Berlin - Hauptstadt des Verbrechens - Nathalie Boegel - E-Book

Berlin - Hauptstadt des Verbrechens E-Book

Nathalie Boegel

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Beschreibung

Die spektakulärsten Kriminalfälle aus Berlins wildesten Jahren

Ein selbsternannter »Volksbeglücker« zieht Zehntausenden Berlinern ein Vermögen aus der Tasche. Ein schwerverletzter Forstaufseher liefert den entscheidenden Hinweis auf den ersten Massenmörder der Weimarer Republik. Und ein kuchensüchtiger Kommissar klärt durch seine genialen Ermittlungsmethoden fast 300 Mordfälle auf.

In den Jahren von 1918 bis 1933 tobt in Berlin nicht nur das verruchteste Nachtleben der Welt, hier wird auch der politische Kampf zwischen Nazis und Kommunisten auf der Straße ausgetragen, während die Polizei verzweifelt versucht, dem Sündenbabel Einhalt zu gebieten. In ihrem Buch erzählt Nathalie Boegel von gewissenlosen Mördern, cleveren Betrügern und von Kriminellen, die zu Lieblingen der Berliner werden. Und sie zeigt, wie mutige Ermittler die Polizeiarbeit revolutionieren.

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Zum Buch

Ein selbsternannter »Volksbeglücker« zieht Zehntausenden Berlinern ein Vermögen aus der Tasche. Ein schwerverletzter Forstaufseher liefert den entscheidenden Hinweis auf den ersten Massenmörder der Weimarer Republik. Und ein kuchensüchtiger Kommissar klärt durch seine genialen Ermittlungsmethoden fast 300 Mordfälle auf. In den Jahren von 1918 bis 1933 tobt in Berlin nicht nur das verruchteste Nachtleben der Welt, hier wird auch der politische Kampf zwischen Nazis und Kommunisten auf der Straße ausgetragen, während die Polizei verzweifelt versucht, dem Sündenbabel Einhalt zu gebieten. In ihrem Buch erzählt Nathalie Boegel von gewissenlosen Mördern, cleveren Betrügern und von Kriminellen, die zu Lieblingen der Berliner werden. Und sie zeigt, wie mutige Ermittler die Polizeiarbeit revolutionieren.

Zur Autorin

Nathalie Boegel, geboren 1967, ist Fernsehjournalistin für SPIEGEL TV und hat für SPIEGEL GESCHICHTE eine zweiteilige Fernseh-Dokumentation mit dem Thema »Sündenbabel Berlin – Metropole des Verbrechens 1918 – 1933« veröffentlicht. Bereits in ihrem Volontariat hat sie als Polizeireporterin gearbeitet und als Filmautorin insgesamt zwanzig Dokumentationen über die Polizei in Deutschland gedreht, darunter die Serien »Deutschland, Deine Polizei« und »Tatort Deutschland«.

Nathalie Boegel

BERLIN

HAUPTSTADT

DES

VERBRECHENS

Die dunkle Seite 

der Goldenen Zwanziger

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2018 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München,

und SPIEGEL-Verlag, Hamburg,

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Karte: Peter Palm, Berlin

Umschlag: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: Hulton Archive / Archive Photos / Getty Images

Gestaltung: DVA / Andrea Mogwitz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Gesetzt aus der Monotype Garamond

ISBN 978-3-641-23253-5V004

www.dva.de

INHALT

Vorwort

TEIL I:REVOLTEN, PUTSCHE, INFLATION – DIE GEBURTSWEHEN DER WEIMARER REPUBLIK

Der Polizeipräsident wird aus dem Amt gejagt

Mord im Hotel Adlon

Der Massenmörder vom Falkenhagener See: Friedrich Schumann

Versehrt und verroht: die brutalen Folgen des Krieges

Wettbetrüger Max Klante: Der Traum vom schnellen Geld

»Man kann mit einer Wohnung töten«: Wohnungselend in der Hauptstadt

»Der Feind steht rechts!«: Attentate auf Politiker

Die »Schwarze Reichswehr«: Eine mörderische Organisation plant den Umsturz

Karl Friedrich Bernotat: Ein bücherbesessener Meisterdieb

TEIL II:WILDE NÄCHTE, KRUMME GESCHÄFTE – DIE GOLDENEN ZWANZIGER JAHRE

Die Ringvereine: Von der Gauner-Gewerkschaft zur organisierten Kriminalität

»Ich bin Babel, die Sünderin«: Das wildeste Nachtleben der Welt

Der berühmte Strafverteidiger mit dem Monokel: Dr. Dr. Erich Frey

Der »Einstein des Sex«: Ein Wissenschaftler klärt auf

Eine kriminalpolizeiliche Revolution: Ernst Gennat und die Gründung der Berliner Mordinspektion

Der Fall Barmat: Ein instrumentalisierter Skandal

Mord im Zugabteil: Die schwierige Suche nach dem reisenden Täter

Die Brüder Sklarek: Korruption und Betrug bis in höchste Kreise

TEIL III:WIRTSCHAFTSKRISE UND STRASSENTERROR – DER UNTERGANG DER WEIMARER REPUBLIK

Joseph Goebbels: Hitlers Scharfmacher für die Hauptstadt

Berlins beliebteste Verbrecher: Die Gebrüder Sass

Der »Blutmai« 1929: Berlin im Ausnahmezustand

Erich Mielke und die Polizistenmorde auf dem Bülowplatz

Der »Schrecken von Schöneberg«: Die BVG-Bande

Wider die Ganovenehre: Verpfiffen vom eigenen Ringverein

Aufstieg der Nationalsozialisten: Die SA entfesselt den Straßenterror

Danksagung

Literaturverzeichnis

Register

Bildnachweis

VORWORT

Der Polizeipräsident brennt mit der Kasse des Präsidiums durch und macht sich mit einem Trupp von Getreuen aus dem Staub.

Ein mittelloser Bürstenmacher mit einem Blick für siegreiche Rennpferde überzeugt Hunderttausende Menschen davon, ihm ihr Geld anzuvertrauen.

