Chesa Seraina - Fanny Desarzens - E-Book

Chesa Seraina E-Book

Fanny Desarzens

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Beschreibung

Elena, eine junge Frau Mitte zwanzig. Sie hatte gedacht, bei den Eltern ausziehen heißt, erwachsen zu sein. Doch in ihrer Einzimmerwohnung, der Lebensfreund weit weg in Kanada, verliert sie mehr und mehr den Halt. Dann tauchen Erinnerungen auf; Erinnerungen an weite Felder voll goldenem Licht und darin ein Haus. Wenn sie Bilder malte, war das Haus immer der Mittelpunkt. Eines Tages aber ist es abgebrannt. Auch ihre Kindheit ist seither wie ausgelöscht. Elena will das fehlende Stück in ihr Leben zurückholen und macht sich daran, die Chesa Seraina mit eigenen Händen wiederaufzubauen. In einer feinfühligen, tastenden Sprache erzählt Fanny Desarzens eine eindrucksvolle Geschichte von der Suche nach einem eigenen Weg, derweil Stück für Stück ein neues Haus entsteht und zwei Schweiger sich schöne Briefe schreiben.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Fanny Desarzens

Chesa Seraina

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Atlantis

Eigentlich kann ich mich nicht erinnern. Ichkönnte nicht erzählen, was passiert ist. Ich weiß nur, dass das Feuer viel zerstört hat, aber ich weiß nicht, wo es angefangen hat, auch nicht, wie oder warum. Zuerst war ich sehr traurig. Das hat sich gegeben, ich habe mich daran gewöhnt. Aber irgendwie hat es mein Herz angeknackst.

Das sagt Jean. Es stand in seinem Brief. Wir schreiben uns, seit er in Kanada lebt. Er schickt mir schöne Briefe und Fotos, immer sind es Bilder von weiten Landschaften, von Orten, an denen er gewesen ist. Er ist vor ein paar Jahren dort hingezogen. Da war er zwanzig. Jetzt ist er da zu Hause. Ich sehe Jeans Fotos gern an, durch sie kann ich etwas spüren. Zum Beispiel wie unermesslich Kanada ist mit den großen, noch immer wilden Gebieten. Er schreibt, ich könnte auch kommen. Aber ich traue mich nicht. Ich glaube, die Ferne ist einfach zu fern. Und dann wird dort eben hier.

In seinem letzten Brief fragt mich Jean, ob ich glücklich bin und wie mein Leben aussieht. Also habe ich über meine Welt nachgedacht. Ich habe mich umgesehen, überall, wo ich konnte, und meine Welt kam mir klein vor. Mit den Grenzen, die ich ihr irgendwann gegeben habe.

 

Ich wohne in einer winzigen Wohnung in der Stadt. In einem Haus ganz am Ende der Straße, im Erdgeschoss. Wenn ich das Fenster aufmache, bin ich auf einer Höhe mit den Passanten. Drinnen stehen mein Bett, mein Sofa, das den meisten Platz einnimmt, und mein Schreibtisch, den ich eigentlich nicht benutze. Es gibt eine kleine Küche mit einem Tisch und einem Stuhl und das Bad. Ich wohne seit sieben Jahren da und habe kaum etwas aufgehängt, nur die Kanada-Fotos am Kühlschrank und zwei kleine Bilder. Das erste habe ich in der Schule gemacht. Wir sollten im Herbst Blätter sammeln, dann wurden sie alle in ein dickes Wörterbuch gelegt. Im Frühling haben wir unsere Blätter wiederbekommen und auf schönes Papier geklebt. Ich habe mir blaues Seidenpapier ausgesucht. Das Papier mit den Blättern drauf haben wir eingerahmt. Ich habe es immer aufbewahrt. Die Blätter, die ich damals gesammelt hatte, sind gelb. Ich habe sie mit großer Sorgfalt unter unserem Baum ausgesucht. Ich weiß noch, dass ich mir mit dieser Bastelarbeit Mühe gegeben habe. Das andere Bild ist ein eingerahmter Zeitungsartikel. Beim Auszug habe ich von meinen Eltern ein Buch mitgenommen, eine Biographie. Ich weiß nicht mehr, über wen. Es stammte von der Mutter meiner Mutter. Als ich es aufschlug, sah ich, dass ein zusammengefaltetes, zerknittertes Blatt darin lag. Ein Zeitungsartikel über die Situation der Bauern in jener Zeit. Das Buch habe ich nie gelesen, aber den Artikel habe ich aufgehoben. Worum es in dem Artikel ging, interessierte mich weniger. Mir gefiel, dass meine Großmutter ihn ausgeschnitten und zwischen die Seiten gelegt hatte, um ihn nicht zu verlieren. Mir gefiel, dass er immer noch dort war.

