Eine geschlossene Gesellschaft - Anne Perry - E-Book

Eine geschlossene Gesellschaft E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Ein heikler Auftrag für Oberinspektor Thomas Pitt.
England 1890. Auf Ashworth Hall verhandeln Politiker über ein Thema von höchster Brisanz: die Nordirlandfrage. Als ein Mord geschieht, ist wieder einmal der untrügliche Spürsinn von Thomas und Charlotte Pitt gefordert.
«Anne Perrys 17. Fall... ist ein Klassiker. - Klassisch spannend!» Die Welt
«Intelligent geschrieben und historisch faszinierend.»
THE WALL STREET JOURNAL

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Seitenzahl: 668

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Das Buch

Nur ungern unterbricht Thomas Pitt, Oberinspektor von Scotland Yard, seine laufende Mordermittlung, um in einem eleganten englischen Herrenhaus auf dem Land für die Sicherheit einer politischen Konferenz zu sorgen. Ein kleiner Kreis von Protestanten und Katholiken bemüht sich um eine Lösung für den schwelenden Konflikt um Nordirland. Gastgeberin auf Ashworth Hall ist Pitts Schwägerin Emily, die alle Hände voll zu tun hat, einen passenden gesellschaftlichen Rahmen zu bieten. Die Atmosphäre ist angespannt, denn es hat bereits einen Mordanschlag auf den hohen Ministerialbeamten gegeben, der die Konferenz leitet, und zudem erregt sich die Londoner Gesellschaft gerade über einen skandalösen Scheidungsprozeß, in den der irische Freiheitskämpfer Parnell verwickelt ist. Da erschüttert ein peinlicher Vorfall die geschlossene Gesellschaft: ein protestantischer Politiker wird mit der Ehefrau eines Katholiken in intimer Umarmung überrascht. Die Emotionen kochen hoch – und dann geschieht ein Mord.

Die Autorin

Anne Perry wurde 1938 in London geboren und lebt heute in Schottland. Mit ihren spannenden Kriminalromanen aus dem viktorianischen England Ende des vorigen Jahrhunderts hat sie sich eine begeisterte und treue Lesergemeinde geschaffen.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinWidmungKAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFCopyright

Für meine Mutter wegen ihres Mutes und Glaubens sowie für Meg Macdonald wegen ihrer Freundschaft, der guten Einfälle und ihrer stets fruchtbaren Kommentare.

KAPITEL EINS

In der grauen Dämmerung des Oktoberabends richtete Pitt seinen Blick auf den Toten, der auf dem Pflaster des Gäßchens lag. Die Straßenlaternen brannten schon, bleiche Monde in der zunehmenden Dunkelheit. Einige Schritte weiter tönte von der Oxford Street Hufgeklapper herüber. Die Räder der vorbeirollenden Kutschen und Droschken erzeugten auf dem nassen Straßenpflaster ein zischendes Geräusch.

Der Konstabler beleuchtete mit seiner Handlaterne das Gesicht des Toten.

»Das ist Denbigh, einer von unsern Leuten, Sir«, sagte er, wobei aus seiner Stimme deutlich der Zorn herauszuhören war. »Jedenfalls war er früher mal bei uns. Ich hab ihn erkannt und Sie deshalb persönlich kommen lassen, Mr. Pitt. Er arbeitete an einer besonderen Sache. Keine Ahnung, was. Aber er war ’n guter Mann. Das kann ich beschwören.«

Pitt beugte sich vor, um sich den Toten genauer anzusehen. Er hieß nach Aussage des Polizeibeamten Denbigh, schien etwa dreißig Jahre alt zu sein und hatte eine helle Haut und dunkle Haare. Sein Gesicht wirkte nicht entstellt, zeigte allerdings einen Ausdruck von Überraschung.

Pitt nahm die Handlaterne und ließ ihr Licht langsam über den Toten gleiten. Er trug zu einer billigen Hose ein einfaches kragenloses Baumwollhemd und ein schlecht geschnittenes Jackett. Seiner Kleidung nach zu urteilen, hätte er ohne weiteres Handlanger oder Fabrikarbeiter sein können, aber ebensogut auch einer der jungen Männer vom Land, die in London Arbeit suchen. Allerdings waren seine Hände sauber gewaschen und seine Nägel ordentlich gestutzt. Er war ziemlich mager.

Pitt fragte sich, ob der Mann wohl Frau und Kinder oder Eltern hatte – irgend jemanden, der um ihn trauerte, aus einem tiefen Gefühl der aus Liebe heraus, und nicht nur aus Achtung, wie sie der Polizeibeamte neben ihm empfand.

»Zu welcher Wache gehörte er?« fragte er.

»Battersea, Sir. Von daher kenn ich ihn. Er war nie auf der Wache in der Bow Street, deswegen ha’m Sie ’n auch nie geseh’n, Sir. Aber das ist bestimmt kein gewöhnlicher Mord. Man hat ihn erschossen. Straßenräuber ha’m keine Pistolen, die arbeiten mit ’m Messer oder ’ner Drahtschlinge.«

»Das ist mir bekannt.« Vorsichtig durchsuchte Pitt die Taschen des Toten. Außer einem sauberen und an einer Ecke sorgfältig geflickten Taschentuch fand er lediglich zwei Schillinge und neuneinhalb Pence. Die Taschen enthielten keinerlei Briefe oder Papiere, die etwas über den Mann ausgesagt hätten.

»Sind Sie sicher, daß es sich um diesen Denbigh handelt?«

»Ja, Sir, ganz sicher. Ich hab ihn ziemlich gut gekannt, wenn auch nur kurz. Aber ich erinner’ mich an die Kerbe in sei’m Ohr. Die is’ ungewöhnlich. Ich merk’ mir die Ohren von Leuten. Wer nich’ auffallen will, kann an seinem Aussehen viel verändern, aber die Ohren bleiben, wie sie sind. Das vergessen die Leute meistens. Man kann höchstens die Haare drüber wachsen lassen, um sie zu verdecken. Ich würd’ gern sagen, daß es nich’ der arme Denbigh is’ – aber er is’ es.«

Pitt richtete sich wieder auf. »In dem Fall war es richtig, daß Sie mich gerufen haben, Konstabler. Der Mord an einem Polizeibeamten ist auch dann eine ausgesprochen ernste Angelegenheit, wenn dieser sich nicht im Dienst befindet. Ich bezweifle, daß Sie Tatzeugen finden werden, aber fragen Sie trotzdem überall herum. Versuchen Sie es morgen zur gleichen Zeit noch einmal. Ein paar Leute kommen wahrscheinlich regelmäßig auf dem Heimweg hier vorbei. Fragen Sie die Straßenhändler, die Droschkenkutscher, erkundigen Sie sich in den nächstgelegenen Wirtshäusern und natürlich in allen Häusern, von denen ein Fenster auf diese Gasse geht.«

»Wird gemacht, Sir!«

»Sie wissen also nicht, für wen Denbigh in der letzten Zeit gearbeitet hat?«

»Nein, Sir. Aber sicher nach wie vor für ’ne Abteilung der Polizei oder ’n Ministerium.«

»Dann sollte ich mich wohl besser darum kümmern.« Pitt steckte die Hände in die Taschen. Er merkte, daß er vom langen Stillstehen zu frieren begann. Die Kälte des Ortes, den der Tod zu einer Insel im nur wenige Meter entfernten Lärm und Gedränge des Verkehrs gemacht hatte, drang ihm in die Knochen.

Der Wagen, der den Ermordeten ins Leichenschauhaus bringen sollte, war in das Gäßchen eingebogen und rollte jetzt auf sie zu. Als die Pferde das Blut und die Angst in der Luft rochen, wieherten sie auf und scheuten.

»Und suchen Sie die Gasse nach allem ab, was von Bedeutung sein könnte«, fügte Pitt hinzu. »Ich glaube zwar nicht, daß die Tatwaffe noch irgendwo hier in der Nähe ist, aber es wäre immerhin möglich. Ist die Kugel glatt durch ihn hindurchgegangen?«

»Sieht so aus, Sir.«

»Dann versuchen Sie sie zu finden. Zumindest wüßten wir dann, ob man ihn hier an Ort und Stelle erschossen hat, oder ob er bereits tot war, als man ihn herbrachte.«

»Ja, Sir. Sofort, Sir.« Die Stimme des Konstablers war nach wie vor rauh vor Wut und Schmerz. All das war zu nah, zu wirklich.

»Denbigh.« Der stellvertretende Polizeipräsident Cornwallis machte einen ausgesprochen sorgenvollen Eindruck. Die markanten Züge mit der übermäßig langen Nase und einem sehr breiten Mund verliehen seinem Gesicht einen ungewöhnlich trübseligen Ausdruck. Er war schlank, von durchschnittlicher Größe und hatte breite, eckige Schultern. Obwohl noch nicht besonders alt, war er bereits völlig kahl. Das aber paßte so natürlich zu seinem Wesen, daß es den Betrachter überraschte, wenn er es bemerkte. »Ja, er war nach wie vor im Polizeidienst tätig. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, was er gemacht hat, weil ich es selbst nicht weiß, aber es hing mit der irischen Frage zusammen. Wie Ihnen bekannt ist, kämpft eine Vielzahl von Organisationen um Irlands Unabhängigkeit. Viele von ihnen sind gewalttätig. Die Fenier sind nur eine davon, wenn auch möglicherweise die berüchtigtste. Denbigh war Ire. Es war ihm gelungen, in eine der geheimsten Bruderschaften aufgenommen zu werden. Man hat ihn aber getötet, bevor er an uns weitergeben konnte, was er in Erfahrung gebracht hatte – immer vorausgesetzt, es war mehr als das, was wir ohnehin bereits wissen oder vermuten.«

Pitt sagte nichts.

