Schwarze Spitzen - Anne Perry - E-Book

Schwarze Spitzen E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Ein brisanter Fall für Inspektor Pitt

Bei einem Brand kommt die engagierte Mrs Shaw ums Leben. Doch Inspektor Pitt glaubt, dass sie das Opfer einer schrecklichen Verwechslung wurde und der Täter es vielmehr auf ihren Mann, einen umstrittenen Arzt, abgesehen hatte. Kann Pitt ihn rechtzeitig warnen?

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Bei einem Brand kommt die engagierte Mrs Shaw ums Leben. Doch Inspektor Pitt glaubt, dass sie das Opfer einer schrecklichen Verwechslung wurde und der Täter es vielmehr auf ihren Mann, einen umstrittenen Arzt, abgesehen hatte. Kann Pitt ihn rechtzeitig warnen?

Die Autorin

Anne Perry, 1938 in London geboren und in Neuseeland aufgewachsen, lebt und schreibt in Schottland. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen London. Weltweit haben sich die Bücher von Anne Perry bereits über zehn Millionen Mal verkauft.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinWidmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelCopyright

Für Meg MacDonald für ihre Freundschaft und ihr unbeirrtes Vertrauen in mich und für Meg Davis für ihre Freundschaft, ihre Begleitung und ihre Mitarbeit.

1. Kapitel

Kommissar Thomas Pitt blickte auf die rauchenden Trümmer des Hauses. Er achtete nicht auf den stetigen Regen, der ihn durchnäßte, ihm das Haar an die Stirn klebte und zwischen dem aufgestellten Mantelkragen und dem gestrickten Schal in einem kalten Rinnsal über seinen Rücken lief. Noch konnte er die Hitze spüren, die von den geschwärzten Ziegeln ausging. Das Wasser tropfte von geborstenen Türbogen und zischte, wenn es auf die Glut traf; der Dampf stieg in winzigen Kringeln nach oben.

Selbst an den Überresten konnte er noch erkennen, daß es einmal ein schönes Gebäude war, irgend jemandes Wohnhaus, solide und elegant gebaut. Nun war kaum noch etwas davon übrig, abgesehen vom Dienstbotentrakt.

Neben Thomas Pitt trat der junge Polizist James Murdo von einem Fuß auf den anderen. Er gehörte zum örtlichen Highgate-Revier und ärgerte sich darüber, daß seine Vorgesetzten einen Kommissar aus der Stadt herbeigerufen hatten, auch wenn es sich um einen Mann mit so hervorragendem Ruf wie Pitt handelte. Murdo hatte es nicht für angebracht gehalten, zu einem so frühen Zeitpunkt Hilfe anzufordern, doch seine Ansicht war übergangen worden. Nun war Pitt hier, schlampig und schlecht gekleidet, bis auf die feinen Stiefel.

Allerlei Plunder beulte seine Taschen aus, seine Handschuhe waren abgewetzt, und sein rußverschmiertes Gesicht wirkte bekümmert. »Vermutlich ist der Brand gegen Mitternacht ausgebrochen«, sagte Murdo, um zu zeigen, daß seine Leute gute Arbeit leisteten und bereits alles Erforderliche in Angriff genommen hatten. »Miß Dalton, eine ältere Dame aus der St. Alban Road, hat das Feuer bemerkt, als sie etwa um Viertel nach eins aufwachte. Es brannte bereits lichterloh, und sie schlug Alarm. Sie schickte ihr Mädchen nach nebenan zu Oberst Anstruther, der einen dieser Telefonapparate besitzt. Er rief die Feuerwehr, die etwa zwanzig Minuten später eintraf, aber sie konnte nicht mehr viel ausrichten. Zu diesem Zeitpunkt stand das Hauptgebäude schon vollständig in Flammen. Sie pumpten das Wasser aus den Highgate-Teichen«, er machte eine Armbewegung, »dort hinter den Feldern.«

Thomas Pitt nickte. Er stellte sich die Szene vor: die Angst, die sengende Hitze, die die Männer zurückdrängte, die verschreckten Pferde, die Leinenkübel, die von Hand zu Hand gereicht wurden, und die Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens. Alles war in Rauch und roten Feuerschein gehüllt, die Flammen schossen gen Himmel, Balken explodierten donnernd, und Funken sprühten in die Dunkelheit. Der Brandgeruch hing noch in der Luft. Er ließ die Augen tränen und kratzte im Hals. Unbewußt wischte sich Pitt eine Rußflocke von der Wange und verschmierte sein Gesicht noch mehr.

»Was ist mit der Leiche?« fragte er.

Plötzlich vergaß Murdo seine Rivalitätsgefühle. Er erinnerte sich an die Männer, die, ganz bleich im Gesicht, mit einer Bahre aus dem Schutt herausgetaumelt waren. Darauf befanden sich die gräßlich verkohlten Überreste einer kaum noch als menschlich erkennbaren Gestalt. Murdos Stimme zitterte, als er antwortete.

»Wir glauben, daß es Mrs. Shaw war, Sir, die Frau des hiesigen Arztes, dem das Haus gehört. Er ist außerdem Polizeiarzt, darum haben wir einen Arzt aus Hampstead geholt, aber der konnte uns auch nicht weiterhelfen. Das kann wohl keiner. Dr. Shaw hält sich momentan bei einem Nachbarn auf, bei Mr. Amos Lindsay.« Er deutete zum Highgate Rise in Richtung West Hill.

»Ist er verletzt?« fragte Pitt und blickte weiter auf die Ruine.

»Nein, Sir. Er war zu einem Hausbesuch. Eine Geburt – er war fast die ganze Nacht dort. Erst auf dem Heimweg hörte er von dem Feuer.«

»Was ist mit der Dienerschaft?« Pitt wandte sich endlich um und sah Murdo an. »Der Dienstbotentrakt scheint am wenigsten betroffen zu sein.«

»Ja, Sir. Die Hausangestellten konnten alle dem Feuer entkommen. Nur der Butler trug schwere Brandwunden davon. Er liegt jetzt im St.-Pancras-Krankenhaus, südlich des Friedhofs. Die Köchin steht unter Schock. Ihre Verwandte kümmert sich um sie, drüben in der Seven Sisters Road.

Das Hausmädchen weint den ganzen Tag und sagt immerzu, daß sie Dorset niemals hätte verlassen dürfen, sie will dahin zurück. Das Dienstmädchen kommt tagsüber.«

»Aber sie sind alle überprüft worden, keiner verletzt außer dem Butler?« vergewisserte sich Pitt.

»Richtig, Sir. Das Feuer war im Hauptgebäude. Auf den Personalflügel hat es zuletzt übergegriffen, die Feuerwehrleute haben sie alle rausgeholt.«

Murdo schauderte, obwohl er vor dem glimmenden Holz und glühenden Schutt stand. Der milde Septemberregen ließ nach, und eine wäßrige Nachmittagssonne beleuchtete die Bäume jenseits der Felder von Bishop’s Wood. Ein leichter Wind wehte von London herüber, wo der Kensington-Park noch in voller Blüte stand, Kindermädchen in gestärkten Schürzen mit ihren Schutzbefohlenen auf und ab promenierten und Kapellen beschwingte Weisen spielten. Pferdekutschen ratterten die Mall entlang, modische Damen winkten einander zu und präsentierten die neuesten Hüte, und hinreißend aussehende weibliche Wesen von zweifelhaftem Ruf schritten, tadellos gekleidet, über die Rotten Row und machten den Herren schöne Augen.

Die Königin, die immer noch Schwarz trug, da sie um den vor siebenundzwanzig Jahren gestorbenen Prinzen Albert trauerte, hatte sich auf Schloß Windsor zurückgezogen.

Und in den Gassen von Whitechapel riß ein Wahnsinniger den Frauen die Eingeweide aus dem Leib, verstümmelte ihre Gesichter und ließ die blutüberströmten Leichen auf dem Pflaster zurück. Bald wurde er von der lokalen Presse Jack the Ripper genannt.

Murdo zog die Schultern hoch und zurrte das Band seines Helmes etwas enger. »Nur Mrs. Shaw ist umgekommen, Sir. Soweit wir feststellen konnten, brach das Feuer mindestens an vier Stellen gleichzeitig aus und brannte sofort lichterloh, weil die Vorhänge mit Lampenöl getränkt waren.« Die Muskeln in seinem jungen Gesicht zuckten. »Auf einen Vorhang kann man aus Versehen Öl verschütten, aber nicht in vier verschiedenen Räumen, und alle fangen im selben Moment Feuer, und keiner hat es gemerkt. Es muß Brandstiftung gewesen sein.«

Pitt schwieg. Es handelte sich um Mord, und aus eben diesem Grund stand er hier in dem zertrampelten Garten neben dem eifrigen und besorgten jungen Polizisten mit dem blassen, rußverschmierten Gesicht, dessen Augen vor Entsetzen und Mitleid weit aufgerissen waren.

»Die Frage ist«, sagte Murdo ruhig, »ob die arme Mrs. Shaw umgebracht werden sollte – oder der Doktor?«

»Wir werden eine Menge herausfinden müssen«, erwiderte Pitt grimmig. »Als erstes sprechen wir mit dem Feuerwehrhauptmann.«

»Er hat seine Aussage auf dem Revier gemacht, Sir. Es liegt ungefähr eine halbe Meile entfernt oben an der Straße.« Das klang ein wenig steif, denn Murdo dachte wieder an die Zuständigkeit seiner eigenen Leute in diesem Fall.

Pitt folgte Murdo, und sie gingen schweigend nebeneinander her. Ein paar verblaßte Blätter fegten über das Pflaster, und eine Droschke ratterte vorüber. Stattliche Häuser standen hier. Angesehene Leute mit Geld lebten in beachtlichem Wohlstand an der Westseite der Straße, die in das Zentrum von Highgate mit seinen Gasthäusern, Rechtsanwaltskanzleien, Geschäften, dem Wasserwerk und dem Pond Square führte. Im Südosten erstreckte sich der riesige, gepflegte Friedhof. Jenseits der Häuser lagen Wiesen, grün und still.