Ein junger Mann, der schon als Jugendlicher seine Cousine tötet, kann viele Jahre und etliche Opfer später als erster Massenmörder der Weimarer Republik überführt werden.

Und ein begnadeter Kriminalpolizist mit einer wohl schon zwanghaften Schwäche für süße Torten klärt fast 300 Mordfälle auf.

Die unglaublichsten Geschichten in Berlin zwischen 1918 und 1933 schreibt das Leben selbst. Oder, wie es der rasende Reporter der damaligen Zeit, Egon Erwin Kisch, formuliert: »Nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt.«

Den bücherbesessenen Meisterdieb, der eine sagenhaft wertvolle Sammlung aufbaut und der später spektakulär aus dem Gefängnis flüchten kann, hat es wirklich gegeben. Genau wie die gut organisierten Verbrecherclubs, »Ringvereine« genannt, in denen sich die »ehrenwerten« Gauner Berlins zusammenschließen. Oder den berühmten Strafverteidiger mit dem Monokel, der die schweren Jungs gegen fürstliche Bezahlung vor dem Gefängnis bewahrt. Und die beiden eleganten Tresor-Knacker, die nach mehreren gescheiterten Versuchen den prallsten Safe der Stadt plündern, um nach einer entbehrungsreichen Kindheit das Leben in vollen Zügen zu genießen.

Mord, Totschlag, Raub, Einbruch, Betrug – und als irre Begleitmusik immer wieder Krawalle von rechts und links, bei denen Tote auf den Straßen zurückbleiben: Die spektakulären, wahren Kriminalfälle aus Berlins wildesten Jahren, erzählt nach den bis heute erhalten gebliebenen Originalakten der Ermittler und mit vielen Fotos von Tätern und Tatorten – davon handelt dieses Buch.

In Berlin, der boomenden Hauptstadt der Weimarer Republik, sind die Zwischenkriegsjahre eine Hochphase von Verbrechen und Kriminalität. Die Einzelfälle in diesem Buch werfen Schlaglichter auf das Leben der Menschen in einer politisch explosiv aufgeladenen Zeit, die von vielen Extremen geprägt ist: von bitterer Armut und Arbeitslosigkeit ebenso wie vom exzessiven Nachtleben in Berlin und von jungen Menschen mit schier unbändigem Lebenshunger, die das Tanzen lieben. Von Zigtausenden verletzten und traumatisierten Kriegsheimkehrern, die nicht mehr am »normalen« Leben teilhaben können. Von einer modernen Generation an Frauen, die es so fast nur in Berlin gibt: Die arbeitet, kniekurze Röcke trägt, sich einen roten Kirschmund schminkt und sich im wahrsten Sinne des Wortes die alten Zöpfe abschneidet. Von enttabuisierter Sexualität. Und von einem Liter Milch, der Ende 1923 360 Milliarden Reichsmark kostet.

Wer die spannende Romanreihe von Volker Kutscher gelesen oder die fesselnde TV-Serie »Babylon Berlin« gesehen hat, wird staunen, wie unglaublich bewegt diese Zeit nicht nur in Buch und Film ist – sondern tatsächlich auch im wahren Leben war.

Im Herbst 2017 habe ich für SPIEGEL GESCHICHTE eine zweiteilige TV-Dokumentation über die echten Kriminalfälle der damaligen Zeit gemacht, mit dem Titel »Sündenbabel Berlin – Metropole des Verbrechens«. Die Geschichten und die Schicksale der Menschen von damals, ob Opfer, Täter, Polizisten, Politiker oder Tänzerinnen, haben mich absolut fasziniert. Was für eine wilde, hemmungslose, brutale und fremde Zeit, dabei gerade mal erst 100 Jahre her! Als Experte in der TV-Dokumentation ist der geschichtsbegeisterte und wunderbar humorvolle Polizei-Historiker Harold Selowski im Interview dabei, ein Ur-Berliner und heute Polizist im Ruhestand. In diesem Buch stand er mir als Berater beiseite und hat dabei charmant gute Laune versprüht. Danke schön, lieber Herr Selowski, Sie sind ne Wucht!

Überhaupt, die Quellen: Manchmal habe ich mich bei der Recherche regelrecht festgelesen. In den Berichten der Original-Ermittlungs- und Prozessakten, in den historischen Zeitungsartikeln über spektakuläre Prozesse, in zeitgenössischen Büchern und Schriften und in wissenschaftlichen Publikationen … Wie zum Beispiel in dem erschütternden Bericht der Ärztin und Historikerin Livia Prüll über die Zigtausend traumatisierten Kriegsversehrten, denen ihre körperlichen und seelischen Leiden regelrecht ausgetrieben werden sollten. Oder die ausgefallenen Leidenschaften der korrupten Brüder Sklarek, die ein sagenhaftes Rennpferd namens Lupus besaßen – aus einer sehr seltenen bayerisch-ungarischen Zucht, deren einziges Gestüt sie großspurig aufkauften. Heute soll es noch circa 25 dieser Leut­stettener Pferde geben, Typ edles Halbblut. Als begeisterte Reiterin würde ich Lupus’ Nachfahren gerne selbst einmal sehen … Faszinierend sind auch die detaillierten Polizei-Zeichnungen der Tatorte von den berühmtesten Tresorknackern Berlins, der Brüder Sass – inklusive der Beschreibungen, mit welchem Erfindungsgeist die jungen Männer dicke Mauern, zentnerschwere Stahltüren und Panzerschlösser in der damaligen Zeit überwunden haben.

Nach vielen Filmen für SPIEGEL TV zum Thema Polizei und Verbrechen ist dies mein erstes Buch. Vielen Dank noch mal an den Literaturagenten, dessen Idee das Ganze Ende 2017 war!

Ihnen als Leserin und Leser wünsche ich ein tiefes und unterhaltsames Eintauchen in »Berlins wildeste Jahre«.