Cornwallis verzog den Mund. »Das ist kein gewöhnlicher Mordfall, Pitt. Am besten übernehmen Sie die Ermittlungen selbst und ziehen Ihre besten Leute hinzu. Ich wüßte liebend gern, wer dahintersteckt. Denbigh war ein guter Mann, und er war tapfer.«

»Ja, Sir, das werde ich selbstverständlich tun.«

Doch bereits vier Tage später wollte der stellvertretende Polizeipräsident Pitt, der mit seinen Nachforschungen nur langsam vorankam, erneut sprechen. Begleitet von Ainsley Greville, der einen hohen Posten im Innenministerium innehatte, betrat er Pitts Dienststelle.

»Verstehen Sie, Pitt, es ist von äußerster Bedeutung, daß das Ganze so aussieht wie eine der üblichen Wochenend-Einladungen, wie sie im Spätherbst im ganzen Land auf Herrensitzen stattfinden. Nichts darf diesen Eindruck stören, und deshalb haben wir uns an Sie gewandt.« Ainsley Greville lächelte mit bezwingendem Charme. Er sah nicht besonders gut aus, machte aber einen außerordentlich vornehmen Eindruck. Er war hochgewachsen, hatte ein langes, recht schmales Gesicht mit regelmäßigen Zügen, und sein gewelltes Haar begann über der Stirn zurückzuweichen. Ungewöhnlich wirkte er vor allem durch seine Haltung und die Intelligenz, die aus seinem Blick sprach.

Erstaunt und verständnislos sah Pitt ihn an.

Mit ernster Miene beugte sich Cornwallis vor. Er bekleidete seinen Posten noch nicht lange, aber Pitt kannte ihn gut genug, um zu wissen, wie unbehaglich ihm die Rolle war, die man ihm aufgebürdet hatte. Ihm als einstigem Kapitän zur See war die Denkweise von Politikern fremd. Er kam lieber ohne Umschweife zur Sache, doch war er wie Greville dem Innenministerium verantwortlich, und so blieb ihm keine Wahl.

»Es besteht durchaus eine gewisse Erfolgsaussicht«, sagte er ernsthaft. »Wir müssen alles in unserer Macht stehende dazu beitragen. Und Sie befinden sich dafür in der idealen Position.«

»Ich habe alle Hände voll mit dem Fall Denbigh zu tun«, gab Pitt zu bedenken. Er dachte nicht daran, diesen Fall einem anderen zu übergeben, nur weil ein neuer Auftrag aufgetaucht war.

Greville lächelte. »Ich würde Ihre Mitarbeit wirklich sehr zu schätzen wissen, Oberinspektor, und ich werde Ihnen die Gründe darlegen, warum nur Sie uns helfen können.« Er schürzte leicht die Lippen. »Zugleich bedaure ich zutiefst, daß wir so vorgehen müssen – aber wenn wir in dieser Sache auch nur einen einzigen Schritt vorankommen, wird die gesamte Regierung Ihrer Majestät in Ihrer Schuld stehen.«

Pitt fand, daß er übertrieb.

Als hätte Greville seine Gedanken gelesen, schüttelte er kurz den Kopf. »Bei dieser Zusammenkunft will man herausfinden, welche Ansichten es über bestimmte Reformvorhaben bei den in Irland für Grundbesitz geltenden Gesetzen gibt, ein weiterer Schritt auf dem Wege zur Gleichstellung der irischen Katholiken. Vielleicht begreifen Sie nun sowohl die Tragweite dessen, was wir zu erreichen hoffen, wie auch die Notwendigkeit zur Geheimhaltung?«

Pitt sah es nur allzu klar. Seit den Zeiten Königin Elisabeths I. hatte die irische Frage einer englischen Regierung nach der anderen Schwierigkeiten bereitet und mehr als eine zu Fall gebracht. Erst vier Jahre zuvor, im Jahre 1886, hatte der Streit über Irlands Selbstbestimmung zum Sturz des bedeutenden Premierministers William Ewart Gladstone geführt. Dennoch hatte für Pitt der Mord an Denbigh Vorrang, ganz davon abgesehen, daß er seine Fähigkeiten bei der Aufklärung dieses Falles weit besser einsetzen konnte.

»Ich verstehe«, sagte er, während es ihn kalt durchfuhr. »Aber –«

»Wohl nicht ganz«, fiel ihm Greville ins Wort. »Zweifellos ist Ihnen klar, daß jeder Ansatz zur Lösung des schwierigsten Problems, das es gegenwärtig in unserem Lande gibt, in völliger Verschwiegenheit erfolgen muß. Uns liegt nichts daran, unsere Fehlschläge öffentlich hinauszuposaunen. Wir wollen abwarten, ob und wieweit eine Lösung möglich ist, bevor wir darüber entscheiden, was wir der Weltöffentlichkeit mitteilen möchten.« Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, eine gewisse Besorgnis im Blick, die er nicht ganz verbergen konnte. »Es gibt einen weiteren Grund dafür, Oberinspektor. Da den Iren die geplante Zusammenkunft bekannt ist, dürfte es in niemandes Interesse sein, wenn Sie sich einer Teilnahme entziehen. Ich werde Sie persönlich über alles auf dem laufenden halten, was in bezug auf die Teilnehmer an jenen Vorgesprächen bedeutsam ist. Allerdings wissen wir nicht, inwieweit die Ankündigung bereits Wellen geschlagen hat. Es gibt nicht nur ineinander verflochtene Bündnisse, man muß auch mit Verrat und geheimen Beziehungen rechnen – unser ganzes Gesellschaftssystem wird von einem solchen Gespinst durchzogen. Trotz aller Sorgfalt, mit der wir vorgegangen sind, dürfen wir niemandem rückhaltlos vertrauen.«

Sein Gesicht nahm einen noch düsterem Ausdruck an, und um seinen Mund zeigte sich ein harter Zug. »Wir hatten einen unserer Leute in eine der Geheimgesellschaften eingeschleust und gehofft, auf diese Weise etwas über deren Informationsquellen zu erfahren.« Er stieß langsam den Atem aus. »Man hat ihn ermordet.«

Pitt spürte, wie sich die Kälte in seinem Inneren ausbreitete.

»Ich vermute, daß Sie den Fall untersuchen.« Greville sah Pitt unverwandt an. »James Denbigh. Ein guter Mann.«

Pitt sagte nichts.

»Auch ich habe Morddrohungen bekommen, und es hat sogar einen Anschlag auf mein Leben gegeben. Der Vorfall liegt zwar schon etwa drei Wochen zurück, war aber äußerst unangenehm«, fuhr Greville fort. Er sprach leichthin, aber Pitt bemerkte die Anspannung seines Körpers. Die langen, schmalen Hände Grevilles, von denen eine auf seinem Knie und die andere auf der Sessellehne lag, wirkten verkrampft. Obwohl der Mann seine Empfindungen geschickt verbarg, spürte Pitt, daß er Angst hatte.

»Ich verstehe.« Diesmal entsprach es der Wahrheit. »Sie wünschen also, daß die Polizei die Sache unauffällig im Auge behält.«

»Über alle Maßen unauffällig«, stimmte Greville zu. »Die Zusammenkunft soll in Ashworth Hall stattfinden …« Er sah, wie Pitt erstarrte. »Genau«, sagte er. Aus seiner Stimme klang so etwas wie Verständnis. »Der Landsitz der Schwester Ihrer Gattin, Mrs. Radley, verwitwete Vicomtesse Ashworth. Sie ist nicht nur die ideale Gastgeberin, ihr Gatte, Mr. Jack Radley, gehört auch, wie Ihnen zweifellos bekannt ist, zu den hoffnungsvollsten jungen Unterhausabgeordneten und wird uns in dieser Angelegenheit gewiß äußerst wertvolle Dienste leisten können. Da Sie zur Familie gehören, würde es niemand als ungewöhnlich ansehen, wenn Sie sich mit Ihrer Gattin gleichfalls dort aufhalten.«

In Wahrheit wäre es mehr als ungewöhnlich. Durch ihre erste Ehe hatte seine Schwägerin Emily eine gesellschaftliche Position weit über ihrer Herkunft eingenommen, während ihre Schwester Charlotte zum Entsetzen der Gesellschaft ebenso weit unter ihrem Stand geheiratet hatte. Es gehörte sich für eine junge Dame aus guter Familie nicht, einen Polizisten zu heiraten, nicht einmal dann, wenn er sich wie Pitt einer kultivierten Sprechweise bediente. Auch wenn Pitt, Sohn eines Wildhüters, auf Sir Arthur Desmonds ausgedehntem Landsitz aufgewachsen und zusammen mit dessen Sohn Matthew von einem Hauslehrer unterrichtet worden war, damit Matthew einen Gefährten und jemanden hatte, an dem er sich messen konnte, war er noch lange kein Mann von Stand. Gewiß war sich Greville trotz Pitts relativ hohem Dienstrang dessen bewußt … oder etwa nicht?

Auf keinen Fall durfte sich Pitt der Täuschung hingeben, Greville halte ihn für seinesgleichen, nur weil er hinter diesem eleganten Schreibtisch mit der ins Holz eingelassenen ledernen Schreibunterlage saß. Gewiß, sein Vorgänger Micah Drummond, der einstige Heeresoffizier, war ein Gentleman aus guter Familie gewesen. Das galt auch für Cornwallis, wenn er auch niedrigerer Herkunft als Drummond sein mochte – er verdankte seinen Aufstieg Verdiensten, die er sich in seiner aktiven Zeit erworben hatte. Sollte Greville meinen, auch Pitt gehöre in diese Kategorie? Die Vorstellung war schmeichelhaft … doch traf sie wohl kaum zu. Vermutlich war er einfach deshalb auf Pitt verfallen, weil er jemanden brauchte, der die Zusammenkunft schützen konnte, ohne daß es auffiel.

»Und Sie glauben, daß diese gegen Sie ausgesprochenen Drohungen im Zusammenhang mit Ihrer Beteiligung an den Beratungen zur irischen Frage stehen?« sagte Pitt.