Auf dem Polizeirevier wurde Pitt höflich begrüßt, doch er merkte an der Art, wie die Männer seinen Blicken auswichen, daß sie genau wie Murdo nicht einsahen, daß seine Anwesenheit überhaupt notwendig war. In ganz London herrschte Mangel an Polizisten, weil möglichst viele Streifen nach Whitechapel entsandt wurden, um die grauenhaften Morde aufzuklären, die ganz London in Schrecken versetzten und in Europa Schlagzeilen machten.

Der Bericht des Feuerwehrhauptmanns lag für Pitt vorbereitet auf dem Schreibtisch des Polizeichefs.

Er war grauhaarig, sprach ruhig und so reserviert, daß es seinen Vorbehalt gegen Pitt eher betonte als verbarg. Er trug eine tadellose Uniform, doch sein Gesicht war von Erschöpfung gezeichnet, und seine Hände waren mit Brandblasen übersät, die zu verarzten er noch keine Zeit gehabt hatte.

Pitt dankte ihm, doch machte er kein Aufhebens davon, um nicht das Augenmerk auf die Umkehrung ihrer Rollen zu lenken. Er nahm sich den Feuerwehrbericht vor, der in einer gestochenen Handschrift geschrieben war. Der Sachverhalt war einfach und entsprach Murdos Aussagen. Wie die meisten Gebäude war auch dieses Haus mit Gaslicht ausgestattet, und als das Feuer die Gasleitungen erreichte, waren diese explodiert. Die Bewohner hätten kaum eine Chance gehabt zu entkommen, es sei denn, sie hätten das Feuer früh genug bemerkt und wären durch den Personalflügel ins Freie gekommen.

Mrs. Clemency Shaw war vermutlich im Rauch erstickt, ehe sie verbrannte, und Dr. Stephen Shaw war durch seine Abwesenheit dem sicheren Tod entronnen. Die Hausangestellten hatten nichts bemerkt, bis die Glocken der Feuerwehr sie aufschreckten und die Feuerwehrleute sie über Leitern durch die Fenster herausholten.

Als Pitt und Murdo an die Tür des Nachbarhauses klopften, war es fast drei Uhr nachmittags, und es hatte aufgehört zu regnen. Der Besitzer öffnete selbst, ein kleiner Mann mit einem feinen Kopf und wellig zurückgekämmtem Silberhaar. Sein Gesichtsausdruck war sehr ernst. Eine steile Linie, die Besorgnis ausdrückte, stand zwischen seinen Brauen, und nicht die Spur eines Lächelns umspielte den sanften, klar gezeichneten Mund.

»Guten Tag«, sagte der Mann hastig. »Sie sind von der Polizei? Ja, natürlich.« Murdos Uniform machte die Bemerkung überflüssig, obwohl der Hausbesitzer Pitt argwöhnisch betrachtete. Die Gesichter von Polizisten beachtete man nicht, ebensowenig wie diejenigen von Droschkenfahrern oder Kanalreinigern, aber wenn ein Polizist keine Uniform trug, wirkte das befremdlich.

»Kommen Sie herein. Sie wollen wissen, ob ich etwas gesehen habe … Ich kann mir nicht vorstellen, wie der Brand ausbrechen konnte! Mrs. Shaw war eine sehr gewissenhafte Frau. Wie schrecklich! Gas, vermute ich. Ich habe mir oft gedacht, daß wir die Kerzen nicht hätten aufgeben dürfen. Sie waren viel angenehmer.« Er führte die Besucher durch eine düstere Halle in einen großen Wohnraum, der im Lauf der Jahre offensichtlich mehr und mehr als Arbeitszimmer genutzt worden war.

Pitt sah sich interessiert um. Es war ein höchst individuelles Gemach, das viel über seinen Bewohner aussagte. Es gab vier riesige, sehr unordentliche Bücherregale, die offensichtlich nicht zur Verzierung da waren, sondern von häufigem Gebrauch zeugten. Über dem Kamin hing ein goldgerahmtes romantisches Bild, das Sir Galahad kniend darstellte, und gegenüber ein Gemälde der Lady von Shallott, die mit Blumen im Haar einen Fluß hinunterfuhr. Auf einem runden Holztisch neben dem Ledersessel stand die schön gearbeitete Nachbildung eines berittenen Kreuzfahrers. Briefe lagen verstreut auf dem Pult, Zeitungen auf den Armlehnen der Couch und Ausschnitte und Zettel auf den Stühlen.

»Quinton Pascoe«, stellte sich der Mann vor. »Aber natürlich wissen Sie das schon. Nehmen Sie Platz, meine Herren. Es ist schrecklich, einfach schrecklich! Mrs. Shaw war eine so feine Frau. Ein furchtbarer Verlust – eine Tragödie.«

Pitt setzte sich behutsam auf die Couch und ignorierte das Knistern einer Zeitung hinter dem Kissen. Murdo blieb stehen.

»Kommissar Pitt und Wachtmeister Murdo«, sagte er. »Wann sind Sie letzte Nacht zu Bett gegangen, Mr. Pascoe?«

»Oh – kurz vor Mitternacht. Leider habe ich nichts gesehen oder gehört, bis mich die Feuerwehrglocken geweckt haben. Dann habe ich natürlich das Toben des Feuers gehört. Gräßlich!« Er schüttelte den Kopf und sah Pitt schuldbewußt an. »Leider schlafe ich sehr fest, und das belastet jetzt mein Gewissen. Lieber Gott.« Er blinzelte und sah zum Fenster hinaus in den wilden, üppigen Garten mit den gelbbraunen Blüten des Frühherbstes. »Wenn ich nur fünfzehn Minuten später ins Bett gegangen wäre, hätte ich vielleicht den Ausbruch des Feuers bemerkt und Alarm schlagen können.« Bei dieser Vorstellung verdüsterte sich sein Gesicht. »Es tut mir unendlich leid, obwohl das nun auch nichts mehr nützt.«

»Haben Sie in der letzten halben Stunde, ehe Sie sich zurückzogen, auf die Straße geschaut?« fragte Pitt drängend.

»Wie oft soll ich noch beteuern, Herr Kommissar, daß ich nichts gesehen habe?« erwiderte Pascoe leicht gereizt. »Ich trauere um die arme Mrs. Shaw; ich habe sie sehr geschätzt. Aber jetzt können wir nichts mehr für sie tun, höchstens uns noch um den bedauernswerten Dr. Shaw kümmern.«

Murdo wurde unruhig, und sein Blick huschte zu Thomas Pitt hinüber.

Bald würden die Einzelheiten der Katastrophe die Runde machen, und Pitt sah keinen Anlaß zur Geheimniskrämerei.

Er beugte sich vor, und die Zeitung hinter dem Kissen raschelte erneut.

»Das Feuer war kein Unfall, Mr. Pascoe. Natürlich hat die Explosion der Gasleitung es verschlimmert, aber sie kann nicht die Ursache gewesen sein. Der Brand brach an verschiedenen Stellen gleichzeitig aus, offenbar an den Fenstern.«

»An den Fenstern? Was soll das heißen? Fenster brennen doch nicht, Mann! Wer sind Sie eigentlich?«

»Kommissar Thomas Pitt vom Revier Bow Street, Sir.«

»Bow Street?« Pascoes weiße Augenbrauen hoben sich erstaunt. »Aber das ist doch in London, meilenweit entfernt. Funktioniert unser örtliches Polizeirevier nicht?«

»Nichts dergleichen«, sagte Pitt, konnte sich aber nur mit Mühe beherrschen. Es war schon schwierig genug, eine freundliche Haltung zu bewahren, wenn er sich immer wieder Kommentare wie diese von Murdo anhören mußte. »Der Polizeichef sieht die Sache als ziemlich gravierend an und möchte, daß der Fall so schnell wie möglich gelöst wird. Der Feuerwehrhauptmann sagt, daß das Feuer an den Fenstern ausgebrochen sei. Jemand muß die Vorhänge mit Lampenöl getränkt und das Feuer vorsätzlich gelegt haben.«

»O mein Gott!« Alle Farbe wich aus Pascoes Gesicht. »Wollen Sie sagen, jemand hat es vorsätzlich gelegt, um Clemency Shaw zu töten? Nein!« Er schüttelte heftig den Kopf. »Unsinn! Absoluter Quatsch! Kein Mensch würde sie ermorden wollen. Man muß Dr. Shaw im Visier gehabt haben. Übrigens  – wo war er? Warum war er nicht zu Hause?« Er hielt inne und starrte erschüttert zu Boden.