 

Ansonsten ist es leer bei mir. Ich brauche nicht lange zu meinen Eltern und bin nah beim See. Meine Schwester Rose wohnt auch ganz in der Nähe. Sie lebt mit Clément zusammen, den ich sehr mag. Er ist für mich das, was einem Bruder am nächsten kommt.

Ich arbeite in einem alten Kino, es heißt Le Dôme. Das ist auch nicht weit weg. Alles ist nah in dieser Stadt. Deshalb mache ich fast alle Wege zu Fuß. Ich gehe viel spazieren. Das habe ich mir angewöhnt.

Für heute Abend bin ich im Kino fertig, und ich laufe ein Stück. Es ist kalt, ich komme an einer Kirche vorbei. Die Tür wird von zwei Statuen bewacht, die keine Köpfe mehr haben und deren Hände gefaltet sind. Plötzlich geht es mir nicht gut. Ich kann nicht erklären, warum, auch nicht genau, wie ich mich fühle. Aber in diesem Moment ist irgendetwas aufgetaucht. Ich gehe die Straße hinunter und komme zum See. Ich gehe auf die Mole, und mit einem Mal bin ich einfach am Ende.

Ich hole mein Telefon aus der Tasche, rufe Rose zurück. Sie sagt: Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht, und ich antworte: Ja. Sie fragt, ob ich am Sonntag zu den Eltern gehe, ich sage: Ja. Und dann sage ich, dass ich lange nicht mehr mit dem Schiff gefahren bin. Das sollten wir bald mal machen. Sie fragt: Bist du zu Hause? Ich antworte: Nein. Meine Schwester sagt: Erkälte dich nicht. Und mir fällt nichts Nettes ein, was ich jetzt sagen könnte. Das ist wie beim Gutenachtsagen, wenn man sich wirklich wünscht, dass jemand eine gute Nacht hat. Wir legen auf, ich verlasse den Anleger und gehe die Straße hoch. Ich komme bei Rose und Clément vorbei, und dann stehe ich vor meinem Haus. Mir hatte dieser Ort einfach deshalb gefallen, weil es meiner sein würde. In der Nacht habe ich Mühe einzuschlafen. Ich schließe die Augen, ich sage mir: Um schlafen zu können, muss man erst einmal so tun, als würde man schlafen.

Ich träume von einer weiten Fläche voll goldenem Gras und goldenen Bäumen.

 

Morgens esse ich nie etwas. Ich habe keinen Hunger, das ist einfach so. Mein Vater sagt, das ist, weil ich mich tagsüber nicht genug verausgabe. Deswegen würde ich nicht viel Energie brauchen. Das ärgert mich ein bisschen, aber ich denke, er hat recht. Mein Vater ist Zimmermann. Er isst viel zum Frühstück. Früher hat er in der Sägerei unseres damaligen Dorfs gearbeitet. Viele Häuser im Dorf haben ein Dach, an dem er mitgebaut hat. Ihm fehlt ein Glied des Ringfingers.

Er sagt, dass ihm seine Arbeit nicht mehr gefiel, er habe sich die Hände kaputt gemacht. Ich glaube, das stimmt nicht. Ich glaube, dass er sich nützlich fühlen muss und dass er gern im Freien war. Jetzt arbeitet er in einer Schreinerei im neuen Dorf.

Er brachte Restholz aus der Sägerei mit und baute Rose und mir daraus Spielsachen. Er hat mir einen Schlitten gebaut, meinen Schlitten, ich habe ihn lange gehabt. Einmal bin ich damit die Straße hinuntergerast. Es hatte stark geschneit, und es fuhren keine Autos. Ich habe die Fußgänger erschreckt, eine Nachbarin mit ihrem Hund habe ich beinah umgefahren. Sie war sehr wütend, und wenn ich sie heute treffe, traue ich mich nicht mehr, sie zu grüßen.

Ich weiß nicht, wie ich es angestellt habe, aber der Schlitten ist mir abhandengekommen.