»Das weiß ich mit Sicherheit«, antwortete Greville und sah ihn aufmerksam an. »Vielen Menschen wäre es nur allzu recht, wenn unsere Bemühungen scheiterten, und es gibt viele Faktoren, die diesen Bemühungen entgegenwirken. Sieht man das nicht deutlich genug an der Ermordung Denbighs?«

»Bekommen Sie Drohbriefe?« fragte Pitt.

»Ja, von Zeit zu Zeit.« Greville tat das mit kaum wahrnehmbarem Achselzucken ab. Jetzt, wo er darüber gesprochen hatte, wirkte er offener. Er schien sich sogar ein wenig zu entspannen. »Man rechnet natürlich mit einem gewissen Maß an Widerstand und auch mit Drohungen. Gewöhnlich bleibt es dabei. Hätte es nicht bereits einen Mordversuch gegeben, würde ich annehmen, daß jemand seine Empfindungen einfach in besonders geschmackloser, wenn auch nicht ungewöhnlicher Weise geäußert hat. Wie Sie sicherlich wissen, ist Gewalttätigkeit im Umfeld der irischen Frage nicht unbekannt.«

Das war eine maßlose Untertreibung. Man konnte unmöglich abschätzen, wie viele Menschen in den Schlachten und Aufständen, durch Hungersnöte und Mord ums Leben gekommen waren, die alle in mehr oder weniger engem Zusammenhang mit den Problemen der irischen Geschichte standen. Pitt hatte von den Aufständen in Nordengland gehört, die ein fanatischer Protestant namens William Murphy ausgelöst hatte. Er war übers Land gezogen und hatte einen solchen Haß auf die Katholiken geschürt, daß es schließlich zu Plünderungen, Brandstiftungen und der Zerstörung ganzer Straßenzüge kam, wobei eine Reihe von Toten zu beklagen waren.

»Es würde sich empfehlen, eine in jeder Beziehung vertrauenswürdige Person mitzunehmen«, sagte Cornwallis in ernstem Ton. »Selbstverständlich werden wir um den Landsitz und das Dorf herum Männer postieren«, fuhr er fort, »die als Wildhüter, Landarbeiter und dergleichen auftreten. Aber es wäre auch gut, jemanden im Herrenhaus selbst zu haben.«

»Als Gast?« fragte Pitt überrascht.

Cornwallis verzog den Mund zu einem andeutungsweisen Lächeln. »Als Dienstboten. Es ist durchaus üblich, daß Gäste bei einer solchen Wochenend-Einladung zwei oder drei Angehörige ihres Personals mitnehmen. Wir werden einfach einen unserer besten Männer als Ihren Kammerdiener mitschicken. Wen würden Sie vorschlagen – Tellman? Ich weiß, daß Sie ihn nicht besonders mögen, aber er hat Verstand, eine gute Beobachtungsgabe und schreckt notfalls auch vor körperlichen Auseinandersetzungen nicht zurück. Wir hoffen natürlich, daß es nicht dazu kommt.«

Es wäre Pitt lieber gewesen, wenn man an seiner Stelle einen anderen nach Ashworth Hall geschickt hätte, aber ihm war klar, daß er wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Radleys die erste Wahl war. Zumindest aber hätte er es gern gesehen, wenn man seinen besten Mann, Tellman, nicht vom Fall Denbigh abziehen würde. Er empfand keine Abneigung gegen ihn, jedenfalls nicht mehr, seit er ihn besser kannte, nahm aber an, daß Tellman ihm gegenüber nach wie vor Vorbehalte hatte. Jedenfalls hatte er seinem Ärger über Pitts Beförderung unmißverständlich Luft gemacht. Immerhin war Pitt aus dem einfachen Dienst aufgestiegen, war also nichts Besseres als Tellman und andere Kollegen. Demnach gab es für ihn auch keinen Grund, seine Vorgesetzten nachzuäffen oder selbst den Vorgesetzten zu spielen. Der Posten eines Oberinspektors, den zuvor Micah Drummond innegehabt hatte, war Männern aus guter Familie vorbehalten, denn zur Führung von Untergebenen befähigte allein die Herkunft, nicht aber der Ehrgeiz. Tellman hielt Pitt für ehrgeizig.

Er irrte sich. Pitt wäre ohne weiteres in seiner früheren Position geblieben und dabei auch rundum glücklich gewesen, hätte er nicht eine Familie gehabt, die von ihm erwarten konnte, daß er sein Bestes gab. Das aber ging jemanden wie Tellman nichts an.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich in diese Rolle fügen würde«, sagte Pitt zu Cornwallis. »Nicht einmal für eine Woche! Schon gar nicht als mein Kammerdiener … Gestatten Sie, daß ich ihn über den Fall Denbigh unterrichte?«

Belustigung blitzte in Cornwallis’ dunklen Augen auf, aber er hütete sich zu lächeln.

»Nicht so rasch. Ich bin sicher, daß er alles tun wird, was in seinen Kräften steht, wenn ihm Mr. Greville erläutert, wie wichtig Ihr Auftrag ist. Angesichts seiner mangelnden Erfahrung als Kammerdiener werden Sie natürlich Nachsicht mit ihm haben müssen.«

Pitt verkniff sich eine Antwort.

»Und welche Gäste werden erwartet?« fragte er statt dessen.

Greville lehnte sich erneut zurück und schlug die Beine übereinander. Er brauchte nicht zu fragen, ob Pitt den Auftrag angenommen hatte. Ihm blieb keine Wahl.

»Um den Schein zu wahren, daß es sich um eine ganz und gar gewöhnliche gesellschaftliche Wochenendeinladung handelt, wird mich meine Frau begleiten, wie das in solchen Fällen üblich ist«, begann er. »Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß der Riß in der irischen Politik nicht nur zwischen Katholiken und Protestanten klafft, auch wenn das die beiden Hauptparteien sind. Darüber hinaus besteht nach wie vor die Klassenschranke zwischen Grundbesitzern und Menschen ohne Grundbesitz.«

Er unterstrich diese Äußerung mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung, in der Resignation und Bedauern lag. »Ursprünglich hing das unmittelbar mit der Religionszugehörigkeit zusammen. Jahrzehntelang war Katholiken jeglicher Grundbesitz verboten, und sie konnten lediglich Land pachten. Wie Ihnen vermutlich bekannt ist, haben manche Grundherren ihre Macht in äußerst brutaler Weise ausgeübt, andere wiederum waren das genaue Gegenteil. So haben sich in den vierziger Jahren während der durch die Kartoffelfäule ausgelösten großen Hungersnot viele Grundherren buchstäblich dadurch ruiniert, daß sie sich um ihre Pächter gekümmert haben. Aber vieles verzerrt sich in der Erinnerung, auch ohne die Propaganda der Nationalisten, durch die zusätzlich einiges verdreht wird, und die Überlieferung im Volk, die sich in Geschichten und Liedern niederschlägt.«

Fast wäre ihm Pitt an dieser Stelle ins Wort gefallen. Er hatte lediglich wissen wollen, wer erwartet wurde und auf wie viele Personen er sich einstellen mußte.

Aber Greville ließ sich von niemandem unterbrechen, wenn er das Wort hatte.

»Und jeden Standpunkt vertreten zugleich Gemäßigte und Radikale, deren Haß aufeinander gelegentlich ebenso leidenschaftlich ist, wie der auf die Vertreter der Gegenmeinung, wenn nicht noch größer«, fuhr er fort. »Ein Mensch, dessen Familie seit Generationen zum protestantischen Establishment gehört und der davon überzeugt ist, daß ihre gesellschaftliche Stellung Gottes Wille ist, läßt sich von seinen Ansichten noch schwerer abbringen als einer der frühen Blutzeugen der Kirche, das können Sie mir glauben. Es würde mich nicht wundern, wenn manch einer von denen nichts lieber sähe als eine Löwengrube oder sogar einen ordentlichen Scheiterhaufen, auf dem man die Gegner verbrennt.«

Pitt konnte die Verzweiflung in der Stimme Grevilles hören, der einen kurzen Augenblick zu erkennen gab, welche Enttäuschungen er in den Jahren seiner Friedensmission erlebt hatte. Zu seiner Überraschung empfand er Mitgefühl für den Mann.

»Es gibt vier Hauptunterhändler«, fuhr Greville fort, »zwei Katholiken und zwei Protestanten. Deren jeweilige Standpunkte brauchen Sie im Augenblick nicht zu interessieren, möglicherweise auch während der Konferenz nicht. Da ist einmal der sehr gemäßigte Katholik Padraig Doyle. Er kämpft seit vielen Jahren für die Sache der Gleichstellung der Katholiken und die Bodenreform. Er lehnt, soweit uns bekannt ist, jede Art von Gewalttätigkeit ab, doch er genießt allgemein Achtung. Er ist übrigens mein Schwager. Allerdings wäre es mir lieber, wenn die anderen Beteiligten das einstweilen nicht erfahren würden. Sie könnten mich sonst für voreingenommen halten. Das aber bin ich keineswegs.«

Pitt wartete, ohne Greville zu unterbrechen.

Cornwallis legte die Fingerspitzen aneinander und hörte aufmerksam zu, obwohl anzunehmen war, daß er bereits wußte, was Greville zu sagen hatte.