»Haben Sie jemand gesehen, Mr. Pascoe?« wiederholte Pitt und beobachtete die zusammengesunkene Gestalt. »Einen Fußgänger, eine Kutsche, ein Licht – irgend etwas?«

»Ich …« Pascoe seufzte. »Ich ging im Garten spazieren. Ich hatte an einer Abhandlung gearbeitet, die mir Schwierigkeiten bereitete.« Er räusperte sich laut, zögerte einen Moment, doch dann brach es aus ihm hervor: »Es handelt sich um die Widerlegung einer absurden Behauptung Dalgettys über Richard Löwenherz.« Er sprach den klangvollen Namen fast liebkosend aus. »Sie kennen John Dalgetty nicht – wie sollten Sie auch? Er ist ein zutiefst verantwortungsloser Mensch, ohne Selbstbeherrschung oder Sinn für Anstand. Rezensenten haben doch eine Verpflichtung, nicht wahr?« Sein Blick hielt den von Pitt fest. »Wir formen die öffentliche Meinung. Es ist wichtig, was wir dem Publikum vorlegen, was wir loben oder verurteilen. Aber Dalgetty läßt es zu, daß die Tugenden der Ritterlichkeit und Ehre verspottet oder ignoriert werden – im Namen der Freiheit, aber in Wirklichkeit geht es ihm um die Ausschweifung.« Er sprang auf und gestikulierte wild, um seine Empörung zu unterstreichen. »Er befürwortete Amos Lindsays verheerende Abhandlung über diese neue politische Philosophie – ihre Anhänger nennen sich Fabier. Was er schreibt, grenzt an Anarchie – das pure Chaos. Den Leuten ihr Besitztum wegzunehmen ist ganz einfach Diebstahl, und sie werden es nicht akzeptieren. Wenn solche Tendenzen sich ausbreiten, wird es Blutvergießen geben.« Die Kiefer des Mannes mahlten bei der Anstrengung, seinen Zorn zu bezwingen. »Auf unserem eigenen Grund und Boden werden Engländer gegen Engländer kämpfen. Aber Lindsay stellt es dar, als läge eine Art natürlicher Gerechtigkeit darin, Wohlhabende zu enteignen und ihr Vermögen mit jedermann zu teilen, ungeachtet der menschlichen oder geistigen Qualitäten einer Person – oder ihrer Fähigkeit, es zu schätzen und zu bewahren.« Er fixierte Pitt mit brennenden Augen. »Stellen Sie sich dieses Verderben vor, diese Verschwendung und monströse Ungerechtigkeit. Alles, wofür wir gearbeitet, was wir geschätzt haben – alles, was wir im Lauf der Generationen geerbt haben, all die Schönheit, die Schätze der Vergangenheit … Natürlich hat Shaw, dieser Narr, sich ebenfalls für diese Ideen erwärmt.«

Plötzlich fiel es Pascoe ein, daß Pitt ein Polizist war, der vermutlich nichts besaß – und ihm fiel wieder ein, warum Pitt hier war. Die Schultern des Mannes sanken wieder nach vorn. »Es tut mir leid. Ich sollte nicht einen Menschen kritisieren, der solch einen Verlust erlitten hat – es ist unanständig.«

»Sie gingen also spazieren …«, sagte Pitt schnell.

»Ja, meine Augen waren müde, und ich wollte mich erfrischen, mußte mein inneres Gleichgewicht wiederherstellen. Ich ging in meinen Garten.« Bei der Erinnerung lächelte er selig. »Es war ein sehr angenehmer Abend, ein schöner Mond, kaum Wolken, und ich hörte sogar eine Nachtigall singen – wunderbar beruhigend! Mit großem Frieden im Herzen ging ich zu Bett.« Er blinzelte. »Wie furchtbar! Keine zwanzig Meter entfernt kämpfte eine Frau um ihr Leben, und ich ahnte nichts.«

Thomas Pitt bemerkte den schuldbewußten Ausdruck im Gesicht des Mannes.

»Möglicherweise hätten Sie auch in wachem Zustand das Feuer erst entdeckt, als es zu spät war. Mrs. Shaw erstickte vermutlich im Schlaf.«

»Wirklich?« Pascoes Augen öffneten sich weit. »Das hoffe ich. Sie war, wie ich schon sagte, eine feine Person, viel zu gut für Shaw, diesen gefühllosen Menschen ohne höhere Ideale. Natürlich behaupte ich nicht, daß er kein fähiger Arzt und Gentleman ist«, fügte er hastig hinzu. »Aber ohne feinere Wahrnehmung. Er findet es witzig und fortschrittlich, sich über menschliche Werte lustig zu machen. Mein Gott, man sollte nicht so schlecht über die Hinterbliebenen sprechen. Ich bedaure zutiefst, daß ich Ihnen nicht helfen kann.«

»Dürfen wir Ihre Dienerschaft befragen, Mr. Pascoe?« Das war eine Höflichkeitsfloskel, denn Pitt beabsichtigte diese Befragung in jedem Fall.

»Selbstverständlich! Aber bitte tun Sie es rücksichtsvoll. Tüchtige Köchinnen sind so schwer zu bekommen, vor allem für einen Junggesellenhaushalt wie meinen. Wenn sie was taugen, dann wollen sie Abendgesellschaften und solche Sachen veranstalten, und ich habe dafür kaum Gelegenheit. Nur hin und wieder ein paar Kollegen aus der Literatur.«

Pitt erhob sich, und Murdo war ebenfalls zum Gehen bereit. »Danke.«

Doch weder die Köchin noch der Diener hatten etwas bemerkt, und die beiden blutjungen Hausmädchen versicherten, schon geschlafen zu haben. In Anbetracht der Tatsache, daß sie bereits um fünf Uhr morgens aufstehen mußten, hatte Pitt keine Probleme, ihnen zu glauben.

Als nächstes kam das südlich gelegene Nachbarhaus an die Reihe. An diesem Abschnitt des Highgate Rise fielen die angrenzenden Wiesen zu einem Weg ab, der, wie Murdo sagte, Bromwich Walk hieß und vom Pfarrhaus der St.-Anne-Kirche gen Süden führte, parallel zum Rise, und schließlich in Highgate selbst endete.

»Sehr leicht zugänglich, Sir«, meinte Murdo finster. »Zu dieser nachtschlafenden Zeit hätten Hunderte von Leuten mit einer ganzen Tasche voller Streichhölzer hier herumschleichen können, und keiner hätte sie gesehen.« Ihm kam allmählich der Gedanke, daß diese ganze Aktion reine Zeitverschwendung war, und man merkte dies seinem Gesichtsausdruck an.

Pitt lächelte trocken. »Meinen Sie nicht, daß die sich in die Quere gekommen wären, Wachtmeister?«

Murdo verstand den Witz nicht. Er hatte es doch ironisch gemeint. Sollte dieser Kommissar von der Bow Street tatsächlich so unintelligent sein? Er sah sich dieses eigentlich recht freundliche Gesicht mit der langen Nase, den leicht vorstehenden Zähnen und dem ungepflegten Haar noch einmal genauer an; dann bemerkte er das Blitzen in den Augen und den von Humor und Strenge gezeichneten Mund. Er änderte seine Meinung.

»In der Dunkelheit«, setzte Pitt noch einmal an, »hat der Mond möglicherweise hell genug geschienen, daß Mr. Pascoe sich zurechtfinden konnte, wenn die Nacht aber bewölkt war und es keine Lichter mehr in den Häusern gab – alle Vorhänge zugezogen und alle Lampen gelöscht nach Mitternacht …«

»Ich verstehe.« Murdo sah jetzt klarer. »Wer auch immer es war, er mußte eine Laterne bei sich haben, und zu dieser Nachtzeit hätte jeder, der zufällig gerade aus dem Fenster sah, sogar ein Streichholzlicht erkennen können.«

»Genau.« Pitt zog die Schultern hoch. »Ein Licht würde uns allerdings nicht viel weiterhelfen, es sei denn, jemand hat gesehen, woher es kam. Fragen wir also Mr. Alfred Lutterworth und seine Hausangestellten.«

Es war ein herrlicher Besitz, doppelt so groß wie die anderen, für dessen Ausstattung an nichts gespart worden war. Pitt folgte seiner Gewohnheit und klopfte an der Haupteingangstür. Er lehnte es ab, den Dienstboteneingang zu benützen, was Polizisten und sonstige untergeordnete oder unerwünschte Personen eigentlich tun sollten. Ein sehr attraktives Stubenmädchen in einem grauen Arbeitskleid und mit gestärktem, spitzenbesetztem Häubchen öffnete.

»Händler gehören an den Hintereingang«, sagte sie mit erhobenem Kinn.

»Ich möchte Mr. Lutterworth sprechen, nicht den Butler«, erklärte Thomas Pitt schroff. »Vermutlich empfängt er seine Besucher hier.«

»Er empfängt überhaupt keine Polizisten«, entgegnete sie flink.

»Heute wird er eine Ausnahme machen.« Pitt betrat das Haus, und sie mußte ihm aus dem Weg gehen, sonst wäre er mit der Brust gegen ihre Nase gestoßen. Murdo war entsetzt und gleichzeitig voller Bewunderung. »Ich bin sicher, daß er dabei behilflich sein will herauszufinden, wer Mrs. Shaw gestern nacht ermordet hat.«

Die junge Person wurde fast so weiß wie ihre Schürze, und Pitt hatte Glück, daß sie nicht in Ohnmacht fiel. Ihre Taille war so eng geschnürt, daß auch einem kräftigeren Wesen die Luft hätte ausgehen können.

»O Gott!« Sie beherrschte sich mühsam. »Ich dachte, es sei ein Unfall gewesen.«

»Ich fürchte, nicht.« Pitt verfolgte seinen etwas ungeschickten Kurs weiter. Er wollte sich von einem Mädchen nicht blamieren lassen. »Haben Sie zufällig um Mitternacht aus dem Fenster gesehen und vielleicht ein Licht bemerkt, das sich bewegte, oder ein ungewohntes Geräusch gehört?«

»Nein …« Sie zögerte. »Aber Alice, unsere Aushilfe, behauptete heute morgen, sie hätte einen Geist gesehen. Aber sie ist ein bißchen blöd – kann sein, daß sie es geträumt hat.«

»Ich werde mit Alice reden.« Pitt lächelte. »Möglicherweise ist das wichtig. Danke.«

Langsam lächelte sie ebenfalls. »Wenn Sie im Frühstückszimmer warten wollen … Ich werde Mr. Lutterworth Bescheid sagen – Sir.«

Der Raum, in den sie geführt wurden, war außergewöhnlich schön eingerichtet. Sein Besitzer besaß nicht nur Geld, sondern auch Geschmack. Pitt hatte noch Zeit, die Aquarelle an den Wänden zu betrachten. Bestimmt waren sie wertvoll – der Erlös jedes einzelnen hätte eine Familie zehn Jahre lang ernährt –, aber sie paßten auch hervorragend zusammen, und sie strahlten eine Harmonie aus, die dem Auge wohltat.

