Das Geheimnis der Miss Bellwood - Anne Perry - E-Book

Das Geheimnis der Miss Bellwood E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Inspektor Pitt: Im Haus von Reverend Parmenter stürzt eine junge Frau unter mysteriösen Umständen zu Tode. Bei seinen Ermittlungen stößt Pitt auf etliche Verdächtige, die einiges zu verbergen haben. Da geschieht ein zweiter Mord.

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Das Buch

Ein neuer Fall für Inspektor Pitt: Im Haus von Reverend Parmenter stürzt eine junge Frau unter mysteriösen Umständen zu Tode. Bei seinen Ermittlungen stößt Pitt auf etliche Verdächtige, die einiges zu verbergen haben. Da geschieht ein zweiter Mord.

Die Autorin

Anne Perry, 1938 in London geboren und in Neuseeland aufgewachsen, lebt und schreibt in Schottland. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen London. weltweit haben sich die Bücher von Anne Perry bereits über zehn Millionen Mal verkauft.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinWidmungKAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFCopyright

Für Marie Coolman in Freundschaft

KAPITEL EINS

Pitt klopfte an und wartete. Wenn ihn der stellvertretende Polizeipräsident Cornwallis telefonisch zu sich bat, konnte es sich nur um eine heikle und dringende Angelegenheit handeln. Seit seiner Ernennung zum Leiter der Polizeiwache in Bow Street trat Pitt lediglich dann persönlich in Aktion, wenn es aus politischen Gründen geboten schien oder es so aussah, als könnten hochstehende Persönlichkeiten in Schwierigkeiten geraten. So beispielsweise im Oktober 1890 beim Mord in Ashworth Hall, einem Fall, in dessen Folge die Bemühungen um eine Lösung der irischen Frage gescheitert waren. Allerdings hatte man angesichts des Skandals um Katie O’Sheas Scheidungsaffäre, in die Charles Stewart Parnell, der Führer der irischen Mehrheit im Unterhaus, verwickelt war, ohnehin mit einem katastrophalen Ausgang der Angelegenheit rechnen müssen. Das lag jetzt fünf Monate zurück.

Cornwallis öffnete ihm selbst. Er war schlank, nicht ganz so groß wie Pitt, und seine geschmeidigen Bewegungen erweckten den Eindruck, als sei er noch ebenso kräftig und beweglich wie in seiner Zeit als Kapitän zur See. Auch seine knappe Art zu sprechen stammte wohl noch daher, ebenso wie die Selbstverständlichkeit, mit der er Gehorsam voraussetzte, und eine gewisse Geradlinigkeit des Denkens, die nur lernt, wer mit der Gewalt der Elemente Umgang hat, nicht aber, wer tagtäglich mit der Verschlagenheit von Politikern und deren Ränkespielen zu tun hat. Cornwallis stand zwar im Begriff, all das zu lernen, war aber nach wie vor auf Pitts Unterstützung angewiesen. Jetzt machte er einen unzufriedenen Eindruck, und auf seinem Gesicht mit der langen Nase und dem breiten Mund lag unverkennbar der Ausdruck von Besorgnis.

»Kommen Sie herein!« Er trat beiseite und hielt dem Besucher die Tür auf. Pitts Jackett hing unordentlich an ihm herab, weil er sich alle Taschen vollgestopft hatte. Sein Erscheinungsbild war mit der Beförderung nicht gepflegter geworden. »Tut mir leid, daß ich Sie schon so früh brauche, aber in Brunswick Gardens haben wir einen ziemlich unangenehmen Fall.« Mit mißbilligendem Stirnrunzeln schloß Cornwallis die Tür und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Der freundliche Raum sah gänzlich anders aus als zur Zeit seines Vorgängers. Hier und da standen einige nautische Instrumente, an einer Wand hing eine Seekarte des Ärmelkanals, und unter den unerläßlichen Büchern mit Gesetzestexten und Polizeiverordnungen fanden sich eine Lyrik-Anthologie, ein Roman von Jane Austen und die Bibel.

Pitt setzte sich erst, als sein Vorgesetzter Platz genommen hatte.

»Ja, Sir?« sagte er mit fragendem Unterton.

Der stellvertretende Polizeipräsident lehnte sich zurück. Das Licht beschien seinen Kopf. Es fiel schwer, ihn sich anders als kahl vorzustellen, denn es stand ihm. Zwar gehörte er nicht zu den Menschen, die unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschen, doch pflegte er, wenn er sehr besorgt war, die Fingerspitzen beider Hände gegeneinanderzudrücken. Das tat er auch jetzt.

»Eine junge Frau ist im Hause des Pfarrherrn der St.-Michaelis-Gemeinde gewaltsam zu Tode gekommen. Der Pfarrherr ist ein hochachtbarer Mann namens Ramsay Parmenter. Er genießt nicht nur hohes Ansehen wegen seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen, er ist auch als Nachfolger eines Bischofs im Gespräch.« Cornwallis sah Pitt aufmerksam an und holte tief Luft. »Ein wenige Häuser weiter lebender Arzt, der geholt wurde, nachdem die Frau die Treppe hinabgestürzt war, hat die Polizei gerufen. Die Leute sind sofort hingefahren und haben mich benachrichtigt.«

Pitt unterbrach ihn nicht.

»Wie die Dinge liegen, könnte es sich um Mord handeln, und es ist denkbar, daß Reverend Parmenter in die Sache verwickelt ist.« Auch wenn Cornwallis nichts über seine Empfindungen sagte, ließen der leicht zusammengekniffene Mund und der verletzte Ausdruck in seinen Augen nur allzu deutlich erkennen, was er befürchtete. Für ihn war es selbstverständlich, daß sich jemand, der eine herausgehobene Position bekleidete, moralisch und politisch einwandfrei verhielt und daß ein Versagen auf diesem Gebiet zwangsläufig schreckliche Folgen hatte. Er hatte fast sein ganzes Erwachsenenleben auf See zugebracht, wo das Wort des Kapitäns Gesetz ist. Schiff und Besatzung hängen von seiner Fähigkeit und seiner Urteilskraft ab. Was er sagt, muß ohne Wenn und Aber gelten; seine Befehle müssen befolgt werden. Wer dagegen aufbegehrt, gilt als Meuterer und kann mit dem Tode bestraft werden. Cornwallis selbst hatte gehorchen gelernt und war im Laufe der Zeit in die Position aufgestiegen, die er jetzt innehatte. Er wußte, welche Last sie neben den Vorrechten mit sich brachte.

»Aha«, sagte Pitt gedehnt. »Und wer war die junge Frau?«

»Eine gewisse Miss Unity Bellwood«, gab Cornwallis zur Antwort. »Soweit ich weiß, eine Spezialistin auf dem Gebiet alter Sprachen. Sie hat den Pfarrherrn bei der Materialsuche für ein Buch unterstützt, an dem er arbeitet.«

»Und was hat den Arzt und die örtliche Polizei auf den Gedanken gebracht, es könne sich um Mord handeln?« fragte Pitt.

Cornwallis zuckte zusammen. Seine Lippen wurden noch ein wenig schmaler. »Man hat gehört, wie Miss Bellwood unmittelbar vor ihrem tödlichen Fall ›Nein, nein, Reverend!‹ ausrief. Mrs. Parmenter, die gleich darauf aus dem Gesellschaftszimmer herbeistürzte, sah sie am Fuß der Treppe liegen. Miss Bellwood war gleich tot. Offensichtlich hatte sie sich einen Halswirbel gebrochen.«

»Wer hat den Ausruf gehört?«

»Mehrere Leute«, gab Cornwallis bedrückt zur Antwort. »Ich hätte nichts dagegen, wenn es Anlaß zum Zweifel gäbe, aber ich fürchte, das ist nicht der Fall. Eine ausgesprochen unangenehme Situation. Vermutlich steckt irgendeine Art häuslicher Tragödie dahinter, die sich aber wegen der Position der Familie Parmenter zu einem beträchtlichen Skandal auswachsen wird, wenn wir nicht sehr rasch — und äußerst taktvoll — etwas unternehmen.«

»Besten Dank«, sagte Pitt trocken. »Und die örtliche Polizei will den Fall nicht weiter bearbeiten?« Diese rhetorische Frage hatte er ohne jede wirkliche Hoffnung gestellt. Natürlich lag denen nichts daran, und sollte es sich anders verhalten, würde man es ihnen höchstwahrscheinlich nicht gestatten. Es sah ganz danach aus, als würde die Sache äußerst peinlich werden, ganz gleich, wer sich damit beschäftigte.

Cornwallis sparte sich die Mühe, auf Pitts Frage zu antworten. »Brunswick Gardens Nummer siebzehn«, sagte er knapp. »Tut mir wirklich leid für Sie.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders, als wisse er nicht so recht, wie er es sagen sollte.

Pitt erhob sich. »Und wie heißt der zuständige Kollege?«

»Corbett.«

»Dann werde ich also hingehen und ihn aus seiner peinlichen Lage befreien«, sagte er. Es klang alles andere als munter. »Guten Morgen, Sir.«

Mit einem Lächeln sah ihm Cornwallis bis zur Tür nach und wandte sich dann erneut seinen Papieren zu.

Pitt rief auf der Wache in der Bow Street an und gab die Anweisung, Tellman solle nach Brunswick Gardens hinausfahren, das Haus aber auf keinen Fall vor ihm betreten. Dann ließ er eine Droschke kommen.

Es war fast halb elf, als er gegenüber der von kahlen Bäumen bestandenen freien Fläche nahe der Kirche ausstieg. Trotz des hellen Sonnenscheins war es kühl. Während er den kurzen Weg zum Haus mit der Nummer siebzehn zurücklegte, sah er schon auf zwanzig Schritt Entfernung, daß sich das Haus von den anderen unterschied. Die Vorhänge waren zum Zeichen der Trauer bereits vorgezogen, und eine sonderbare Stille umgab es, so als seien dort keine Hausmädchen damit beschäftigt, Zimmer zu lüften, Fenster zu öffnen oder am Dienstboteneingang angelieferte Waren entgegenzunehmen.