»Er wird allein kommen«, fuhr dieser fort. »Der andere Vertreter der katholischen Seite ist Lorcan McGinley. Er ist jünger und grundlegend anders geartet. Er kann außerordentlich charmant sein, zeigt sich aber meist ausgesprochen unwillig. Er hat einige Angehörige während der großen Kartoffel-Hungersnot verloren und Grundbesitz eingebüßt, der an das protestantische Establishment gefallen ist. Er bewundert Leute wie Wolfe Tone und Daniel O’Connell.« Tone, das wußte Pitt, war ein irischer Rebell des 18. Jahrhunderts, der der Fremdherrschaft der Engländer ein Ende machen wollte und während des Aufstandes von 1798 ein französisches Expeditionsheer ins Land geführt hatte. Den »Befreier« Daniel O’Connell kannte jedes Kind. Er war im 19. Jahrhundert der erste einer Reihe bedeutender Führer der Iren im Londoner Unterhaus gewesen, das zuvor keine irischen Katholiken als Mitglieder zugelassen hatte. »McGinley spricht sich für ein freies, unabhängiges Irland unter katholischer Führung aus. Gott allein weiß, was aus den Protestanten würde, wenn es wirklich dazu käme.«

Greville zuckte die Achseln. »Mir ist in keiner Weise klar, wie eng seine Beziehungen zu Rom sind. Es ist durchaus möglich, daß es zu einer Protestantenverfolgung käme, wenn die Katholiken die Oberhand gewinnen würden. Möglicherweise steckt aber in erster Linie Großsprecherei hinter diesen Ankündigungen. Das gehört zu den Dingen, die wir bei der Zusammenkunft herausfinden müssen. Ein Bürgerkrieg wäre das letzte, was wir wünschen – der aber, lassen Sie mich Ihnen das versichern, Oberinspektor, ist keineswegs ausgeschlossen.«

Es überlief Pitt eiskalt. Er erinnerte sich aus dem Geschichtsunterricht noch recht deutlich an die Darstellungen des Bürgerkriegs, der unter Cromwell in England getobt hatte. Es hatte mehrere Generationen gedauert, bis die durch Tod und Verbitterung geschlagenen Wunden verheilt waren. Kriege aus ideologischen Gründen werden gewöhnlich mit größerer Brutalität ausgeführt als andere Kriege.

»McGinley bringt seine Gemahlin mit«, fuhr Greville fort. »Über sie weiß ich nur sehr wenig, außer daß sie anscheinend Dichterin mit einer nationalistischen Gesinnung ist. Wir müssen also mit einer romantischen Träumerin rechnen, einem dieser ausgesprochen gefährlichen Menschen, die sich Geschichten von Liebe und Verrat, heldenhaften Schlachten und verklärtem Tod ausdenken. Zwar ist nichts von all dem je geschehen, aber sie verstehen sich meisterhaft darauf und finden so eingängige Melodien, daß daraus Legenden entstehen, die das einfache Volk glaubt.«

Er verzog das Gesicht vor Zorn und Abscheu, aber vielleicht auch einer Spur Schwermut. »Ich habe einen ganzen Raum voller Männer Tränen über den Tod eines Mannes vergießen sehen, der nie gelebt hat, und im Hinausgehen haben sie seinen Mördern Rache geschworen. Jeden, der gewagt hätte, ihnen zu sagen, jemand habe sich die ganze Sache aus den Fingern gesogen, hätten sie auf der Stelle als Ketzer gehängt, denn wer so etwas sagt, ist ihrer Ansicht nach nicht bereit, Irland seine eigene Geschichte zuzubilligen!« In seiner Stimme lag Bitterkeit, und er kräuselte mißbilligend die Lippen.

»In dem Fall dürfte Mrs. McGinley gefährlich sein«, stimmte Pitt zu.

»Aber ja«, sagte Greville gelassen. »Die ganze Leidenschaft, mit der ihr Gatte die Sache vertritt, geht auf Geschichten von der Art zurück, wie sie sich diese Iona O’Leary ausdenkt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob den beiden klar ist, was da Dichtung und was Wahrheit ist. Die ganze Sache ist emotional so aufgeladen, daß ich nicht weiß, ob überhaupt noch jemand die Fakten hinter all der Tragik und unbestreitbaren Ungerechtigkeit kennt.«

»Und McGinley hat keine Vorbehalte gegen Gewaltanwendung?« fragte Cornwallis.

»Nicht im geringsten«, bestätigte Greville. »Außer vielleicht den, daß ein solches Unterfangen unter Umständen fehlschlagen könnte. Er ist bereit, für seine Grundsätze zu leben oder zu sterben, solange sie die Freiheit gewähren, die er sich wünscht. Ich weiß nicht, ob ihm bewußt ist, was für sein Land dabei herauskommen würde. Ich bezweifle, daß er so weit gedacht hat.«

»Und die Seite der Protestanten?« fragte Pitt.

»Da wäre einmal Fergal Moynihan«, antwortete Greville. »Er ist ebenso extrem. Sein Vater war einer dieser eifernden protestantischen Prediger, und er teilt dessen Überzeugung, daß der Katholizismus Teufelswerk ist und daß alle Priester Blutsauger und Verführer sind, wenn nicht gar Kannibalen.«

»Ein zweiter William Murphy«, sagte Pitt trocken.

»Holz vom selben Stamme.« Greville nickte. »Eine Spur kultivierter, jedenfalls nach außen, aber der Haß ist der gleiche, wie auch der unbeirrbare Glaube.«

»Kommt er allein?« fragte Pitt.

»Nein, seine Schwester, Miss Kezia Moynihan, begleitet ihn.«

»Und sie teilt seine Ansichten wahrscheinlich?«

»In geradezu extremer Weise. Ich kenne sie nicht persönlich, habe aber von Männern, deren Aussagen ich traue, gehört, daß sie auf ihre Weise eine außergewöhnlich fähige Politikerin sein soll. Wäre sie ein Mann, hätte sie ihrem Volk wohl große Dienste leisten können. Sie ist unverheiratet, was für die Sache der Protestanten äußerst bedauerlich ist, weil sie andernfalls als treibende Kraft hinter einem nützlichen Mann stehen könnte. Da sie aber ihrem Bruder eng verbunden ist, übt sie womöglich auch auf ihn einen nicht unbeträchtlichen Einfluß aus.«

»Klingt vielversprechend«, merkte Cornwallis an, ohne die Stimme zu heben. Er wirkte überhaupt nicht begeistert.

Greville gab keine Antwort.

»Dann wäre da noch Carson O’Day«, schloß er. »Er stammt aus einer äußerst vornehmen protestantischen Gutsbesitzerfamilie und ist wahrscheinlich der liberalste und vernünftigste von allen. Falls er und Padraig Doyle eine Art Kompromiß zustande bringen sollten, kann man die anderen vermutlich zumindest dazu bringen, sich die Sache anzuhören.«

»Außer Ihnen und Mrs. Greville sowie Mr. und Mrs. Radley sind das vier Herren und zwei Damen«, sagte Pitt nachdenklich.

»Außerdem Sie und Ihre Gattin, Mr. Pitt«, fügte Greville hinzu. Natürlich würde Charlotte mitfahren. Daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Demnach empfand Pitt heftige Unruhe bei der Vorstellung, in welche Gefahr sie sich bringen könnte oder welches Chaos sie auszulösen vermochte. Der Gedanke an das, wozu sie imstande war und wobei Emily sie sicherlich unterstützen würde, ließ ihn unwillkürlich ein Wort des Protestes ausstoßen.

»Und selbstverständlich das dazugehörige Personal«, fuhr Greville unerbittlich fort, ohne auf ihn zu achten. »Vermutlich wird jeder der Gäste zumindest einen persönlichen Bediensteten mitbringen – wenn nicht mehr – und außerdem einen Kutscher samt Pferdeknecht oder Lakai.«

Pitt begriff, daß die Sache alptraumhafte Ausmaße annahm.

»Das würde ja ein ganzes Regiment!« rief er aus. »Es wäre sinnvoll, dafür zu sorgen, daß die Gäste mit der Bahn anreisen und von Mr. Radleys Kutsche am Bahnhof abgeholt werden. Dann würde für jeden Herrn ein Kammerdiener und für jede Dame eine Zofe genügen. Mehr Leute können wir auf keinen Fall bewachen oder schützen.«

Greville zögerte, aber die Richtigkeit des Gedankens war nicht von der Hand zu weisen.

»Also gut, ich kümmere mich darum. Aber Sie nehmen Ihren ›Kammerdiener‹ mit?«

Es hatte keinen Zweck, länger zu zögern. Ihm blieb keine Wahl.

»Ja, Mr. Greville. Doch sofern ich Ihnen überhaupt von Nutzen sein soll, muß ich Sie bitten, jeden Rat zu befolgen, den ich Ihnen hinsichtlich Ihrer Sicherheit gebe.«

Greville lächelte, eine Spur verkniffen.

»Im Rahmen der Grenzen, die mir meine Pflicht setzt, Mr. Pitt. Ich könnte auch mit einem Polizeibeamten vor der Tür zu Hause bleiben, dann wäre ich völlig sicher – nur käme dabei nichts heraus. Ich werde die Gefahr gegen den Nutzen abwägen und mich entsprechend verhalten.«

»Sie sprachen von einem Anschlag auf Ihr Leben, Sir«, sagte Pitt rasch, als er sah, daß sich Greville erheben wollte. »Wie ist das abgelaufen?«

»Ich war auf dem Weg von meinem Haus zum Bahnhof«, berichtete Greville betont gleichmütig, als wäre die Sache nicht besonders wichtig. »Auf dem ersten Stück führt die Straße durch offenes Gelände, danach kommt eine längere bewaldete Strecke, und anschließend ein etwa gleichlanges Stück durch Ackerland bis zum Dorf. Im Wald kam auf einmal eine sehr viel schwerere Kutsche als meine aus einem Seitenweg und folgte uns mit hoher Geschwindigkeit, fast im Galopp. Ich habe meinem Kutscher gesagt, er solle die Pferde antreiben, damit wir möglichst rasch eine Stelle erreichten, an der er gefahrlos an den Straßenrand fahren und den anderen Kutscher überholen lassen konnte, aber es zeigte sich bald, daß dieser nicht im geringsten die Absicht hatte, seine Fahrt zu verlangsamen und schon gar nicht, hinter uns zu bleiben.«

Pitt merkte, daß sich Greville leicht verkrampfte, während er den Vorfall schilderte. Obwohl er sich um Gelassenheit bemühte, hatten sich seine Schultern gehoben, und seine Hand lag nicht mehr locker auf dem Knie. Pitt dachte daran, wie sie Denbighs Leiche in jenem Londoner Gäßchen gefunden hatten, und begriff, daß Greville allen Grund hatte, um sein Leben zu fürchten.