Alfred Lutterworth war ein Mann Ende Fünfzig mit frischem Gesicht und einem weißen Haarkranz um den blanken Schädel. Die Haltung seiner großen, kräftigen Gestalt drückte die Festigkeit eines Menschen aus, der durch eigene Kraft zu Wohlstand gekommen war. Bei einem feinen Herrn hätte man seine markanten Gesichtszüge als gutaussehend bezeichnen können, doch es lag etwas Kriegerisches und zugleich Unsicheres in ihnen, das verriet, daß der Mann sich trotz all seines Reichtums als nicht der Oberschicht zugehörig betrachtete.

»Ich hab’ von mei’m Mädchen gehört, daß Sie hier sind, weil Mrs. Shaw durch das Feuer umgebracht wurde«, sagte Lutterworth mit einem starken Lancashire-Dialekt. »Stimmt das? Die Mädchen lesen zuviel Schund, der ihre Fantasie anregt.«

»Ja, leider stimmt es, Sir«, erwiderte Pitt. Er stellte sich und Murdo vor und erklärte das Wichtigste.

»Eine böse Sache«, meinte Lutterworth grimmig. »Mrs. Shaw war’n guter Mensch, wie es sie hier kaum gibt, ausgenommen Maude Dalgetty, die ebenfalls das Herz auf’m rechten Fleck hat.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich hab’ überhaupt nichts bemerkt. Hab’ gewartet, bis Flora heimkam – das war zwanzig Minuten vor Mitternacht –, dann bin ich zu Bett gegangen und erst durch den Lärm der Feuerwehrglocken aufgewacht. Da hätte ’ne Armee vorbeiziehen können, und ich hätte sie nicht gehört.«

»Flora ist Ihre Tochter?« fragte Pitt, obwohl er es bereits von der Highgate-Polizeiwache wußte.

»Ja. Sie war mit Freunden zu einem Vortrag in der St. Albans Road. Das ist südlich von hier, hinter der Kirche.«

»Kam sie zu Fuß nach Hause, Sir?«

»Das ist ja nur ein paar Schritte entfernt.« Lutterworths tiefliegende, gütige Augen beobachteten Pitt scharf, als erwarteten sie Kritik. »Sie ist ein gesundes Persönchen.«

»Ich würde sie gern fragen, ob sie etwas gesehen hat.« Pitts Stimme klang gleichmütig. »Frauen können sehr aufmerksam sein.«

»Sie meinen neugierig«, stimmte Lutterworth wehmütig zu. »Meine verstorbene Frau bemerkte hundert Dinge, die ich gar nicht sah. Und mit ihren Vermutungen hatte sie fast immer recht.« Er schien sich mit Wärme an seine Ehe zu erinnern  – doch dann kehrte er in die Gegenwart zurück. »Fragen Sie, wenn Sie wollen.«

Auf sein Läuten hin erschien das Mädchen an der Tür.

Lutterworth befahl Polly, wie er sie nannte, seine Tochter zu holen.

Flora Lutterworth war offenbar genauso von Neugier geplagt wie ihre Hausmädchen, denn sie kam sofort, obwohl ihr erhobenes Kinn und ihre Weigerung, ihrem Vater in die Augen zu sehen, ausdrückten, daß die beiden gerade eine Meinungsverschiedenheit gehabt hatten.

Sie war eine gutaussehende junge Dame, groß und schlank, mit ausdrucksvollen Augen und üppigem dunklem Haar. Durch ihre vorspringenden Wangenknochen und die überraschend krummen Zähne entsprach sie nicht dem gängigen Schönheitsideal, doch ihr Gesicht verriet einen starken Charakter. Pitt wunderte sich nicht, daß sie mit ihrem Vater gestritten hatte. Er konnte sich hundert Gründe ausmalen, weswegen sie mit ihm aneinandergeriet.

»Guten Tag, Miß Lutterworth«, sagte er höflich. »Sicher haben Sie von der Tragödie der letzten Nacht gehört. Darf ich fragen, ob Sie auf dem Heimweg von dem Vortrag jemand gesehen haben, einen Fremden oder jemand, den Sie kennen?«

»Jemand, den ich kenne?« Der Gedanke schien sie zu erschrecken.

»Falls ja, würden wir uns bei demjenigen ebenfalls erkundigen, ob er etwas beobachtet hat.«

Das war wenigstens teilweise die Wahrheit. Es hatte keinen Sinn, Flora das Gefühl zu geben, daß sie durch ihre Antwort jemanden beschuldigen könnte.

»Ah.« Ihre Züge hellten sich auf. »Als wir die Howards verließen, sah ich Dr. Shaws Kutsche vorbeifahren.«

»Woher wissen Sie, daß es seine war?«

»Es gibt hier nur eine in dieser Art.« Sie sprach ohne eine Spur von Dialekt. Vermutlich hatte Mr. Lutterworth seiner Tochter Sprachunterricht geben lassen, um sie mit den Merkmalen einer wahren Lady auszustatten. Seine Augen ruhten voller Stolz auf ihr. »Außerdem«, fuhr sie fort, »habe ich sein Gesicht im Lampenschein deutlich erkannt.«

»Sahen Sie sonst noch jemand?«

»Nun, Mr. Lindsay kam nur wenig später als wir. Ich war in Begleitung von Mr. Arroway und den Barking-Töchtern. Vor uns gingen Mr. und Mrs. Dalgetty. Leider kann ich mich sonst an niemand erinnern.«

Thomas Pitt bedankte sich und bat um Erlaubnis, das Personal zu befragen. Er und Murdo wurden in das Wohnzimmer der Haushälterin geführt, wo er sich die Geschichte des zwölfjährigen Aushilfsmädchens anhörte: Ein Geist mit glühend gelben Augen sei im Nachbargarten zwischen den Büschen herumgehuscht. Sie wisse es nicht genau, aber es sei ungefähr um Mitternacht gewesen, sie habe die Uhr so oft schlagen gehört. Es sei niemand in der Nähe gewesen, und alle Gaslichter waren runtergedreht. Sie hätte sich zu Tode gefürchtet und sei ins Bett gekrochen, ohne einer Menschenseele etwas zu sagen. Mehr wußte die Kleine nicht zu berichten.

Pitt dankte ihr besonders herzlich – sie war nur ein paar Jahre älter als seine eigene Tochter Jemima – und sagte ihr, daß sie ihm eine große Hilfe gewesen sei. Sie errötete erfreut und zog sich verwirrt zurück. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte ihr ein Erwachsener ernsthaft zugehört.

»Glauben Sie, daß das unser Mörder war, Kommissar?« fragte Murdo, als sie wieder auf der Straße waren. »Dieses Gespenst?«

»Ein Licht, das sich in Shaws Garten bewegte? Wahrscheinlich. Wir werden alle Leute befragen müssen, die Flora Lutterworth auf ihrem Heimweg gesehen hat.«

»Eine sehr wachsame junge Dame – und sehr vernünftig«, meinte Murdo und wurde rot.

Pitt stimmte mit einem leichten Lächeln zu. »Ja. Ich halte sie für intelligent. Vielleicht hätte sie mehr gesagt, wenn ihr Vater nicht dabeigewesen wäre. Vermutlich sind die beiden nicht immer einer Meinung.«

Murdo öffnete den Mund, um etwas zu antworten, doch dann fiel ihm nichts Passendes ein, und er schwieg.

Pitts Lächeln vertiefte sich. Er beschleunigte seine Schritte, als sie sich dem Haus von Amos Lindsay näherten, wo der nunmehr verwitwete Dr. Shaw Zuflucht gefunden hatte.

Das Anwesen war bedeutend kleiner als das der Lutterworths, und im Inneren erwies es sich als höchst ausgefallen im Geschmack. Der Besitzer war offensichtlich ein Forscher und Anthropologe. Schnitzereien verschiedenen Ursprungs bedeckten die Wände, drängten sich auf Borden und Tischen und standen sogar unordentlich verstreut auf dem Boden herum. Pitt, der sich auf diesem Gebiet nicht besonders gut auskannte, schätzte, daß sie aus Afrika oder Zentralasien stammten. Er sah nichts Ägyptisches, Orientalisches oder Amerikanisches, nichts, das die sanfte und vertraute Ruhe des Klassizismus ausstrahlte, der ein Erbe der westeuropäischen Kultur war. Etwas Fremdes lag in diesen Skulpturen, eine barbarische Roheit, die sich mit der sehr konventionellen viktorianischen Mittelklasse-Einrichtung schlecht vertrug.

Die beiden Besucher wurden von einem untadelig zuvorkommenden Diener hereingeführt, der einen Akzent sprach, den Pitt nicht einordnen konnte. Seine Haut war nicht dunkel, sah aber ungewöhnlich weich aus, und seine Haare schienen mit India-Tinte auf den Kopf gezeichnet.

Amos Lindsay wirkte äußerst englisch in seiner Erscheinung, klein und weißhaarig, doch er war ein völlig anderer Typ als Pascoe.

Während Pascoe sich im wesentlichen als Idealist verstand, der die mittelalterliche Ritterlichkeit in Europa fortgeführt sehen wollte, war Lindsay ein Mann von unersättlicher und rücksichtsloser Neugier, der das Überlieferte geringschätzte, wie die Einrichtung seines Hauses zeigte. Der Geist des Mannes befaßte sich mit den Geheimnissen der Unzivilisiertheit und des Unbekannten. Die Heftigkeit der tropischen Sonne und starke Mimik hatten tiefe Furchen in Lindsays Gesicht gegraben. Seine Augen waren klein und schlau, die eines Realisten, nicht eines Träumers. Der ganze Mann schien sich mit Humor zu den Absurditäten des Lebens zu bekennen.

