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Im Winter arbeiten sie unten im Tal - der Sommer gehört den Bergen. Die drei kennen sich schon lange: Jonas und Galel sind Bergführer, Paul betreibt eine Hütte. Dort oben, auf 2000 Metern Höhe, sind sie in ihrem Element. Rundum Gipfel, Weite, Stille. Ein Nirgendwo, im Herzen der Welt. Wenn die einen nach Tagen des Wegs ihre Wanderer heraufbringen, wartet der andere mit frischgebackenem Brot. Dazu essen sie Alpkäse, trinken Wein, machen ein Feuer, erzählen. Schauen in die Sterne und gehen wieder. Was sie teilen, bleibt dort oben. Das Tal zählt nicht. Doch eines Tages kommt Galel, der Sanfte und Starke, der immer schon von Weitem pfeift, verändert zurück. Sein Lachen fehlt, und die Freunde beginnen, sich Sorgen zu machen. Berghütte ist ein Debüt über drei Menschen im Angesicht einer mächtigen Berglandschaft, die das Wichtige nicht mehr sagen müssen. Sie teilen das unfassbare Glück - aber wissen auch, dass ein einziger falscher Schritt fatale Folgen haben kann.
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Fanny Desarzens
Roman
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Atlantis
Für meine Eltern
Am Morgen ist der Himmel schwer. Lang gezogene blaue und graue Wolkenstreifen, wie ein großer Spiegel für das, was unter ihm liegt. Denn unter ihm ist es blau und grau, es sei denn, man geht weiter hinab. Weiter unten gibt es das Grün der Gräser und der Sträucher und der Nadeln der Bäume, dazu ein bisschen Braun der Rinden. Sonst also Blau und Grau, aber alle Blaus und alle Graus, die es gibt. Man könnte sagen, die Landschaft wirke trostlos. Doch sie belebt sich, wenn der Himmel allmählich aufklart. Es funkelt. Die Sonne dringt strahlend hervor. Und sie legt sich über das ganze Tal. Da sind sie schon eine Weile draußen. Es ist eine Gruppe von Menschen, einer hinter dem anderen. Manche gehen nebeneinander und unterhalten sich. Ihre Stimmen sind ein kleines Geräusch in der Weite, die Stimmen breiten sich da aus, wo die Menschen sind. Es sind zwölf, und ein Dreizehnter geht voran. Sie gehen alle mit zügigem Schritt, und der, der vorangeht, läuft besser als alle anderen. Es ist, als wären die zwölf durch ein Seil mit ihm verbunden, und er, der Dreizehnte, zöge an dem Seil, damit sie vorwärtskommen. Er trägt ihr ganzes Gewicht, trotzdem hat er den leichtesten Schritt.
Von da, wo sie aufgebrochen sind, von unten, sieht man sie bergauf gehen und verschwinden. Sie verlieren sich zwischen den kleinen Lärchen und den gelblichen Grasbüscheln, zwischen den Sträuchern mit ihren roten oder weißen Beeren. Und während sie langsam verschwinden, hört man sie überhaupt nicht mehr. Dabei unterhalten sie sich immer noch, sie sind guter Laune, und manchmal lachen sie. Sie merken gar nicht, dass es aufwärtsgeht. Weil hier alles uneben ist. Der Boden ist selten flach. Hier geht es aufwärts, ohne dass man es spürt, weil es noch nicht schwierig ist. Der Weg führt über Erdboden, überall sind kleine Steinhaufen. Vor langer Zeit war hier mal ein Schuttkegel. Jetzt geht man über diese Steine, manche bewegen sich ein wenig.
