffte eine deutliche Lücke, möglicherweise durch eine alte Narbe hervorgerufen. Ein Dutzendgesicht, das man leicht wieder vergessen konnte; es sah aus wie zahllose andere. Pitt schob den Stoff des kragenlosen Hemdes ein Stück beiseite. Die Haut darunter war hell, fast weiß.

Als Nächstes sah er sich die schmalen und kräftigen Hände des Mannes genauer an. Sie wiesen keinerlei Schwielen auf, waren also, auch wenn die nicht besonders sauberen Fingernägel eingerissen waren, nicht die Hände eines Menschen, der körperlich arbeitet. Die Haut über den Knöcheln war aufgeplatzt, so, als sei der Mann vor kurzem in eine körperliche Auseinandersetzung verwickelt gewesen, möglicherweise wenige Augenblicke vor seinem Tode. Blut allerdings sah man kaum und Blutergüsse hatten sich in der kurzen Zeit wohl nicht bilden können.

In der Jackentasche des Toten ertastete Pitt ein Metallkästchen. Er zog es heraus und betrachtete es im Schein der Laterne prüfend von allen Seiten. Verblüfft sah er, dass es sich um ein aufwendig gearbeitetes Kunstwerk handelte. Es sah aus wie ein winziges Reliquiar in einer Kirche, in dem man die Gebeine von Heiligen aufbewahrt. Ob es aus massivem Gold bestand oder nur Talmi war, hätte Pitt nicht sagen können. Den Deckel zierte eine winzige Gestalt in langen geistlichen Gewändern und mit der Mitra eines Bischofs auf dem Kopf. Es sah aus, als ruhe sie im Tode. Pitt öffnete das Kästchen und roch vorsichtig daran. Ganz wie er vermutet hatte: eine Schnupftabaksdose. Dem Mann, der da tot zu seinen Füßen lag, konnte sie kaum gehört haben. Selbst wenn sie nur vergoldet sein sollte, wäre sie wegen der aufwändigen Arbeit mehr wert, als jener in einem ganzen Monat oder auch in einem Jahr verdient haben mochte.

Sogleich gingen Pitt zwei Fragen durch den Kopf: Warum hatte man den Mann, sofern er beim Diebstahl der Dose ertappt worden war, hier auf den Stufen liegen lassen? Und vor allem: Warum hatte der Täter die Dose nicht wieder an sich genommen?

Pitt versuchte festzustellen, ob die Taschen des Mannes noch mehr enthielten, fand aber außer einem kurzen Stück Bindfaden und einem Paar offenkundig unbenutzter Schnürsenkel lediglich einen Schlüssel, einen Stofffetzen, der dem Mann als Taschentuch gedient haben mochte, drei Shilling und vier Pence in kleinen Münzen sowie mehrere Stücke Papier. Eins davon erwies sich als zwei Tage zuvor in einem Laden am Red Lion Square ausgestellte Quittung über den Kauf von drei Paar Socken. Er fand weder einen Hinweis auf den Namen noch auf die Wohnung des Toten, doch ließe sich anhand der Quittung unter Umständen ermitteln, wer er war.

Allerdings gab es Tausende von Obdachlosen, die ihre Nächte in Hauseingängen, unter Brücken und Eisenbahnunterführungen oder, zu dieser Jahreszeit, im Freien zubrachten, sofern die Streifenpolizisten ein Auge zudrückten und sie nicht verjagten. Sofern dieser Mann hier einer jener Elenden war, konnte er erst kürzlich ins Unglück geraten sein. Zwar waren seine Socken voller Löcher – es waren, wie Pitt auf den ersten Blick sah, nicht die neu gekauften –, die Schuhsohlen an mehreren Stellen dünn wie Papier und seine Kleidung fadenscheinig, doch wies nichts darauf hin, dass er obdachlos gewesen wäre. Weder war ihm Nachtfeuchte anzumerken noch der geradezu eingewachsene Schmutz und der dumpfe Modergeruch, der solche Menschen auf Schritt und Tritt begleitet.

Pitt richtete sich auf, als er hörte, dass sich jemand näherte. Ein Blick in Richtung Charlotte Street zeigte ihm die wohlvertraute eckige Gestalt Wachtmeister Tellmans. Sogar im düsteren Schein der Handlaterne wäre er unverwechselbar gewesen, doch mittlerweile war es am östlichen Himmel so hell, dass sie nur noch nötig war, um in dunkle Winkel zu leuchten.

Tellman blieb neben Pitt stehen. Dass er sich in größter Eile angekleidet hatte, war lediglich daran zu erkennen, dass er beim Schließen seines Uniformrocks einen Knopf übersprungen hatte. Der Kragen lag glatt und gerade wie immer, das Halstuch saß vorschriftsmäßig und die Haare hatte er angefeuchtet und straff nach hinten gekämmt. Sein hohlwangiges Gesicht sah so mürrisch aus wie eh und je.

»Ein feiner Herr, der so betrunken war, dass er einer Droschke nicht mehr ausweichen konnte?«, fragte er.

Pitt wusste, was Tellman von solchen Menschen hielt. »Falls er den besseren Kreisen angehörte, dürfte es ihm schon eine ganze Weile ziemlich übel gegangen sein«, gab er mit einem Blick auf den Leichnam zur Antwort, »und er ist auf keinen Fall von einem Fahrzeug angefahren worden. Seine Kleidung ist nur an den Stellen beschmutzt, an denen er beim Sturz den Boden berührt hat. Wohl aber sind seine Fingerknöchel abgeschürft, als hätte er sich geprügelt. Sehen Sie selbst.«

Nach einem misstrauischen Blick zu Pitt hinüber beugte sich Tellman über den Toten und untersuchte ihn gründlich. Als er sich wieder aufrichtete, hielt ihm Pitt die Schnupftabaksdose entgegen.

Tellmans Brauen hoben sich erstaunt. »Hatte er die bei sich?«

»Ja.«

»Dann war er ein Dieb.«

»Damit erhebt sich die Frage, wer ihn getötet hat, und warum hier vor der Haustür? Er hat das Haus weder betreten noch verlassen.«

»Wahrscheinlich hat man ihn nicht hier umgebracht«, sagte Tellman mit einer Spur Befriedigung in der Stimme. »Die Wunde muss ziemlich stark geblutet haben – das tun Kopfwunden immer. Das weiß jeder, der sich da mal schneidet. Auf der Treppenstufe aber ist kaum Blut zu sehen. Ich denke, dass man ihn woanders umgebracht und hier hingelegt hat.«

»Weil er gestohlen hat?«

»Scheint mir ein guter Grund.«

»Aber warum hat man ihm dann die Dose gelassen? Einmal ganz von ihrem möglichen Wert abgesehen, lässt sich unschwer ermitteln, aus welchem Haus sie stammt. Viele von der Art kann es nicht geben.«

»Das weiß ich nicht«, räumte Tellman ein und biss sich auf die Lippe. »Es ergibt keinen rechten Sinn. Wahrscheinlich werden wir in allen Häusern rund um den Platz hier nachfragen müssen.« Seinem Gesicht war deutlich anzusehen, mit welchem Widerwillen er an diese Notwendigkeit dachte.

Sie hörten Hufgeklapper. Einer Droschke, die sich von der Ecke Caroline Street her näherte, folgte der Leichenwagen. Während Letzterer ein Dutzend Schritte entfernt am Bordstein stehen blieb, hielt die Droschke unmittelbar neben ihnen an. Mit wehenden Rockschößen sprang der Polizeiarzt heraus, strich sich den Kragen glatt, trat zu ihnen und nickte grüßend. Er zog seine Hosenbeine ein wenig hoch, um den Stoff nicht zu dehnen, und ging mit einem schicksalsergebenen Blick neben dem Toten in die Hocke, um ihn zu begutachten.

Dann hörte man Schritte. Pitt wandte den Kopf und sah den Streifenpolizisten mitsamt dem Laternenanzünder, der äußerst nervös zu sein schien. Im Dämmerlicht, das durch die Baumwipfel fiel, sah der schmächtige, blondhaarige Mann mit seiner langen Stange, neben der er winzig klein wirkte, wie ein sonderbarer Ritter mit einer Turnierlanze aus, die zu schwer war, als dass er sie hätte einlegen können.