Nathalie Boegel

Im Juni 2018

TEIL I

REVOLTEN, PUTSCHE, INFLATION – DIE GEBURTSWEHEN DER WEIMARER REPUBLIK

Chaos– damit beginnt die Weimarer Republik. Meuternde Matrosen, rebellierende Soldaten, Generalstreiks, Straßenkämpfe, blutige Aufstände, Hunderttausende Demonstranten in Berlin, und immer wieder liegen Tote in den Straßen der Hauptstadt. Berlin ist ein politisches Pulverfass.

Aus der Novemberrevolution 1918 entsteht eine Demokratie in Deutschland, aber niemand weiß, was das genau ist. Der Kaiser dankt ab, eher unfreiwillig, und flieht. Ein Sozialdemokrat, Philipp Scheidemann, ruft vom Reichstag die »Deutsche Republik« aus, kurz danach proklamiert der Marxist Karl Liebknecht aus dem Berliner Schloss die »freie sozialistische Republik Deutschland«. Auch von rechts gerät die junge Republik unter Druck, revolutionäre Kräfte agitieren, verüben Morde und Terroranschläge. Freikorps-Verbände wüten gegen die politische Linke, zum Teil mit Billigung des Militärs.

Straßenkämpfe in Berlin während des Generalstreiks (1919)© Straßenkämpfe in Berlin 1919; Bundesarchiv, Bildnummer 183-18594-0069, Fotograf: o. A.

Und die Berliner? Die sind zwar verunsichert, aber vor allem froh, dass sie bis hierhin überlebt haben: den Krieg, den Hunger, das Elend. Die Enge und Dunkelheit in den Zigtausend miserablen Wohnungen treiben die Menschen vor die Tür, zu Hause fällt ihnen die Decke auf den Kopf. Voller Lebenshunger stürzen sich vor allem die vielen jungen Menschen auf das, was ihnen die Millionenstadt in Kneipen, Bars und auf Straßen und Plätzen zu bieten hat. Die alten wilhelminischen Moralvorstellungen schmeißen sie mit Wonne über Bord.

Die Inflation, die schon im Krieg begonnen hat, nimmt immer drastischere Ausmaße an. Die Preisanstiege sind schwindelerregend, Ende 1923 kostet ein Ei 320 Milliarden und ein Kilo Kartoffeln 90 Milliarden Reichsmark. Die Menschen erleben den »Untergang des Geldes«, am Monatsende ausgezahlter Lohn ist praktisch nichts mehr wert. In dieser Zeit der Hyperinflation verlieren viele die Ersparnisse ihres Lebens, Hunderttausende leiden bitterste Not.

Die Polizei hat alle Hände voll zu tun. Die sogenannte Notkriminalität – aus Überlebenswillen begangene Verbrechen – stellt die Ordnungshüter vor große Herausforderungen. Die Zahl der Verurteilungen wegen einfachen Diebstahls steigt zwischen 1919 und 1921 im Vergleich zu 1911 bis 1913 um 81 Prozent an, schwerer Diebstahl gar um 163 Prozent. Die verurteilten Taten sind nur die Spitze des Eisbergs, deutlich weniger als die Hälfte der Eigentumsdelikte kann überhaupt aufgeklärt werden.

Doch im Bereich »Straftaten gegen das Leben« werden die Polizisten – jenseits der politisch motivierten Kriminalität – immer erfolgreicher. In über 90 Prozent der Mordfälle können die Ermittler die Täter überführen.

DER POLIZEIPRÄSIDENT WIRD AUS DEM AMT GEJAGT

Wie gross das Chaos in den Nachkriegswochen und -monaten in Berlin ist, zeigt eindrücklich ein Flugblatt des Innenministeriums vom 5. Januar 1919. Nach nur acht Wochen im Amt als neuer Polizeipräsident der Hauptstadt darf »etwaigen Anordnungen des Herrn Emil Eichhorn« ab sofort »nicht gefolgt werden«, so steht es auf der amtlichen Mitteilung an alle Beamten, Hilfskräfte und Sicherheitsmannschaften des Polizeipräsidiums zu lesen. Damit ordnet das Innenministerium die Befehlsverweigerung gegenüber dem eben noch amtierenden Polizeipräsidenten Eichhorn an.

Emil Eichhorn© Emil Eichhorn; Journalist, Politiker (SPD / USPD / KPD) Porträt um 1918, Archiv Gerstenberg / ullstein bild via Getty Images

Emil Eichhorn ist zu diesem Zeitpunkt 55 Jahre alt. Der gelernte Elektromonteur, Journalist und linkssozialistische USPD-Politiker denkt gar nicht daran, das Feld zu räumen. Denn der Chefsessel im Polizeipräsidium ist der letzte Machtposten, der der USPD noch geblieben ist, nachdem die Partei den Rat der Volksbeauftragten, das damals wichtigste Regierungsgremium, verlassen hat.

Die Weigerung Eichhorns, seinen Posten zu räumen, verspricht Ärger, und so heißt es in weiser Voraussicht auf dem offiziellen Flugblatt zu seiner Absetzung weiter: »Sollte das Polizeipräsidium in den nächsten Tagen für Dienstzwecke nicht verfügbar sein, so wird besondere Anordnung ergehen, in welchem Gebäude der Dienst aufzunehmen ist.« Offenbar geht das Innenministerium davon aus, dass Herr Eichhorn, bis gestern noch oberster Verantwortlicher für Recht und Ordnung in der Stadt, das Präsidium nicht freiwillig verlässt. Wie ernst es dem preußischen SPD-Innenminister ist, zeigt der nachfolgende Satz: »Das Telefon im Polizeipräsidium Berlin ist zu sperren, falls Eichhorn es nicht gutwillig räumt.«

Was sind das für Zustände damals, in denen man den Polizeipräsidenten aus dem Amt jagt und ihm das Telefon abklemmt? Und dieser wiederum sich weigert, seine Absetzung anzuerkennen, und stur weiter die Stellung in dem Gebäude hält, zusammen mit einigen Hundert verunsicherten Männern der Sicherheitswehr? Was ist der Hintergrund dafür, dass die Fronten damals so verhärten? Warum lässt der Innenminister zu, dass die Arbeit einer so wichtigen Institution wie der Polizei ins Wanken gerät? Und das Vertrauen in die Amtsführung implodiert? Dass wichtige polizeiliche Ermittlungen liegen bleiben, wie der im nächsten Kapitel beschriebene Mordfall im Hotel Adlon zeigt?