Tellman wartete auf dem gegenüberliegenden Gehweg. Der Ausdruck seines hohlwangigen Gesichts war so mürrisch wie immer, und in seinen zusammengekniffenen grauen Augen lag der übliche Argwohn.

»Was ist passiert?« fragte er verdrießlich. »Hat man den Leuten das Familiensilber gestohlen?«

Knapp teilte ihm Pitt mit, was er wußte, und schärfte ihm ein, mit größtmöglichem Takt vorzugehen.

Tellman sagte nichts, aber an seinem Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, was er dachte. Er hatte eine ausgesprochen geringe Meinung von Leuten, deren Wohlstand, Vorrechte und Befehlsgewalt auf ihre Geburt und nicht auf Verdienste zurückgingen, und solange ihm niemand das Gegenteil bewies, nahm er von jedem an, er gehörte zur erstgenannten Kategorie.

Kaum hatte Pitt an der Haustür geläutet, als ein ausgesprochen mißmutig dreinblickender Polizeibeamter öffnete. Ein kurzer Blick zeigte ihm, daß der Besucher mit der schlecht sitzenden Krawatte und den ausgebeulten Jackettaschen dringend zum Friseur mußte, und er holte schon Luft, um ihm den Eintritt zu verwehren. Tellman nahm er kaum zur Kenntnis.

Mit den Worten »Oberinspektor Pitt und Polizeimeister Tellman« kam ihm Pitt zuvor. »Mr. Cornwallis hat uns gebeten herzukommen. Ist Inspektor Corbett da?«

Erleichterung zeigte sich auf den Zügen des Mannes. »Ja, Sir, Mr. Pitt. Treten Sie näher, Sir. Mr. Corbett ist im Vestibül. Folgen Sie mir bitte.«

Pitt wartete auf Tellman, der sich etwas hinter ihm gehalten hatte, und schloß dann die Tür. Sie folgten dem Polizeibeamten durch den Windfang in das erlesen wirkende und spärlichst möblierte Vestibül, in dem kaum mehr als ein kostbarer türkischer Wandschirm stand. Dunkelblaue Fliesen bedeckten eine Wand, und auf dem Fußboden war ein weißgrundiges Mosaik mit einem Muster aus schwarzen Linien und Wirbeln zu sehen, das auf Pitt ausgesprochen italienisch wirkte. Den Abschluß der schwarz gebeizten steilen Treppe bildete im Obergeschoß eine auf zwei runden weißen Säulen ruhende Galerie. Eine Kübelpalme ragte bis zum oberen Geländerpfosten empor. Alles war außerordentlich modern und hätte Pitt zu jedem anderen Zeitpunkt zutiefst beeindruckt.

Jetzt aber zog eine Gruppe von Menschen seinen Blick auf sich, die sich am Fuß der Treppe versammelt hatten. Ein sorgenvoll dreinsehender junger Arzt packte seine Instrumente zusammen, ein weiterer junger Mann stand stocksteif und angespannt da, als wolle er gern etwas tun, ohne aber zu wissen, was. Der dritte Mann, dessen Haar sich zu lichten begann, war um eine ganze Generation älter. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte besorgt und ernst. Die vierte und letzte Gestalt lag am Boden. Da eine Decke sie verbarg, war lediglich die Rundung von Schulter und Hüfte zu sehen.

Der ältere der Männer wandte sich bei Pitts Eintreten um.

»Mr. Pitt und Polizeimeister Tellman«, sagte der Polizeibeamte eifrig, als bringe er eine gute Nachricht. »Der stellvertretende Polizeipräsident schickt sie, Sir.«

Es war deutlich zu erkennen, daß Corbett die Erleichterung seines Untergebenen teilte.

»Guten Morgen, Sir«, begrüßte er Pitt. »Dr. Greene hier ist gerade fertig geworden. Leider war der jungen Dame nicht mehr zu helfen. Und das ist Mr. Mallory Parmenter, der Sohn des Pfarrherrn.«

»Guten Tag, Mr. Parmenter«, sagte Pitt zu dem gutaussehenden jungen Mann mit glattem dunklem Haar und einem regelmäßigen Gesicht, das je nach Gesichtsausdruck bezaubernd oder mürrisch wirken konnte, jetzt aber sehr bleich war, und nickte dem Arzt knapp zu. Er sah sich im Vestibül um und lenkte dann den Blick nach oben. Wer diese steile Treppe mit ihren nackten Holzstufen herunterfiel, mußte sich schwer verletzen, und so überraschte es ihn in keiner Weise, daß der Sturz tödlich verlaufen war. Er trat näher, beugte sich über die Leiche und schlug die Decke zurück. Die junge Frau lag auf der Seite, das Gesicht halb von ihm abgewandt. Die kräftigen Züge, die geraden Brauen und die üppigen Lippen zeigten, daß sie von einer sinnlichen Schönheit, zugleich aber auch eigenwillig gewesen sein mußte. Zwar konnte er leicht glauben, daß sie auch klug gewesen war, doch auf ein warmherziges Naturell wies in ihren Gesichtszügen kaum etwas hin.

»Der Sturz hat zu ihrem Tode geführt«, sagte Corbett fast im Flüsterton. »Er liegt etwa eineinhalb Stunden zurück.« Er zog eine Uhr aus der Westentasche. »Die Standuhr hier im Vestibül hat kurz danach zehn geschlagen. Vermutlich wollen Sie selbst mit allen im Hause Anwesenden sprechen, aber ich kann Ihnen sagen, was wir wissen, wenn das Ihr Wunsch ist.«

»Gern«, nahm Pitt das Angebot an, ohne den Blick von der Toten zu wenden. Ihm fiel auf, daß sie keine Straßenschuhe trug, sondern eine Art Pantoffeln, die sich beim Fallen zum Teil von den Füßen gelöst hatten. Sorgfältig betrachtete er den Rocksaum rundherum, um zu sehen, ob womöglich eine Naht aufgegangen war, so daß sie sich mit dem Fuß darin hätte verfangen und stolpern können. Der Saum war einwandfrei. Unter der Sohle eines der Hausschuhe sah er einen sonderbaren dunklen Fleck. »Was ist das?« fragte er.

Corbett sah hin. »Ich weiß es nicht, Sir.« Er bückte sich, faßte mit einem Finger hin und hielt ihn an die Nase. »Irgendwas Chemisches«, sagte er. »Der Fleck ist zwar trocken, aber es riecht noch ziemlich stechend. Er kann also noch nicht lange da sein.« Er erhob sich und wandte sich an den jungen Parmenter. »Wissen Sie, ob Miss Bellwood das Haus heute morgen verlassen hat, Sir?«

»Das kann ich nicht sagen«, antwortete dieser prompt. Er hatte die Hände ineinander geschlungen, wohl damit sie nicht zitterten. »Ich habe gearbeitet... im Gewächshaus; es dient uns zugleich als Wintergarten.« Er zuckte bedauernd die Achseln, als bedürfe das einer Erklärung. »Das ist manchmal der ruhigste Ort im ganzen Hause, und außerdem ist es dort warm. Das Empfangszimmer ist um diese Zeit noch nicht geheizt, weil das Mädchen, das Feuer macht, woanders zu tun hat. Möglich, daß Unity ausgegangen ist, aber in dem Fall weiß ich nicht, warum. Vater dürfte das wissen.«

»Wo befindet sich Ihr Herr Vater?« fragte Pitt.

Der junge Mann sah ihn an.

»Oben in seinem Studierzimmer«, gab er zur Antwort. »Der Vorfall hat ihn verständlicherweise schrecklich aufgewühlt, und er wollte lieber allein sein, zumindest eine Weile. Sofern ich Ihnen helfen kann, stehe ich Ihnen natürlich gern zur Verfügung.«

»Vielen Dank, Sir«, sagte Corbett, »aber ich glaube nicht, daß wir Sie länger aufzuhalten brauchen. Bestimmt wollen Sie mit Ihren Angehörigen zusammensein.« Es war eine höflich formulierte Aufforderung, sich zu entfernen.

Zögernd sah Mallory zu Pitt hinüber. Offensichtlich war er nicht bereit zu gehen, als könnte in seiner Abwesenheit etwas geschehen, das er verhindern müßte. Er sah auf die am Boden liegende Gestalt. »Können Sie sie nicht wieder zudecken ... oder so etwas?« fragte er hilflos.

»Sobald der Oberinspektor gesehen hat, was er sehen muß, bringen wir sie ins Leichenschauhaus, Sir«, antwortete Corbett. »Lassen Sie uns jetzt bitte unsere Arbeit tun.«

»Ja ... gewiß«, sagte Mallory. Er drehte sich auf dem Absatz um, überquerte den prachtvollen Mosaikboden des Vestibüls und verschwand durch eine reichgeschnitzte Tür.