»Ich hab nix geseh’n«, sagte er, bevor Pitt ihn fragen konnte.

»Sind Sie hier vorübergekommen?«, vergewisserte sich Pitt. »Ist das Ihr Bezirk?«

Das konnte der Mann nicht gut bestreiten. »Ja.«

»Wann?«

»Heute Morgen«, gab er zur Antwort, als wäre das klar. »Wie immer, wenn’s hell wird.«

»Wissen Sie, um wie viel Uhr das war?«, fragte Pitt geduldig.

»Hab ich doch schon gesagt – wie’s hell geworden is!« Der Mann warf einen unruhigen Seitenblick auf den Leichnam, den der darüber gebeugte Arzt halb verdeckte. »Da war er noch nich da. Ich hab ihn nich geseh’n.«

»Haben Sie eine Uhr?«, beharrte Pitt, hatte aber wenig Hoffnung.

»Wozu? Wird doch jeden Tag zu ’ner andern Zeit hell«, sagte der Laternenanzünder, womit er zweifellos recht hatte.

Es war Pitt klar, dass er Genaueres von ihm nicht erfahren würde. Vom Standpunkt des Laternenanzünders aus war seine Antwort ausreichend.

»Haben Sie sonst jemanden hier um den Platz herum gesehen?«, fuhr Pitt fort.

»Nich auf dieser Seite«, sagte der Mann kopfschüttelnd. »Gegenüber hat ’ne Droschke ’nen feinen Pinkel nach Haus gebracht. Er konnte nich mehr grade sitzen, is aber nich rausgefallen. Hier war er aber nich.«

»Und sonst haben Sie niemanden gesehen?«

»Nee.«

Während der vorigen Runde des Streifenpolizisten war es noch dunkel gewesen und während dieser kaum Tag, als er die Leiche gefunden hatte. Der Laternenanzünder musste kurz zuvor vorübergekommen sein. Mithin musste jemand die Leiche in einem Zeitraum von etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten zwischen den Runden der beiden dort hingeschafft haben, wo man sie gefunden hatte. Es war also denkbar, dass jemand in einem der Häuser auf dieser Seite des Platzes Schritte, Rufe oder gar einen Schrei gehört hatte.

»Danke«, entließ Pitt den Mann. Der Himmel hinter den dicht belaubten Bäumen in der Mitte des Platzes war jetzt hell. Das Licht fiel auf die fernen Dächer und spiegelte sich in den Fenstern der obersten Stockwerke. Er wandte sich dem Arzt zu, der mit seiner vorläufigen Untersuchung fertig zu sein schien.

»Ein Streit, der vermutlich nicht lange gedauert hat«, sagte er. »Ich werde mehr wissen, wenn ich ihn unbekleidet untersucht habe. Es ist gut möglich, dass er noch weitere Abschürfungen aufweist, andererseits sieht man an seinem Mantel weder Risse noch Flecke. Dort, wohin er gestoßen wurde oder gefallen ist, muss der Boden trocken gewesen sein. Also war das auf keinen Fall die Fahrbahn der Straße. Ich kann weder Schlammspuren noch Straßenkot entdecken, obwohl es in der Gosse ziemlich nass ist.«

Er sah sich um. »Gestern Abend hat es geregnet.«

»Ich weiß«, gab Pitt mit einem Blick auf die feucht glänzenden Pflastersteine zurück.

»Natürlich«, sagte der Arzt mit einem Nicken. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen etwas sagen kann, was Sie nicht bereits wissen. Aber ich muss es versuchen, werde schließlich dafür bezahlt. Ein wuchtiger Schlag seitlich am Kopf hat den Tod herbeigeführt. Die Tatwaffe dürfte ein Stück Bleirohr, ein Schürhaken oder ein Kerzenleuchter gewesen sein – etwas in der Art. Der Wunde nach zu urteilen war es wohl eher Metall als Holz, ziemlich schwer.«

»Darf man annehmen, dass auch am Täter Spuren der Tat zu finden sind?«, fragte Pitt.

Nachdenklich verzog der Arzt den Mund. »Vielleicht ein paar Abschürfungen dort, wo ihn die Faust des Toten getroffen hat. Nach den Rissen um die Knöchel herum zu urteilen, kommt dafür wohl am ehesten ein Kiefer oder ein anderer Schädelknochen infrage. Kleidungsstücke und Fleisch sind zu weich, die würden keine solchen Spuren an der Hand hinterlassen. Der andere war vermutlich bewaffnet, der hier aber nicht, sonst hätte er sich nicht mit den Fäusten wehren müssen. Üble Sache.«

»Wird wohl so sein«, sagte Pitt trocken. Die Morgenkälte ließ ihn frösteln. »Können Sie etwas über den Zeitpunkt des Todes sagen?«

»Nichts, worauf Sie nicht von selbst kommen würden«, gab der Arzt zur Antwort. »Sollte ich mehr über den armen Kerl hier herausbekommen«, fügte er hinzu, »mache ich Ihnen Mitteilung. Kann ich die Nachricht in die Bow Street schicken?«

»Natürlich. Vielen Dank.«

Mit leichtem Achselzucken neigte der Arzt den Kopf und ging zum Leichenwagen, um seinen Untergebenen Anweisungen für den Abtransport zu geben.

Pitt sah erneut auf seine Taschenuhr. Es war Viertel nach fünf.

»Wir sollten allmählich die Leute wecken«, sagte er zu Tellman. »Kommen Sie!«

Dieser seufzte tief auf, musste sich aber wohl oder übel fügen. Gemeinsam stiegen sie die Stufen zu dem Haus empor, vor dem man die Leiche gefunden hatte, und Pitt zog am Messinggriff der Glocke. Zwar war es Tellman recht, dass Pitt nicht den Dienstboteneingang benutzte, wie sich das eigentlich für einen Polizeibeamten gehörte, doch so sehr er es im Grundsatz billigte, so unangenehm war es ihm, dass Pitt es in seiner Anwesenheit tat. Mochte sich Pitt so verhalten, wenn er allein war.

Es dauerte mehrere unbehagliche Minuten, bis jemand die Riegel zurückschob und den Schlüssel im Schloss drehte. Die Tür öffnete sich und ein Lakai sah sie schlaftrunken an. Er trug keine Livree, sondern war offenbar in aller Eile in eine Hose gefahren und hatte sich eine Jacke übergeworfen.

»Ja, Sir?«, sagte er beunruhigt. Ihm ging ersichtlich die Hochnäsigkeit ab, die den wahren Diener eines vornehmen Haushalts kennzeichnete.

»Guten Morgen«, sagte Pitt. »Ich bedaure, Sie zu so früher Stunde stören zu müssen, doch leider hat es einen Vorfall gegeben, der es erforderlich macht, dass ich das Personal und die Herrschaften befrage.« Er hielt dem Mann seine Karte hin. »Oberinspektor Pitt von der Revierwache Bow Street. Würden Sie bitte Ihrem Herrn meine Karte überreichen und ihn fragen, ob er einige Minuten für mich erübrigen kann? Da es um ein schweres Verbrechen geht, kann ich keine günstigere Uhrzeit abwarten, so Leid es mir tut.«

»Ein Verbrechen?« Der Lakai sah verblüfft drein. »Sie müssen sich irren, Sir. Hier gibt es kein Verbrechen. Bei uns hat niemand eingebrochen.« Er wollte die Tür schon wieder schließen, erleichtert, die drohende Unannehmlichkeit aussperren zu können. Offensichtlich ging es um die Schwierigkeiten anderer Leute.

Tellman trat vor, als wolle er einen Fuß in die Tür setzen, überlegte es sich dann aber anders. Ein solches Verhalten war würdelos. Die ganze Sache gefiel ihm nicht. Am liebsten hatte er es mit einfachen Menschen aus dem Volk zu tun. Die bloße Vorstellung, dass jemand einem anderen diente, war ihm zuwider. Seiner Ansicht nach war es mit der Menschenwürde unvereinbar, sich seinen Lebensunterhalt auf diese erniedrigende Weise verdienen zu müssen.