Irgendwann bleibt der, der vorangeht, stehen und zeigt mit dem Finger auf etwas weiter oben. Also schaut man hin, aber man sieht noch nichts, weil man erst eine große Steigung hinaufmuss. Sie lässt mit einem Mal alle verstummen. Man konzentriert sich. Man hört nur noch die Schritte, sonst nichts. Denn jetzt wird dieser Hang, den man von Weitem erblickt hatte, in seiner ganzen Länge sichtbar. Er besteht aus vielen kleinen Stufen. Das Relief des Felsens ist trügerisch. Denn der Hang ist ein großer Schotterhaufen. Er ist eine Masse aus verschiedenen Graus und Blaus. Als wäre es ein großer Wasserfall, und gerade vorher wären sie am Fluss gewesen. So verlassen sie langsam die grüne Weite, das Beet der Alpenrosen und die Heidelbeerbüsche. Sie entfernen sich vom Gras und vor allem von den Bäumen. Je weiter man kommt, desto weniger Arven, Tannen oder Lärchen findet man. Es ist, als beträte man ein anderes Gebiet, und das ist die Welt des Steins. Sie staunen über den Boden, der sich vor ihnen ausbreitet. Sie laufen gebeugt, sie lehnen sich nach vorn. Und sie gehen weiter. Sie sind alle im Anstieg, und diesen Anstieg spüren sie unter ihren Füßen. Sie gehen, sie klettern, und der ganz vorn zieht stärker am Seil. Sie stoßen Steine an, die Steine rollen nach unten. Das klingt wie Regen, und dann denken sie: Wenn ich falle, kann ich mich nirgends festhalten. Aber schon vergessen sie diesen Gedanken und gehen weiter. Niemand fällt.
Die Sohle haftet an den Steinen, und wenn man einen Fuß hebt, hat man fast das Gefühl, ihn losreißen zu müssen. Tatsächlich zieht man den ganzen Körper hoch, trägt ihn den Weg hinauf.
Denn es gibt einen Weg. Einen Streifen, der sich durch die Steine schlängelt, fast weiß im Grau. Man hinterlässt einen Abdruck in diesem weißen Staub, aber im nächsten Moment ist er verschwunden. Man hinterlässt keine Spur. Man verliert sich zwischen all dem Stein. Von unten erkennt man kaum noch, dass da Menschen sind. Man bemerkt nicht, dass da oben Menschen gehen. Und die Menschen haben den Kopf gesenkt, sie schauen auf ihre Füße. Sie bewegen sich im Rhythmus ihrer Schritte. Manche schauen zurück, um zu sehen, was sie schon geschafft haben. Und dann schauen sie auf das, was noch vor ihnen liegt. Sie sind nur einen Moment stehen geblieben, aber es kam ihnen lang vor. Sie sagen sich: Das ist endlos. Also geben sie sich einen Ruck, um wieder in den Tritt zu kommen. Sie werfen sich nach vorn. Sie stürzen sich in die Bewegung. Sie holen die anderen ein, die immer weitergegangen sind. Einer hinter dem anderen steigen sie hinauf. Die Langsamsten sind vorn, die Schnellsten beschließen den Zug. Aber ganz vorn immer noch der, der besser läuft als alle anderen. Er bleibt nie stehen, dreht sich nur manchmal um, schaut, ob sie ihm folgen können. Manchmal macht er kehrt, läuft ganz nach hinten. Er rennt ans Ende der Reihe, er ermutigt diejenigen, die sich quälen, die genug haben, dann setzt er sich wieder an die Spitze der Gruppe. Die sich Mut macht, sowieso bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich Mut zu machen. Und der ganz vorn bringt seine Gruppe voran. Er führt sie nach oben.
Plötzlich weiß man, dass man es fast geschafft hat. Es liegt am Wind. Am Wind haben sie gemerkt, dass sie bald ankommen. Er bläst schon die ganze Zeit, doch jetzt scheint er aufzufrischen, als man da ankommt, als man diese Grenze überquert, auch wenn man nicht wusste, dass es sie gibt, diese Grenze. Man hört den Wind, bevor man ihn spürt, und wenn man ihn endlich spürt, fröstelt man. Er geht über sie hinweg, leicht und schwer zugleich, denn in diesem Moment hat sogar er ein Gewicht. Er wirbelt den Staub auf und schiebt sich zwischen das Geröll, aber die Steine bewegen sich nicht. Und in dieser Kälte beugt man sich noch weiter vor. Mit neuen Kräften betritt man diesen Weg, der eigentlich kein Weg mehr ist. Es ist ein Übergang. Man hebt den Kopf und sieht, dass es nur noch ein paar Meter sind, aber diese Meter dauern, sie dauern doppelt und dreifach. Bei jedem Blick sieht es weiter aus, immer weiter. Und der Wind hört nicht auf zu wehen. Noch ein paar Schritte, und plötzlich weiß man, dass man gleich oben ist. Man drückt sich mit all seinem Gewicht gegen den Hang, um ihn wegzuschieben, um sich hochzuziehen. Und tatsächlich folgt man nur der Bewegung. Man drückt auf die Beine, mal aufs rechte, mal aufs linke. Und jetzt gehen sie fast von selbst. In diesem Moment gibt es nur noch die Beine, und die Gedanken der Wanderer sind nicht mehr da, aber sie sind auch nicht wirklich woanders. Und während man dachte, der Wind würde sich legen, heult er noch lauter. Deswegen merkt man nicht sofort, dass man oben, am Ende der Steigung ist. Dann ist es wie ein Zusammenbruch. Man ist am Ende, man ist oben. Von unten sieht man die da oben nicht, sie aber sehen alles. Sie sehen das Unten, aber auch das Oben. Sie sehen den Weg, der sich rückwärts erstreckt, das weiße Band, das sie bis zum Pass gebracht hat. Es ist der Col Lavorar.