Corbett wandte sich an Pitt. »Tut mir leid, Mr. Pitt. Die Sache sieht ziemlich übel aus. Bestimmt wollen Sie selbst mit den Ohrenzeugen sprechen. Das sind Mrs. Parmenter, das Mädchen und der Diener.«

»Ja.« Pitt warf einen letzten Blick auf Unity Bellwood und prägte sich ihre Lage ein, ihr Gesicht, das dichte honigfarbene Haar, die kräftigen, gut manikürten Hände, die jetzt schlaff neben ihr lagen. Eine interessante Frau. Doch anders als in den meisten seiner bisherigen Fälle würde er wohl nicht viel über sie in Erfahrung bringen müssen. Die Sache schien bedauernswert klar, einfach nur tragisch, und vor einem Gericht unter Umständen schwierig zu beweisen. Er wandte sich an Tellman, der zwei Schritte hinter ihm stand. »Reden Sie doch einmal mit dem übrigen Personal. Stellen Sie fest, wo jeder einzelne war und ob sie etwas gesehen oder gehört haben. Versuchen Sie außerdem herauszufinden, worum es sich bei der Substanz unter ihrer Schuhsohle handelt. Aber gehen Sie diskret vor. Bisher verfügen wir über nur sehr wenige gesicherte Erkenntnisse.«

»Ja, Sir«, antwortete Tellman mit angewidertem Gesichtsausdruck. Er ging mit steifen Schultern davon, bei jedem Schritt ein wenig in den Gelenken federnd, als suche er mit jemandem Streit. Er war schwierig, aber geduldig, ein guter Beobachter, und er schreckte vor keiner Schlußfolgerung zurück, ganz gleich, wie unangenehm sie sein mochte.

Pitt wandte sich wieder an Corbett. »Ich sollte jetzt besser mit Mrs. Parmenter sprechen.«

»Sie befindet sich im Gesellschaftszimmer, Sir. Es ist da drüben.« Corbett wies auf die andere Seite des Vestibüls, wo unterhalb der Säulen der Galerie eine weitere reichverzierte Tür lag.

»Vielen Dank.« Pitts Schritte hallten in der Stille des Hauses laut auf dem Marmor. Kaum hatte er geklopft, als ein Hausmädchen die Tür öffnete.

Auch dieser Raum war überaus modern eingerichtet und enthielt viele chinesische und japanische Dekorationsgegenstände. Ein bestickter seidener Wandschirm mit einem Muster aus Pfauenfedern beherrschte die von der Tür am weitesten entfernte Ecke, und auf den Tapeten erkannte man ein zurückhaltendes Bambusmuster. Doch in erster Linie richtete sich Pitts Aufmerksamkeit auf die schlanke Frau, die auf einer Chaiselongue ruhte, deren Holzteile schwarz lackiert waren. Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe sowie hübsche und zugleich äußerst ungewöhnliche Züge. Ihre großen Augen standen weit auseinander, ihre Wangenknochen waren hoch und ihre Nase von erstaunlicher Länge. Es kam ihm vor, als habe er es hier mit einem Menschen zu tun, der häufig lächelte und beim leisesten Anlaß lachte. Jetzt aber wirkte die Frau ernsthaft und vermochte offenbar nur mit Mühe die Fassung zu bewahren.

Mit den Worten »Bitte entschuldigen Sie die Störung« schloß Pitt die Tür hinter sich. »Ich bin Oberinspektor Pitt aus der Bow Street. Der stellvertretende Polizeipräsident Cornwallis hat mir die Untersuchung der näheren Umstände im Fall von Miss Bellwood übertragen.« Eine darüber hinausgehende Erklärung gab er nicht ab. Seiner Ansicht nach hätte das den Eindruck erweckt, als sei die Polizei bereit, etwas zu decken oder dem vorzugreifen, was sich bei der Untersuchung der Tragödie ergeben würde.

»Gewiß, Oberinspektor«, sagte sie mit kaum wahrnehmbarem Lächeln. »Ich verstehe.« Ohne sich aus ihrer liegenden Stellung zu erheben, blickte sie ihn an. Pitt hätte nicht sagen können, ob sie groß oder eher klein war. Das Hausmädchen wartete diskret in der Ecke, vielleicht für den Fall, daß ihre Herrin ihres Beistandes bedurfte.

»Vermutlich wollen Sie von mir erfahren, was ich weiß?« fuhr Vita Parmenter fort, wobei sie die Stimme ein wenig senkte.

Pitt setzte sich, weniger zu seiner Bequemlichkeit als aus dem Wunsch heraus, ihr zu ersparen, daß sie zu ihm aufsehen mußte. »Wenn es Ihnen recht ist.«

Sie hatte sich offensichtlich vorbereitet und schien auch ihre fünf Sinne beisammen zu haben. Mit ihren erstaunlichen Augen sah sie ihn fest an. Ihre Hände zitterten kaum wahrnehmbar.

»Mein Mann hat zeitig gefrühstückt, wie es seiner Gewohnheit entspricht, wenn er arbeitet. Ich vermute, daß auch Unity — Miss Bellwood — bereits gefrühstückt hatte. Ich habe sie bei Tisch nicht gesehen, was aber nichts zu bedeuten hat. Wir anderen haben unser Frühstück zur selben Zeit wie immer eingenommen. Ich glaube nicht, daß wir dabei über irgend etwas Interessantes gesprochen haben.«

»Wer sind diese anderen?« fragte er.

»Mein Sohn Mallory«, erklärte sie, »meine Töchter Clarice und Tryphena sowie der im Hause lebende Vikar.«

»Aha. Fahren Sie bitte fort.«

»Mallory ist in den Wintergarten gegangen, um zu lesen und zu lernen. Dort ist es ruhig und angenehm warm, und er wird nicht gestört, denn die Hausmädchen gehen nicht dorthin, und der Gärtner hat um diese Jahreszeit kaum etwas zu tun.« Sie sah ihn mit ihren sehr hellen grauen Augen unter dunklen Wimpern und stark geschwungenen Brauen an. »Clarice ist nach oben gegangen. Warum, hat sie nicht gesagt. Tryphena ist zum Klavierspielen ins Gesellschaftszimmer gekommen. Wohin der Vikar gegangen ist, weiß ich nicht. Ich habe mich ebenfalls hier aufgehalten, wie auch das Hausmädchen Lizzie. Ich war mit Blumenstecken beschäftigt. Als ich anschließend ins Vestibül gehen wollte, hörte ich Unity rufen. Ich war schon fast an der Tür, da kam ein Schrei...«

Sie hielt mit gequältem Ausdruck inne. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Haben Sie gehört, was sie gerufen hat, Mrs. Parmenter?« fragte er mit Nachdruck.

Sie schluckte. Er sah ihre Kehle zucken.

»Ja«, flüsterte sie. »Sie hat ›Nein, nein!‹ gerufen. Dann noch etwas, danach hat sie laut aufgeschrien, man hat eine Art Poltern gehört... und dann nichts mehr.« Sie sah ihn an, und in ihrem Gesicht spiegelte sich das Entsetzen, als höre sie die Szene in ihrem Kopf und als werde sie dort unaufhörlich wiederholt.

»Und was war das ›noch etwas‹?« fragte er, obwohl er bereits von Cornwallis wußte, was die Dienstboten gesagt hatten. Er rechnete nicht mit einer Antwort, aber er mußte der Frau wenigstens die Gelegenheit dazu geben.

Wie nicht anders zu erwarten, hielt sie zu ihrem Mann.

»Ich ... ich ...« Sie schlug die Augen nieder. »Ich bin nicht sicher.«

Er drang nicht weiter in sie. »Und was haben Sie gesehen, als Sie ins Vestibül kamen, Mrs. Parmenter?« fuhr er fort.

Diesmal zögerte sie nicht. »Ich habe Unity am Fuß der Treppe liegen sehen.«

»Befand sich jemand auf dem oberen Treppenabsatz?«

Schweigend wich sie seinem Blick erneut aus.

»Mrs. Parmenter?«

»Ich habe Schulter und Rücken eines Mannes gesehen, der rasch hinter den Blumenständer im Gang trat.«

»Wissen Sie, wer das war?«

Sie war sehr bleich, wich ihm aber diesmal nicht aus, sondern sah ihn offen an. »Ich bin mir nicht so sicher, daß ich es sagen könnte, und auf Vermutungen will ich mich nicht einlassen, Oberinspektor.«

»Wie war der Mann gekleidet, Mrs. Parmenter? Was haben Sie genau gesehen?«

Sie zögerte und überlegte angestrengt. Ihr tiefes Unbehagen war ihr anzusehen.

»Er hatte einen dunklen Überrock an«, sagte sie schließlich. »Mit Rockschößen ... glaube ich.«

»Gibt es einen Mann im Hause, auf den diese Beschreibung nicht paßt? Können Sie sich erinnern, wie groß er war, oder an irgend etwas anderes, zum Beispiel an seinen Körperbau?«

»Nein«, flüsterte sie. »Nein, an nichts. Es war nur ein kurzer Augenblick. Er hat sich sehr schnell bewegt.«

»Ich verstehe. Vielen Dank, Mrs. Parmenter«, sagte er mit großem Ernst. »Können Sie mir etwas über Miss Bellwood sagen? Was für eine Art Frau war sie? Aus welchem Grund hätte jemand wünschen sollen, daß sie zu Schaden kommt?«

Sie senkte den Blick. Ein leichtes Lächeln trat auf ihre Züge. »Mr. Pitt, diese Frage läßt sich äußerst schwer beantworten. Ich ... ich möchte nicht gern Böses über einen jungen Menschen reden, der soeben in tragischer Weise ums Leben gekommen ist, noch dazu in meinem Hause.«

»Verständlich«, stimmte er zu und beugte sich leicht vor. Im vom Kaminfeuer erwärmten Zimmer war es sehr angenehm. »Ich bedaure, Ihnen diese Frage stellen zu müssen, doch gibt es leider keine andere Möglichkeit. Ich nehme an, Sie verstehen, daß ich die genauen Umstände des Vorfalls ergründen muß. Sollte sie wirklich jemand gestoßen haben, werden die Folgen schmerzlich sein — und zwangsläufig auch unangenehm.«

»Ja ... gewiß, natürlich.« Sie rümpfte die Nase ein wenig. »Wie töricht von mir. Bitte entschuldigen Sie. Man gibt die Hoffnung nie auf... das ist in diesem Fall nicht sehr vernünftig. Sie wollen nachvollziehen können, auf welche Weise und warum so etwas geschehen konnte.« Sie schwieg eine Weile, vielleicht, weil sie nach Worten der Erklärung suchte.