»Der Einbruch, sofern es einen gegeben hat, ist nebensächlich«, sagte Pitt mit Nachdruck. »Hier geht es um einen Mord.«

Bei diesen Worten erstarrte der Lakai. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht. »Um einen … einen was?«

»Einen Mord«, wiederholte Pitt gelassen. »Wir haben auf der Vortreppe dieses Hauses eine männliche Leiche gefunden. Würden Sie jetzt bitte Ihren Herrn wecken und ihm mitteilen, dass ich mit allen im Hause sprechen muss und dazu gern seine Erlaubnis hätte.«

Der Lakai schluckte, so dass man seinen Adamsapfel zucken sah. »Gewiss… Sir. Wenn Sie… ich meine …«, sagte er unsicher. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wohin man Polizeibeamte um fünf Uhr morgens bitten konnte, damit sie auf das Eintreffen des Hausherrn warteten. Normalerweise würde man sie gar nicht einlassen. Höchstens bat man an einem kalten Tag den zuständigen Streifenbeamten zu einer Tasse Tee in die Küche, denn dorthin gehörten solche Menschen.

»Ich warte im Empfangszimmer«, half ihm Pitt aus der Verlegenheit. Er dachte nicht daran, in der Kälte vor der Haustür stehen zu bleiben.

»Ja, Sir. Ich sage dem General Bescheid.« Der Lakai trat beiseite und machte Pitt und Tellman Platz.

»Dem General?«, fragte Pitt.

»Ja, Sir, Sie befinden sich im Hause des Generals Brandon Balantyne.«

Pitt kannte den Namen. Es dauerte eine Weile, bis er wusste, woher. Das konnte nur der General Balantyne sein, der vor nahezu zehn Jahren am Callander Square gewohnt hatte, als Pitt den Tod der kleinen Kinder untersuchte, und der fünf oder sechs Jahre später in die Tragödie von Devil’s Acre verwickelt gewesen war.

»Das war mir nicht bekannt.« Kaum hatte Pitt dies gesagt, als ihm aufging, wie töricht es war. Er sah, dass sich Tellman überrascht zu ihm umwandte. Es wäre ihm am liebsten gewesen, wenn er nicht über die Ereignisse der Vergangenheit mit ihm reden musste, und sofern es nicht unerlässlich war, würde er es auch nicht tun. Mit raschem Schritt folgte er, von Tellman begleitet, dem Lakaien durch das Vestibül ins Empfangszimmer.

Der Raum entsprach genau Pitts Vorstellung und einen Augenblick lang kam er sich vor wie in der fernen Vergangenheit. Das Bücherregal, die vom häufigen Gebrauch abgewetzte grün-braune Ledergarnitur  – alles war wie im vorigen Haus. Im Licht der Gaslampen, die der Lakai angezündet hatte, schimmerte auf dem glatten Holz eines Tischchens die Messing-Nachbildung eines der in der Schlacht von Waterloo eingesetzten englischen Geschütze. Ein Bild über dem Kaminsims, an das sich Pitt noch erinnern konnte, zeigte den Sturmangriff der Royal Scots Greys bei Waterloo. Daneben hingen außer dem ihm wohl bekannten Zuluspeer Afrikagemälde, auf denen in blassen und von der Sonne ausgebleichten Farben Schirmakazien und rote Erde zu sehen waren.

Er hatte Tellman nicht ansehen wollen, fing aber zufällig einen missbilligenden Blick von ihm auf, als er sich umwandte. Ohne dass Tellman den Hausherrn kannte, war ihm klar, dass Offiziere zur aktiven Zeit dieses Generals ihr Patent meist durch Kauf und nicht durch Leistung und Verdienst erworben hatten. Gewöhnlich handelte es sich um Söhne aus wohlhabenden Familien mit militärischer Tradition, die bisweilen nach dem Besuch der besten Schulen des Landes wie Eton, Rugby oder Harrow ein oder zwei Jahre in Oxford oder Cambridge studierten, meist aber gleich ins Militär einzutreten pflegten. Dabei bekleideten sie vom ersten Tag an einen Rang, den zu erreichen ein einfacher Mann aus dem Volk unter keinen Umständen hoffen durfte. Selbst wenn er jahrzehntelang in fernen Weltgegenden seine Haut zu Markte getragen und auf dem Schlachtfeld sein Leben in die Schanze geschlagen hatte, gab es für ihn keine größere Belohnung als das Handgeld, das man ihm einst bei der Anwerbung gezahlt hatte.

Pitt hatte Balantyne als umgänglichen Menschen kennen gelernt, doch wäre es sinnlos gewesen, das Tellman mitzuteilen. Dieser hatte im Laufe seines Lebens zu viel Ungerechtigkeit gesehen und in der eigenen Familie miterlebt, als dass er solche Äußerungen ernst genommen hätte. Also wartete Pitt schweigend am Fenster stehend und sah zu, wie das Licht des Tagesgestirns einen immer größeren Teil des Platzes erhellte und die Schatten unter den Bäumen dunkler wurden. Stare und Spatzen lärmten. Ein rumpelndes Lieferfuhrwerk blieb immer wieder stehen. Ein junger Fahrradbote mit einer Mütze, die ihm bis über die Ohren reichte, flitzte so schnell um die Ecke, dass er fast gestürzt wäre.

Als sich die Tür öffnete, wandten sich Pitt und Tellman um. Im Eingang stand ein breitschultriger Mann mit kräftigen Gesichtszügen, einer Adlernase, hohen Wangenknochen und einem breiten Mund. Sein nicht mehr sehr volles braunes Haar begann an den Schläfen grau zu werden. Er war hagerer, als Pitt ihn in Erinnerung hatte, als hätten die Zeit und der Kummer seine Kraftreserven aufgezehrt. Doch er hielt sich nach wie vor aufrecht und gerade. Auch wenn er ein weißes Hemd und eine schlichte dunkle Hausjoppe trug, konnte man ihn sich ohne weiteres in Uniform vorstellen.

»Guten Morgen, Pitt«, sagte er ruhig. »Darf man Ihnen zur Beförderung gratulieren? Ihrer Karte entnehme ich, dass Sie es mittlerweile zum Oberinspektor gebracht haben.«

»Vielen Dank, General Balantyne«, gab Pitt zurück und spürte, wie ihm eine leichte Röte der Verlegenheit in die Wangen stieg. »Das ist Wachtmeister Tellman. Ich bedaure, Sie zu so früher Stunde stören zu müssen, Sir, aber der für dies Revier zuständige Streifenbeamte hat heute morgen gegen Viertel vor vier auf den Stufen vor Ihrem Haus einen Toten gefunden.« Auf Balantynes Zügen sah er, dass diesen die Mitteilung unangenehm berührte, wenn nicht gar entsetzte. Überrascht konnte er nicht sein, denn gewiss hatte ihn sein Lakai über den Vorfall informiert.

»Wer ist es?«, fragte Balantyne, trat vollständig ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Das wissen wir noch nicht«, gab Pitt zur Antwort. »Allerdings trug er verschiedene Papiere und Gegenstände bei sich, die es uns sicherlich ermöglichen werden, ihn zu identifizieren.« Er sah Balantyne aufmerksam an, konnte auf dessen Zügen aber keine erkennbare Veränderung wahrnehmen. Weder presste er die Lippen aufeinander, noch umschatteten sich seine Augen.

Der Hausherr wies mit einer Hand auf die Sessel und lud Pitt ein, Platz zu nehmen. Offenbar war Tellman stillschweigend mit gemeint.