Auf der einen Seite liegt das Val du Tesor, auf der anderen das Val de Lesiùn. Am Morgen sind sie von der Cabane du Rec aufgebrochen, die im Val du Tesor liegt. Hier ist genau die Mitte, ein Plateau zwischen den Gipfeln. Da steht ein Schild mit dem Namen des Ortes und der Höhe. Etwas weiter eine andere Tafel mit Zeichnungen, die erklären, dass da der Dent Bleue, dort der Suleg-Gipfel und vor ihnen der Orsinal ist. Und was man da drüben sieht, ist der Uvarose und daneben das Massiv der Sœurs Atular. Überall sind Schneefelder. Weißer, harter Schnee, der nicht schmilzt. Und immer noch der Wind. Eine kräftige Böe, die von den Bergen herunterkommt. Das brennt im Gesicht, und wenn man den Mund aufmacht, tut es an den Zähnen weh. Trotzdem bleibt man stehen. Verweilt man noch einen Moment. Auch wenn man weiß, dass das einer der Orte ist, die man verlassen muss. Man fühlt sich hier geschützt, wie eingehüllt in den Himmel. Und man schaut nach links und sieht das Val du Tesor, dann dreht man den Kopf und betrachtet das Val de Lesiùn. Man wird sie nie wieder so sehen: von so weit oben. Man kann sich schwer vorstellen, dass da unten etwas geschieht, während man sich hier oben so allein auf der Welt fühlt. So weit oben, dass man über sich selbst ist. An allen Grenzen gleichzeitig, aber im Zentrum von allem, da, wo der Fels schwarze Stellen hat. Weil die Wand zu dieser Stunde im Schatten liegt. Also genießt man es, also bleibt man noch. Man hebt den Kopf, um die Gipfel zu sehen und den Grat, der sich im Licht abzeichnet. Der Wind bläst immer noch, und dann begreift man, dann sagt man sich, dass man einfach ein Passant ist. In diesem Moment gibt der Dreizehnte das Zeichen: Sie gehen weiter.
Also wendet man dem Hang, den man gerade erklommen hat, den Rücken zu. Es wird Zeit für den Abstieg. Denn es geht auf die andere Seite. Man überquert den Pass, um auf die Seite von Lesiùn zu kommen. Und während man absteigt, hört man den Wind nicht mehr. Plötzlich legt er sich, vielmehr verlässt man den Ort, wo er weht. Dann gibt es nur noch Stille und das Geräusch der Schritte.
Und sie sind immer noch hinter dem Dreizehnten. Es ist, als glitte er über den Berg, so gut läuft er, so gut weiß er, wohin er den Fuß setzen muss. Jemand sagt zu ihm: Du läufst so viel besser als wir. Dann zuckt der Dreizehnte mit den Schultern und sagt einfach: Das ist mein Job: gehen, Wege erkennen.
Sie steigen vom Col du Lavorar ab, vor ihnen das Val de Lesiùn. Vor drei Tagen sind sie aufgebrochen. Sie machen eine Rundwanderung, die Tour von Saingal. Sie sind nach Laster gefahren, ein Dorf im Val du Tesor, dort wurden sie erwartet. Der Bergführer erwartete sie, um mit ihnen die Rundtour zu machen. Sie sind von Laster aufgebrochen, und der erste Tag war ein ruhiger Tag. Sie sind bergauf gegangen, aber nicht viel, nur bis zur Cabane de la Pierre Rose. Das war der erste Tag und die erste Nacht, da lernt man sich kennen und gewöhnt sich an die Umgebung. Am zweiten Tag sind sie fast den ganzen Tag an der Bergflanke entlanggelaufen. Sie haben Murmeltiere gesehen, und sie haben Kühe getroffen, hier sind sie klein und schwarz, sie haben eine Glocke um den Hals. Sie waren bei einem Bauern, der ihnen Alpkäse verkauft hat. Abends haben sie in der Selzior-Hütte geschlafen, das war immer noch im Tesor-Tal.