Nun, da er Pitt und Murdo in seinem Arbeitszimmer empfing, war er sehr ernst.

»Guten Abend«, sagte er höflich. »Dr. Shaw hält sich im Wohnzimmer auf. Ich hoffe, daß Sie ihm nicht eine Menge überflüssiger Fragen stellen werden, die auch ein anderer beantworten könnte.«

»Nein, Sir«, versicherte Pitt. »Vielleicht dürfen wir uns deshalb erst an Sie wenden?«

»Natürlich, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was Sie von uns erfahren möchten. Da Sie aber hier sind, gehen Sie wohl davon aus, obwohl es ganz unwahrscheinlich ist, daß es sich um eine kriminelle Tat handelt.« Er musterte Pitt scharf. »Ich bin um neun Uhr zu Bett gegangen, denn ich stehe früh auf. Ich habe nichts gehört oder gesehen, ebensowenig wie mein Personal, das ich schon befragt habe. Es ist mir schleierhaft, was für ein Mensch das sein könnte, der durch einen Brandanschlag mordet. Andererseits sind die Vertreter unserer Spezies zu jedem Wahnsinnsakt fähig.«

»Kennen – oder kannten – Sie Dr. Shaw und seine Frau gut?«

Lindsay war nicht überrascht von der Frage. »Ich kenne ihn gut. Er ist einer der wenigen Männer hier am Ort, mit dem mir der Umgang leichtfällt. Er ist aufgeschlossen, nicht in Traditionen befangen wie die meisten anderen. Er besitzt beachtliche Intelligenz und Witz – keine allgemein üblichen Eigenschaften, und nicht immer geschätzt.«

»Und Mrs. Shaw?« wollte Thomas Pitt wissen.

»Die kannte ich nicht so gut, was ganz natürlich ist. Mit einer Frau kann man nicht diskutieren wie mit einem Mann. Aber sie war eine feine Person, vernünftig, einfühlsam, bescheiden ohne Unterwürfigkeit, ehrlich. Sie besaß die besten weiblichen Tugenden.«

»Wie sah sie aus?«

»Bitte?« Lindsay war sichtlich erstaunt. Dann zeigte sich auf seinen Zügen eine komische Mischung aus Belustigung und Unentschiedenheit. »Das ist wohl Geschmackssache. Sie war dunkelhaarig, hatte ein angenehmes Gesicht und ein wenig breite …« Er errötete und wedelte mit den Händen in der Luft. Pitt vermutete, daß er Hüften hatte sagen wollen, wenn ihn nicht sein Sinn für Anstand gebremst hätte. »Gütige Augen, gescheit und sanft … Das klingt nach einem Pferd – ich entschuldige mich. Meiner Meinung nach war sie eine hübsche Frau. Sicher werden Sie noch mit ihren beiden Tanten reden, den Worlingham-Schwestern. Clemency ähnelte Celeste ein wenig, nicht Angeline.«

»Danke. Könnten wir jetzt Dr. Shaw sprechen?«

»Natürlich.« Ohne ein weiteres Wort ging Lindsay voraus zum Wohnzimmer. Und mit einem kurzen Klopfen öffnete er die Tür.

Pitt ignorierte die beachtlichen Kuriositäten an den Wänden und musterte sofort den Mann vor dem Kamin, dessen Gesicht von jedem Gefühl entleert war, wobei der Körper angespannt wirkte, als wartete er auf eine Handlung oder einen Auftrag. In den Augen des Arztes zeigte sich kein Interesse, nur Pflichtgefühl. Seine Haut war bleich vom Schock und schimmerte fast bläulich. Doch trotz allen Schmerzes hatten die Gesichtszüge ihre Kraft nicht verloren – Geist, Witz und ausgeprägter Individualismus sprachen aus ihnen, Eigenschaften, von denen Pitt bereits gehört hatte.

»Guten Abend, Dr. Shaw«, sagte Pitt förmlich. »Ich bin Kommissar Pitt von der Bow Street, und das ist Wachtmeister Murdo vom örtlichen Revier. Es tut mir leid, daß wir Ihnen ein paar peinigende Fragen stellen müssen …«

Shaw schnitt ihm seine Erklärungen ab. »Selbstverständlich.« Als Polizeiarzt wußte er Bescheid. »Fragen Sie, aber sagen Sie mir zuerst, was Sie wissen. Steht es fest, daß es sich um Brandstiftung handelt?«

»Ja. Sonst wäre es nicht zu erklären, daß das Feuer an vier verschiedenen Stellen gleichzeitig ausbrach.« Pitt erzählte, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte.

Shaws Gesicht drückte Skepsis aus, und selbst jetzt verschwand die Spur von Humor nicht aus seinen Zügen, die offensichtlich für ihn charakteristisch war. »Woher wissen Sie, daß das Feuer an den Vorhängen ausbrach? Von meinem Haus …«, er schluckte, »… ist nicht mehr viel übrig.«

»Das Muster des Brandes gibt Auskunft«, erwiderte Pitt nüchtern. »Was völlig zerstört ist, was noch teilweise steht, wo Geröll und Glas hinfallen – diese Hinweise verdeutlichen bis zu einem gewissen Grad, wo die Hitze anfangs am stärksten war.«

Shaw schüttelte ungeduldig den Kopf. »Natürlich. Es war eine dumme Frage. Tut mir leid.« Er strich sich mit einer kraftvollen, wohlgeformten Hand eine Strähne hellen Haars aus der Stirn. »Was wollen Sie von mir wissen?«

»Wann und von wem wurden Sie aus dem Haus gerufen, Sir?« Pitt bemerkte, daß Murdo Bleistift und Notizblock zückte.

»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut«, erwiderte Shaw. »Ungefähr ein Viertel nach elf. Bei Mrs. Wolcott hatten die Wehen eingesetzt. Ihr Mann ging zu einem Nachbarn, der ein Telefon besitzt.«

»Wo wohnen die Leute?«

»In Kentish Town.« Der Arzt hatte eine wunderbare Stimme, klar und angenehm. »Ich habe sofort die Kutsche genommen und bin losgefahren. Ich blieb die ganze Nacht, bis das Kind da war. Auf dem Heimweg – ungefähr um fünf Uhr früh – begegnete ich der Polizei, die mir sagte, was geschehen war – und daß Clemency tot war.«

Thomas Pitt hatte viele Menschen in den ersten Stunden nach dem Verlust eines Angehörigen erlebt, es war schon oft seine Pflicht gewesen, die Todesnachricht zu überbringen, und es ging ihm jedesmal sehr nahe.

»Ironie des Schicksals«, fuhr Shaw fort. »Clemency hatte beabsichtigt, mit Maude Dalgetty auszugehen und den Abend bei Freunden in Kensington zu verbringen. In letzter Minute wurde ihr abgesagt. Und Mrs. Wolcotts Niederkunft wäre erst eine Woche später fällig gewesen. Eigentlich hätte ich zu Hause sein müssen und Clemency außer Haus.«

Die daraus resultierende Schlußfolgerung fügte er nicht hinzu – sie hing in der Stille des Raumes. Lindsay stand betrübt und bewegungslos da. Murdo warf Pitt einen Blick zu, und seine Gedanken spiegelten sich offen in seinem Gesicht. Pitt kannte sie bereits.

»Wer wußte, daß Mrs. Shaws Pläne sich geändert hatten?« fragte er.

Shaw sah ihn direkt an. »Nur Maude Dalgetty und ich. Und sicher John Dalgetty. Wem sie es sonst noch erzählt haben, kann ich nicht sagen. Jedenfalls wußte niemand von Mrs. Wolcotts vorzeitigen Wehen.«

Lindsay stand neben ihm und legte ihm in einer freundschaftlichen Geste die Hand auf die Schulter.

»Du hast eine auffällige Kutsche, Stephen. Der Verbrecher könnte deine Abfahrt beobachtet und das Haus für leer gehalten haben.«

»Warum sollte er es dann anzünden?« fragte Shaw grimmig.

Lindsay verstärkte den Druck seiner Hand. »Das weiß der Himmel. Warum legen Pyromanen Feuer? Aus Haß auf die Wohlhabenderen? Aus Machtgier – oder um die Flammen zu beobachten? Ich weiß es nicht.«

Pitt fragte nicht, ob und wie hoch das Haus versichert war; das konnte er später auf taktvollere Weise von der Versicherungsgesellschaft erfahren.

Es klopfte an der Tür, und der Diener erschien.

»Ja?« sagte Lindsay gereizt.

»Der Vikar und seine Frau möchten Dr. Shaw ihr Beileid aussprechen und ihre Hilfe anbieten. Sollen sie warten?«

Lindsay wandte sich Pitt zu, in der Annahme, die Polizei habe ihre Aufgabe erfüllt und sei bereit zu gehen.

Pitt zögerte einen Moment, dann kam ihm der Gedanke, daß es seiner Sache dienlich sein konnte, Dr. Shaw im Kreis von Leuten zu beobachten, die ihn und seine Frau gekannt hatten.

»Kommissar?« drängte Lindsay.

»Bitte empfangen Sie Ihre Besucher«, erklärte Pitt liebenswürdig.

Dr. Shaws Miene drückte Ablehnung aus, und Pitt bezweifelte, daß der Trost des Vikars dem Arzt willkommen war.

Lindsay nickte, und gleich darauf führte der Diener das Ehepaar herein. Der Vikar war ein mild wirkender, sehr ernster Mann im Gewand eines Geistlichen. In seiner Jugend mochte er athletisch gewesen sein, doch nun, als Vierziger, war er ein wenig schlaff geworden. In seinen regelmäßigen Gesichtszügen und den Linien um den etwas unentschlossenen Mund konnte man keine Bosheit oder Arroganz entdecken, höchstens mangelndes Selbstvertrauen. Der Mann gab sich Mühe, seine Nervosität zu verbergen. Die Situation schien ihm viel abzuverlangen.