»Mein Kutscher hatte die Pferde fast bis auf Schrittgeschwindigkeit gezügelt« fuhr Greville fort, »und war zur Seite gefahren. Das war nicht ungefährlich, weil das Bankett infolge der vielen Regenfälle tiefe Wagenspuren aufwies. Die andere Kutsche kam in voller Fahrt heran, doch statt auszuweichen, lenkte der Kutscher sie absichtlich in die Seite unseres Fahrzeugs, so daß es fast umgestürzt wäre. Ein Rad brach, und eines unserer Pferde wurde verletzt, glücklicherweise nicht lebensgefährlich. Kurz darauf kam jemand aus der Nachbarschaft vorbei und nahm mich mit ins Dorf, während sich mein Kutscher um das Tier kümmerte. Ich habe dann Leute hingeschickt, die ihm helfen konnten, die Kutsche wieder fahrtauglich zu machen.«

Er schluckte etwas mühsam, als sei sein Mund ausgetrocknet.

»Wäre nicht in diesem Augenblick zufällig ein anderes Fahrzeug vorbeigekommen – ich weiß nicht, wie die Sache ausgegangen wäre. Jedenfalls ist der andere Kutscher einfach mit erhöhter Geschwindigkeit weitergefahren und war bald verschwunden.«

»Haben Sie herausbekommen, um wen es sich handelte?« fragte Pitt.

»Nein«, sagte Greville tonlos. Eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel. »Selbstverständlich habe ich herumfragen lassen, aber niemand hat die Kutsche gesehen. Sie ist nicht bis ins Dorf gefahren und muß irgendwo innerhalb des Waldgebietes abgebogen sein. Das Gesicht des Kutschers konnte ich im Vorüberfahren sehen, denn er hatte sich mir zugewandt. Er hatte die Pferde vollständig im Griff, und es war deutlich zu sehen, daß er uns von der Straße drängen wollte. Ich werde den Blick in seinen Augen nicht so leicht vergessen.«

»Und sonst hat niemand die Kutsche gesehen, der zu ihrer Identifizierung oder zu der des Kutschers beitragen könnte, weder vorher noch später?« ließ Pitt nicht locker. Das allerdings tat er weniger, weil er damit etwas zu erreichen hoffte, sondern vielmehr um Greville zu zeigen, daß er ihn ernst nahm. »Man hatte sie nicht in der Nähe gemietet oder von einem Hof oder einem Herrensitz in der Umgebung gestohlen?«

»Nein«, antwortete Greville. »Wir haben nichts erfahren, was uns hätte weiterhelfen können. Kesselflicker und alle möglichen Händler kommen und gehen auf den Straßen. Ohne das Wappen des Eigentümers auf dem Schlag läßt sich eine Kutsche kaum von anderen unterscheiden.«

»Würde nicht ein Kesselflicker oder Händler ein offenes Fuhrwerk benutzen?« fragte Pitt.

»Ich denke schon.«

»Aber das war eine geschlossene Kutsche mit einem Kutscher auf dem Bock?«

»Ja … so ist es.«

»Und saß jemand im Inneren?«

»Ich habe niemanden gesehen.«

»Und sie fuhr mehr oder weniger im Galopp?«

»Ja.«

»Dann waren es offenbar gute und frische Pferde?«

»Ja«, sagte Greville, wobei sein Blick unverwandt auf Pitts Gesicht lag. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Sie können nicht von weither gekommen sein. Wir hätten der Sache nachgehen müssen und dann vielleicht festgestellt, wer die Hintermänner waren.« Er preßte die Lippen zusammen. »Dafür ist es jetzt zu spät. Aber wenn wieder etwas geschehen sollte, werde ich mich an Sie wenden, Mr. Pitt«. Er stand auf. »Vielen Dank, Mr. Cornwallis. Ich stehe auch in Ihrer Schuld. Mir ist klar, daß ich Ihnen wenig Brauchbares mitgeteilt habe. Dennoch haben Sie mich äußerst zuvorkommend behandelt.«

Auch Pitt und Cornwallis erhoben sich und sahen zu Greville hin, der sich verneigte, dann aufrecht zur Tür ging und den Raum verließ.

Cornwallis wandte sich an Pitt und sagte: »Tut mir leid«, bevor dieser den Mund öffnen konnte. »Ich haben selbst erst heute morgen von der Sache erfahren. Auch bedaure ich, daß Sie den Fall Denbigh abgeben müssen, aber uns bleibt keine Wahl. Es liegt auf der Hand, daß für Ashworth Hall niemand außer Ihnen in Frage kommt.«

»Ich könnte die Untersuchung des Falles Denbigh Tellman überlassen«, sagte Pitt rasch, »und einen anderen als meinen ›Kammerdiener‹ mitnehmen. Kaum jemand eignet sich weniger für diese Rolle als er.«

Ein flüchtiges Lächeln trat auf Cornwallis’ Züge.

»Sie meinen, daß es kaum jemand weniger gern täte«, verbesserte er Pitt. »Aber er wird den Auftrag glänzend erledigen. Sie brauchen dort Ihren besten Mann, jemanden, den Sie gut kennen. Es muß überdies jemand sein, der sich veränderten Umständen rasch anpassen und selbständig denken kann, und außerdem genug Mut aufbringt einzugreifen, sollte es erneut zu einer Bedrohung von Grevilles Leben kommen. Übergeben Sie die Sache hier Byrne. Er ist ein guter und zuverlässiger Mann. Bestimmt kümmert er sich gewissenhaft darum.«

»Aber … «, setzte Pitt erneut an.

»Wir haben nicht genug Zeit, einen anderen einzuarbeiten«, sagte Cornwallis mit Nachdruck. »Es hat politische Gründe, daß die Sache so eingefädelt wurde. Was die Lage in Irland betrifft, ist dies eine äußerst schwierige Zeit.« Er sah Pitt an, um festzustellen, ob dieser verstand. Er mußte zu dem Ergebnis gekommen sein, daß das nicht der Fall war, denn nach kurzem Zögern fuhr er fort: »Ihnen ist ja wohl klar, daß die Iren in ihrem Kampf um Selbstbestimmung seit vielen Jahren keinen einflußreicheren Führer hatten als Charles Stewart Parnell. Es wäre möglich, daß er sie einigen kann, denn ihm zollen fast alle Parteiungen Respekt. Viele Menschen sind überzeugt, falls es zu einem dauerhaften Frieden käme, wäre er der Mann, den ganz Irland als Führer anerkennen würde.«

Pitt nickte bedächtig. Er wußte, was Cornwallis als nächstes sagen würde. Die Erinnerung überspülte ihn jetzt wie eine Flutwelle.

Das Gesicht seines Vorgesetzten wirkte angespannt und ein wenig verwirrt. Er sprach nicht gern über Fragen der Moral, da sie seiner Ansicht nach in die Privatsphäre gehörten. Er war eher zurückhaltend und fühlte sich in Gegenwart von Frauen nicht wohl. Vermutlich war er wegen der vielen Jahre, die er auf See verbracht hatte, nicht an ihre Gesellschaft gewöhnt. Während er sie einerseits für edler und unschuldiger hielt, als sie waren und daher mehr verehrte, als es die meisten von ihnen verdienten, billigte er ihnen auf der anderen Seite kein großes Maß an Tüchtigkeit zu. Wie ein Großteil der Männer seiner Generation und seiner gesellschaftlichen Stellung war er davon überzeugt, daß Frauen zart besaitet waren und ihnen die Begierden abgingen, die einen Mann antrieben und bisweilen auch erniedrigten.

Pitt lächelte. »Die Scheidungsgeschichte Parnell-O’Shea«, nahm er Cornwallis das Wort aus dem Mund. »Vermutlich kommt die Sache jetzt doch vor Gericht. Wollen Sie darauf hinaus?«

»Ja«, stimmte Cornwallis erleichtert zu. »Eine äußerst geschmacklose Angelegenheit, doch scheint man entschlossen zu sein, sie bis zum bitteren Ende auszufechten.«

»Sie glauben, daß Hauptmann O’Shea dazu entschlossen ist?« fragte Pitt. O’Shea war kein besonders sympathischer Zeitgenosse. Man munkelte mehr oder weniger öffentlich, ihm sei nicht nur die ehebrecherische Beziehung zwischen seiner Frau Katie und Parnell bekannt gewesen, er habe die beiden sogar förmlich miteinander verkuppelt, um für sein eigenes Vorankommen daraus Vorteile zu ziehen. Als seine Frau ihn dann aber wegen Parnell verließ, klagte er auf Scheidung und beschwor damit einen öffentlichen Skandal herauf. Jetzt stand die Sache kurz vor der Verhandlung. Was das für Parnells Laufbahn als Unterhausabgeordneter und Politiker bedeutete, konnte man nur vermuten.

Ebenfalls unsicher war, welche Auswirkungen das Ganze auf Parnells Rückhalt in Irland haben würde. Er entstammte einer zum protestantischen Establishment gehörenden anglo-irischen Grundbesitzerfamilie. Auch Mrs. O’Shea war Protestantin, aber in England geboren und aufgewachsen. Ihre Mutter, die ein ausgesprochen kultiviertes Haus führte, hatte mehrere Romantrilogien veröffentlicht. Hauptmann William O’Shea hingegen, der wie ein Engländer aussah und sprach, war irischstämmiger Katholik, wovon er allerdings nicht viel Aufhebens machte. Diese Ausgangssituation konnte eine endlose Reihe von leidenschaftlichen Verwicklungen mit Verrat und Rache nach sich ziehen – der Stoff eignete sich in geradezu idealer Weise zur Legendenbildung.