Jetzt ist der dritte Tag, der Tag der Passüberquerung. Da verlässt man das Tal und sein Gras, seine Bäume und seine Kuhglocken. Man verlässt den Untergrund aus Erde und betritt den Stein.
In diesem Moment der Wanderung begreift man, was das ist, das Gebirge. Das ist Stein, Wind und Steilhang. Das ist Blau und Grau und eine uralte Kälte. Wenn man vom Col du Lavorar absteigt, sieht es anders aus als auf der anderen Seite: Dort Grün und viele kleine Bäche, die ein schönes dunkles Blau zwischen dem Grün bilden. Hier überall Kies, der ins Rutschen kommt, wenn man den Fuß nicht richtig aufsetzt. Man wandert durch eine trockene Landschaft und steuert die Hütte von Estùn an. Sie gehen an einem Berg entlang, der Ermoval heißt und aussieht wie ein Vogelschnabel. Man stößt sich fast an seiner Wand, dann muss man vorsichtig ein Stück abrücken. Man setzt erst die Ferse auf, dann den ganzen Fuß. Das macht man, um die Knie zu schonen, damit sie nicht wehtun, damit es nicht zieht. Das hat der Bergführer am Anfang erklärt. Und sie gehen langsam hinunter, einer hinter dem anderen. Manchmal rutscht einer aus, und alle fragen: Geht’s? Man richtet sich zusammen auf, denn wenn man fällt, tut man auch das zusammen. Der Bergführer wartet inzwischen. Er hat sich nicht erschreckt, denn er kennt die Stürze. Er weiß, dass dieser nur eine kleine Schwäche war, nichts Ernstes. Nur ein Fuß, der an einem Stein abgerutscht ist, deshalb ist der ganze Körper auf dem Weg, auf anderen Steinen zusammengesunken. Es tut ein bisschen weh, aber es ist nicht schlimm. Er lächelt und sagt: Gehn wir weiter? Und sie gehen weiter, sie folgen. Sie gehen an einem Bach entlang, der anders ist als der im Val du Tesor. Er ist klar, fast durchsichtig. Er kommt von weit oben, die Quelle sieht man nicht. Er ist sehr kalt, wie alle Bergbäche.
Auch da wird der Weg lang. Das ganze Gewicht, das schwer auf die Beine drückt. Das ist anstrengend, und die zwölf gehen schneller, damit es schneller aufhört. Dann wird der ganz vorn ein bisschen langsamer. Wenn man auf einem Weg über ein abschüssiges Steinfeld zu schnell läuft, kann man wegrutschen und sich den Rücken oder die Knie verletzen. Also geht er langsam, und keinem der zwölf fällt es auf. Aber sie sind überrascht, als sie unten sind. Dort gibt es wieder Grün, es wächst spärlich aus den Felsspalten. Der Bach hat sich weit ausgebreitet, fast wie ein Sumpf. Von oben sah man die Rinnen, aber man dachte, das wären Wege. Und jetzt hat man den Blick auf das ganze Lesiùn-Tal und die Berge, die es überragen, und das ist schön.
Später am Tag kommt man an alten Baumstämmen vorbei, die weiß sind, so alt sind sie. Sie sind entwurzelt, haben ihre Farbe verloren und gleichen jetzt Knochen, die in der strahlenden Sonne glänzen. Sie liegen da in der Landschaft, und man kann sich draufsetzen. Heute geht es nicht weiter hinunter. Man schläft in Estùn.
Am nächsten Morgen wird es wieder aufwärtsgehen, und im Laufe des Abends macht man sich Mut. Man trinkt Bier und bekommt ein warmes Essen. Der Bergführer sagt: Morgen schlafen wir in der Baïta. Und ohne dass man weiß weshalb, weiß man, dass die Baïta ein besonderer Ort ist. Das hat man an seinem Gesicht gesehen.