»Vielen Dank, Sir«, sagte Pitt. »Es wäre mir lieb, wenn Sie mir gestatten würden, Ihr Personal durch Wachtmeister Tellman befragen zu lassen. Unter Umständen hat jemand einen Streit oder eine andere Art von Unruhe mitbekommen.«

Balantyne zeigte sich bestürzt. »Soll das heißen, dass der Mann keines natürlichen Todes gestorben ist?«

»Das steht zu befürchten. Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen, höchstwahrscheinlich im Verlauf einer handgreiflichen Auseinandersetzung. Auch wenn sie wohl nicht lange gedauert hat, muss sie doch sehr heftig gewesen sein.«

Balantyne riss die Augen auf. »Und Sie meinen, das hat sich vor meiner Tür abgespielt?«

»Das wissen wir noch nicht.«

»In dem Fall soll Ihr Mann unbedingt mit meinen Leuten reden.«

Pitt nickte zu Tellman hinüber, der den Raum bereitwillig verließ und die Tür hinter sich schloss. Daraufhin nahm Pitt in einem der schweren Ledersessel Platz, während sich Balantyne ein wenig steif ihm gegenüber setzte.

»Es gibt nichts, das ich Ihnen sagen könnte«, begann Balantyne. »Zwar geht mein Schlafzimmer zum Platz hin, aber ich habe nichts gehört. Raubüberfälle sind in dieser Gegend eigentlich ungewöhnlich.« Eine mit Trauer vermischte Unruhe trat flüchtig auf seine Züge.

»Man hat den Mann nicht beraubt«, sagte Pitt. Was er als Nächstes tun musste, gefiel ihm überhaupt nicht. »Jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Er hatte noch Geld in der Tasche.« Balantynes Überraschung entging ihm nicht. »Und das hier.« Er nahm die Schnupftabaksdose heraus und legte sie auf seine flache Hand.

Balantyne starrte mit unnatürlicher Reglosigkeit darauf. Weder bewunderte er die Schönheit des Objekts, noch zeigte er sich erstaunt, dass jemand, der bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung ums Leben gekommen war, einen solchen Gegenstand besessen haben sollte. Doch wie sehr er sich auch in der Hand haben mochte, er konnte nicht verhindern, dass ihm das Blut aus dem Gesicht wich und seine Haut aschfahl wurde.

»Erstaunlich …« Er stieß langsam den Atem aus. »Man sollte glauben …« Er schluckte. »Man sollte nicht glauben, dass ein Räuber so etwas übersehen kann.« Pitt begriff, dass er sprach, um die Leere zwischen ihnen zu überbrücken, während er überlegte, ob er zugeben sollte, dass die Dose sein Eigentum war. Welche Erklärung würde er liefern?

Pitt sah ihn unverwandt an. »Da stellen sich viele Fragen«, gab er ihm Recht. »Haben Sie die Dose schon einmal gesehen, General?«

Balantynes Stimme klang ein wenig rau, als hätte er einen trockenen Mund. »Ja … ja, sie gehört mir.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, überlegte es sich dann aber wohl anders.

Pitt stellte die unvermeidliche Frage. »Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Ich … ich glaube nicht, dass ich das sagen könnte. Der Mensch gewöhnt sich an den Anblick der Gegenstände, die ihn umgeben. Ich bin nicht sicher, dass mir ihr Fehlen aufgefallen wäre.« Er sah äußerst unbehaglich drein, wich aber Pitts Blick nicht aus. Bevor dieser die nächste Frage stellen konnte, sagte er: »Sie befindet sich gewöhnlich in einem Schrank in der Bibliothek.«

»Vermissen Sie sonst etwas, General Balantyne?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Vielleicht haben Sie die Güte, einmal nachzusehen, Sir. Ich werde festzustellen versuchen, ob den Dienstboten aufgefallen ist, dass jemand etwas entwendet hat oder ob es im Hause sonstige Hinweise auf einen Einbruch gibt.«

»Gewiss.«

»In manchen Fällen verschaffen sich Einbrecher schon vorher Zugang zum Haus, um die Gelegenheit auszuspähen oder –«

»Ich verstehe«, sagte Balantyne. »Sie glauben, dass unter Umständen ich oder jemand vom Personal den Mann wieder erkennen könnte.«

»Ja. Es könnte hilfreich sein, wenn Sie und vielleicht Ihr Butler und einer Ihrer Lakaien sich den Mann einmal ansähen.«

»Wenn Sie das wünschen«, stimmte Balantyne zu. Auch wenn ihm der Gedanke erkennbar unangenehm war, schien ihm klar zu sein, dass er sich der Bitte nicht verschließen konnte.

Es klopfte kräftig an die Tür. Bevor Balantyne den Mund auftun konnte, öffnete sie sich und eine Frau trat ein. Pitt erinnerte sich sogleich an Lady Augusta Balantyne. Sie sah in ihrer dunklen, kühlen Art gut aus. Ihr Gesicht wies auf Charakterstärke hin. Auch sie erkannte Pitt wohl wieder, denn die frostige Reserviertheit, mit der sie ihm entgegentrat, ging über das Maß hinaus, das durch die frühmorgendliche Störung gerechtfertigt schien. Andererseits rief sein Anblick in Anbetracht ihrer beiden früheren Begegnungen wohl schmerzliche Empfindungen in ihr hervor.

Sie trug der Mode entsprechend ein klassisch geschnittenes dunkelgraues Seidenkleid, das für morgendliche Besuche geeignet, gleichzeitig aber zurückhaltend war, wie es ihrem Alter und ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprach. Auch wenn weiße Strähnen ihr dunkles Haar an den Schläfen durchzogen und der Kummer seine Spuren auf ihren Zügen hinterlassen hatte, lag in ihren dunklen Augen nach wie vor eiserne Entschlossenheit.

Pitt stand auf. »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich so früh bei Ihnen eindringe, Lady Augusta«, sagte er ruhig. »Bedauerlicherweise ist vor Ihrem Haus ein Mensch ums Leben gekommen und ich muss Erkundigungen einziehen, ob jemand etwas von dem Vorfall bemerkt hat.« Er wollte ihre Empfindungen schonen, so weit er konnte, und da sie ihm nicht besonders sympathisch war, bemühte er sich um mehr als die übliche Rücksichtnahme.

»Ich hatte mir schon gedacht, dass etwas in der Art Ihren Besuch veranlasst hat, Inspektor«, sagte sie. Mit dieser Äußerung wies sie jegliche Möglichkeit eines wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Kontakts zwischen ihnen zurück. Menschen wie ihn konnten ausschließlich Berufspflichten in ihr Haus führen.

Pitt merkte, wie er innerlich zusammenfuhr. Er spürte die Zurückweisung wie eine Ohrfeige. Aber damit hätte er rechnen müssen. Wie konnte er nach all der Tragik und den schuldhaften Verstrickungen der Vergangenheit etwas anderes erwarten? Der Versuch, seine kindische Gekränktheit abzuschütteln, misslang ihm.

Auch Balantyne hatte sich erhoben. Jetzt sah er seine Gattin und Pitt an, als müsse er sich entschuldigen  – bei ihm für ihre herablassende Haltung, bei ihr wegen Pitts Anwesenheit und weil es schon wieder zu einer Tragödie gekommen zu sein schien.

»Man hat irgendeinen Unglücklichen überfallen und getötet«, sagte er ohne Umschweife.

Sie holte tief Luft, bewahrte aber Haltung. »Ist es jemand, den wir kennen?«

»Nein«, sagte Balantyne sogleich. »Es sei denn …«, wandte er sich an Pitt.

»Wohl kaum.« Pitt sah die Gattin des Generals an. »Es scheint sich um jemanden zu handeln, dem das Leben in letzter Zeit übel mitgespielt hat. Er war wohl in eine gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt. Beraubt hat man ihn, wie es aussieht, aber nicht.«

Die Spannung wich von ihr. »In dem Fall würde ich vorschlagen, Inspektor, dass Sie das Gesinde befragen, um festzustellen, ob jemand etwas gehört hat. Sollte sich zeigen, dass das nicht der Fall ist, werden wir Ihnen wohl bedauerlicherweise nicht helfen können. Guten Tag.« Sie rührte sich nicht. Mit diesen Worten hatte sie hinreichend klar gemacht, dass er entlassen und sie entschlossen war, im Zimmer zu bleiben.