Nach dem Ende des Krieges herrscht das blanke Chaos in der Hauptstadt. Deutschland hat den Krieg verloren, der Kaiser ist geflohen, und gleich zwei Männer aus unterschiedlichen politischen Lagern rufen ebenso unterschiedliche Republiken in der Hauptstadt aus. Die Weimarer Republik beginnt in bürgerkriegsartigen Unruhen und in einem heillosen Durcheinander von Machtansprüchen zersplitterter politischer Parteien, die Zuständigkeiten erkämpfen und wieder verlieren.

Das Polizeipräsidium gerät dabei ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen: Jede Partei möchte die »Zitadelle der Macht« für sich beanspruchen.

Schon die Ausrufung der Republik wird zum Wettlauf zwischen gemäßigten und radikalen Kräften. Von einem Fenster des Reichstages aus proklamiert Philipp Scheidemann, SPD, am 9. November 1918 vor mehreren Hundert Arbeitern eine bürgerlich-demokratische Republik mit liberaler Verfassung. Es ist kurz nach 14 Uhr. Zwei Stunden später, um 16 Uhr, verkündet der Marxist Karl Liebknecht vom königlichen Schloss aus die sozialistische Räterepublik nach russischem Vorbild. Der Sozialdemokrat ist dem Linksradikalen gerade noch rechtzeitig zuvorgekommen.

Die SPD setzt auf Ruhe und Ordnung sowie Reformen statt Revolution. Um das Chaos zu beenden, die Bevölkerung zu versorgen und Friedensverhandlungen aufzunehmen, schließt die Parteiführung aus machttaktischen Gründen ein Bündnis mit der Militärführung und der alten Staatsbürokratie. Den SPD-Politikern gelingt es zunächst auch, die links von ihr stehende USPD zum Eintritt in eine gemeinsame Regierung zu bewegen. Doch schon wenige Wochen später, am 29. Dezember, nach den blutigen »Weihnachtskämpfen« zwischen der neu erschaffenen Wehrgruppe »Volksmarinedivision« und regulären Truppen um nicht ausbezahlte Löhne, bricht die Regierung auseinander. Die Mitglieder der USPD verlassen unter Protest den Rat der Volksbeauftragten.

Im Zuge dieses sich verschärfenden Konflikts zwischen den beiden Linksparteien wird auch Polizeipräsident Emil Eichhorn, Mitglied der USPD, geschasst. Der Innenminister schickt als seinen Nachfolger Eugen Ernst von der SPD ins Präsidium, er soll Eichhorn zum Amtsverzicht bewegen und dessen Posten übernehmen. Doch so leicht gibt der seinen Job nicht her. Als Ernst und ein Begleiter das Amtszimmer Eichhorns im Präsidium betreten, hält dieser demonstrativ einen Revolver in der Hand, den er dann gut sichtbar auf seinem Schreibtisch platziert.

Draußen vor dem monumentalen Gebäude steht zu Eichhorns Schutz eine besorgte Arbeiterdeputation bereit. Den beiden Herren drinnen wird mulmig zumute. Sie können den abgesetzten Hausherrn nicht zum Amtsverzicht bewegen, unverrichteter Dinge müssen sie wieder abziehen.

Radikale Linke begreifen die Entlassung Eichhorns als Provokation. Am 4. Januar 1919 beginnen sie den blutigen Spartakusauf­stand. Sie organisieren eine Massendemonstration mit 200 000 Teilnehmern, von denen sich viele vor dem Polizeipräsidium sammeln. Dort verkündet Eichhorn: »Ich habe mein Amt von der Revolution empfangen, und ich werde es nur der Revolution zurückgeben.«

Einige der Demonstranten tragen nicht nur friedlich Plakate in ihren Händen, sie haben Waffen dabei. Neben Arbeitern sind auch viele Soldaten darunter. Die bewaffneten Demonstranten ziehen ins Zeitungsviertel, wo sie die Druckerei des sozialdemokratischen »Vorwärts« sowie weitere Zeitungshäuser und Verlage besetzen. Mit der Einnahme des Zeitungsviertels wollen sich die Spartakisten die Informationshoheit sichern – damals gibt es weder Radio noch Fernsehen, die Menschen erfahren die Neuigkeiten auf bedrucktem Papier.

Die politische Linke plant jetzt, die Forderungen der Novemberrevolution durchzusetzen, und will die Regierung der Sozialdemokraten unter Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann stürzen. Ein »Provisorischer Revolutionsausschuss« wird gegründet, doch während dort endlos debattiert wird, läuft draußen auf den Straßen der Protest völlig aus dem Ruder. Im Zeitungsviertel wird über Tage mit äußerster Brutalität gekämpft. Das berühmte Foto mit den schießenden, hinter riesigen Zeitungspapierrollen versteckten Spartakisten entsteht.

Im Berliner Zeitungsviertel verbarrikadieren sich Spartakisten hinter Zeitungsstapeln (Januar 1919).© Spartakisten hinter Zeitungsrollen, 1919; Foto by Historica Graphica ­Collection / Heritage Images / Getty Images

Währenddessen hält Eichhorn das Polizeipräsidium besetzt. Er verschanzt sich mit seinen Sicherheitsleuten im monumentalen roten Ziegelsteingebäude. Die polizeiliche Arbeit kann hier nicht mehr geleistet werden, die wird unterdessen so gut es geht im dafür requirierten Hotel Kaiserhof erledigt.

Mit einem weiteren Flugblatt wendet sich der neue stellvertretende Polizeipräsident Wilhelm Richter eindringlich an die Besetzer am Alexanderplatz und appelliert an ihre Verantwortung:

»Arbeiter!

Könnt Ihr es mit Eurer Ehre und Eurem Gewissen noch vereinbaren, daß das Polizeipräsidium noch länger seiner Bestimmung entzogen wird?