Cornwallis fühlte sich von der ganzen Geschichte peinlich berührt. Am liebsten wäre er darüber hinweggegangen, denn seiner Ansicht nach gehörten Dinge, die so viel mit persönlicher Schwäche und Schande zu tun hatten, nicht an die Öffentlichkeit. Wenn sich jemand im Privatleben schlecht benahm, war es durchaus in Ordnung, daß er von seinesgleichen geächtet und vielleicht sogar auf der Straße geschnitten wurde. Man konnte ihn auffordern, die Mitgliedschaft in seinen Klubs aufzugeben, und falls er auch nur eine Spur von Anstand besaß, würde er dem zuvorkommen und aus eigenem Antrieb ausscheiden. Aber keinesfalls durfte er seine Schwäche dem Blick der Öffentlichkeit preisgeben.

»Besteht irgendeine Verbindung zwischen dem Fall O’Shea und der geplanten Zusammenkunft in Ashworth Hall?« fragte Pitt. Damit kam er wieder auf den eigentlichen Anlaß ihres Gesprächs zurück.

»Selbstverständlich«, gab Cornwallis mit vor Anspannung gerunzelter Stirn zurück. »Wenn Parnell öffentlich als schuldig gebrandmarkt würde und dabei Einzelheiten seiner Beziehung zu Mrs. O’Shea an die Öffentlichkeit kämen, die ihn in einem unvorteilhaften Licht erscheinen ließen, würde er als jemand dastehen, der die Großzügigkeit seines Gastgebers mißbraucht hat, und keineswegs als der Held, der in Liebe zu einer vernachlässigten und unglücklichen Ehefrau entbrannt ist. Das aber würde dazu führen, daß die einzige lebensfähige irische Partei ihren Führer verlieren würde. Jeder Ehrgeizling könnte sich dann an ihre Spitze stellen. Grevilles Worten entnehme ich, daß weder Moynihan noch O’Day abgeneigt sind, die Führung an sich zu reißen. O’Day bringt Parnell immerhin ein gewisses Verständnis entgegen, Moynihan hingegen ist ausgesprochen starrsinnig.«

»Und was ist mit den katholischen Nationalisten?« fragte Pitt verwirrt. »Ist nicht auch Parnell Nationalist?«

»Ja, natürlich. Keiner, der es nicht ist, könnte eine Mehrheit von Iren hinter sich scharen. Aber er ist Protestant. Auch wenn die Katholiken zum Nationalismus neigen, tun sie das wegen ihrer Hörigkeit gegenüber Rom doch unter völlig anderen Vorzeichen. In dieser Abhängigkeit von Rom liegt ein großer Teil des Problems, doch hat es neben der Frage der Religionsfreiheit auch mit alten Feindschaften zu tun, die auf die Zeit Wilhelms von Oranien zurückgehen – die Schlacht am Fluß Boyne und weiß der Henker, was noch alles. Denken Sie nur an die ungerechten Bodengesetze, die große Hungersnot und die Massenauswanderung. Möglicherweise steckt auch einfach ein Haß dahinter, der sich über Generationen hinweg weitervererbt hat. Greville zufolge ist die Forderung der Katholiken, an Stelle einer Gemeinschaftsschule für alle eine staatlich finanzierte Bekenntnisschule für die katholischen Kinder einzurichten, ein weiterer strittiger Punkt. Ich gebe gern zu, daß ich das nicht verstehe, aber mir ist klar, daß die Androhung von Gewalt durchaus real ist. Unglücklicherweise lehrt uns die Geschichte nur allzu deutlich, wie es in der Vergangenheit damit ausgesehen hat.«

Wieder mußte Pitt an Denbigh denken. Viel lieber wäre er in London geblieben, um Jagd auf dessen Mörder zu machen, statt in Ashworth Hall Politiker zu bewachen.

Cornwallis lächelte spöttisch. »Möglicherweise kommt es ja zu keinen weiteren Anschlägen«, sagte er trocken. »Ich könnte mir vorstellen, daß die Gefahr für die Vertreter der jeweiligen Gruppierungen vor ihrer Ankunft oder nach ihrer Abreise größer ist als in Ashworth Hall selbst. Dort sind sie weniger angreifbar. Nebenbei gesagt gilt das auch für Greville. Wir werden mindestens ein weiteres Dutzend Männer im Dorf und um das Gelände des Herrensitzes herum postieren. Aber ich muß seinen Wünschen nachkommen, wenn er das Gefühl hat, daß er in Gefahr ist. Sicherlich brauche ich Ihnen nicht zu erklären, welch unermeßlicher Schaden daraus entstehen könnte, wenn es in Ashworth Hall zu einem Anschlag auf einen Vertreter der irischen Seite käme? Das könnte den Friedensporzeß um fünfzig Jahre zurückwerfen!«

»Gewiß, Sir«, bestätigte Pitt. »Das verstehe ich selbstverständlich.«

Cornwallis lächelte, und zum ersten Mal erreichte dieses Lächeln auch seine Augen.

»Dann sollten Sie besser Tellman von seinem neuen Auftrag in Kenntnis setzen. Es beginnt an diesem Wochenende.«

»Schon an diesem Wochenende!« Pitt war wie vor den Kopf geschlagen.

»Ja, es tut mir leid. Ich hatte Ihnen ja gesagt, daß es sich um eine kurzfristig anberaumte Sache handelt. Aber ich bin sicher, daß Sie es schaffen werden.«

Tellman war ein energischer und arbeitsamer, aber mürrischer Mensch, der sich unter keinen Umständen etwas schenken lassen wollte. Er war in bitterer Armut aufgewachsen und fest davon überzeugt, daß das Leben nur weitere Nackenschläge für ihn bereithielt. Kaum hatte er den Blick bemerkt, mit dem ihn Pitt betrachtete, als er mißtrauisch zu ihm hinsah.

»Ja, Mr. Pitt?« Er vermied die Anrede »Sir« nach Möglichkeit, betonte man damit seiner Ansicht nach doch nur die eigene Bedeutungslosigkeit und Unterwürfigkeit.

»Guten Morgen, Tellman«, gab Pitt zur Antwort. Er hatte ihn in einer Ecke der Wachstube gefunden, wo sie für die Vertraulichkeit dessen, was er zu sagen hatte, hinreichend ungestört waren. Außer ihnen war nur noch ein Wachtmeister anwesend, der etwas ins Wachbuch eintrug. »Mr. Cornwallis war hier. Er hat einen Auftrag für Sie. Wir werden am kommenden Wochenende gebraucht. Auf dem Lande.«

Tellman hob den Blick. Sein hohlwangiges Gesicht mit der Adlernase wirkte kummervoll, aber keineswegs unansehnlich.

»So?« fragte er zweifelnd. Er kannte Pitt zu gut, als daß er sich durch Höflichkeit hätte täuschen lassen. Er las in seinen Augen.

»Wir sollen bei einer Gesellschaft auf einem Landsitz einen Politiker schützen«, fuhr Pitt fort.

»Ach ja?« Tellman war bereits in die Defensive gegangen. Pitt konnte sich genau vorstellen, wie er vor seinem inneren Auge Bilder vermögender Müßiggänger heraufbeschwor, die von den Erträgen ihres Landbesitzes lebten und sich von Menschen bedienen ließen, welche ihnen zwar in jeder Hinsicht das Wasser reichen konnten, aber von der Gesellschaft aus reiner Habgier in Abhängigkeit gehalten wurden. »Ist jemand hinter dem Mann her?«

»Man hat ihm Morddrohungen ins Haus geschickt«, bestätigte Pitt gelassen. »Und es hat zumindest einen Anschlag auf sein Leben gegeben.«

Tellman zeigte sich unbeeindruckt. »Bei dem armen Denbigh war’s mehr als ein ›Anschlag auf sein Leben‹, nicht wahr? Oder ist das jetzt nicht mehr wichtig?«

Im Raum war es so still, daß Pitt das Kratzen des Gänsekiels hören konnte, mit dem der Wachtmeister schrieb. Wegen der Kälte waren die Fenster geschlossen, so daß von der Straße kein Lärm hereindrang. Vom Gang hörte man das Stimmengemurmel zweier sich unterhaltender Männer. Durch die schwere Holztür konnte man nicht verstehen, was sie sagten. »Es handelt sich um denselben Fall, nur von der anderen Seite aus betrachtet«, sagte Pitt grimmig. »Auch der betreffende Politiker beschäftigt sich mit der irischen Frage, und am kommenden Wochenende soll der Versuch zu einer Lösung unternommen werden. Es ist von äußerster Wichtigkeit, daß es dabei zu keiner Gewalttat kommt.« Er lächelte zu Tellman hinüber, der ihn herausfordernd ansah. »Wie auch immer Sie persönlich zu dem Mann stehen mögen – sofern es ihm gelingt, Irland dem Frieden auch nur einen Schritt näher zu bringen, lohnt es die Mühe, ihn am Leben zu erhalten.«

Der Anflug eines Lächelns trat auf Tellmans Gesicht.

»Möglich«, sagte er unwillig. »Aber warum ausgerechnet wir, und nicht die Polizei am Ort? Die könnte das viel besser. Die Leute kennen die Gegend und die Menschen, die da wohnen. Die würden sofort merken, wenn jemand da nicht hingehört, wir nicht. Ich hab Erfahrung mit der Aufklärung von Mordfällen, und ich will den Dreckskerl fassen, der Denbigh umgebracht hat. Davon, wie man bei politischen Gesprächsrunden Attentate verhindert, versteh ich nix. Und bei allem Respekt, Sie auch nicht, Mr. Pitt!« Trotz der Worte »bei allem Respekt« war in seiner Stimme nichts davon zu hören. Seine nächste Frage zeigte, was er dachte: »Vermutlich haben Sie schon ja gesagt. Sie haben nicht womöglich darum gebeten, oder?«

»Natürlich nicht. Es war ein dienstlicher Auftrag«, gab Pitt mit einem Lächeln zurück, bei dem er seine Zähne teilweise entblößte. »Ganz wie Ihnen, Tellman, bleibt auch mir keine Wahl, als Aufträge auszuführen, die mir meine Vorgesetzten erteilen.«

Diesmal war Tellmans Belustigung ungekünstelt.