Balantyne sah unbehaglich drein. Zwar legte er keinen Wert darauf, die Unterhaltung fortzusetzen, doch war es ihm offenbar auch nicht recht, von seiner Frau aus dieser Situation gerettet zu werden. Da es nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte, einer Schlacht auszuweichen, und er auch jetzt nicht daran dachte, das zu tun, sagte er zu Pitt: »Sagen Sie mir, wann es Ihnen passt, dass ich Sie zum Leichenschauhaus begleite, und ich komme mit. Unterdessen wird Ihnen Blisset zeigen, was Sie zu sehen wünschen. Er wird zweifellos auch wissen, ob etwas nicht an seinem Platz ist oder gar fehlt.«

»Was sollte fehlen?«, wollte seine Gattin wissen.

Balantynes Züge verhärteten sich. »Der Mann war möglicherweise ein Einbrecher«, sagte er knapp und ohne eine weitere Erklärung abzugeben.

»Das denke ich mir.« Sie zuckte leicht mit der Achsel. »Das würde seine Anwesenheit hier am Platz erklären.« Sie tat einen Schritt ins Vestibül und wartete schweigend, dass Pitt den Raum verließ.

Am Fuß der Treppe stand in militärischer Haltung mit steif durchgedrücktem Rücken der Butler Blisset, ein Mann in mittleren Jahren. Höchstwahrscheinlich war er ein Veteran, den Balantyne in seine Dienste genommen hatte, weil er sich auf ihn verlassen konnte.

»Kommen Sie bitte mit, Sir«, forderte er Pitt auf und ging ihm, unübersehbar hinkend, durch das Vestibül zur mit grünem Filz bezogenen Tür voraus, die in den Dienstbotentrakt führte. Pitt vermutete, dass sein Hinken auf eine Kriegsverletzung zurückging.

Tellman stand am langen Esstisch in der Gesindestube. Er war zum Frühstück gedeckt, doch war zu erkennen, dass noch niemand gegessen hatte. Wartend stand ein Hausmädchen da und sah Tellman mit unverhohlener Abneigung an. Sie trug ein graues Kleid aus leichtem Wollstoff und eine frisch gebügelte saubere weiße Schürze. Ihr Spitzenhäubchen saß ein wenig schief, als hätte sie es in Eile aufgesetzt. Ein etwa neunzehn- oder zwanzigjähriger Lakai stand an der Küchentür und der Stiefelputzer sah Pitt mit großen Augen an.

»Bisher ergebnislos«, sagte Tellman und biss sich auf die Lippe. Er hatte Bleistift und Notizbuch in den Händen, aber kaum etwas notiert. »Jeder hier im Hause scheint einen festen Schlaf zu haben«, sagte er mit sarkastischem Unterton.

Pitt überlegte, dass auch er vermutlich tief schlafen würde, wenn er Tag für Tag um fünf Uhr morgens aufstehen und fast ohne Pause bis neun oder zehn Uhr abends arbeiten müsste, verkniff es sich aber, das zu sagen.

»Ich würde gern mit den Hausmädchen sprechen«, sagte er zum Butler. »Könnte ich das im Aufenthaltsraum der Wirtschafterin tun?«

Zögernd erklärte sich dieser damit einverstanden, bestand aber darauf, im Interesse seiner Untergebenen, für die er verantwortlich war, dabei zu bleiben.

Zwei Stunden ausführlicher Befragung und eine gründliche Durchsuchung der Räume des Hauses erbrachten keine verwertbaren Hinweise. Beide Hausmädchen hatten die Schnupftabaksdose im Hause gesehen, konnten sich aber nicht erinnern, wann das zum letzten Mal der Fall gewesen war. Sonst fehlte nichts. Nichts wies auf einen Einbruch oder darauf hin, dass sich jemand unerlaubt in den oberen oder unteren Räumen aufgehalten hätte. Niemand hatte Geräusche vor dem Haus auf der Straße gehört. Kein Lieferant oder sonstiger Besucher, den man nicht schon seit Jahren kannte, war da gewesen. Auch waren weder Landstreicher, Bettler, Hausierer noch neue Lieferanten an die Tür gekommen und auch keine Verehrer der weiblichen Dienstboten – so jedenfalls lautete die Aussage.

Pitt und Tellman verließen den Bedford Square um halb zehn und nahmen eine Droschke zur Bow Street. In wenigen Schritten Entfernung von der Polizeiwache machten sie an einem Verkaufsstand Halt, um eine Tasse heißen Tee und ein Schinkenbrot zu kaufen.

»Getrennte Schlafzimmer«, sagte Tellman, während er mit vollen Backen kaute.

»Das ist in diesen Kreisen üblich«, gab Pitt zurück und nippte vorsichtig an seinem zu heißen Tee.

»Wüsste nicht, wozu das gut sein soll.« Tellmans Gesichtsausdruck sagte überdeutlich, was er von solchen Menschen hielt. »Auf jeden Fall heißt das für uns, dass kein Mensch im Haus sagen kann, wo die anderen waren. Falls der Bursche da drin beim Diebstahl erwischt worden ist, könnte es jeder getan haben.« Er biss erneut von seinem Brot ab. »Eins der Hausmädchen hätte ihn reinlassen können. So was kommt vor. Jeder von den Bewohnern hätte ihn hören und mit ihm aneinander geraten können, sogar der General selber.«

Pitt hätte diesen Gedanken gern zurückgewiesen, doch dazu war ihm der Ausdruck, der beim Anblick der Schnupftabaksdose in Balantynes Augen getreten war, noch zu frisch im Gedächtnis.

Tellman sah ihn abwartend an.

»Für Spekulationen ist es zu früh«, sagte Pitt. »Wir müssen erst noch weitere Beweismittel sammeln. Versuchen Sie in den anderen Häusern um den Platz herum festzustellen, ob dort eingebrochen worden ist, Gegenstände nicht an ihrem Ort sind oder sonst etwas nicht in Ordnung ist.«

»Warum sollte der Kerl Sachen woanders hintun, statt sie mitzunehmen?«, wollte Tellman wissen.

»Das nicht.« Pitt sah ihn gelassen an. »Wer auch immer ihn auf frischer Tat ertappt und getötet hat, würde ihm wahrscheinlich abnehmen, was in das betreffende Haus gehörte, nicht aber die Schnupftabaksdose, denn die gehörte ihm nicht und ihr Auftauchen würde nur unnötige Fragen heraufbeschwören. Wir warten ab, was der Arzt uns sagen kann, wenn er sich den Toten genauer angesehen hat. Außerdem haben wir die Quittung für die Socken.« Der Tee war jetzt ein wenig abgekühlt und Pitt nahm einen Schluck. »Dabei ist nicht einmal gesagt, dass es uns sehr viel weiter hilft, wenn wir den Namen des Mannes wissen.«

Die Nachfragen in den Häusern um den Bedford Square sowie in denen der unmittelbaren Nachbarschaft des Platzes ergaben keinerlei brauchbaren Hinweis. Niemand hatte etwas gehört, nichts fehlte und nichts war am falschen Platz. Alle erklärten, die ganze Nacht hindurch tief und fest geschlafen zu haben.

Am Spätnachmittag entledigten sich General Balantyne und sein Butler Blisset der Aufgabe, sich den Toten im Leichenschauhaus anzusehen, aber keiner von beiden kannte ihn. Aufmerksam beobachtete Pitt den General, als das Laken vom Gesicht des Toten zurückgeschlagen wurde. Er sah eine gewisse Überraschung, fast, als hätte Balantyne einen anderen dort erwartet, möglicherweise jemanden, den er kannte.

»Nein«, sagte er beherrscht. »Den Mann habe ich noch nie gesehen.«

Pitt kam erst spät nach Hause und konnte mit Charlotte nur kurz über den Fall reden, weil eine schwierige häusliche Angelegenheit ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Er nahm sich vor, ihr vorerst nicht zu sagen, dass General Balantyne in den Fall verwickelt war. Er erinnerte sich, dass der General ihr sympathisch gewesen war und sie sogar eine Weile bei ihm im Hause zugebracht hatte, um ihm bei irgendeiner Sache zur Hand zu gehen. Es war besser abzuwarten, ob sich die Angelegenheit nicht von selbst auflöste, so dass er Charlotte nicht unnötig zu beunruhigen brauchte. Am Ende eines langen Tages war für so etwas ohnehin nicht der richtige Zeitpunkt.