Die Baïta ist eine Hütte, die ein Freund des Bergführers bewirtschaftet, der offenbar früher auch Gruppen geführt hat. Jetzt wandert er nicht mehr oder fast nicht mehr, und nur wenige wissen warum. Die zwölf werden es auf jeden Fall nie wissen. Denn das ist keine Sache, die man mit jedem Beliebigen teilt, und die zwölf Personen sind für einen Bergführer und einen Hüttenwart jeder Beliebige. Heute Abend erklärt der Bergführer: Wir brechen morgen um sieben Uhr auf, wir haben einen langen Weg vor uns. Es empfiehlt sich, früh bei der Baïta anzukommen, die Nächte sind kälter als anderswo, aber vorher, am Abend, ist es dort besser als überall sonst. So könnt ihr es genießen.
Ihr werdet sehen, warum alles besser ist als anderswo. Wir kommen gegen sechzehn Uhr an, wenn alles gut geht, und es wird schon alles gut gehen. Der Wirt erwartet uns. Es ist eine ehemalige Schäferei, und man schläft dort sehr gut. Wir werden also früh aufstehen und abends gut essen, das Brot dort ist das beste, das ich kenne. Wenn wir da übernachtet haben, kommt die letzte Etappe. Sie wird lang, aber wir kommen früh zur letzten Hütte. Sie liegt auch noch hoch, aber nicht mehr so hoch wie die Baïta. Das ist dann die letzte Nacht, und sie wird länger sein als die anderen. Ihr könnt ausschlafen. Denn dann beginnt der letzte Tag, und da müssen wir uns überhaupt nicht beeilen.
Es ist sechs Uhr, und er ist schon auf. Weil er jeden Morgen, wenn alle noch schlafen, ein paar Schritte macht. Er geht ein Stück, nur ein kleines Stück, wenn es noch dunkel ist, dann sieht es aus, als wäre alles schwarz angemalt, sogar die Berge. Für einen Moment lässt er alles hinter sich. Dieser Moment des Tages gehört ihm, ganz allein ihm. Und so in der Dunkelheit kommt es ihm vor, als würde er das Licht herbeirufen. Denn irgendwann kommt es langsam. Bevor man sie sieht, spürt man die schon warme Sonne, spürt man, dass es ein heißer Tag wird. Und diese Milde, diese Wärme erreicht die Stelle, wo er steht, und erst danach taucht das Licht auf und enthüllt, was im Dunkeln lag. Er liebt diesen Moment. Weil er vorher nicht sagen konnte, wo er ist. Er war nirgendwo, und mit dem Licht ist er irgendwo. Obwohl er die Umgebung aller Hütten sehr gut kennt, ist er jedes Mal überrascht. Hier, an diesem Morgen, steht er auf einem kleinen Hügel dicht bei Estùn. Oben ein Kreuz. Um bis dorthin zu gelangen, folgt man einem Weg mit Enzian, Leimkräutern und jenen kleinen weißen Blüten, die man Alpen-Hornkraut nennt. Und dann steht er da, oben auf dem Hügel, neben dem großen Kreuz, und betrachtet den Weg, den sie heute zurücklegen werden. Es ist sein liebster, weil er zur Baïta führt. Über die andere Seite des Hügels geht er zurück, um seine Gruppe abzuholen.
Die Sonne ist aufgegangen, als die zwölf abmarschbereit draußen stehen. Es ist sieben Uhr, und sie warten auf den Bergführer. Denn vorher, in der Hütte, wo alles erwacht, nimmt er sich Zeit, um sich auf den Tag vorzubereiten. Erst wäscht er sich das Gesicht mit kaltem Wasser, drückt ein paar Sekunden mit den Fäusten auf die Augen. Dann packt er seinen Rucksack. Es ist ein großer Rucksack aus braunem Leder, mit abgewetztem Boden und Riemen, die mit der Zeit dünn geworden sind, weil er den Rucksack schon lange hat und seine Schultern sie in den Bergen abnutzen. Im Rucksack hat er einen dicken braunen Wollpullover, ein Paar Wechselsocken, ein Taschentuch, ein weißes Baumwoll-T-Shirt. Er hat zwei davon; das andere ist das, das er jetzt trägt. Das alles ist im unteren Fach. Im mittleren sind ein Gaskocher, kleine Blechschüsseln, Löffel und Suppentüten. Denn jeden Mittag macht er seiner Gruppe eine Suppe. Er sagt, das sei wegen der Mineralsalze. In der Hütte von Estùn hat er einen Laib Schwarzbrot bekommen. Es gibt immer Brot für die Wanderer. Er hat auch Tüten mit Dörrobst und Nüssen dabei. Im obersten Fach liegen zwei große Wasserflaschen. Er verschließt seinen Rucksack. An einer Seite ist eine große Kelle angeschnallt.