»Unity war sehr klug«, begann Vita schließlich. »Ein richtiger Blaustrumpf. Vor allem hat sie auf dem Gebiet der alten Sprachen geglänzt. Griechisch und Aramäisch schienen für sie so natürlich zu sein wie für Sie oder mich das Englische. Mit diesen Kenntnissen hat sie meinen Mann bei seiner Arbeit unterstützt. Er ist Theologe, auf seinem Gebiet nicht unbekannt, aber seine Fähigkeiten, aus diesen Sprachen zu übersetzen, sind nur sehr beschränkt. Zwar vermag er durchaus die Bedeutung eines Werkes in bezug auf die religiöse Thematik einzuschätzen, aber sie war imstande, nicht nur die Wörter zu erfassen, sondern auch den Ton und den poetischen Gehalt eines Textes. Außerdem war sie in Geschichte recht bewandert.« Sie runzelte die Stirn. »Vermutlich ergibt sich das beim Studium einer Sprache automatisch? Man lernt dabei ganz zwangsläufig eine Menge über die Geschichte des Volkes, das sie gesprochen hat — durch die Texte.«

»Kann ich mir gut vorstellen«, stimmte Pitt zu. Er war in englischer Literatur ziemlich belesen, wußte aber nichts über antike Autoren. Zwar hatte Sir Arthur Desmond, der Besitzer des Gutes, auf dem er aufgewachsen war, in seiner Güte den Sohn des Wildhüters Pitt zusammen mit seinem eigenen Sohn, dem jetzigen Sir Matthew Desmond, erziehen lassen, doch hatte Pitts Interesse damals eher der Naturwissenschaft gegolten und weniger dem Lateinischen oder Griechischen, und an das Aramäische hatte er mit Sicherheit keinen Gedanken verschwendet. Zur Stillung seines religiösen Wissensdurstes genügte ihm die englische Standard-Bibelübersetzung vollauf. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Ungeduld zu verbergen. Nichts von dem, was Vita bisher gesagt hatte, schien in irgendeiner Weise in Beziehung zur Tat zu stehen. Wahrscheinlich war es für sie sehr schwierig, zur Sache zu kommen. »Ihr Gatte war dabei, ein theologisches Werk zu verfassen?« lieferte er ihr ein Stichwort.

»Ja«, sagte sie leise. »Er hat bereits zwei solcher Bücher und eine ganze Anzahl von Aufsätzen veröffentlicht, die große Anerkennung gefunden haben. Das fragliche Werk aber soll sehr viel weitergehen als die vorigen und dürfte wahrscheinlich auch umstrittener sein.« Sie sah ihn aufmerksam an, um zu erkennen, ob er verstand. »Daher war er auf Unitys Fähigkeiten angewiesen; sie sollte ihm die Quellentexte für seine Arbeit übersetzen.«

»Hat das Thema sie interessiert?« Er mußte geduldig sein, mahnte er sich. Vielleicht war diese abschweifende Art die einzige Möglichkeit für sie, die eine bittere Wahrheit auszusprechen, auf die es ankam.

Vita lächelte. »Auf theologischer Ebene nicht im geringsten, Oberinspektor. In bezug auf die Religion ist ... war Unity äußerst modern. An Gott glaubte sie überhaupt nicht. Offen gestanden war sie voller Bewunderung für das Werk dieses Charles Darwin.« Der Ausdruck tiefer Abscheu wurde in ihren Augen und um ihren Mund herum sichtbar. »Natürlich kennen Sie es. Zumindest ist Ihnen klar, was mit Bezug auf den Ursprung des Menschen darin behauptet wird. Noch nie seit ... ich weiß nicht wann, hat jemand eine gefährlichere und gewagtere Theorie in die Welt gesetzt!« Sie konzentrierte sich entschlossen und wandte sich ihm ungeachtet der Unbequemlichkeit ihrer Lage zu, so daß sie ihn voll ansehen konnte. »Sollte es stimmen, daß wir alle miteinander vom Affen abstammen und die Bibel unrecht hat und es keinen Gott gibt — welchen Grund in aller Welt hätten wir dann, zur Kirche zu gehen oder auch nur ein einziges der Gebote zu halten?«

»Weil sie sich auf Tugendhaftigkeit und die beste gesellschaftliche und moralische Ordnung stützen, die wir kennen«, gab er zur Antwort, »unabhängig davon, ob sie auf Gott oder auf die Gedanken von Menschen zurückgehen, die dafür lange kämpfen und sich entwickeln mußten. Ich weiß nicht, ob die Bibel oder Darwin recht hat. Unter Umständen könnten sogar beide auf die eine oder andere Weise recht haben. Falls nicht, hoffe ich von ganzem Herzen, daß es die Bibel ist. Darwin läßt uns kaum mehr als den Glauben daran, daß sich der Fortschritt und die Moral des Menschen ständig zu einer höheren Stufe hin entwickeln.«

»Sie glauben also nicht, daß es sich so verhält?« fragte sie ernsthaft. »Unity war fest davon überzeugt. Sie war der Ansicht, daß die Menschheit unaufhaltsame Fortschritte macht, unser Denken mit jeder Generation edler und freier wird und wir immer gerechter, toleranter und insgesamt aufgeklärter werden.«

»Gewiß verbessern sich unsere Erfindungen von einem Jahrzehnt zum anderen«, stimmte er zu, seine Worte sorgfältig wägend. »Unser Wissen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft nimmt nahezu Jahr für Jahr zu. Aber ich bin alles andere als sicher, daß das auch für unsere menschliche Güte gilt, unseren Mut oder das Verantwortungsgefühl füreinander. Das aber sind weit verläßlichere Maßstäbe der Zivilisation.«

Überrascht und verwirrt sah sie ihn an.

»Unitys Überzeugung nach ist die Menschheit sehr viel aufgeklärter als früher und hat die Unterdrückung, die Unwissenheit und den Aberglauben der Vergangenheit abgeschüttelt. Das habe ich sie viele Male sagen hören, wie auch, daß wir uns mit größerer Verantwortungsbereitschaft denn je der Armenfürsorge widmen und weniger selbstsüchtig und ungerecht sind als zuvor.«

Eine dreißig Jahre alte Erinnerung aus den Unterrichtsstunden zog ihm blitzartig durch den Kopf. »Einer der Pharaonen im alten Ägypten pflegte sich damit zu brüsten, daß niemand unter seiner Herrschaft hungerte oder obdachlos war.«

»Ach ... ich glaube nicht, daß Unity das wußte«, sagte sie voll Überraschung. In ihrer Stimme klang so etwas wie Befriedigung mit.

Vielleicht näherten sie sich allmählich den Wahrheiten, auf die es ankam.

»Was war die Haltung Ihres Gatten zu den Ansichten dieser jungen Dame, Mrs. Parmenter?«

Ihr Gesicht verschloß sich wieder, und sie senkte den Blick. »Sie waren ihm zuwider. Ich kann nicht leugnen, daß sie ziemlich oft miteinander gestritten haben. Wenn ich es nicht sage, werden andere das tun. Es war für die Menschen in seiner Umgebung unmöglich, das nicht zu merken.«

Pitt konnte sich sehr gut vorstellen, wie bei den Mahlzeiten Meinungen aufeinanderprallten, betretenes Schweigen eintrat, versteckte Andeutungen gemacht, offizielle Positionen bezogen wurden und die Tischgenossen einander schließlich offen widersprachen. Nur weniges ist für den Menschen so grundlegend wie sein Glaube an die Ordnung der Dinge — nicht auf metaphysischer Ebene, wohl aber in bezug auf die eigene Stellung im Universum, den eigenen Wert und den Sinn des Daseins.

»Und heute morgen haben sie sich ebenfalls gestritten?« fragte er.

»Ja.« Sie sah ihn betrübt und ängstlich an. »Ich weiß nicht genau, worum es ging. Wahrscheinlich könnte Ihnen meine Zofe Näheres sagen. Sie hat es ebenfalls mitbekommen, wie auch der Kammerdiener meines Mannes. Ich selbst habe lediglich gehört, daß sie mit erhobener Stimme sprachen.« Sie machte den Eindruck, als wolle sie noch etwas hinzufügen, schien es sich dann aber zu überlegen oder nicht die richtigen Worte zu finden.

»Könnte es sein, daß der Streit heftig geworden ist?« fragte er.

»Ich glaube schon.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Allerdings fällt es mir schwer, das zu glauben. Mein Mann ist nicht –« Sie verstummte.

»Ist es denkbar, daß Miss Bellwood das Studierzimmer wütend verlassen und das Gleichgewicht verloren hat, vielleicht gestrauchelt und zufällig rücklings die Treppe herabgestürzt ist?« wollte er wissen.

Sie schwieg weiter.

»Halten Sie das für möglich, Mrs. Parmenter?«

Sie hob den Blick und sah ihn an. Sie biß sich auf die Lippe. »Falls ich ja dazu sage, wird mir meine Zofe widersprechen. Bitte verlangen Sie nicht, daß ich mehr über meinen Mann sage. Es ist entsetzlich ... bedrückend. Ich weiß nicht, was ich denken oder empfinden soll. Ich habe das Gefühl, mich in einem Wirbel aus Verworrenheit ... und Finsternis ... entsetzlicher Finsternis zu befinden.«

»Verzeihen Sie.« Er verspürte das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Sein Mitgefühl mit ihr war ebenso schrankenlos wie seine Bewunderung für ihre Haltung und ihr Bestreben, die Wahrheit zu sagen, obwohl es sie so unvorstellbar viel kostete. »Selbstverständlich werde ich Ihre Zofe befragen.«

Sie lächelte unsicher. »Danke«, murmelte sie.