Am nächsten Vormittag erstattete er dem stellvertretenden Polizeipräsidenten Cornwallis Bericht über den Vorfall, weil dergleichen in einer solch ruhigen Wohngegend unüblich war. Auch wenn möglicherweise keiner der dortigen Anwohner oder ihrer Dienstboten etwas mit der Sache zu tun hatte, würden sie die damit verbundenen Unannehmlichkeiten wohl oder übel ertragen müssen.

Cornwallis übte sein Amt noch nicht lange aus. Als jemand, der den größten Teil seines Berufslebens in der Marine gedient hatte, kannte er eine Welt von Befehl und Gehorsam; Verbrechen und Politik hingegen waren für ihn Neuland. Da ihm jegliche Verstellung wesensfremd war, schienen vor allem die Gepflogenheiten auf dem Gebiet der Politik sein Fassungsvermögen bisweilen zu übersteigen. Für das Leben auf See taugte weder persönliche Eitelkeit noch taktierendes Verhalten; zwischen der Härte, mit der es die Tölpel von den Tüchtigen und die Furchtlosen von den Ängstlichen schied, und dem, was in Regierung und Gesellschaft als Antriebskraft genügen mochte, um ans Ziel seines Ehrgeizes zu gelangen, lagen Welten.

Cornwallis war mittelgroß und eher hager. Er machte den Eindruck eines Menschen, zu dessen Wesen eine körperliche Tätigkeit weit besser passt als ein Schreibtischberuf. Seine Bewegungen waren beherrscht und von natürlicher Anmut. Mit seiner eher langen Nase sah er nicht besonders gut aus, aber auf seinem gleichmäßig geschnittenen Gesicht lag der Ausdruck von Aufrichtigkeit. Er war vollständig kahl, was gut zu ihm passte. Pitt hätte sich ihn mit Haaren auf dem Kopf gar nicht so recht vorstellen können.

»Was gibt es?« Cornwallis hob bei Pitts Eintritt den Blick von seinen Papieren. Es war ein drückender Tag und durch die offenen Fenster drang der Verkehrslärm von der Straße herauf: das Knarren von Wagenrädern, die gelegentlichen ermunternden Zurufe von Fuhrmännern oder Droschkenkutschern an ihre Pferde, das schwere Poltern von Brauereifuhrwerken, der laute Ruf umherziehender Kaminkehrer, die eine Kleinigkeit zu verdienen hofften, und die reißerischen Sprüche, mit denen fliegende Händler ihre Ware anpriesen, seien es Schnürsenkel, Blumen, belegte Brote oder Zündhölzer.

Pitt schloss die Tür hinter sich.

»Man hat gestern am frühen Morgen am Bedford Square einen Toten gefunden«, gab er zur Antwort. »Ich hatte gehofft, dass er nichts mit einem der hochherrschaftlichen Häuser da zu tun haben würde, aber er lag unmittelbar vor der Tür von General Brandon Balantyne und hatte eine Schnupftabaksdose aus dessen Besitz in der Tasche.«

»Einbruch?«, fragte Cornwallis. Es klang wie eine Aussage. Eine leichte Falte bildete sich zwischen seinen Brauen, als warte er auf Pitts Erklärung dafür, warum er sich die Mühe machte, ihm den Fall zu melden, und dazu in eigener Person.

»Möglicherweise ist der Mann in eins der Häuser eingedrungen und dabei vom Eigentümer oder einem seiner Dienstboten ertappt worden. Dabei könnte es zu einem Kampf gekommen sein, in dessen Verlauf er getötet wurde«, sagte Pitt. »Dann hat man ihn, vermutlich aus Angst vor den Folgen, vor Balantynes Tür gelegt, statt ihn zu lassen, wo er war, und die Polizei zu rufen.«

»Ich verstehe.« Cornwallis nickte. »So verhält sich kein Unschuldiger, nicht einmal in Panik. Was hat den Tod herbeigeführt?«

»Ein Hieb auf den Kopf mit einem Schürhaken oder einem ähnlichen Gegenstand. Dem Zustand seiner Fingerknöchel nach hat allerdings vorher ein Kampf stattgefunden.« Pitt setzte sich Cornwallis’ Schreibtisch gegenüber. Er fühlte sich wohl in diesem Raum mit den aquarellierten Seestücken an den Wänden und dem auf Hochglanz polierten Messing-Sextanten im Bücherregal. Es enthielt neben Schriften zur Polizeiarbeit, Werken Jane Austens und einer Bibel auch mehrere Bände Lyrik – Shelley, Keats und Tennyson.

»Wissen Sie, um wen es sich handelt?«, fragte Cornwallis, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt und die Fingerspitzen gegeneinander gelegt.

»Bisher nicht, aber Tellman geht der Sache nach«, gab Pitt zur Antwort. »Der Tote hatte eine zwei Tage alte Quittung über den Kauf von drei Paar Socken in der Tasche – die hilft uns unter Umständen weiter.«

»Gut.« Cornwallis schien der Sache keine weitere Bedeutung beizumessen, vielleicht beschäftigte ihn auch etwas anderes.

»Die Schnupftabaksdose in seiner Tasche gehörte General Balantyne«, wiederholte Pitt.

Cornwallis runzelte die Brauen. »Wahrscheinlich hat er die gestohlen. Das muss aber keineswegs bedeuten, dass er in Balantynes Haus den Tod gefunden hat. Ich könnte mir denken …« Er hielt inne. »Ach so, ich verstehe. Sie meinen … Unangenehm und verwirrend … Ich … ich kenne Balantyne ein wenig. Ein anständiger Mann. Ich halte es für ausgeschlossen, dass er etwas so … so Dummes tut.«

Pitt spürte Cornwallis’ Besorgnis, doch schien er diese schon vor seinem Eintreffen empfunden zu haben. Es kam ihm vor, als beschäftige ihn etwas anderes so sehr, dass er sich nicht auf das konzentrieren konnte, was ihm Pitt mitzuteilen hatte. »Das denke ich auch«, stimmte er zu.

Cornwallis hob ruckartig den Kopf. »Was?«

»Auch ich kann mir nicht vorstellen, dass General Balantyne so töricht wäre, eine Leiche vor seine eigene Haustür zu legen, statt einfach die Polizei zu rufen«, sagte Pitt geduldig.

»Kennen Sie ihn denn?« Cornwallis sah ihn an, als wäre er zufällig in eine Unterhaltung geraten und merke, dass er den Anfang verpasst hatte.

»Ja. Ich habe in zwei Fällen ermittelt, mit denen er zu tun hatte – mittelbar, als Zeuge.«

»Ach, das war mir gar nicht bekannt.«

»Bereitet Ihnen etwas Sorgen?« Pitt konnte Cornwallis gut leiden und hatte eine hohe Meinung von dessen Geradlinigkeit und seinem Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch sein Mangel an politischer Erfahrung war ihm bekannt. »Geht es etwa schon wieder um Tranby Croft?«

»Was? Nein, um Gottes willen!« Zum ersten Mal, seit Pitt hereingekommen war, entspannte sich Cornwallis und hätte fast laut herausgelacht. »Die Leute tun mir alle Leid. Ich habe keine Ahnung, ob Gordon-Cumming betrogen hat oder nicht, aber er ist so oder so erledigt, der arme Teufel. Und was ich vom Prinzen von Wales oder den anderen Leuten halte, die dem lieben Gott damit die Zeit stehlen, dass sie von einer Hausgesellschaft zur anderen ziehen und in einem fort Karten spielen, bleibt selbst im engsten Kreise besser ungesagt.«

Pitt wusste nicht recht, ob er nachhaken sollte oder ob sein Vorgesetzter die Sache damit auf höfliche Weise abgebogen hatte. Doch offenkundig beschäftigte diesen etwas so sehr, dass es sich sogar dann in seine Gedanken drängte, wenn er sich ganz auf Dinge konzentrieren wollte, um die es gerade ging.