Seine Frau hatte ein einfaches, kluges Gesicht, in dem die dichten Augenbrauen und die zu kräftige Nase den meisten Menschen mißfallen mochten, obwohl der Mund gutmütig wirkte. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann strahlte sie Energie aus, die sie sofort auf Shaw konzentrierte. Lindsay und Pitt sah sie kaum an, Murdo war für sie unsichtbar.

»Ah … hm.« Die Gegenwart der Polizei verwirrte den Vikar. Er hatte sich eine Eröffnungsrede zurechtgelegt, die nun nicht mehr paßte. »Ah … Vikar Hector Clitheridge«, stellte er sich vor. »Meine Frau Eulalia«, wies er mit seiner kräftigen Hand auf die Frau neben sich.

Dann wandte er sich Shaw zu, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Offenbar hatte er gegen irgendwelche Schwierigkeiten anzukämpfen. Er schwankte zwischen natürlicher Abneigung, Unruhe und schwer errungener Entschlossenheit.

»Mein lieber Shaw, wie kann ich meine Betroffenheit über diese Tragödie in Worte fassen!« Er trat einen halben Schritt vor. »Entsetzlich. Inmitten des Lebens lauert der Tod. Wie zerbrechlich ist die menschliche Existenz in diesem Tal der Tränen. Plötzlich werden wir zu Boden geschleudert. Wie können wir Sie trösten?«

»Nicht mit Gemeinplätzen, verdammt«, erwiderte Shaw beißend.

»Ja, nun … Ich bin sicher …« Clitheridge begann zu stottern. Sein Gesicht war rot angelaufen.

»Die Leute sagen manche Dinge so oft, weil sie wahr sind, Doktor Shaw«, meinte Mrs. Clitheridge mit einem eifrigen Lächeln. »Wie sonst sollten wir unsere Gefühle für Sie ausdrücken  – und unseren Wunsch, Ihnen Trost zu spenden?«

»Ja, genau … genau«, fügte der Vikar hinzu. »Ich werde mich um alles … alle Anordnungen kümmern, die Sie treffen. Natürlich ist es noch zu früh für … für …« Er ließ den Satz unvollendet und blickte zu Boden.

»Danke«, sagte Shaw. »Ich werde Ihnen Bescheid geben.«

»In der Zwischenzeit, lieber Doktor …« Mrs. Clitheridges Augen leuchteten, sie hielt den Rücken sehr gerade, als stünde sie vor einem aufregenden und ein wenig gefährlichen Wesen. »In der Zwischenzeit sprechen wir Ihnen unser Beileid aus, und bitte wenden Sie sich mit allem an uns, was Sie nicht selbst erledigen möchten. Meine Zeit gehört Ihnen.«

Shaw sah sie an, und der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Danke, Eulalia. Ich bin sicher, daß Sie es gut meinen.«

Sie errötete tief und schwieg. Der Gebrauch ihres Vornamens war eine Vertraulichkeit, vor allem in Gegenwart von sozial tiefer Gestellten wie Polizisten. Pitt sah es Shaw an seinen gehobenen Augenbrauen an, daß er in voller Absicht die intime Anrede gewählt hatte, um jedes Überlegenheitsgefühl wegzuwischen.

Einen Augenblick lang sah Pitt alle in einem anderen Licht. Sechs Leute in einem Raum, alle betroffen von dem gewaltsamen Tod einer Frau, die ihnen allen sehr nahe gestanden hatte. Sie alle wollten Trost für sich und für einander finden, und dabei beachteten sie die gesellschaftlichen Umgangsformen und die freundlichen Floskeln, maskierten die Einfachheit ihrer wahren Empfindungen mit Gerede über Anstand und Rituale. Und auch alte Gewohnheiten und Reaktionen traten zutage: Clitheridge, der sich in das Zitieren der Schrift zurückzog und auf ihre tröstliche Wirkung vertraute, Eulalia, die ihm zur Seite trat. Augenscheinlich regte etwas in Shaws Persönlichkeit die Lebensgeister der Frau an, und das gefiel ihr, wie es sie zugleich auch störte. Aber das Pflichtgefühl siegte. Vielleicht siegte es immer.

Shaws angespannter Körper und seine rastlosen Bewegungen verrieten, daß der intellektuelle Humor des Arztes nur an der Oberfläche berührt wurde, der Schmerz im Inneren mußte allein und einsam durchlitten werden, es sei denn, Lindsay könnte in seiner freien Art eine Brücke schlagen.

Pitt trat ein paar Schritte zurück und stellte sich vor die Vorhänge, um die Szene zu beobachten, und er machte Murdo ein Zeichen, dasselbe zu tun.

»Werden Sie hier bei Mr. Lindsay bleiben?« fragte Eulalia den Arzt besorgt. »Im Pfarrhaus wären Sie herzlich willkommen, und Sie könnten sich da so lange aufhalten, wie es Ihnen gefiele … bis Sie … Sie werden doch sicher ein anderes Haus kaufen …«

»Noch nicht, meine Liebe, noch nicht«, unterbrach Clitheridge sie in einem deutlich hörbaren Flüsterton. »Zuerst muß alles übrige geregelt werden.«

»Unsinn!« zischte sie zurück. »Irgendwo muß der arme Mann doch schlafen. Man kann erst dann mit Kummer und Leid fertig werden, wenn man für das leibliche Wohlergehen gesorgt hat.«

»Es ist umgekehrt, Lally!« Er wurde ärgerlich. »Bitte erlaube mir …«

»Ich danke Ihnen«, unterbrach Shaw den Dialog der beiden. »Ich bleibe bei Amos, aber ich bin für Ihre Freundlichkeit dankbar. Und Sie haben völlig recht, Eulalia, wie immer. In einer gewissen Geborgenheit kann man viel angemessener trauern, als wenn man nicht weiß, wo man schlafen und was man essen soll.«

Clitheridge hielt sich im Zaum und machte keine Einwendungen; der Widerstand war ihm zu stark.

Die Anmeldung zweier neuer Besucher durch den Diener rettete ihn vor einer weiteren Auseinandersetzung.

»Mr. und Mrs. Hatch, Sir.«

»Ja, bitte.« Lindsay nickte wieder.

Das Paar, das nun eintrat, war gedeckt und etwas steif gekleidet; sie ganz in Schwarz, er mit schwarzer Krawatte und einem hochgeknöpften dunklen Anzug. Sein Gesicht wirkte äußerst ernst, es war schmallippig und blaß, die Augen glänzten vor verhaltener Gefühlsbewegung. Dieses Gesicht fesselte Pitt sofort, denn es verriet Leidenschaft wie das von Mr. Shaw, nur auf eine völlig andere Art: zurückhaltend und nach innen gekehrt, wo Shaw unbesonnen und ausdrucksvoll war; enthaltsam und schwermütig, wo Shaw voller Vitalität und ungezügeltem Humor war; und doch waren die Möglichkeiten von tiefer Empfindung dieselben.

Mrs. Hatch ignorierte alle Anwesenden und ging sofort auf Shaw zu, was er zu erwarten schien. Er umarmte sie und drückte sie an sich.

»Meine liebe Prudence.«

»O Stephen, es ist zu schrecklich.« Sie ließ sich ohne Zögern umarmen. »Wie konnte das nur geschehen? Ich war sicher, Clemency sei mit den Bosinneys in London. Gott sei Dank bist du wenigstens nicht im Haus gewesen.«

Shaw erwiderte nichts. Zum erstenmal hatte er keine Antwort parat. Es entstand ein unangenehmes Schweigen, als seien die weniger von Mitgefühl Betroffenen peinlich berührt von den sichtlich starken Gefühlen, von denen sie ausgeschlossen waren, und lieber wären sie jetzt nicht dabeigewesen.

»Mrs. Shaws Schwester«, flüsterte Murdo und beugte sich zu Thomas Pitt hinüber. »Die beiden Damen sind Töchter des verstorbenen Theophilus Worlingham.«

Pitt hatte nie von Worlingham gehört, doch zweifellos war er eine wichtige Persönlichkeit gewesen, denn Murdos Stimme klang ehrfürchtig.

Josiah Hatch räusperte sich. »Wir müssen uns im Glauben trösten.« Er warf einen Seitenblick auf Clitheridge. »Sicher hat der Vikar dir schon Zuspruch gespendet. In dieser Zeit müssen wir aus unserer seelischen Kraft schöpfen und uns daran erinnern, daß Gott sogar im Tal der Schatten bei uns ist und daß sein Wille geschehe.«

Das war eine banale und unbestreitbare Feststellung, doch der Mann meinte es zutiefst ehrlich.

Als spürte Shaw diese Ernsthaftigkeit, schob er Prudence sanft zur Seite und sah seinen Schwager an.

»Danke, Josiah. Es ist mir eine Erleichterung zu wissen, daß du Prudence zur Seite stehst.«

»Selbstverständlich«, bekräftigte Hatch. »Es ist die heilige Pflicht eines Mannes, Frauen in Kummer und Leid zu unterstützen. Sie sind schwächer und empfindsamer als wir. Es sind ihre Sanftheit und die Reinheit ihrer Seele, die sie zur Mutterschaft und Aufzucht der Kinder befähigen. Dafür müssen wir Gott danken. Das hat der gute Bischof Worlingham oft gesagt, als ich noch ein junger Mann war.«

Er sah niemanden in der Runde an, vielmehr schien sein Blick nach innen zu gehen. »Nie werde ich aufhören, für die Zeit in meiner Jugend dankbar zu sein, die ich mit ihm verbringen durfte.«

Sein Gesicht verzog sich schmerzlich. »Die Weigerung meines eigenen Vaters, mir den Eintritt in die Kirche zu erlauben, wurde beinahe aufgewogen durch die Schirmherrschaft, die dieser große Mann für mich übernahm und mich den Geist und Pfad der wahren Christenheit lehrte.«

Er sah seine Frau an. »Dein Großvater, meine Liebe, war fast ein Heiliger. So wie wir uns Heilige in dieser erbärmlichen Zeit wünschen. Er hat eine Lücke hinterlassen, die nicht zu schließen ist. In unserer traurigen Situation hätte er für jeden das richtige Wort gefunden, um uns die göttliche Weisheit zu erklären, so daß wir alle unseren Frieden hätten finden können.«

»Gewiß, gewiß«, sagte Clitheridge etwas unpassend.