Es gab nichts mehr von ihr zu erfragen, und er wollte das Gespräch nicht unnötig in die Länge ziehen. Sicher war es ihr sehr viel lieber, allein oder mit ihren Angehörigen zusammenzusein. Er verabschiedete sich und suchte die Zofe auf.

Miss Braithwaite, eine gepflegte Mittfünfzigerin, wirkte durchaus vernünftig, aber tief erschüttert. Ihr Gesicht war bleich, und es fiel ihr schwer, Atem zu schöpfen.

Sie saß im Wohnzimmer der Haushälterin auf einer Stuhlkante und trank in kleinen Schlucken heißen Tee. Das Feuer prasselte in dem kleinen, auf Hochglanz polierten Kamineinsatz, den Boden bedeckte ein etwas abgetretener Teppich, hübsche Bilder schmückten die Wände, und auf einem Tischchen standen einige gerahmte Fotos.

»Ja, ich habe mitbekommen, daß sie laut miteinander sprachen«, räumte die Frau unglücklich ein, nachdem Pitt ihr versichert hatte, die Herrin des Hauses habe ihr gestattet, frei heraus zu sprechen, und sie müsse unbedingt der Wahrheit die Ehre geben. »Ich konnte es gar nicht überhören. Es war wirklich sehr laut.«

»Und haben Sie mitbekommen, worum es dabei ging?« fragte er.

»Nun ja ... ich habe etwas gehört...«, antwortete sie langsam, »aber wenn Sie mich fragen, was es war, ich kann es nicht wiederholen.«

Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, fügte sie rasch hinzu: »Es waren nicht etwa ordinäre Worte. Der Herr Pfarrer würde dergleichen nie sagen — es paßt einfach nicht zu ihm, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er ist ein vollkommener Herr vom Scheitel bis zur Sohle.« Sie schluckte. »Aber wie jeder von uns kann er sehr zornig werden, vor allem, wenn er seine Grundsätze verteidigt.« Sie sagte das mit beträchtlicher Bewunderung. Offensichtlich waren es auch die ihren. »Ich hab das einfach nicht verstanden«, erläuterte sie. »Ich weiß, daß Miss Bellwood, Gott hab sie selig, nicht an Gott geglaubt und auch nichts dabei gefunden hat, das offen zu sagen. Es hat ihr sogar Spaß gemacht ...« Sie hielt unvermittelt inne, und tiefe Röte übergoß ihre Züge. »Gott verzeih mir, ich sollte nicht schlecht von der Toten reden. Die Ärmste wird es inzwischen besser wissen.«

»Es ging also bei der Auseinandersetzung um religiöse Themen?« schloß er.

»Theologische, würde ich sagen«, verbesserte sie ihn, nach wie vor ihre Tasse in der Hand haltend, ohne aber daraus zu trinken. »Über den Sinn bestimmter Aussagen. Die beiden waren nicht oft einer Meinung. Sie hat geglaubt, was dieser Charles Darwin verbreitet, und vor allem hatte sie es mit grenzenloser Freiheit. Ich würde ja sagen, daß sie sich zu wichtig genommen hat.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Manchmal habe ich mich gefragt, ob sie Mr. Parmenter absichtlich herausgefordert hat, einfach um ihn ordentlich auf die Palme zu bringen.«

»Was veranlaßt Sie zu dieser Vermutung?« fragte er.

»Ihr Gesichtsausdruck dabei.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie ein kleines Kind, das immer weitermacht, um zu sehen, was die Erwachsenen wohl tun.« Sie holte tief Luft und stieß dann seufzend den Atem aus. »Aber jetzt spielt es ja keine Rolle mehr. Das arme Geschöpf.«

»Und wo hat dieser Streit stattgefunden?«

»In Mr. Parmenters Studierzimmer, wo sie zusammen gearbeitet haben, wie immer... oder meistens. Ein oder zwei Mal hat sie auch allein unten in der Bibliothek gearbeitet.«

»Haben Sie gesehen oder gehört, daß sie herausgekommen ist?«

Sie sah beiseite. »Ja ...«

»Und Mr. Parmenter?«

Sie sprach leise. »Ich glaube. Den Stimmen nach ist er ihr auf den Gang und bis zum Treppenabsatz gefolgt.«

»Wo haben Sie sich da befunden?«

»In Mrs. Parmenters Schlafzimmer.«

»Wo liegt das im Verhältnis zum Studierzimmer und zum Treppenabsatz?«

»Schräg gegenüber vom Studierzimmer und ein Stück von der Treppe entfernt.«

»War die Tür offen oder geschlossen?«

»Die Schlafzimmertür stand offen. Ich mußte Bettwäsche einräumen und Kleidungsstücke in den Schrank hängen. Weil ich beide Hände voll hatte, als ich ins Schlafzimmer gegangen bin, habe ich die Tür nicht hinter mir zugemacht. Die Tür zum Studierzimmer von Mr. Parmenter war geschlossen. Deswegen habe ich auch nur einen Teil von dem Wortwechsel mitbekommen, obwohl sie sich richtig angeschrien haben.« Sie sah ihn betrübt an.

»Aber als Miss Bellwood die Tür geöffnet hat, um das Studierzimmer zu verlassen, hätten Sie doch hören können, was sie sagten«, beharrte er.

»Ja ...«, gestand sie zögernd.

»Und was war das?«

Er hörte leichte und rasche Schritte auf dem Gang, Absätze klapperten über den harten Boden und eilten vorüber.

Erneut stieg Miss Braithwaite die Röte in die Wangen. Offenkundig fühlte sie sich unbehaglich. Treue und Pflichtgefühl ihrer Herrin gegenüber lagen im Widerstreit mit ihrer Wahrheitsliebe — und vielleicht auch mit ihrer Angst vor dem Gesetz.

»Miss Braithwaite«, sagte er freundlich. »Ich muß das unbedingt wissen. Es darf auf keinen Fall verborgen bleiben. Eine Frau ist ums Leben gekommen. Auch wenn sie töricht gewesen sein und einem Irrglauben angehangen haben mag, vielleicht auch unangenehm oder Schlimmeres war, so hat sie doch das Recht auf eine ordnungsgemäße Untersuchung der näheren Umstände ihres Todes, damit wir der Wahrheit so nahe wie möglich kommen. Bitte sagen Sie mir, was Sie gehört haben.«

Miss Braithwaite sah äußerst unglücklich drein, leistete aber keinen weiteren Widerstand.

»Er hat sie als überheblich und trotz all ihrer angeblichen Intelligenz als dumm bezeichnet. Sie sei so von der Idee der Freiheit besessen, daß sie gar nicht merkte, daß sie in Wirklichkeit Unordnung, Zerstörung und Chaos befürwortete«, sagte sie. »Er hat gesagt, sie sei wie ein gefährliches Kind, das mit dem Feuer der Gedanken spielt, und eines Tages würde sie noch das ganze Haus niederbrennen, so daß jeder darin mit unterginge.«

»Hat Miss Bellwood darauf geantwortet?«

»Sie hat geschrien, er sei ein unvernünftiger alter Mann.« Sie schloß die Augen, offensichtlich waren ihr die Worte peinlich. »Außerdem sei er geistig viel zu beschränkt und emotional zu verkrüppelt, um die Wirklichkeit so wahrnehmen zu können, wie sie ist.« Sie stieß die Worte so rasch heraus, wie sie konnte. »Das hat sie gesagt. Es war boshaft und undankbar. « Sie sah Pitt herausfordernd an. »Wo wäre sie denn, frage ich Sie, wenn ihr nicht bedeutende Herren wie Mr. Parmenter eine Gelegenheit gegeben hätten, für sie zu arbeiten?«

»Das weiß ich nicht. War da noch etwas?« fragte er weiter.

Ihre Lippen schlossen sich.

»Mir ist klar, daß Sie diese Worte nur mit größtem Widerwillen wiederholen mögen, Miss Braithwaite, und sich die Äußerungen in keiner Weise mit Ihren eigenen Ansichten decken.«

Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Na ja, sie hat gesagt, daß er feige sei und sich an Aberglauben und Märchen klammere, weil er nicht den Mut hätte, der Wahrheit ins Auge zu sehen«, sagte sie verbittert.

»Das klingt in der Tat nach einem äußerst unangenehmen Streit«, merkte Pitt an und spürte zugleich eine bleierne Schwere in seinem Inneren. »Und Sie haben gehört, wie er Miss Bellwood bis auf den Treppenabsatz gefolgt ist?«

»Ich vermute, daß es so war. Ich habe mich bemüht, es nicht zu hören. Es ... offenbar sollte ja kein Außenstehender etwas von dem Streit mitbekommen, Sir. Ich habe also angefangen, die Bettwäsche in die Schubladen zu räumen. Die Schritte konnte ich nicht hören, denn auf dem Gang und dem Treppenabsatz liegen Läufer. Als nächstes habe ich gehört, wie sie leise aufschrie, danach ein dumpfes Geräusch, und dann hat sie laut gerufen.«

»Was war das?«

»Ich ... ich weiß nicht, ob ich das genau mitbekommen habe«, zögerte sie, doch war ihr deutlich anzusehen, daß sie log. Sie konzentrierte sich auf ihre Teetasse und stellte sie vorsichtig auf den Tisch neben sich.

»Was hat sie gerufen, Miss Braithwaite? Ich bin sicher, daß Sie sich erinnern können, wenn Sie sich Mühe geben.«

Sie gab keine Antwort.

»Wollen Sie die Polizei nicht in ihrem Bestreben unterstützen, die Wahrheit in dieser Angelegenheit herauszubekommen?« drang er in sie.

»Doch, selbstverständlich ... aber...«

»Aber was Sie gehört haben, belastet einen bestimmten Menschen so sehr, daß Sie ihn lieber decken, als die Worte zu wiederholen.«

Sie war jetzt vollständig verschreckt.