Das Verbrechertum weiß, daß die Zentrale lahmgelegt ist, und verübt täglich neue Schandtaten, die nicht gesühnt werden können!

Wollt Ihr wirklich Berlin dem Verbrechertum ausliefern?

Wollt Ihr immer mit der Schande behaftet bleiben, die ­Schützer des Verbrechertums zu sein?

Darum räumt das Präsidium, ehe es zu spät ist.«

Doch es bleibt nicht bei moralischen Appellen, die Regierung greift auch zu anderen Mitteln. Am 10. Januar erhalten die Eichhorn gewogenen Sicherheitsleute, seine »Sicherheitswehr«, nicht wie vorgesehen ihren Lohn. Allerdings wird ihnen eine »Löhnung« für den nächsten Tag angeboten, wenn sie bereit sind, »sich von diesen Berufsverbrechern zu trennen und sich auf den Boden ihrer Kameraden stellen«. Etwa 2500 Eichhorn-Leute wechseln daraufhin die Seite. Dem geschassten Polizeipräsidenten fällt es immer schwerer, seine verbleibende Soldatenwehr auf sich einzuschwören.

Am 12. Januar, um halb zwei an diesem frühen Sonntagmorgen, greifen Regierungstruppen das Präsidium mit scharfer Munition an. Die etwa 300-köpfige Besatzung im Gebäude schießt zurück. Doch es gibt Saboteure in ihren Reihen, die zwei Maschinengewehre unbrauchbar machen. Der Kommandant der Präsidiumsbesetzer willigt schließlich in Verhandlungen ein. Doch zum Verhandeln gibt es offenbar keinen Spielraum mehr: Die Unterhändler aus dem Präsidium werden erschossen. Die Besetzer geben auf. Der mächtige Bau des Präsidiums ist von den Geschützen schwer getroffen, im Mauerwerk klaffen Löcher, kaum eine Fensterscheibe ist heil geblieben.

Eichhorn selbst aber kann aus dem Gebäude flüchten. Pikanterweise nimmt er dabei die Kasse aus dem Präsidium mit und kann untertauchen. Von nun an wird er steckbrieflich gesucht.

In der Folge des Aufstands geht es den revolutionären Führern von USPD und der neu gegründeten KPD an den Kragen. Noch im Januar werden die untergetauchten kommunistischen Aktivisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von einer Bürgerwehr aufgespürt, festgenommen und der sogenannten Garde-Kavallerie-Schützen-Division überstellt. Die Männer lassen ihrem Hass auf Kommunisten freien Lauf und ermorden die beiden bekannten Anführer. Zuvor sollen diese geplante weitere Aufstände verraten haben. Unter welchen brutalen Umständen diese Aussagen von Liebknecht und Luxemburg zustande gekommen sind, möchte man sich lieber nicht vorstellen.

Deutlich glimpflicher endet der Aufstand für den abgesetzten Polizeipräsidenten: Der untergetauchte Eichhorn wird am 19. Januar 1919 in die Weimarer Nationalversammlung gewählt und ist fortan dank seiner parlamentarischen Immunität gegen den auf ihn ausgestellten Haftbefehl geschützt.

Im Polizeipräsidium ziehen nun SPD-Männer ein. Der neue Polizeipräsident heißt bis März 1920 Eugen Ernst, nach dem gescheiterten Kapp-Putsch übernimmt Wilhelm Richter bis 1925 die Geschäfte.

Doch auch unter der neuen Polizeiführung kommt die Hauptstadt nicht zur Ruhe. Nach dem Spartakusaufstand folgen nur zwei Monate später die Märzunruhen. Am 3. März rufen die Kommunisten zum Generalstreik auf, es kommt zu Ausschreitungen und Plünderungen in der Innenstadt. Das preußische Staatsministerium verhängt den Belagerungszustand über die brodelnde Stadt. SPD-Reichswehrminister Gustav Noske gibt den Befehl aus, dass jeder Bewaffnete von Regierungstruppen oder den Freikorps sofort zu erschießen sei. Freikorps machen daraufhin regelrecht Jagd auf Kommunisten. Eine entfesselte Soldateska ­richtet mögliche Verdächtige hin, selbst halbe Kinder sind unter den Erschossenen. Ein bloßer Verdacht reicht aus, um sein Leben zu verlieren. Mit den Märzunruhen, die bis Mitte des Monats andauern, erlebt Berlin die blutigsten Konflikte dieser Umbruchzeit. Mehr als 1200 Menschen sterben.

Die dramatischen Wochen zwischen November 1918 und März 1919 erweisen sich nicht nur für die Hauptstadt, sondern für die gesamte Weimarer Republik als schwere Hypothek. Die junge Demokratie wird gleich zu Beginn politisch vergiftet. Die Arbeiterbewegung bleibt zerstritten. Von dieser Schwäche werden später die rechtsextremen Kräfte profitieren.

MORD IM HOTEL ADLON

In der Silvesternacht1918/1919 ist im vornehmsten Hotel der Stadt alles anders als in den Jahren zuvor. Seit elf Jahren gibt es das luxuriöse Gästehaus nun schon am Ende des Prachtboulevards Unter den Linden, direkt am Pariser Platz, und längst ist das Adlon zu einer Institution geworden. Hier verkehren Könige und Fürsten, Politiker und Diplomaten, Industrielle und Künstler. Mit seinen festlichen Bällen und rauschenden Partys avanciert das Hotel zu einem der gesellschaftlichen Glanzlichter der Hauptstadt.

Das Hotel Adlon am Pariser Platz (Aufnahme aus den zwanziger Jahren)© Hotel Adlon 1920; Bundesarchiv, Bildnummer 102-13848F, Fotograf: Georg Pahl

Erst vor wenigen Wochen ist Deutschland zur Republik ausgerufen worden, der Kaiser ist über alle Berge. Die Stadt kommt nicht zur Ruhe, über die Weihnachtstage hat es erneut schwere Unruhen mit Todesopfern in Berlin gegeben. Immer wieder sind Schüsse auch in der Nähe des Hotels zu hören.