Hatch wandte sich Lindsay zu. »Sie kannten ihn nicht, Sir, und das ist ein Verlust für Sie. Bischof Augustus Worlingham war ein großartiges christliches Vorbild und ein Wohltäter ungezählter Menschen, in materieller und geistiger Hinsicht. Sein Einfluß war unermeßlich.«

Lindsay machte ein ratloses Gesicht und äußerte sich nicht. Es fiel ihm wohl nichts Angemessenes dazu ein. Shaw preßte die Zähne zusammen und blickte zur Decke.

Mrs. Hatch biß sich auf die Lippen und sah ihren Schwager nervös an.

Hatch fuhr voller Eifer fort: »Sicher haben Sie von dem Fenster in der St.-Anne-Kirche gehört, das wir ihm widmen wollen? Der Entwurf ist bereits fertig, wir brauchen noch etwas mehr Geld. Das Fenster stellt den Bischof selbst dar, als Prophet Jeremias, der den Leuten das Alte Testament erklärt; Engel umschweben seine Schultern.«

Shaws Kiefer mahlten, und es fiel ihm sichtlich schwer, keinen Kommentar abzugeben.

»Ja, ja, ich habe davon gehört«, erklärte Lindsay hastig. Man merkte ihm an, daß er betreten war. Er warf Shaw einen vielsagenden Blick zu, der sich nun hin und her bewegte, als könnte er die aufgestaute Energie in sich kaum noch beherrschen. »Gewiß wird das ein schönes Fenster, das viel Bewunderung ernten wird.«

»Darum geht es nicht«, sagte Hatch scharf, und seine Lippen zuckten ärgerlich. »Schönheit steht hier nicht zur Debatte, verehrter Herr, sondern die Erhebung der Seelen. Es geht um die Errettung von der Sünde und der Unwissenheit. Das Fenster soll die Gläubigen daran erinnern, welchen irdischen Weg wir gehen, und zu welchem Ende.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Mit diesem Fenster setzen wir Bischof Worlingham ein Denkmal, zu dem die Kirchgänger jeden Sonntag ihre Augen erheben werden und durch das Gottes heiliges Licht strömen wird.«

»Um Himmels willen, Mann, das Licht kommt durch jedes Fenster, in welche Mauer es auch gesetzt wird«, meinte Shaw schließlich gereizt. »Am meisten bekommt man davon ab, wenn man draußen auf dem Friedhof in der frischen Luft steht.«

»Das war doch bildlich gesprochen«, entgegnete Hatch. Unterdrückte Wut funkelte in seinen Augen. »Daß du alles so erdgebunden ansehen mußt! Wenigstens jetzt, nach dem schrecklichen Verlust, den du erlitten hast, solltest du deine Seele den ewigen Dingen zuwenden.« Er blinzelte zornig, seine Lippen waren fahl, und seine Stimme zitterte. »Es ist schon entsetzlich genug.«

Die kleine Streiterei war zu Ende, und Trauer setzte sich wieder an die Stelle des Ärgers. Shaw stand bewegungslos da; zum erstenmal war er vollständig still, seit Pitt eingetroffen war.

»Ja … ich …« Shaw brachte keine Entschuldigung zustande. »Ja, natürlich. Die Polizei ist da. Es war Brandstiftung.«

»Was?« Hatch rang nach Atem. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht, und er schwankte ein wenig. Lindsay trat näher, um ihn notfalls aufzufangen. Auch Prudence stand da, als habe sie der Blitz getroffen.

»Brandstiftung? Du meinst, daß jemand das Haus absichtlich angezündet hat?«

»Ja.«

»Dann war es …« Sie schluckte und riß sich mühsam zusammen. »Mord?«

»Ja.« Shaw legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid, meine Liebe, aber deshalb ist die Polizei hier.«

Zum erstenmal richteten sie und Hatch ihre Aufmerksamkeit auf Thomas Pitt, und das geschah mit einer Mischung aus Bestürzung und Abscheu. Hatch straffte die Schultern und wandte sich an Pitt, während er Murdo ignorierte.

»Sir, es gibt nichts, was wir Ihnen sagen könnten. Wenn es wirklich Brandstiftung war, dann müssen Sie nach einem Landstreicher Ausschau halten. In der Zwischenzeit lassen Sie uns im Namen der Humanität in Ruhe trauern.«

Es war spät, und Pitt war müde und hungrig. Er hatte keine weiteren Fragen. Aus dem Feuerwehrbericht hatte er so gut wie nichts entnehmen können, aber eins war klar: Für das Feuer war kein Landstreicher verantwortlich – es war absichtlich gelegt worden, um zu töten. Aber von wem? Die Antwort lag in den Herzen der Menschen, die Stephen und Clemency Shaw kannten. Vielleicht hatte Pitt den Mörder schon gesehen oder seinen Namen gehört.

»Ja, Sir«, sagte er erleichtert. Mit einem Blick auf Shaw und Lindsay fügte er hinzu: »Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich werde Sie informieren, wenn ich etwas erfahre.«

»Wie bitte?« Shaw schrak zusammen. »Ja, natürlich. Gute Nacht, Herr Kommissar.«

Pitt und Murdo zogen sich zurück. Als sie wenig später im Schein von Murdos Laterne die stille Straße in Richtung Highgate-Polizeirevier entlanggingen, fragte Murdo, nachdem sie schon einige Meter in dem etwas frostigen Nachtwind zurückgelegt hatten: »Was glauben Sie, sollte Mrs. Shaw oder der Doktor getötet werden?«

»Beide kommen in Frage«, erwiderte Pitt. »Aber wenn es Mrs. Shaw war, hat es bisher den Anschein, als hätten nur Mr. und Mrs. Dalgetty und der gute Doktor selbst davon gewußt, daß sie zu Hause war.«

»Viele Leute könnten den Wunsch hegen, einen Arzt umzubringen«, stellte Murdo nachdenklich fest. »Ich denke, daß Ärzte eine Menge Geheimnisse ihrer Patienten kennen.«

»Stimmt.« Pitt schauderte es, und er beschleunigte ein wenig den Schritt. »Und deshalb könnte der Doktor wissen, wer der Mörder ist, und dieser könnte es noch einmal versuchen.«

2. Kapitel

Charlotte hatte die Hälfte der Leintücher gebügelt, und ihr Arm schmerzte vom Gewicht des Bügeleisens. Sie hatte drei Kissenbezüge genäht und Jemimas bestes Kleid geflickt. Nun hatte sie alles in ihren Nähkorb gepackt und ihn beiseite gestellt, wo ihn niemand sehen konnte, jedenfalls nicht bei einem flüchtigen Blick. Und genauer würde Pitt nicht in die Ecke des Zimmers schauen, wenn er hereinkäme.

Es war schon fast neun Uhr, und sie war lange wartend auf und ab gegangen. Nun versuchte sie, sich mit ihren Gedanken abzulenken, setzte sich in einer höchst unwürdigen Haltung auf den Fußboden und begann, in Jane Eyre zu lesen. Als Pitt schließlich kam, bemerkte sie es noch nicht einmal, bis er seinen Mantel ausgezogen und an die Garderobe gehängt hatte und in der Tür stand.

»O Thomas.« Sie legte ihr Buch weg, rappelte sich auf und strich ihren Rock glatt. »Wo bist du bloß gewesen? Du riechst ja fürchterlich!«

»Es gab ein Feuer«, sagte er und küßte sie. Dabei berührte er nur ihr Gesicht mit den Lippen, um sie nicht mit Ruß zu beschmieren.

Sie hörte die Müdigkeit in seiner Stimme und noch mehr, den Nachklang von etwas Tragischem.

»Ein Feuer? Ist jemand darin umgekommen?«

»Eine Frau.«

Sie sah ihm in die Augen. »War es Mord?

»Ja.«

Charlotte zögerte und betrachtete die zerknautschte, noch vom Nachmittagsregen nasse Kleidung ihres Mannes. »Möchtest du zuerst essen, dich waschen oder mir erzählen, was passiert ist?«

Er lächelte. Es lag etwas Drolliges in ihrer Offenheit, vor allem nach dem gekünstelten Gehabe der Clitheridges und der Hatches.

»Eine Tasse Tee, meine Stiefel ausziehen und später heißes Wasser – das hätte ich gern«, erklärte er ehrlich.

Sie akzeptierte, daß er nicht reden wollte, und eilte in die Küche. Ihre nackten Füße machten kein Geräusch auf dem Linoleumboden und den Dielenbrettern in der Küche. Der Herd war heiß wie immer, und sie stellte den Kessel darauf. Dann schnitt sie eine Scheibe Brot ab und bestrich sie mit Butter und Marmelade. Sie wußte, daß er Appetit darauf bekäme, wenn er es sah.

Thomas folgte ihr.

»Wo war das Feuer?« fragte sie.

»In Highgate.«

»Highgate? Das ist nicht dein Revier.«

»Nein, aber sie gehen davon aus, daß es Brandstiftung war, und das örtliche Revier hat sofort um unsere Unterstützung gebeten.«

Charlotte hatte aus dem Rauchgeruch und dem Ruß an seiner Kleidung schon ihre Schlüsse gezogen, aber sie verkniff sich, etwas dazu zu bemerken.