»Nein... ich ... Sie tun mir da unrecht, Sir, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«

»Was haben Sie gehört, Miss Braithwaite?« beharrte er freundlich. »Es ist nicht recht, die Polizei zu belügen oder Beweismaterial zu unterdrücken. Damit machen Sie sich zur Mittäterin.«

Sie sah ihn entsetzt an, und ihre Stimme war schrill vor Angst. »Ich habe nichts damit zu tun.«

»Was haben Sie gehört, Miss Braithwaite?« wiederholte er.

»Sie hat ausgerufen: ›Nein ... nein ... Reverend! ‹«, flüsterte sie.

»Danke. Und was haben Sie getan?«

»Ich?« Sie war überrascht. »Nichts. Diese Streitigkeiten gehen mich nichts an. Ich habe mit der Bettwäsche weitergemacht und angefangen, das Zimmer aufzuräumen. Dann habe ich Mr. Stander laut rufen hören, daß etwas Schreckliches passiert sei. Natürlich bin ich hingelaufen, um nachzusehen, was es war, wie wir alle.« Sie sah ihn unglücklich an. Ihre Stimme wurde leiser. »Und da lag Miss Bellwood auf dem Boden des Vestibüls.«

»Und wo war Reverend Parmenter?«

Sie saß ganz ruhig, die Hände auf den geschlossenen Knien gefaltet. »Ich weiß es nicht. Die Tür zum Studierzimmer war zu, und deswegen nehme ich an, daß er da drin war.«

»Sie sind auf dem Gang nicht an ihm vorbeigekommen?«

»Nein, Sir.«

»Haben Sie sonst jemanden gesehen?«

»Nein ... ich glaube nicht.«

»Danke. Sie haben uns sehr geholfen.« Er wünschte, sie hätte ihm etwas sagen können, was die Wahrscheinlichkeit eines Mordes verringert hätte, aber er hatte sie hart bedrängt, und sie hatte ihm die Wahrheit berichtet, soweit sie ihr bekannt war.

Er ging nach oben und sprach mit Parmenters Diener Stander, der die Aussage der Zofe im großen und ganzen bestätigte. Er hatte gerade im Ankleidezimmer des Pfarrherrn einen Anzug ausgebürstet und nicht alles mitbekommen, was gesagt worden war, doch hatte er ebenfalls Unity Bellwoods Schrei gehört, danach ihre Worte: ›Nein, nein, Reverend!‹ und zum Schluß dann Mrs. Parmenters Hilferuf. Er gab es nur mit größtem Zögern zu, doch offenbar war ihm klar, daß Miss Braithwaite dasselbe gehört hatte wie er, und so unterließ er es, ausweichend zu antworten.

Pitt konnte die Befragung des Pfarrherrn nicht länger hinausschieben; er mußte Ramsay Parmenter bitten, selbst darzustellen, was vorgefallen war. Er fürchtete diese Begegnung, denn vorausgesetzt, Parmenter leugnete, mit der Sache etwas zu tun zu haben, ließ sich eine gründlichere Untersuchung nicht vermeiden. Dann würde Pitt Stück für Stück alles aus den Angehörigen herausquetschen müssen, bis Parmenter in die Ecke getrieben war und, erdrückt vom Gewicht der angesammelten Beweise, verzweifelt gegen sein unausweichliches Schicksal ankämpfte.

Zwar würde ein Geständnis alles erleichtern, und doch war und blieb es eine bedauerliche Angelegenheit, bei der vieles mit in den Abgrund gerissen würde. Unwillkürlich erfüllte diese Vorstellung Pitt mit Mitgefühl, so unpassend oder absurd das sein mochte.

Er klopfte an die Tür des Studierzimmers.

Eine wohltönende und gepflegte Stimme sagte »Herein«. Damit hätte Pitt rechnen müssen. Immerhin hatte er es mit einem Mann zu tun, der es gewohnt war, in der Kirche zu predigen, und der offensichtlich kurz vor seiner Ernennung zum Bischof stand.

Pitt öffnete und betrat den eichengetäfelten Raum, der ausgesprochen sachlich wirkte. Bücherregale bedeckten die Wand zur Linken, rechts stand ein großer Schreibtisch aus Eiche. Die Fenster gegenüber der Tür reichten fast vom Fußboden bis zur Decke. Die Farbe der schweren Samtportieren paßte nicht ganz zum bordeauxfarbenen indischen Teppich am Boden.

Ramsay Parmenter stand am Kamin. Er hatte eine Stirnglatze, doch seine regelmäßigen Züge ließen den Schluß zu, daß er in jungen Jahren in unauffälliger Weise recht gut ausgesehen haben mochte. Pitt hatte nicht erwartet, daß er so alt war. Das Haar an seinen Schläfen war vollständig grau, und er wirkte deutlich älter als seine Frau. Sein Gesicht, das eines Denkers und Gelehrten, schien von Sorge gequält zu sein. Er machte einen zutiefst unglücklichen Eindruck.

Pitt stellte sich vor und erklärte den Grund seiner Anwesenheit.

»Ja... natürlich.« Der Pfarrherr trat vor und hielt ihm die Hand hin. Eine merkwürdige Geste für einen Mann, der in einen Mordfall verwickelt war; fast hatte Pitt den Eindruck, als wäre ihm seine Situation nicht klar. Mit den Worten »Treten Sie näher, Mr. Pitt« wies der Geistliche auf einen der schweren Ledersessel, blieb aber selbst mit dem Rücken zum Feuer stehen.

Pitt setzte sich, als Hinweis darauf, daß er zu bleiben gedachte, bis das Gespräch zu einem für ihn befriedigenden Ende gekommen war.

»Würden Sie mir bitte sagen, was heute vormittag zwischen Ihnen und Miss Bellwood vorgefallen ist, Sir?« begann er. Es wäre ihm lieber gewesen, der Mann hätte sich gesetzt, aber vielleicht gestattete es ihm seine Anspannung nicht, längere Zeit in ein und derselben Stellung zu verharren. Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, ohne sich dabei von der Stelle zu rühren.

»Ja... ja«, sagte Parmenter. »Wir haben gestritten. Zu meinem Leidwesen muß ich gestehen, daß das ziemlich oft vorkam.« Er kniff den Mund zusammen. »Miss Bellwood verfügte über eine beachtliche Kenntnis alter Sprachen, doch ihre Ansichten auf dem Gebiet der Theologie entbehrten jeglicher Grundlage. Das aber hinderte sie nicht daran, sie vorzubringen, obwohl ihr durchaus bekannt war, daß sie damit jeden im Hause vor den Kopf stieß ... außer vielleicht meine jüngere Tochter Tryphena. Sie ist, ich bedaure das sagen zu müssen, recht eigensinnig und bildet sich ein, eigene Gedanken zu haben ... in Wahrheit aber läßt sie sich nur allzu leicht von Menschen verleiten, die mit einer so starken Überredungskraft wie Miss Bellwood ausgestattet sind.«

»Diese Situation muß für Sie recht bedrückend gewesen sein«, merkte Pitt an und beobachtete dabei das Gesicht des Geistlichen.

»Äußerst unangenehm«, stimmte dieser zu. Eine besondere Gefühlsregung war dabei allerdings nicht zu erkennen. Sofern er Zorn empfand, verbarg er ihn gekonnt. Möglicherweise tat er das schon so lange, daß er Übung darin besaß.

»Sie und Miss Bellwood haben also miteinander gestritten«, brachte ihn Pitt auf das Thema zurück.

Parmenter zuckte die Schultern. Zwar war er erkennbar betrübt, doch konnte man ihm keinerlei Besorgnis oder gar Furcht anmerken. »Ja, und zwar ziemlich heftig. Ich fürchte, ich habe Dinge gesagt, die mir inzwischen leid tun ... vor allem angesichts dessen, daß es keine Gelegenheit mehr gibt, eine Klärung herbeizuführen.« Er biß sich auf die Lippe. »Es ist in höchstem Grade ... in höchstem Grade bedauerlich, Mr. Pitt, wenn man feststellen muß, daß man seine letzten Worte einem Menschen gegenüber im Zorn gesagt hat ... die letzten, die er vernimmt ... bevor er ... ins Jenseits eingeht.«

Für einen Geistlichen waren das befremdliche Worte. Er sagte sie ohne jede erkennbare Erregung, und sie klangen, als stehe nicht einmal Gewißheit dahinter. Dieser Mann Gottes vermied alle Begriffe, die sich Pitts Vorstellung nach angeboten hätten – keine Rede von Gott oder dessen Gericht. Vielleicht war Parmenter tiefer aufgewühlt, als er nach außen hin zugab. Sofern er Miss Bellwood tatsächlich umgebracht hatte, wie Braithwaite zu vermuten schien, hätte er sich jetzt im Zustand eines Seelensturmes befinden müssen. Doch statt dessen sah Pitt auf seinen Zügen lediglich Verwirrung und Zweifel. War es vorstellbar, daß er das Entsetzliche des Ganzen aus seinem Geist verbannt hatte und sich nicht einmal mehr daran erinnerte?

»Miss Bellwood hat diesen Raum offenkundig im Zorn verlassen«, sagte Pitt. »Man hat gehört, daß sie Sie angeschrien oder zumindest sehr laut und in kränkender Weise gesprochen hat.«

»Ja ... so war es«, stimmte Parmenter zu. »Ich muß bekennen, daß ich in ähnlicher Weise geantwortet habe.«

»Wo waren Sie da?«

Der Geistliche riß die Augen weit auf. »Wo ich war?« fragte er zurück. »Hier ... hier. In diesem Zimmer. Ich ... ich bin ihr zur Tür gefolgt ... bis ... bis mir aufging, wie aussichtslos das war.« Seine Hände verkrampften sich unwillkürlich. »Ich war so aufgebracht, daß ich fürchtete, Dinge zu sagen, die mir später leid tun würden. Also bin ich – ich bin an meinen Schreibtisch zurückgekehrt und habe weitergearbeitet, es zumindest versucht.«

»Sie sind Miss Bellwood also nicht zum Treppenabsatz gefolgt?« Es fiel Pitt schwer, den ungläubigen Ton aus seiner Stimme herauszuhalten.