»Wir lassen also Denbigh sausen und drücken uns statt dessen auf dem Landsitz von irgend so ’nem Lord rum, um aufzupassen, daß keine Hausierer, Wegelagerer und sonstigen Eindringlinge in den Blumenbeeten lauern? Ist das nicht ’n bißchen unter der Würde des Chefs der Polizeiwache von Bow Street … Sir?«

»Man ist auf mich verfallen«, gab Pitt zurück, »weil das Treffen auf dem Landsitz meiner Schwägerin stattfindet, in Ashworth Hall. Man erwartet von mir, daß ich dort als Gast unter Gästen auftrete. Lägen die Dinge anders, würde ich hier am Fall Denbigh weiterarbeiten und jemand anders abordnen.«

Betont langsam ließ Tellman den Blick über Pitts schlanke Gestalt gleiten, das gut geschnittene Jackett, das durch die zahllosen Gegenstände, mit denen er die Taschen vollzustopfen pflegte, ganz und gar außer Fasson geraten war, das saubere weiße Hemd, auf dem der Binder nicht ganz einwandfrei saß, und das etwas zu lange, gelockte Haar.

Seine Züge waren nahezu ausdruckslos. »Ach ja?«

»Und Sie sollen als mein Kammerdiener mitkommen«, fügte Pitt hinzu.

»Was?«

Der Wachtmeister ließ den Gänsekiel fallen und verschmierte Tinte über das ganze Blatt.

»Sie sollen als mein Kammerdiener mitkommen«, wiederholte Pitt mit sachlicher Stimme.

Einen Augenblick lang war Tellman geneigt, diese Mitteilung für einen Scherz zu halten, ein Beispiel für den ziemlich unberechenbaren Humor seines Vorgesetzten.

»Finden Sie nicht, daß ich einen brauche?« fragte Pitt lächelnd.

»Sie brauchen ’ne ganze Menge mehr als ’nen Kammerdiener!« stieß Tellman hervor, der nach einem Blick in Pitts Augen gemerkt hatte, daß er es ernst meinte, »nämlich ’nen verdammten Zauberer!«

Pitt richtete sich auf, straffte die Schultern und zog die Aufschläge seines Jacketts gerade.

»Bedauerlicherweise muß ich mich mit Ihnen begnügen. Das wird zwar als schwerer gesellschaftlicher Makel auf mir lasten, aber es ist denkbar, daß Sie für den betreffenden Politiker von größerem Nutzen sind. Zumindest, was den Schutz seines Lebens betrifft, wenn auch nicht seine Ansprüche an eine elegante Erscheinung.«

Tellman sah ihn wütend an.

Pitt lächelte munter. »Sie werden sich Donnerstag morgen um sieben Uhr in Zivil bei mir zu Hause melden. In einem gedeckten Anzug.« Er sah auf die Füße des Inspektors hinab. »Und besorgen Sie sich neue Schuhe, wenn die da alles sind, was Sie an Schuhen besitzen. Außerdem bringen Sie saubere Leibwäsche für sechs Tage mit.«

Tellman schob sein kantiges Kinn nach vorne.

»Ist das ein dienstlicher Befehl?«

Pitt hob die Augenbrauen, so hoch er konnte. »Gott im Himmel, glauben Sie, ich würde Sie andernfalls mitnehmen?«

»Was hast du gesagt, wann das sein soll?« fragte Charlotte ungläubig, als Pitt ihr Mitteilung von der bevorstehenden Gesellschaft machte.

»Am kommenden Wochenende«, wiederholte er und wirkte eine Spur verlegen.

»Das ist völlig ausgeschlossen!«

Sie standen im Wohnzimmer ihres Hauses an der Keppel Street in Bloomsbury, wohin sie nach Pitts kürzlich erfolgter Beförderung gezogen waren. Bis zu diesem Augenblick war es für Charlotte ein ganz und gar gewöhnlicher Tag gewesen. Diese Mitteilung aber brachte sie aus der Fassung. Konnte sich Thomas nicht vorstellen, wieviel Vorbereitungen für ein solches Wochenende erforderlich waren? Die Antwort darauf war einfach: natürlich nicht. Da er auf einem Herrensitz aufgewachsen war, kannte er solche Häuser und wußte wahrscheinlich auch, wieviel Personal zur Verfügung stand, welche Aufgaben jeder hatte und wie der Tag verlief, wenn Gäste im Hause waren. Aber wovon er keine Vorstellung hatte, war, was diese Gäste an Garderobe mitbringen mußten. Es kam ohne weiteres vor, daß eine Dame an einem bestimmten Tag ein halbes Dutzend verschiedener Kleider trug, und sie konnte sich unmöglich Tag für Tag im selben Abendkleid beim Dinner zeigen.

»Welche Damen kommen noch?« fragte sie, nach wie vor mit Entsetzen im Blick.

Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, daß er noch immer nicht erfaßt hatte, welche Zumutung sein Ansinnen für sie bedeutete.

»Ainsley Grevilles Frau, Moynihans Schwester und McGinleys Frau«, gab er zur Antwort. »Emily ist die Gastgeberin. Alle Pflichten liegen bei ihr. Du brauchst dich um nichts zu kümmern. Du kommst nur mit, um meine Anwesenheit glaubwürdig erscheinen zu lassen. Weil du Emilys Schwester bist, wird es ganz natürlich aussehen, daß wir da sind.«

Enttäuschung kam in ihr hoch. »Ach, so ist das.« Sie stieß einen Wutschrei aus. »Was soll ich deiner Ansicht nach anziehen? Ich habe insgesamt vielleicht acht Herbst- oder Winterkleider! Davon sind die meisten Alltagskleider. Wie, zum Kuckuck, soll ich mir von jetzt bis Donnerstag noch zehn Kleider zusammenbetteln oder ausleihen?« Ganz abgesehen von Schmuck, Abendschuhen, Straßenschuhen, Abendtäschchen, einem Umschlagtuch, einem Hut für Spaziergänge und dutzenderlei anderen Dingen, deren Nichtvorhandensein sofort zeigen würde, daß sie nicht wirklich zum Kreis der Gäste gehörte, sondern eine arme Verwandte war. Cornwallis’ Plan, die Gesellschaft wie jede andere erscheinen zu lassen, war zum Scheitern verurteilt, noch ehe die Sache begonnen hatte.

Dann sah sie den besorgten und unsicheren Ausdruck auf dem Gesicht ihres Mannes und wünschte sogleich, sie hätte sich auf die Zunge gebissen, statt mit ihren Gefühlen so gedankenlos herauszuplatzen. Es quälte sie, daß er jetzt annehmen würde, er hätte besser für sie sorgen müssen, damit sie mit Emily Schritt halten konnte. Gewiß, mitunter hatte sie sich nach solchen hübschen Dingen gesehnt, nach dem Glanz und dem Wohlstand, aber in diesem Augenblick lag ihr nichts ferner als der Gedanke daran.

»Ich beschaffe mir schon, was ich brauche!« sagte sie rasch. »Ich rufe Großtante Vespasia an, und bestimmt kann mir auch Emily aushelfen. Außerdem will ich morgen ohnehin einen Besuch bei Mama machen. Für wie viele Tage war es noch mal? Soll ich Gracie mitnehmen? Oder lassen wir sie besser hier, damit sie sich um Daniel und Jemima kümmert? Die Kinder nehmen wir ja wohl nicht mit? Glaubst du, daß wirklich Gefahr besteht?«

Pitt sah nach wie vor ein wenig verwirrt drein, aber allmählich schwand der Ausdruck der Besorgtheit aus seinen Augen.

»Gracie muß als deine Zofe mitkommen. Ist deine Mutter überhaupt zu Hause?«

Caroline hatte vor kurzem wieder geheiratet. Sie war ausgesprochen glücklich, obwohl Joshua in keiner Weise zu ihr paßte, denn er war nicht nur Schauspieler, sondern auch siebzehn Jahre jünger als sie. Zwar hatte sie dadurch einige ihrer Bekannten verloren, aber auch viele neue gewonnen. Sie reiste häufig im Lande herum, da ihn sein Beruf von Zeit zu Zeit an Theater außerhalb Londons führte.

»Ja«, sagte Charlotte rasch. Dann fiel ihr ein, daß sie seit über zwei Wochen nicht mit ihrer Mutter gesprochen hatte. »Glaube ich jedenfalls.«

»Ich denke nicht, daß eine wirkliche Gefahr besteht«, sagte Pitt ernst. »Aber sicher bin ich nicht. Die Kinder lassen wir auf jeden Fall hier. Wenn sich deine Mutter nicht um sie kümmern kann, müssen wir sie bei Emilys Kindern in ihrem Stadthaus unterbringen. Aber du könntest heute abend Tante Vespasia anrufen.«

Lady Vespasia Cumming-Gould war durch Emilys erste Ehe mit Lord Ashworth ihre Großtante geworden. Schon bald hatte sie sich mit beiden Schwestern angefreundet – und auch mit Pitt, in dessen Fälle sie sich häufig einschaltete, wenn es um Angehörige der Oberschicht oder um gesellschaftliche Fragen ging, die ihr am Herzen lagen. In ihrer Jugend war sie eine der hinreißendsten Schönheiten ihrer Generation gewesen, und noch im Alter war sie von zeitloser Eleganz. Sie verkörperte die würdevolle Haltung, die einer von Englands großen Damen zukam. Außerdem ließ ihr lebendiger Geist keine künstlichen Schranken gelten, und sie war der Ansicht, sie brauche ihre Zunge nicht mehr im Zaum zu halten, weil ohnehin nichts mehr ihrem Ruf schaden könne.

»Das mache ich am besten jetzt sofort«, stimmte Charlotte zu. »Was hast du gesagt, wie viele Tage es dauert?«

»Stell dich am besten auf fünf oder sechs ein.«

Sie verließ schwungvoll den Raum, in Gedanken bereits bei den häuslichen Problemen und den Einzelheiten und Schwierigkeiten der Vorbereitung.

Sie nahm den Hörer ab und stellte ohne Mühe eine Verbindung zu Tante Vespasias Haus in London her. Binnen drei Minuten sprach sie mit ihr selbst.