»Es war das Haus des Arztes«, fuhr er fort. »Er war außer Haus, bei einem dringenden Fall, eine Frau war früher als erwartet niedergekommen. Aber seine Frau war zu Hause. Sie hatte im letzten Moment eine geplante Fahrt in die Stadt abgesagt. Sie ist bei dem Brand umgekommen.«

Das Wasser im Kessel kochte. Charlotte brühte den Tee auf. Er ließ sich dankbar am Tisch nieder, und sie setzte sich ihrem Mann gegenüber.

»War die Frau jung?«

»Ungefähr vierzig.«

»Wie hieß sie?«

»Clemency Shaw.«

»Kann es nicht ein Unfall gewesen sein? Fahrlässige Brände kommen so häufig vor – eine heruntergefallene Kerze, ein Funke aus einem unbeaufsichtigten Herd, eine glimmende Zigarre.« Sie goß Tee ein und schob ihm ein belegtes Brot hin.

»An den Vorhängen in vier verschiedenen Zimmern? Im Erdgeschoß? Um Mitternacht?« Er nippte an seinem Tee und verbrannte sich die Zunge. Schnell biß er in das Marmeladenbrot.

»Oh.« Charlotte stellte sich vor, in der Nacht durch die Hitze und das Toben der Flammen aufzuwachen und zu wissen, daß es kein Entrinnen gab. Noch schlimmer war der Gedanke, daß ein Mensch, der einem den Tod wünschte, dieses Feuer absichtlich gelegt hatte. Einen Augenblick lang verspürte Charlotte eine leichte Übelkeit bei der gräßlichen Vorstellung.

Pitt war zu müde, um etwas davon zu merken.

»Wir wissen noch nicht, ob der Mörder Mrs. Shaw oder ihren Mann umbringen wollte.« Er nippte erneut an seinem Tee.

»Heute nacht kannst du nichts mehr tun, Thomas«, meinte sie sanft. »Jetzt spürt die Frau nichts mehr, und die Trauernden muß man in Ruhe lassen. Irgendwo wird immer jemandem Schmerz zugefügt, und wir können ihr Leid nicht für sie tragen.« Sie erhob sich und berührte liebevoll Thomas’ Hand. »Ich bringe dir eine Schüssel mit heißem Wasser, dann kannst du dich waschen. Laß uns dann ins Bett gehen. Es wird schnell genug Morgen.«

Pitt verließ das Haus gleich nach dem Frühstück, und Charlotte begann mit der Erledigung ihrer täglichen Pflichten. Die Kinder, Jemima und Daniel, wurden zum Unterricht in ihre Schule am Ende der Straße geschickt, und Gracie, das Mädchen, fing an zu kehren und Staub zu wischen. Die schwere Arbeit, das Schrubben der Böden, Teppichklopfen und Kohleschleppen, erledigte Mrs. Hoare, die dreimal in der Woche kam.

Charlotte beendete das Bügeln und machte sich dann an das tägliche Brotbacken. Gerade wollte sie anfangen, die Wäsche zu waschen, als es an der Tür klopfte. Gracie ließ ihren Besen fallen und beeilte sich zu öffnen. Gleich darauf kam sie atemlos und mit vor Aufregung glühendem Gesicht zurück.

»Oh, Ma’am, es ist Lady Ashworth … ich meine Mrs. Radley … sie is’ von den Flitterwochen zurück … und sie sieht so wundervoll aus … und so glücklich.«

Es war tatsächlich Emily, die gleich hinter Gracie erschien, beladen mit schön eingewickelten Paketen, und ihr prächtiges, blaß wassergrünes Taftkleid raschelte verführerisch. Emilys helles Haar kringelte sich zu den feinen Locken, um die Charlotte sie seit Kindertagen beneidet hatte, und ihre Haut schimmerte rosig von Sonne und Wohlbefinden.

Emily lud die Pakete auf dem Küchentisch ab und umarmte Charlotte stürmisch. »Ich habe dich so vermißt. Es ist wunderbar, wieder daheim zu sein. Ich muß dir so viel erzählen! Ich hätte es nicht ausgehalten, wenn du nicht zu Hause gewesen wärst. Seitdem wir aus Rom abgereist sind, habe ich keine Briefe mehr von dir bekommen. Auf See ist es so langweilig, wenn es nicht einen Skandal unter den Passagieren gibt, und es gab keinen. Charlotte, wie kann man nur sein Leben mit Kartenspiel und dem Austausch blöder Geschichten verbringen – und sich damit die Zeit vertreiben, wer die neuesten Gesäßpolster oder die eleganteste Frisur hat? Das hat mich fast verrückt gemacht.« Sie ließ Charlotte los und setzte sich auf einen Küchenstuhl.

Gracie stand wie angewurzelt da. Ihre Augen waren riesengroß, und ihre Fantasie gaukelte ihr Schiffe voller kartenspielender, herrlich gekleideter Aristokraten vor.

»Hier!« Emily nahm das kleinste der Päckchen vom Tisch und reichte es dem Mädchen. »Gracie, ich habe dir einen Schal aus Neapel mitgebracht.«

Gracie war überwältigt. Sie starrte Emily sprachlos an. Ihre kleinen Hände umklammerten das Päckchen so fest, daß es zerbrochen wäre, wenn sich nicht ein Stück Stoff darin befunden hätte.

»Öffne es!« befahl Emily.

Schließlich fand Gracie ihre Sprache wieder. »Für mich, Mylady? Das is’ für mich?«

»Natürlich ist es für dich«, erwiderte Emily. »Wenn du spazierengehst oder in die Kirche, legst du den Schal um die Schultern, und wenn dich jemand bewundert, sagst du ihm, das sei ein Geschenk einer Freundin und käme aus der Bucht von Neapel.«

»Oh!« Mit zitternden Fingern öffnete Gracie das Papier, und als das blau, gold und magentarot gemusterte Seidentuch herausfiel, stieß sie einen Seufzer des Entzückens aus. Plötzlich erinnerte sie sich ihrer häuslichen Pflichten und sauste davon, ihren Schatz fest an sich gedrückt.

Charlotte lächelte mit einem Glücksgefühl, das bestimmt bei keinem anderen Geschenk übertroffen werden konnte, nicht einmal bei einem für Jemima oder Daniel.

»Das war sehr aufmerksam von dir«, sagte sie leise.

»Unsinn.« Emily ging darüber hinweg, obwohl sie selbst auch ein wenig gerührt war. Von ihrem ersten Mann hatte sie ein beträchtliches Vermögen geerbt. Der Schal hatte nur eine Kleinigkeit gekostet; es war ein unbedeutender Gegenstand im Verhältnis zu der Freude, die er bereitet hatte. Emily kramte das Päckchen hervor, auf dem Charlottes Name stand. »Hier, bitte öffne es. Der Rest ist für Thomas und die Kinder. Dann erzähl mir alles! Was hast du seit deinem letzten Brief gemacht? Hast du etwas Spannendes erlebt? Hast du jemand Interessantes oder Schockierendes kennengelernt? Arbeitest du an einem Fall?«

Charlotte lächelte beglückt. Sie ignorierte die Fragen und legte das wunderhübsche Geschenkpapier sorgsam zur Seite – sie wollte es für Weihnachten aufheben. Heraus kamen drei Sträuße handgearbeiteter Seidenblumen – so üppig und naturgetreu, daß Charlotte vor Staunen leise seufzte. Die Blumen würden den gewöhnlichsten Hut in die Kopfbedeckung einer Fürstin verwandeln oder ein einfaches Taftkleid in eine Ballrobe. Der eine Strauß war pastellrosa, der zweite leuchtend rot und der dritte in allen Schattierungen zwischen Flamingorot und Feuerfarben.

»Oh, Emily, du bist ein Genie.« Durch Charlottes Fantasie rasten alle Möglichkeiten, wie sie die Blumen verwenden könnte, abgesehen von der reinen Freude, sie nur in der Hand zu halten und anzuschauen. »Oh, ich danke dir! Du bist einmalig.«

Emily glühte vor Zufriedenheit. »Nächstes Mal werde ich alle Gemälde aus Florenz mitbringen. Diesmal habe ich für Thomas ein Dutzend seidener Taschentücher mitgebracht – mit Monogramm.«

»Er wird entzückt sein«, sagte Charlotte überzeugt. »Aber nun erzähl mir von deiner Reise – alles, was nicht zu intim ist.« Sie wollte Emily nicht fragen, ob sie glücklich sei; das war auch gar nicht nötig. Jack Radley zu heiraten war ein wildromantischer und sehr persönlicher Entschluß gewesen. Jack besaß kein Geld und keine Zukunftsaussichten; nach George Ashworth, der beides und außerdem einen Adelstitel gehabt hatte, war das eine radikale gesellschaftliche Veränderung. Emily hatte George geliebt und sehr unter seinem Tod gelitten. Doch Jack, dessen Ruf zweifelhaft war, hatte bewiesen, daß sein Charme bei weitem nicht so oberflächlich war, wie es auf den ersten Blick erschien. Er war ein treuer Freund mit Mut, Humor und Fantasie, und er war bereit, Risiken auf sich zu nehmen, wenn er eine Sache für wert befand.

»Stell den Wasserkessel auf«, befahl Emily. »Und hast du Gebäck da? Hier riecht es so gut.«

Charlotte gehorchte, und dann setzte sie sich hin, um zuzuhören.

Emily hatte regelmäßig geschrieben, abgesehen von den letzten Wochen, die sie während der langen spätsommerlichen Reise von Neapel nach London auf See verbracht hatte, weil sie dachte, daß die Briefe nicht vor ihr bei Charlotte ankämen. Sie und ihr Mann hatten sich Zeit gelassen und viele Häfen angesteuert. Nun beschrieb sie mit lebhaften Worten Sardinien, die Balearen, Nordafrika, Gibraltar, Portugal, Nordspanien und Frankreichs Atlantikküste.