Cornwallis schob seinen Sessel zurück und stand auf. Er trat ans Fenster und schloss es mit einem kräftigen Ruck. »Ein entsetzlicher Radau da draußen!«, sagte er verärgert. »Lassen Sie es mich wissen, wenn es in der Sache vom Bedford Square Fortschritte gibt.«

Damit war Pitt entlassen. Er stand auf. »Gewiss, Sir.« Er trat zur Tür.

Cornwallis räusperte sich.

Pitt blieb stehen.

»Ich …« setzte der stellvertretende Polizeipräsident an und zögerte.

Pitt wandte sich erneut zu ihm um.

Auf Cornwallis’ hageren Wangen lag leichte Röte. Er machte einen zutiefst unglücklichen Eindruck. Dann entschloss er sich zu sprechen: »Man hat mir… man hat mir einen Erpresserbrief geschickt …«

Pitt war verblüfft. Von allen Möglichkeiten, die ihm durch den Kopf gegangen waren, schien ihm diese die abwegigste.

»Er besteht aus Wörtern, die jemand mit Hilfe von aus der Times ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzt und auf ein Blatt Papier geklebt hat«, fuhr Cornwallis in der knisternden Stille fort.

Es kostete Pitt Mühe, seine Gedanken zu sammeln. »Und welche Forderungen enthält er?«

»Das ist ja gerade das Sonderbare daran.« Cornwallis stand starr und mit angespannten Muskeln da. Er sah Pitt unverwandt an. »Keine. Der Erpresser will nichts. Er droht einfach.«

»Haben Sie den Brief?«

Pitt stellte die Frage ungern, doch es nicht zu tun hätte bedeutet, den Mann im Stich zu lassen, auf dessen Freundschaft er Wert legte und der ganz offensichtlich Hilfe brauchte.

Cornwallis nahm einen Brief aus der Tasche und reichte ihn Pitt. Wie er gesagt hatte, bestanden die Wörter aus aufgeklebten Buchstaben, meist aus einzelnen, bisweilen aus Paaren und gelegentlich auch aus drei oder vier zusammenhängenden, wenn der Zeitungstext ein Wort enthielt, das der Verfasser brauchen konnte. Der Brief lautete:

Ich weiß alles über Sie, Kapitän Cornwallis. In den Augen anderer sind Sie ein Held, aber ich kenne die Zusammenhänge besser. Nicht Sie haben an Bord der Venture die kühne Tat begangen, für die Sie die Anerkennung entgegengenommen haben, sondern der Vollmatrose Beckwith. Da er nicht mehr lebt, kann er der Wahrheit nicht zum Sieg verhelfen. Das ist unrecht. Die Menschen sollten erfahren, wie es wirklich war. Ich weiß es.

Pitt las die Mitteilung noch einmal. Weder wurde darin eine ausdrückliche Drohung ausgesprochen, noch Geld oder etwas anderes verlangt. Dennoch stand so großer Nachdruck dahinter, dass die Buchstaben fast vom zerknitterten Papier zu springen schienen, als hätten sie ein boshaftes Eigenleben.

Die Kiefermuskeln in Cornwallis’ bleichem Gesicht waren angespannt und die Schläfenader pochte sichtbar.

»Ich nehme an, Sie haben keine Vorstellung, um wen es sich handeln könnte?«

»Nicht die geringste«, gab Cornwallis zur Antwort. »Ich habe die halbe Nacht wach gelegen und mir den Kopf darüber zerbrochen.« Seine Stimme klang, als hätte er so lange nicht gesprochen, dass seine Kehle jetzt ganz ausgedörrt war und schmerzte. Er holte tief Luft, ohne den Blick von Pitts Augen zu lösen. »Ich bin den Vorfall, auf den sich der Verfasser vermutlich bezieht, in Gedanken immer wieder durchgegangen, um mich zu erinnern, wer dabei war und die Situation falsch gedeutet haben könnte, komme aber zu keinem Ergebnis.« Er zögerte. Auf seinen Zügen war deutlich zu erkennen, dass ihm die ganze Sache unangenehm war. Es fiel ihm schwer, seine Gefühle auszudrücken; viel lieber war ihm die stumme Selbstverständlichkeit des Handelns. Er biss sich auf die Lippe. Er hatte das Bedürfnis, den Blick abzuwenden, und zwang sich gerade deshalb, es nicht zu tun. Offenkundig spürte er Pitts Unbehagen und verschlimmerte es unbeabsichtigt. Er merkte, dass er selbst unentschlossen war, obwohl er gerade das vermeiden wollte.

»Vielleicht wäre es gut, wenn Sie mir die ganze Geschichte berichten«, sagte Pitt ruhig. Er traf Anstalten, sich zu setzen, um zu zeigen, dass er bereit war, noch eine Weile zu bleiben.

»Ja … natürlich«, stimmt Cornwallis zu. Er wandte sich ab und sah zum Fenster hin. Das grelle Tageslicht hob die tief eingekerbten Linien um seine Augen und den Mund hervor. »Zu dem Vorfall ist es im Winter vor achtzehn Jahren gekommen – genau gesagt achtzehneinhalb. Damals war ich noch Leutnant. Wir segelten durch die Biskaya. Das Wetter war entsetzlich. Ein Mann enterte auf, um das Bramsegel am Besanmast einzuholen –«

»Das was?«, unterbrach ihn Pitt fragend.

Cornwallis sah ihn an. »Ach so … es war ein Dreimaster.« Er verdeutlichte seine Worte mit Gesten. »Das mittlere Segel am mittleren Mast … Rahsegel natürlich. Eine Stück Tauwerk, das nicht richtig belegt war, muss seine Hand eingeklemmt haben.« Er verzog das Gesicht, wandte sich erneut dem Fenster zu und von Pitt ab. »Ich bin sofort zu ihm aufgeentert. Normalerweise würde man einen Mannschaftsdienstgrad in den Mast schicken, aber Vollmatrose Beckwith, der einzige Mann, der sich außer mir an Deck befand, war zu keiner Bewegung fähig. So etwas kommt vor.« Er sprach abgehackt. »Es blieb keine Zeit, sich nach einem anderen umzusehen. Das Schiff stampfte. Das Wetter wurde immer schlimmer. Ich fürchtete, dass sich der Verletzte nicht im Mast halten könnte und ihm womöglich der Arm abgerissen würde. Höhenangst hatte ich nie gehabt. Ich habe mir nichts Besonderes dabei gedacht, selbst aufzuentern – das hatte ich schließlich als Kadett oft genug getan.« Sein Mund straffte sich. »Ich habe ihn losbekommen. Dazu musste ich das Tau kappen. Der Mann war nahezu bewegungsunfähig. Ich habe ihn über die Rah bis zum Mast geschleppt, aber er war verdammt schwer. Der Wind frischte immer mehr auf und das Schiff stampfte in der schweren See.«

Pitt versuchte sich die Szene vorzustellen: die wilde, schäumende See, Cornwallis, der sich, das Gewicht eines hilflosen Mannes auf den Schultern, in zwölf oder fünfzehn Metern Höhe verzweifelt an einem schwankenden Mast festzuhalten versuchte, im einen Augenblick das harte Deck und im nächsten das Wasser unter sich. Er merkte, dass er seine Hände ineinander geschlungen hatte und den Atem anhielt.

»Gerade, als ich ihn mir auf der Schulter zurechtlegen wollte, um nach unten zu steigen«, fuhr Cornwallis fort, »muss Beckwith aus seiner Erstarrung erwacht sein, denn mit einem Mal ist er unmittelbar unter mir aufgetaucht. Gemeinsam haben wir den Mann dann nach unten geschafft.