»Guten Abend, Charlotte«, sagte Tante Vespasia voll Wärme. »Wie geht es dir? Und den anderen?«

»Vielen Dank. Es könnte nicht besser sein. Wie sieht es bei dir aus?«

»Ich bin neugierig«, antwortete Tante Vespasia, und Charlotte konnte sie förmlich lächeln hören. Es war ihre Absicht gewesen, ihre Bitte taktvoll und nach einer angemessenen Einleitung vorzubringen. Sie hätte es besser wissen müssen. Tante Vespasia durchschaute sie mühelos.

»Worauf?« sagte sie munter.

»Keine Ahnung«, antwortete Tante Vespasia. »Aber du wirst es mir sicher sagen, sobald wir die höflichen Belanglosigkeiten hinter uns haben.«

Charlotte zögerte nur einen kleinen Augenblick. »Thomas arbeitet an einem Fall«, erklärte sie, »der es erforderlich macht, daß wir beide mehrere Tage in einem hochherrschaftlichen Haus auf dem Lande verbringen.« Sie sagte nicht, um welches es sich handelte – nicht etwa aus Mißtrauen Tante Vespasia gegenüber, sondern weil man nie sicher sein durfte, ob das Fräulein vom Amt nicht mithörte.

»Aha«, erwiderte Tante Vespasia. »Und jetzt soll ich dich in bezug auf deine Garderobe ein wenig beraten?«

»Das wäre natürlich großartig!«

»Nun, meine Liebe, ich werde gründlich darüber nachdenken. Du kannst morgen früh um elf Uhr vorbeikommen.«

»Danke, Tante Vespasia«, sagte Charlotte und meinte es aufrichtig.

»Nicht der Rede wert. Ich finde die Gesellschaft im Augenblick ziemlich langweilig. Alles scheint sich zu wiederholen. Die Leute gehen wie immer die gleichen katastrophalen Bindungen ein, und wer davon erfährt, gibt die üblichen sinnlosen und nicht besonders hilfreichen Kommentare dazu ab. Eine Ablenkung wäre mir willkommen.«

»Ich komme«, versprach Charlotte fröhlich.

Dann rief sie ihre Mutter an, die sich begeistert bereit erklärte, die Kinder zu sich zu nehmen. Charlotte legte auf und eilte munter nach oben, um Unterröcke, Strümpfe und Nachthemden herauszusuchen – außerdem mußte sie sich um Pitts Garderobe kümmern. Auch er mußte richtig ausstaffiert sein. Das war überaus wichtig.

»Gracie!« rief sie, kaum daß sie den Treppenabsatz erreicht hatte. »Gracie!«

Zumindest würde sie dem Mädchen sagen müssen, daß sie verreisen würden und ihr erklären, was von ihr erwartet wurde, auch wenn sie den Anlaß und die Hintergründe noch nicht preiszugeben brauchte. Hunderterlei war zu erledigen. Unter anderem mußte die Kleidung für die Kinder zusammengepackt und im Haus vor dem Aufbruch alles in Ordnung gebracht werden.

»Ja, Ma’am?« Gracie kam aus dem Spielzimmer, wo sie aufgeräumt hatte, nachdem sie Daniel und Jemima zu Bett gebracht hatte. Sie war nach wie vor so klein, daß man ihre Kleider kürzen mußte, aber zumindest hatte sie ein wenig zugenommen und sah nicht mehr ganz so verwahrlost aus wie damals, als sie mit dreizehn Jahren ins Haus der Pitts gekommen war. Die deutlichste Veränderung an ihr aber war ihre Selbstsicherheit. Inzwischen konnte sie lesen und schreiben und war in mehr als einem von Pitts Fällen ausgesprochen hilfreich gewesen. Gewiß hatte sie die interessantesten Dienstherren in der Keppel Street, wenn nicht in ganz Bloomsbury, und es war ihr anzumerken, daß sie sich dessen bewußt war.

»Gracie, wir alle werden am kommenden Wochenende aufs Land fahren. Daniel und Jemima bleiben bei meiner Mutter in der Cater Street. Mrs. Standish füttert die Katzen. Du kommst als meine Zofe mit.«

Gracie riß die Augen weit auf. Für diese Rolle war sie nicht ausgebildet. Eine Zofe stand gesellschaftlich mehrere Stufen über einer Haushaltshilfe, und sie war nur ein Mädchen für alles. An Mut hatte es ihr nie gefehlt, aber diese Aussicht war, gelinde gesagt, beängstigend.

»Ich sage dir schon, was du tun mußt«, beruhigte Charlotte sie. Als sie in ihren großen Augen die Besorgnis erkannte, fügte sie hinzu: »Es hat mit einem der Fälle meines Mannes zu tun.«

»Oh.« Gracie stand stocksteif da. »Ich versteh’. Dann bleibt uns wohl keine Wahl, was?« Sie reckte das Kinn ein wenig vor. »In dem Fall müssen wir uns gleich an die Arbeit machen.«

KAPITEL ZWEI

Die Kutsche, ebenso eine Leihgabe von Tante Vespasia wie die Kleider, traf am späten Donnerstag vormittag in Ashworth Hall ein. Charlotte und Pitt saßen in Fahrtrichtung, ihnen gegenüber Gracie und Tellman.

Gracie war noch nie in einer Kutsche gefahren. Wenn sie irgendwohin mußte, was äußerst selten vorkam, benutzte sie gewöhnlich den Pferdeomnibus. Erst ein einziges Mal war sie zu ihrem Entsetzen und ihrer maßlosen Verblüffung so schnell gefahren, und zwar in der Untergrundbahn. Dieses Erlebnis würde sie niemals vergessen, und sie würde es mit Sicherheit nicht wiederholen, wenn es nach ihr ging. Aber eigentlich zählte das nicht wirklich, denn der Zug war durch eine finstere Tunnelröhre gefahren, so daß man nicht sehen konnte, wohin man fuhr. Auf einem gutgepolsterten Sitz in einer vierspännigen Kutsche zu sitzen und schnell wie der Wind über die Straßen hinaus aufs Land zu fahren, auch wenn man dabei in die Richtung sehen mußte, aus der man kam, war wie ein Wunder.

Ohne den Polizeibeamten, der stocksteif neben ihr saß, anzusehen, war ihr klar, daß er das alles in höchstem Maße mißbilligte. Noch nie hatte sie eine so saure Miene gesehen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte man annehmen können, er befände sich in einem Haus mit schadhafter Kanalisation. Er sagte kein einziges Wort.

Sie näherten sich über die lange, geschwungene, von Ulmen beschattete Auffahrt dem Herrenhaus und hielten vor der Freitreppe, an deren oberem Ende eine von zwei Säulen im antiken Stil eingerahmte prachtvolle Eingangstür offenstand. Ein Lakai eilte herbei und öffnete den Schlag, ein weiterer war den Gästen beim Aussteigen behilflich.

Selbst der Zofe Gracie wurde ein Arm gereicht, damit sie sicheren Tritts aussteigen konnte. Vielleicht fürchtete man, sie würde sonst fallen, und möglicherweise hatten sie damit auch recht. Sie hatte ganz vergessen, wie tief es bis auf den Boden hinab war.

»Danke«, sagte sie geziert und strich sich das Kleid glatt. Jetzt, da sie in der Rolle einer Zofe auftrat, hatte sie Anspruch darauf, als solche behandelt zu werden und mußte diese Art von Höflichkeit als ihr gebührend ansehen… jedenfalls für diese wenigen Tage.

Tellman stieg mit deutlich vernehmbarem Knurren aus und betrachtete den livrierten Lakaien mit unverhülltem Abscheu. Allerdings merkte Gracie, daß ihn trotz seiner Bemühung, gleichgültig zu erscheinen, die Pracht des großen Herrenhauses aus der Zeit König Georgs mit der Fassade aus glatten Quadersteinen, an der Schlinggewächse emporrankten, und der blitzenden Fensterfront tief beeindruckte.

Charlotte und Pitt wurden am Haupteingang willkommen geheißen. Tellman wollte seinem Vorgesetzten folgen, doch Gracie flüsterte ihm zu: »Dienstboteneingang, Mr. Tellman.«

Er erstarrte, und tiefe Röte überzog seine Wangen. Erst nahm Gracie an, er schäme sich wegen seines Schnitzers, als sie aber seine angespannten Schultern und geballten Fäuste sah, erkannte sie, daß er wütend war.

»Sie dürfen die gnädigen Herrschaften nicht dadurch bloßstellen, daß Sie einfach reingehen, wo’s Ihnen nicht zusteht!« flüsterte sie.

»Pitt ist nicht mein gnädiger Herr!« gab Tellman streitlustig zurück. »Er ist ein Polizist wie jeder andere.« Dennoch wandte er sich auf dem Absatz um und folgte mit Gracie dem Lakaien, der sie um das Haus herumführte. Das bedeutete bei einem Gebäude dieser Größe einen beträchtlichen Fußweg.

Der Lakai führte sie durch den Nebeneingang und dann einen breiten Gang entlang, bis er vor einer Tür stehenblieb und klopfte. Eine Frauenstimme antwortete, er öffnete die Tür und winkte die Neuankömmlinge hinein.

»Tellman und Phipps, Mr. und Mrs. Pitts Kammerdiener und Zofe, Mrs. Hunnaker«, sagte er und zog sich zurück. Sie befanden sich in einem aufgeräumten, wohnlich eingerichteten Raum mit Sesseln, auf deren Lehnen saubere Schondeckchen lagen, einem hübschen Teppich und Bildern an den Wänden. Über dem mit bemalten Kacheln eingefaßten Kamin, in dem ein munteres Feuer brannte, hingen bestickte Tücher.

Die Haushälterin, Mrs. Hunnaker, war Mitte Fünfzig und machte einen liebenswürdigen Eindruck. Mit ihrem dichten grauen Haar sah sie aus wie eine kultivierte Gouvernante.