 

Heute früh rauche ich eine Zigarette am Fenster. Ich mache mir meinen Tabak selbst. Ich kaufe den im Laden und mische Kräuter darunter, zum Beispiel Salbei. Manchmal gibt mir meine Mutter etwas aus ihrem Garten. Ich habe auch meinen eigenen Kaffee. Ich mische Zichorie mit Kaffeebohnen, die ich selbst röste. Ich trinke ihn mit viel Zucker und ohne Milch.

Ich rauche meine Zigarette am Fenster und schaue auf den Tag, der nicht recht anbrechen will. Ich fühle mich immer noch nicht besonders gut.

Es ist Sonntag, und ich gehe zu meinen Eltern. Ich gehe jeden Sonntag zu ihnen, seitdem ich ausgezogen bin. Manchmal kommen auch Rose und Clément. Es ist etwas zu weit, um zu Fuß zu gehen, deshalb nehme ich den Bus, und jeden Sonntag wartet meine Mutter schon an der Haustür. Sie wedelt mit den Armen, als hätte ich vergessen, wo ihr Haus ist, oder als hätte ich sie nicht gesehen. Ich finde es verrückt, dass sie das macht. Es drückt mir immer ein bisschen das Herz zusammen. Heute macht sie es auch, und als sie mich umarmt, sagt sie, dass ich nach Rüben stinke. Das kann gut sein, weil ich Rübenblätter in meinen Tabak gemischt habe.

 

Meine Eltern wohnen in einem kleinen, neuen Haus. Jedenfalls war es neu, als wir eingezogen sind. Ich war sieben, Rose neun. Sie wohnen in der untersten der drei Etagen und haben Zugang zu einem Stück Wiese. Dort pflegt meine Mutter ihren winzigen Gemüsegarten. Da steht auch ein kleiner Schuppen. In dem werkelt mein Vater. Von innen wirkt das Haus ganz anders als von außen. Ich finde es nicht besonders schön, und ich denke mir, dass es schwer für sie war, als sie dort einziehen mussten. Drinnen ist es besser. Es ist größer, als man denkt. Es gibt schöne Fotos an den Wänden. Im Flur haben sie unsere eingerahmten Diplome aufgehängt.

Mit dem, was ihnen geblieben ist, haben sie ihr altes Zuhause nachgestellt. Über die Möbel, die ihnen nicht gefallen, haben sie Spitzendecken gelegt. Den Küchentisch hat mein Vater aufgearbeitet. Er hatte ihn auf dem Sperrmüll gefunden und von Grund auf neu gemacht. Die Sofas und die Sessel kamen von jemandem, der sie nicht mehr brauchte. Sie sind schön tannengrün und bequem.

Ihr Haus ist noch ein bisschen meins. Ich habe dreizehn Jahre darin gewohnt. Eines Tages fing es an, dass ich wegwollte. Ich wollte erwachsen werden, und ich dachte, das macht man so: indem man auszieht.

 

Mein Vater ist so riesig wie die Könige im Märchen. Er löst schon einen Wirbelsturm aus, wenn er niest. Meine Mutter ist auch groß und stämmig. Als Kind kamen mir meine Eltern vor wie Riesen in einer Riesenwelt. Wenn ich an sie denke, denke ich immer so an sie. Als wir umziehen mussten, ist ihr Körper derselbe geblieben, aber ihr Blick ist enger geworden. Sie sind liebevoll, aber etwas in ihnen ist erloschen. Es sind nicht mehr die Eltern meiner Kindheit. Lange habe ich das nicht bemerkt.

 

Ich umarme meinen Vater, und wir setzen uns zu Tisch. Beim Essen fragt mich meine Mutter, was ich gerade so mache. Ich antworte: Nichts. Mein Vater zuckt freundlich mit den Schultern. Er spricht mit mir nie über sich. Meine Mutter auch nicht. Was ich von ihnen weiß, habe ich erraten.

Ich fühlte mich immer noch nicht besonders gut und dachte wieder an meinen Traum. Mir fiel ein, dass auf der goldenen Fläche ein Haus stand.

Plötzlich erkannte ich es.

Ich erzähle meinen Eltern nichts davon. Nach dem Essen fahre ich wieder nach Hause.

Als ich die Tür aufmache, kommt mir meine Wohnung kleiner vor als sonst. Dann setze ich mich an meinen Schreibtisch und schreibe Jean.