Die Schwiegertochter des Besitzers und Erbauers des Hotels, die Deutsch-Amerikanerin Hedda Adlon, nimmt damals regen Anteil an den Geschehnissen rund um Berlins erste Adresse. Sie führt Tagebuch und veröffentlich später ein lesenswertes Buch mit dem Titel »Hotel Adlon«, in dem sie die großen und kleinen Vorfälle aus dem Alltag des Hotels detailliert beschreibt, Klatsch und Tratsch inklusive. Auch die Entdeckung eines Mordfalls gleich am zweiten Tag des neuen Jahres 1919 erlebt sie hautnah mit.

In der Silvesternacht ist die Stimmung im Hotel düster, schreibt Hedda Adlon, trotz der Lichterflut im gesamten Haus, der Musik der hauseigenen Kapelle und des ausgezeichneten Essens. Düster wirkt auch ein schwarzhaariger Mann, der abseits vom Trubel an der berühmten Bar des Hotels seinen Cognac trinkt und, statt in Frack oder Smoking, lediglich einen dunklen Anzug trägt. Der Herr hat sich als Baron Hans von Winterfeldt eingemietet, er ist zum ersten Mal im Adlon abgestiegen. Auf seiner Anmeldung trägt er ein, dass er aus Hamburg stammt, seinen Beruf gibt er mit »Hausbesitzer« an. Niemand vom Personal kennt ihn.

Anmeldeschein des Wilhelm Blume als Hausbesitzer »Hans von Winterfeldt« im Hotel Adlon© Anmeldeschein Wilhelm Blume, alias Hans von Winterfeldt; 1908; Foto by ullstein bild via Getty Images

Am Neujahrstag bleibt es noch ruhig in der Stadt, doch am 2. Januar 1919 flammen die Kämpfe zwischen den Spartakisten und den Freikorps erneut heftig auf. Schüsse fallen Unter den Linden.

In dieser heiklen Situation betritt am Morgen der Geldbriefträger Oskar Lange die Hotelhalle. Der achtundfünfzigjährige Beamte ist für die Geldanweisungen des Postamts W8 in der Taubenstraße zuständig und im Adlon schon seit Jahren wohlbekannt. Deshalb hält Lange auch an diesem Morgen erst einmal einen kurzen Plausch mit dem Portier. Der Geldbriefträger hat eine Nachnahmesendung für Baron Winterfeldt. Statt wie sonst üblich den Empfänger in die Hotelhalle zur Übergabe zu bitten, möchte Lange die Sendung lieber direkt beim Baron in dessen Zimmer abgeben. Er hofft auf ein Trinkgeld, wie schon bei der letzten Sendung an den Gast, da spendierte ihm der vornehme Herr Zigarren und Schinkenbrote.

Aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen in der Stadt und der Stilllegung der Verkehrsmittel kann an diesem Tag nur knapp die Hälfte der Adlon-Mitarbeiter zu Arbeit erscheinen. In Berlin herrscht der Ausnahmezustand: Straßensperren sind errichtet, Stacheldraht ist gespannt, immer wieder sind Maschinengewehrsalven zu hören. Wer kann, bleibt sicher in den eigenen vier Wänden.

Am Nachmittag meldet sich das Postamt W8 telefonisch im Adlon und fragt beim Nachfolger des diensthabenden Portiers nach, ob der Geldbriefträger Lange im Hause gewesen sei. Ja, gegen zehn Uhr. Und wann er es wieder verlassen habe? Dazu könne der Portier nichts sagen, das habe er nicht mitbekommen.

Am späten Nachmittag erscheinen trotz der andauernden Kämpfe zwei Kriminalbeamte im Adlon. Auch ein Beamter der Oberpostdirektion Berlin stößt hinzu. Denn, so wird schnell klar, der Postzusteller Lange hat offenbar sehr viel Geld bei sich gehabt: angeblich 278 000 Mark, darunter 41 sogenannte Wertbriefe mit Dutzenden Tausendmarkscheinen. Doch welchem der Gäste der verschwundene Geldbriefträger im Adlon etwas zugestellt hat, lässt sich so schnell nicht feststellen – der Portier, der am Vormittag Dienst hatte und mit Lange gesprochen hat, erscheint aufgrund der Bürgerkriegshandlungen nicht zu seiner nächsten Schicht, und die Telefone funktionieren inzwischen nicht mehr.

Erst am 3. Januar liefert der Hotelfriseur bei der polizeilichen Zeugenbefragung den entscheidenden Hinweis: Lange sei im ersten Stock gewesen, im Appartement des Barons Winterfeldt. Das habe er gesehen. Die Beamten finden die Tür verschlossen vor, niemand antwortet. Mit einem Passepartout öffnen die Beamten vorsichtig die Tür. Ihnen bietet sich ein grauenvolles Bild: In dem Zimmer sitzt ein regungsloser Mensch auf einem Stuhl, viel können die Polizisten noch nicht erkennen, denn über seinen Kopf ist ein Badelaken gelegt worden. Als sie das Tuch abnehmen, erkennen sie den toten Geldbriefträger Oskar Lange. Gefesselt sitzt er auf dem Stuhl, um den Hals eine Schnur, mit der der Mörder den Mann erdrosselt hat. Im Mund des Opfers steckt ein Knebel aus einem Hotel-Handtuch.

Der Gast des Zimmers, Baron Winterfeldt, ist verschwunden. Mitten in den bürgerkriegsartigen Gefechtshandlungen ist im vornehmsten Hotel der Hauptstadt offensichtlich ein Raubmord geschehen und der mutmaßliche Täter bereits seit zwei Tagen über alle Berge. Ein Mordbereitschaftsdienst übernimmt die Ermittlungen und sichert Spuren am Tatort. Hinweise auf die Identität oder den Verbleib des angeblichen Barons lassen sich nicht finden. Nicht einmal eine präzise Personenbeschreibung können die Mitarbeiter des Hotels geben, zu sehr haben die Kampfhandlungen und das Chaos auf den Straßen jedermanns Gedanken bestimmt. Das Einzige, was der mörderische Gast im Zimmer zurückgelassen hat, ist ein großer, leerer, aufgeklappter Schrankkoffer. Hat er damit die Leiche entsorgen wollen?