»Nein«, sagte Parmenter überrascht. »Nein. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich fürchtete, die Auseinandersetzung würde in nicht wiedergutzumachender Weise ausarten, wenn ich sie nicht abbrach. Ich war wirklich aufs äußerste erzürnt.« Sein Gesicht verzog sich bei der Erinnerung an den Groll, den er empfunden hatte. »Sie konnte mitunter bemerkenswert arrogant und unangenehm sein.« Erneut verlagerte er das Gewicht und entfernte sich ein wenig vom Feuer. »Aber auf ihrem Gebiet war sie wirklich eine Kapazität, auch wenn ihre ausgesprochen verstiegenen Überzeugungen und ihre Voreingenommenheit einem tieferen Verstehen im Wege standen.« Er sah Pitt in die Augen. »Ich muß leider sagen, daß sie sich eher von Gefühlen leiten ließ als vom Intellekt. Aber schließlich war sie eine Frau, und sie war jung. Gerechterweise durfte ich nicht mehr von ihr erwarten. Wie jedem von uns hat auch ihr ihre Natur Grenzen gesetzt.«

Pitt betrachtete aufmerksam die Züge seines Gegenübers. Er versuchte zu verstehen, welche Empfindungen sich hinter diesen absonderlichen und eigenartig gemischten Äußerungen verbargen. Es lag auf der Hand, daß der Pfarrherr Unity Bellwood nicht hatte leiden können, doch sah es ganz so aus, als bemühte er sich, trotz dieser Abneigung möglichst aufrichtig und großmütig zu sein. Nichts aber wies darauf hin, daß er sich der Tragik der Situation bewußt gewesen wäre. Man hätte glauben können, die Wirklichkeit ihres Todes sei noch gar nicht zu ihm durchgedrungen. Selbst die Zofe und der Diener schienen besser erfaßt zu haben, welchen Schatten dieser Mord über alle im Hause Lebenden geworfen hatte. Nahm Parmenter wirklich an, es könne jetzt noch auf die Gründe für Unity Bellwoods intellektuelle Unzulänglichkeit ankommen? Oder war das – jedenfalls zunächst einmal – seine Art, sich dem Entsetzlichen zu entziehen, das er angerichtet hatte? Pitt hatte schon früher miterlebt, wie sich Menschen in Belanglosigkeiten flüchten, um sich nicht dem alles Überwältigenden stellen zu müssen. Manche Frauen nahmen beispielsweise in einer solchen Situation geradezu zwanghaft ihre Zuflucht zum Kochen oder anderen Haushaltspflichten, so als wäre die exakte Ausrichtung eines Bildes an der Wand von fortdauernder Bedeutung. Vielleicht sah Parmenters Methode, sich der Wahrheit zu verschließen, so aus, daß er sich mit unerheblichen Kleinigkeiten abgab.

»Wo waren Sie, als Sie Ihre Frau um Hilfe rufen hörten und erfuhren, daß etwas Schreckliches vorgefallen war?« fragte Pitt.

»Was?« Der Geistliche wirkte überrascht. »Ach, ich habe sie gar nicht gehört. Braithwaite ist hereingekommen und hat mir gesagt, daß es einen Unfall gegeben hatte. Ich bin dann selbstverständlich hinausgegangen, um nachzusehen, ob ich Hilfe leisten könnte. Wie Sie wissen, war das aber unmöglich.« Er sah Pitt fest an.

»Heißt das, Sie sind nicht Miss Bellwood gefolgt und haben Ihren Streit auf dem Treppenabsatz fortgeführt?« fragte Pitt, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Die recht schütteren Augenbrauen des Pfarrherrn hoben sich. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich das Zimmer nicht verlassen habe.«

»Und was ist Ihrer Ansicht nach mit Miss Bellwood geschehen?«

»Das weiß ich nicht«, sagte der Geistliche etwas schärfer. »Ich kann lediglich vermuten, daß sie irgendwie ausgerutscht ist ... das Gleichgewicht verloren hat ... oder etwas in der Art. Im übrigen ist mir unerfindlich, wieso sich ein Oberinspektor aus der Bow Street mit der Angelegenheit beschäftigen muß. Unsere Leute hier am Ort sind der Sache voll und ganz gewachsen. Eigentlich genügt sogar der Arzt.«

»Es gibt auf der Treppe nichts, worüber man stolpern könnte – weder einen Läufer noch Leisten, die sich hätten lösen können«, teilte ihm Pitt mit und beobachtete Parmenters Gesicht dabei aufmerksam. »Sowohl Stander als auch Miss Braithwaite haben gehört, daß Miss Bellwood unmittelbar vor ihrem Sturz ›Nein, nein, Reverend‹ ausgerufen hat. Außerdem hat Ihre Frau gesehen, wie jemand den oberen Treppenabsatz in Richtung auf diesen Raum verlassen hat.«

Parmenter sah ihn mit geweiteten Augen an. Allmählich trat ein Ausdruck des Entsetzens auf seine Züge und vertiefte die Linien um Nase und Mund. »Da müssen Sie etwas falsch verstanden haben!« begehrte er auf. Er wirkte sehr bleich und schien große Schwierigkeiten zu haben, die Worte zu bilden. »Das ist grotesk! Sie unterstellen mir, daß ... ich sie hinabgestoßen habe!« Er schluckte. »Ich versichere Ihnen, Oberinspektor, auch wenn mich diese anmaßende und für bestimmte Dinge unempfängliche junge Frau mit ihren über alle Maßen fragwürdigen moralischen Maßstäben rasend gemacht hat, so habe ich sie doch mit Sicherheit nicht gestoßen.« Er sog den Atem ein. »Ich habe sie nicht einmal angefaßt, und ich habe diesen Raum im Anschluß an unsere... Meinungsverschiedenheit nicht verlassen.« Er sprach heftig und ziemlich laut. Zwar wich er Pitts Blick in keiner Weise aus, doch verrieten die Schweißperlen auf seiner Haut, seine glänzenden Augen und die Starrheit seines Körpers, daß er Angst hatte.

Pitt erhob sich. »Danke, daß Sie mir Ihre Zeit gewidmet haben, Reverend Parmenter. Ich werde jetzt mit den übrigen Angehörigen des Haushaltes sprechen.«

»Sie ... Sie müssen unbedingt ergründen, was geschehen ist!« drängte ihn der Pfarrherr, trat einen Schritt vor und blieb dann unvermittelt stehen. »Ich habe sie nicht angefaßt!«

Pitt verließ den Raum und ging wieder nach unten, wo er mit Parmenters Sohn Mallory sprechen wollte. Sofern Braithwaite und Stander merkten, daß von ihrer Aussage alles abhing, war es möglich, daß sie sie zurücknahmen. In dem Fall würde Pitt mit leeren Händen dastehen, und es wäre keine Rede davon, daß er in diesem Mordfall die Anschuldigung beweisen konnte – in gewisser Hinsicht die unbefriedigendste aller denkbaren Lösungen.

Er durchquerte das extravagante Vestibül, aus dem die Tote inzwischen fortgeschafft worden war, und fand Mallory Parmenter in der Bibliothek. Er sah gedankenverloren in den Frühlingsregen hinaus, der gegen die Scheiben prasselte. Als er hörte, daß sich die Tür öffnete, drehte er sich sofort um. Sein Gesicht hatte einen fragenden Ausdruck.

Pitt schloß die Tür hinter sich. »Ich bedaure, Sie stören zu müssen, Mr. Parmenter, aber gewiß werden Sie verstehen, daß ich noch weitere Fragen stellen muß.«

»Das läßt sich wohl nicht vermeiden«, sagte Mallory zögernd. »Ich weiß allerdings nicht, womit ich Ihnen behilflich sein könnte. Weder habe ich Miss Bellwood nach dem Frühstück gesehen, noch war ich Zeuge des Vorfalls. Ich habe mich die ganze Zeit im Wintergarten aufgehalten, während sie vermutlich nach oben gegangen ist, um mit meinem Vater in seinem Studierzimmer zu arbeiten. Ich bin über das, was dort vorgefallen ist, in keiner Weise informiert.«

»Nach Aussage Ihres Herrn Vaters haben die beiden miteinander gestritten. Die Zofe und der Diener haben das gehört und bestätigen es.«

»Das überrascht mich nicht«, antwortete Mallory, den Blick auf seine Hände gesenkt. »Das kam ziemlich oft vor. Miss Bellwood war äußerst störrisch und besaß weder genug Taktgefühl, noch konnte sie sich hinreichend in andere Menschen hineinversetzen, als daß sie es fertiggebracht hätte, ihre Ansichten für sich zu behalten, die günstigstenfalls als fragwürdig zu bezeichnen waren.«

»Sie konnten sie wohl nicht ausstehen«, warf Pitt ein.

Mallory hob rasch den Blick. »Ich spreche von ihren Ansichten«, verbesserte er ihn. »Gegen sie persönlich hatte ich nichts.« Ihm schien wichtig zu sein, daß Pitt ihm das glaubte.

»Wohnen Sie im Haus Ihrer Eltern, Mr. Parmenter?«

»Zur Zeit noch. Demnächst werde ich nach Rom in ein Seminar gehen. Ich bereite mich auf den Priesterberuf vor.« Er sagte das mit einer gewissen Befriedigung, sah aber aufmerksam mit seinen braunen Augen zu Pitt hinüber, um festzustellen, wie dieser reagierte.