Inzwischen war ein halbes Dutzend Leute an Deck, unter ihnen der Kapitän. Für sie hat es sich wohl so dargestellt, als hätte Beckwith mich gerettet. Der Kapitän hat das auch gesagt, aber Beckwith war ein anständiger Kerl und hat die Dinge zurechtgerückt.« Er sah Pitt erneut an, das Licht war hinter ihm. »Aber heute kann ich nicht mehr beweisen, dass sich die Sache so verhalten hat. Beckwith ist einige Jahre nach dem Vorfall gestorben und der Mann, den ich aus dem Mast geholt habe, hat überhaupt nicht mitbekommen, was sich da oben abgespielt hat; er konnte sich nur undeutlich an den ganzen Vorfall erinnern.«

»Ich verstehe«, sagte Pitt ruhig. Cornwallis sah ihn aufmerksam an und Pitt erkannte in seinem Gesicht etwas von der Angst, die er zu verbergen suchte. Cornwallis hatte ein halbes Leben lang im Kampf gegen ein Element seinen Mann gestanden, das keinen Pardon kannte und weder Mensch noch Schiff schonte, und er hatte sich immer an die Regeln gehalten, stets Zucht und Ordnung hochgehalten. Er war Zeuge geworden, wie Männer umgekommen waren, die das nicht getan oder nicht so viel Glück gehabt hatten wie er. Wohl kaum einer von denen, die in der Sicherheit des festen Landes lebten, wusste so gut wie er, welch hohen Wert Treue, Ehre, Einsatzbereitschaft, sofortiger und unabdingbarer Gehorsam haben, doch war ihm auch klar, dass all das nichts nützt, wenn man sich nicht rückhaltlos auf die Menschen verlassen kann, mit denen man Hand in Hand arbeitet. So wenig die Hierarchie auf einem Schiff je in Frage gestellt werden durfte, so unverzeihlich wäre es gewesen, die mutige Tat eines anderen als seine eigene auszugeben.

Wie Pitt seinen Vorgesetzten kannte, war ein solches Verhalten bei ihm undenkbar. Er lächelte zu Cornwallis hin und sah ihm in die Augen. »Ich gehe der Sache nach. Wir müssen wissen, wer dahinter steckt, vor allem aber, was er will. Sobald eine Forderung auf dem Tisch liegt, ist es eine Straftat.«

Cornwallis zögerte, den Brief nach wie vor in der Hand haltend, als fürchte er bereits jetzt die Folgen jeglichen Handelns. Dann merkte er, was er tat, und schob Pitt das Blatt hin.

Dieser nahm es und steckte es ein, ohne noch einmal einen Blick darauf zu werfen. »Ich werde mich unauffällig um die Sache kümmern«, versprach er.

»Ja«, sagte Cornwallis gequält. »Ja, natürlich.«

Pitt verabschiedete sich, verliess den Raum und ging nach unten. Während er auf die Straße trat, grübelte er über Cornwallis’ schwierige Lage nach. Kaum hatte er ein Dutzend Schritte getan, als er fast mit einem Mann zusammengestoßen wäre, der ihm unvermittelt in den Weg getreten war.

»Mr. Pitt?«, fragte der Unbekannte und sah ihn an. Trotz des fragenden Tons in seiner Stimme lag auf seinem Gesicht Gewissheit.

»Sie wünschen?«, gab Pitt mit einer Spur Schärfe zurück. Er schätzte es nicht, wenn man ihm den Weg verstellte, und er wollte nicht in seinen Überlegungen zu der Geschichte gestört werden, die ihm sein Vorgesetzter anvertraut hatte. Er wusste nicht recht, wie er Cornwallis vor einer Gefahr beschützen sollte, die er als durchaus real einschätzte.

»Ich heiße Lyndon Remus und arbeite für die Times«, sagte der Mann rasch, der nach wie vor unmittelbar vor Pitt stand. Er zog eine Karte aus der Innentasche seines Jacketts und hielt sie ihm hin.

Ohne sie anzusehen, fragte Pitt: »Was gibt es, Mr. Remus?«

»Was können Sie mir über den Toten sagen, den man gestern Morgen am Bedford Square gefunden hat?«

»Nichts, was Sie nicht schon wissen«, gab Pitt zur Antwort.

»Sie stehen also vor einem Rätsel«, folgerte Remus, ohne zu zögern.

»Das habe ich nicht gesagt.« Pitt war verärgert. Wortklaubereien waren ihm zuwider und der Mann hatte nicht den geringsten Grund, einen solchen Schluss zu ziehen. »Ich habe gesagt, dass ich Ihnen nur sagen kann, was Sie schon wissen, nämlich, dass der Mann tot ist und wo man ihn aufgefunden hat.«

»Vor der Tür von General Brandon Balantynes Haus«, sagte Remus. »Sie wissen also doch etwas, können es uns aber nicht sagen! Ist der General oder einer der Bewohner seines Hauses in den Fall verwickelt?«

Pitt merkte, dass er sehr viel sorgfältiger formulieren musste, und ärgerte sich noch mehr.

»Mr. Remus, man hat am Bedford Square einen Toten gefunden«, sagte er brummig. »Wir wissen noch nicht, wer er war oder wie er ums Leben gekommen ist, und können lediglich sagen, dass es vermutlich kein Unfall war. Spekulationen wären in diesem Stadium unverantwortlich und könnten dem Ruf unschuldiger Menschen schweren Schaden zufügen. Sobald wir Genaueres wissen, werden wir es der Presse mitteilen. Würden Sie mir jetzt bitte den Weg freigeben und gestatten, dass ich meiner Arbeit nachgehe!«

Remus rührte sich nicht vom Fleck. »Werden Sie General Balantyne in Ihre Nachforschungen einbeziehen, Mr. Pitt?«

Jetzt saß er in der Falle. Er konnte das nicht bestreiten, ohne zu lügen und zugleich den Eindruck zu erwecken, er sei voreingenommen oder unfähig. Falls er ja sagte, würde Remus daraus folgern, dass Balantyne der Tat verdächtig sei. Schwieg er aber, konnte Remus daraus machen, was er wollte.

Remus lächelte. »Mr. Pitt?«

»Als Erstes werde ich Nachforschungen über den Toten anstellen«, gab Pitt schwerfällig zur Antwort. Ihm war klar, dass er diese eigentlich vorhersehbaren Fragen nicht angemessen beantwortete. Er holte tief Luft. »Allen Spuren, die sich dabei ergeben, werde ich nachgehen.«

Mit einem alles andere als freundlichen Lächeln fragte Remus: »Ist das nicht eben der General Balantyne, dessen Tochter Christina um das Jahr 87 herum in die Mordfälle von Devil’s Street verwickelt war?«

»Erwarten Sie nicht, dass ich Ihre Arbeit für Sie tue, Mr. Remus!«, knurrte Pitt und wich ihm mit einem Schritt zur Seite aus. »Guten Tag.« Während er davonging, legte sich ein befriedigtes Lächeln auf Remus’ Züge.

Müde und unglücklich kehrte Pitt von seiner Arbeit nach Hause zurück. Der ausführliche Bericht des Polizeiarztes über die Todesursache des Mannes vom Bedford Square unterschied sich nicht grundlegend von dem, was der Arzt Pitt anfänglich mitgeteilt hatte, und hatte nichts Neues ergeben. Tellman ging der Spur mit der Sockenquittung nach und befragte alle Anwohner des Platzes. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen, was sich verwerten ließ.

Eigentlich beunruhigte Pitt der Brief, den Cornwallis bekommen hatte, mehr als der Tote, obwohl beide Fälle insofern gewisse Gemeinsamkeiten aufwiesen, als die Gefahr bestand, der gute Ruf eines ehrenwerten Mannes könnte durch Gerüchte, Verdächtigungen und versteckte Andeutungen Schaden nehmen. Sofern andere sie glaubten, konnten sie einen Menschen zugrunde richten. General Balantyne wie Cornwallis waren angreifbar, da sie keine Möglichkeit hatten, die wahren Umstände zu beweisen, aber da Pitt seinen Vorgesetzten kannte, hielt er ihn in jeder Hinsicht für schuldlos. Sonderbar kam ihm vor, dass er einen Brief bekommen hatte, in dem trotz seines eindeutig drohenden Inhalts keine Forderung gestellt wurde. Sie würde vermutlich bald folgen.