Die polizeiliche Arbeit gerät erheblich ins Stocken, weil der Arbeitsplatz der Kriminalbeamten in diesen Tagen nicht mehr zur Verfügung steht – das Polizeipräsidium steht im Zentrum der Kämpfe. Der linke Polizeipräsident Emil Eichhorn hat sich dort mit seiner Sicherheitswehr verschanzt und wird von Soldaten und Freikorpstruppen mit Minenwerfern beschossen. Erst viele Tage später können die Mordermittler ihre Räume am Alexanderplatz wieder beziehen. Spuren, die zum Mörder des Geldbriefträgers Lange hätten führen können, sind darüber kalt geworden, der Fall lässt sich vorerst nicht aufklären.

Hedda Adlon schreibt, der ungeklärte Mordfall sei »wie ein Gespenst« im Hause zurückgeblieben, auch wenn sich das Hotel bemüht, alle Spuren der grausamen Tat zu entfernen. Das Appartement wird vollständig renoviert, die Tapeten werden heruntergerissen, die Möbel weggegeben und das Zimmer neu eingerichtet. »Man bemühte sich, die schreckliche Erinnerung an dieses grausige Ereignis gründlich auszulöschen«, schreibt Hedda.

Dreieinhalb Jahre später wird das Hotel Adlon benachrichtigt, dass in Dresden ein Mann namens Wilhelm Blume verhaftet worden sei, der möglicherweise auch als Täter für den Geldbriefträger-Mord im Hotel infrage komme. Der später legendäre Mordermittler Ernst Gennat sucht das Adlon auf und bittet den Empfangschef, bei dem sich Baron Winterfeldt damals als Gast angemeldet hat, mit ihm nach Sachsen zu fahren. Dort soll es zu einer Gegenüberstellung kommen.

Blume hat in Dresden einen Geldbriefträger überfallen und töten wollen, doch dem Mann gelang es, sich geistesgegenwärtig zu retten. Blume konnte überwältigt werden, jedoch nicht bevor er einem Polizisten die Waffe entrissen und ihn angeschossen hatte.

Den Dresdner Polizeikollegen waren der Mordfall Lange und ein weiterer Berliner Geldbriefträger-Mord aus dem Jahr 1918 bekannt. Damals hat der Täter außerdem noch seine Vermieterin getötet, als die ältere Dame Zeugin der Tat wurde. Die Taten weisen auffallende Parallelen auf: Die Opfer sind Geldbriefträger, die erhebliche Summen Bargeld per Nachnahme zustellen sollten, die Angriffe auf sie erfolgten mit Tötungsabsicht. Kann Gennat also mit der Gegenüberstellung in Dresden gleich drei ungelöste Berliner Morde klären?

Blume hat sich bei seinem gescheiterten Raubmord verletzt und liegt unter ständiger Bewachung im Krankenhaus. Als Erstes betritt Gennat das Krankenzimmer, allein. Er möchte sich den mutmaßlichen Täter in Ruhe ansehen. Kurz darauf folgt der Portier ins Zimmer. Nach nur einem Blick ins Gesicht des Mannes sagt er ohne Umschweife, dass es sich bei dem Verletzten um den Hotelgast handelte, der Ende 1918 im Adlon übernachtete. Gennat möchte es gerne noch genauer wissen. Der Hotelmitarbeiter formuliert alles noch einmal ausführlich: Dass das der Mann sei, der sich als Baron Winterfeldt zum Jahreswechsel 1918/1919 bei ihm im Hotel Adlon ins Fremdenbuch eingetragen habe. Der das Zimmer bewohnt habe, in dem der Geldbriefträger getötet worden sei. Und der anschließend das Hotel ohne seine Rechnung zu bezahlen verlassen habe. Nach dieser eindeutigen Zeugenaussage darf der Portier wieder zurück nach Berlin reisen.

Wilhelm Blume alias »Baron Hans von Winterfeldt« (Porträt aus dem Jahr 1908)© Porträt Wilhelm Blume, 1908; Foto by ullstein bild via Getty Images

Nun beginnt Gennat seine Vernehmung. Zunächst bittet er Blume, ihm ausführlich sein Leben zu schildern, von Geburt an. Der 44-Jährige spricht offenbar gern über sich. 1876 wird er in Amsterdam geboren, der Vater ist Tabakhändler. Die Familie zieht nach Berlin, wo Blume sein Abitur an einem humanistischen Gymnasium macht. Die Eltern vererben ihm ein kleines Vermögen, doch sein Studium gibt er auf. Immer wieder beginnt er neue Arbeitsverhältnisse, immer wieder auch Verhältnisse mit den Frauen im jeweiligen Betrieb. Doch nichts und niemand hält ihn, stets muss er weiterziehen. Eine Konstante aber gibt es in seinem Leben: Blume dichtet, er verfasst Dramen und Komödien. Das Schreiben von Theaterstücken scheint seine große Leidenschaft zu sein.

Er hat eine Wohnung im Stadtteil Lichterfelde, sorgfältig und geschmackvoll eingerichtet. Trotzdem zieht er 1918 zur Miete bei einer älteren Dame, Marie Rühle, in der Spandauer Straße ein. Hier verübt er seine ersten beiden Morde: an dem Geldbriefträger Albert Weber und an seiner Vermieterin, die Zeugin des Mordes geworden war. 2000 Mark beträgt seine Beute damals. Unerkannt zieht er zurück nach Lichterfelde.

Die Beute erscheint ihm allerdings zu gering, beim nächsten Mal muss mehr dabei rausspringen. So kommt er, nur drei Monate nach dem Doppelmord, auf die Idee mit den vorbestellten Wertbriefen, die der Geldbriefträger Lange im Adlon dann in auffallend großer Zahl bei sich trägt. Sein Plan geht auf. Er ermordet Lange und kann ein weiteres Mal unerkannt verschwinden.