»Nach Rom?« fragte Pitt verblüfft.

»Ja. Auch ich teile nicht den Glauben meines Vaters ... oder besser gesagt, seinen Unglauben. Ohne Ihre Empfindungen kränken zu wollen, muß ich sagen, daß die anglikanische Kirche meiner Meinung nach zu irgendeinem Zeitpunkt vom rechten Wege abgekommen ist. Bei ihr scheint es sich weniger um eine Glaubensgemeinschaft zu handeln als um eine Gesellschaftsform. Diese Erkenntnis hat mich viel Nachdenken und so manches Gebet gekostet. Da ich fest überzeugt bin, daß die Reformation ein schwerer Fehler war, bin ich in den Schoß der römischen Kirche zurückgekehrt. Das paßt meinem Vater selbstverständlich in keiner Weise.«

Pitt fiel nichts ein, was nicht töricht geklungen hätte. Er konnte sich kaum vorstellen, was der Pfarrherr bei dieser Mitteilung seines Sohnes empfunden haben mochte. Die Spaltung der Kirche und die darauffolgenden Jahrhunderte des Blutvergießens, der Verfolgung, der Ächtung und des Märtyrertums waren Bestandteil der Geschichte des englischen Volkes. Erst wenige Monate zuvor – genau gesagt im vergangenen Oktober – hatte er Gelegenheit gehabt, aus der Nähe einen Blick auf die irische Politik zu werfen, die vom leidenschaftlichen Haß zwischen den beiden Religionen geprägt war. Der Protestantismus war unendlich viel kritischer als der Katholizismus, ob man dessen Ethik nun billigte oder nicht.

»Ich verstehe«, sagte er grimmig. »Da darf man sich nicht wundern, daß Miss Bellwoods Atheismus bei Ihnen Anstoß erregt hat.«

»Sie hat mir leid getan«, korrigierte Mallory erneut. »Es ist sehr traurig, wenn sich ein Mensch so weit verirrt, daß er glaubt, es gebe keinen Gott. So etwas zerstört die Grundlagen jeglicher Moral.«

Pitt merkte an der Schärfe der Stimme, dem rasch aufflammenden Zorn in den Augen des jungen Mannes und der Schnelligkeit seiner Antwort, daß er die Unwahrheit sagte. Was auch immer er für Unity Bellwood empfunden haben mochte, Mitleid war es nicht. Entweder wollte er Pitt einreden, es habe sich so verhalten, oder sich selbst. Möglicherweise war er überzeugt, ein künftiger Priester dürfe gegenüber einem anderen Menschen weder Zorn noch Abscheu empfinden, schon gar nicht, wenn dieser andere tot war. Pitt merkte, wie er widersprechen wollte, doch mochte er sich nicht auf ein Streitgespräch über die Grundlagen der Moral einlassen. Auf Mallory Parmenters Zügen lag eine Verschlossenheit, die es ihm sinnlos erscheinen ließ, mit ihm zu rechten.

»Wollen Sie damit in menschenfreundlich verbrämter Weise andeuten, daß Ihnen Miss Bellwoods Moralvorstellungen fragwürdig erschienen?« erkundigte sich Pitt milde.

Mallory fuhr zurück. Er hatte nicht damit gerechnet, eine Antwort geben zu müssen. Jetzt wußte er nicht, was er sagen sollte.

»Selbstverständlich habe ich ... habe ich keine unmittelbare Erfahrung damit«, gab er zurück. »Ich spreche lediglich von der Art und Weise, in der sie sprach. Ich bedaure sagen zu müssen, daß die arme Frau manches befürwortet hat, was die meisten von uns für verantwortungslos und hemmungslos halten. Da sie jetzt tot ist, wäre es mir wirklich lieb, nicht darüber sprechen zu müssen.« Er sagte das in einem endgültigen Ton, der klarmachte, daß er die Sache damit abschließen wollte.

»Hat sie ihre Ansichten auch in diesem Hause geäußert?« fragte Pitt. »Ich meine, hatten Sie den Eindruck, daß sie Angehörige Ihrer Familie oder Ihres Personals negativ beeinflußt hat?«

Überrascht riß Mallory die Augen auf. Offensichtlich war ihm dieser Gedanke nie gekommen. »Nicht, daß ich wüßte. Es war einfach ...« Er hielt inne. »Ich möchte nicht gern spekulieren, Oberinspektor. Miss Bellwood hat in diesem Haus den Tod gefunden, und ich erkenne immer deutlicher, daß Sie darin nicht das Ergebnis eines Unfalls sehen. Ich habe keine Ahnung, was geschehen ist oder warum, und kann Ihnen daher nichts Aussagekräftiges mitteilen. Es tut mir leid.«

Für den Augenblick nahm Pitt die Zurückweisung hin. Druck auszuüben würde in der gegenwärtigen Situation nichts fruchten. Er dankte Mallory und machte sich auf die Suche nach dessen Schwester Tryphena, die als einzige aufrichtig unter Unity Bellwoods Tod zu leiden schien. Er erfuhr, daß sie sich in ihr Zimmer im Obergeschoß zurückgezogen hatte, und schickte ein Mädchen nach oben, das feststellen sollte, ob Tryphena bereit war, mit ihm zu sprechen. Er wartete im Empfangszimmer, in dem mittlerweile ein wärmendes Feuer brannte. Die Regentropfen, die auf die Scheiben schlugen, bildeten einen angenehmen Geräuschhintergrund. Pitt fühlte sich von Wärme und Behaglichkeit eingehüllt. Auch dieser Raum war nach der neuesten Mode eingerichtet. Das englische Klima und das verwendete Baumaterial milderten die unübersehbaren arabischen Einflüsse soweit ab, daß das Zwiebelturm-Muster auf den Wänden, das sich auf den Vorhängen wiederholte, ebensowenig fremdländisch wirkte wie die grünweißen Fliesen mit geometrischen Mustern um den Kamin herum.

Die Tür öffnete sich, und Tryphena trat erhobenen Hauptes, aber mit rotgeränderten Augen ein. Sie war schlank und sah mit ihrer makellosen Haut und ihrem dichten blonden Haar gut aus.

»Sie wollen wissen, was mit der armen Unity geschehen ist, und dafür sorgen, daß ihr Gerechtigkeit widerfährt!« Es war mehr eine Herausforderung als eine Frage. Die Lippen der jungen Frau zitterten, und sie beherrschte sich nur mit Mühe. Erkennbar stand das Gefühl der Wut im Vordergrund – vermutlich würde der Kummer bald folgen.

»Ich versuche es, Miss Parmenter«, gab Pitt zur Antwort und sah sie an. »Wissen Sie etwas, das mir dabei helfen könnte?«

»Mrs. Whickham«, verbesserte sie ihn, wobei ihre Lippen ein wenig schmaler wurden. »Ich bin Witwe.« Der Ausdruck, mit dem sie das letzte Wort sagte, ließ sich nicht recht deuten. »Ich habe nicht gesehen, wie es geschehen ist, falls Sie das meinen.« Als sie einen Schritt vortrat, glänzte ihr helles Haar im Licht des Kronleuchters. Sie wirkte in diesem exotischen Raum ausgesprochen englisch. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen könnte, außer daß Unity einer der tapfersten und heldenhaftesten Menschen auf der Welt war«, fuhr sie mit ergriffener Stimme fort. »Ihr Tod muß um jeden Preis gerächt werden. Von allen Opfern der Gewalttätigkeit und Unterdrückung verdient am ehesten sie Gerechtigkeit. Es ist paradox, nicht wahr, daß man einen Menschen, der so entschlossen und aufrecht für die Freiheit gekämpft hat, rücklings erdolcht.« Ihr Gesicht war bleich, und ein leichter Schauer überlief sie. »Wirklich tragisch! Aber das werden Sie wohl nicht verstehen.«

Pitt war verblüfft. Auf eine solche Reaktion war er nicht vorbereitet gewesen.

»Sie ist die Treppe herabgefallen, Mrs. Whickham...«, setzte er an.

Sie sah ihn vernichtend an. »Das ist mir bekannt! Ich meinte das in einem höheren Sinne. Man hat sie verraten. Menschen, denen sie vertraute, haben sie getötet. Nehmen Sie immer alles so wörtlich?«

Alles drängte ihn, ihr zu widersprechen, doch ihm war klar, daß er damit seinen Zielen nur schaden würde.

»Sie scheinen sehr sicher zu sein, daß wir es hier mit einem absichtsvollen Handeln zu tun haben, Mrs. Whickham«, sagte er fast beiläufig. »Wissen Sie denn, was geschehen ist?«

Sie sog die Luft ein. »Sie ist nicht gestürzt; jemand hat sie gestoßen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe sie rufen hören: ›Nein, nein, Reverend!‹ Meine Mutter hat in der Tür gestanden. Sie hätte den Täter sehen können, wenn ihn nicht der obere Rand des Wandschirms verdeckt hätte. So hat sie nur mitbekommen, wie ein Mann vom Treppenabsatz in den Gang zurückgekehrt ist. Warum sollte sich jemand, der ein reines Gewissen hat, vom Ort des Geschehens entfernen, statt sich sogleich um Unity zu kümmern?« Ihre leuchtenden Augen forderten ihn heraus, die Folgerichtigkeit ihres Gedankengangs zu bestreiten.

»Sie haben gesagt, es sei jemand gewesen, dem sie vertraute«, erinnerte er sie. »Von wem hätte sie einen Angriff befürchten können, Mrs. Whickham?«

»Von allen, denen daran liegt, daß die Macht der Männer ungebrochen bleibt und die Freiheit des Denkens, des Gefühls und der Vorstellungskraft beschränkt wird«, antwortete sie trotzig.

»Ich verstehe...«

»Ach was!« widersprach sie ihm. »Sie haben nicht die geringste Ahnung.«