So steht es in den Vernehmungsprotokollen, die ein Angestellter des Hotels später einsehen darf, schreibt Hedda Adlon. Aber warum hat sich der Mörder ausgerechnet für das feinste Gästehaus der Stadt entschieden? Um sich als Tatort zu eignen, musste das Hotel einfach groß sein und so viel Betrieb herrschen, dass sich bei dem vielen Kommen und Gehen niemand mehr so genau an den Geldbriefträger und den Adressaten erinnern würde, so Blumes Kalkül.

Er entscheidet sich zunächst für das Hotel Bristol, ebenfalls Luxus-Herberge in der Straße Unter den Linden, mit 350 Betten und eigener Hauskapelle, die Salon- und Tanzmusik spielt. Doch dort passiert dem als »Baron Gassen« eingemieteten Gast ein Missgeschick, das ihm unerwünschte Aufmerksamkeit des Hotelpersonals beschert. Als der große Schiffskoffer – den er später im Adlon zurücklässt und der tatsächlich zur Entsorgung der Leiche vorgesehen gewesen sei – von Pagen auf sein Zimmer geschafft werden soll, öffnet sich die Klappe des Ungetüms plötzlich – und heraus fallen lauter Sandsäcke. Der Herr Baron hat im Gepäck nur Sandsäcke? Geistesgegenwärtig deklariert Blume sie als teure »Chemikalien«, doch an den Gesichtern der Hotelmitarbeiter kann er ablesen, dass sie dem seltsamen Mann nicht glauben. Schnellstmöglich zieht er wieder aus.

Doch bis auf das schwache Kofferschloss ist sein Plan gut, findet der falsche Baron – und mietet sich als »Baron Winterfeldt« einfach einige Häuser weiter im Adlon ein. Dieses Mal gelingt seine perfide Tat. Als unerkannter Dreifachmörder entkommt er mit seinem neu erworbenen Vermögen nach Hamburg, von da aus reist er nach London, wo er sein geraubtes Geld als Buchmacher durchbringt. Als er im Juli 1922 den nächsten tödlichen Überfall versucht, diesmal in Dresden, scheitert er.

Als Dichter allerdings hat Blume in diesem Jahr Erfolg. Ein Lustspiel aus der Feder eines gewissen Herrn Eilers wird im Mai 1922 im bekannten Neustädter Schauspielhaus uraufgeführt. Nach der Premiere verbeugt sich der Autor auf der Bühne im eleganten Frack vor dem applaudierenden Publikum. Die begeisterten Zuschauer ahnen nicht, dass sie gerade einem mehrfachen ­Mörder zujubeln.

Noch ein weiteres Stück schreibt Eilers alias Blume, es trägt den Titel »Der Fluch der Vergeltung«. Kommissar Gennat liest es. Inhalt ist der Mord an dem Geldbriefträger im Hotel Adlon, präzise mit Täterwissen dargestellt. Im Stück erhält der Täter die Todesstrafe. Nach der Lektüre konfrontiert Gennat den mörderischen Stückeschreiber. Der soll begeistert ausgerufen haben: »Ist es nicht ein großartiges Stück? Wenn es aufgeführt wird, bevor ich hingerichtet werde, wenn ich vor meinem Tode noch die Nachricht erhalte, dass ›Der Fluch der Vergeltung‹ mit Erfolg gespielt worden ist, dann scheide ich gern. Dann war mein Leben wert, gelebt zu werden.« Angeblich hat Gennat die Gefängniszelle daraufhin schnell verlassen.

Noch vor Prozessbeginn verübt Blume mit einer heimlich eingeschmuggelten Rasierklinge Selbstmord, die Zeitungen berichten ausführlich. Hedda Adlon schließt in ihrem Buch das Kapitel über den Hotel-Mord mit diesen Worten: »Im Adlon aber war damit endgültig auch die letzte Erinnerung an die grausige Tat getilgt.«

DER MASSENMÖRDER VOM FALKENHAGENER SEE: FRIEDRICH SCHUMANN

Seinen ersten Mord begeht Friedrich Schumann an seinem 17. Geburtstag, dem 1. Februar 1910. Mit seiner fünfzehnjährigen Cousine Hertha unternimmt Friedrich einen Ausflug in den Falkenhagener Forst. Der Jugendliche hat das Geschenk dabei, das er ein Jahr zuvor, zu seinem 16. Geburtstag, von seiner Mutter bekommen hat: sein geliebtes Tesching. Diese kleinkalibrige Handfeuerwaffe wird damals gerne von Jugendlichen zur Jagd verwendet. Weil das Gewehr keine große Durchschlagskraft hat, lässt sich allerdings höchstens Kleinwild damit jagen – auf einer Distanz von zehn bis maximal zwanzig Metern.

Am Ende dieses Geburtstagsausflugs ist Hertha tot, erschossen von ihrem eigenen Cousin. Der Polizei und auch dem Gericht kann Schumann weismachen, dass der Tod der Cousine ein Unfall gewesen sei – dass er das Mädchen für ein Reh gehalten habe, das er erlegen wollte. Ins Gefängnis muss Friedrich Schumann für seinen ersten Mord nicht, jedoch in eine Erziehungsanstalt.

So beginnt die mörderische Verbrechensserie, die der blonde, schmächtige Spandauer mit den »starren« Augen und gefürchteten Wutausbrüchen begeht. Zeitgenössische Journalisten verpassen ihm später den Titel »der Massenmörder vom Falkenhagener See«. An Gewaltverbrechen verübt Schumann fast die gesamte Palette, die das Strafgesetzbuch auflistet. Doch trotz seiner spektakulären Verbrechen gerät der erste Serienmörder der Weimarer Geschichte schon kurz nach seiner Hinrichtung 1921 in Vergessenheit. Die Menschen sind mit anderen Dingen beschäftigt, mit den politischen Unruhen, wirtschaftlichen Nöten, dem eigenen Überleben. Zu groß sind die Wirren und das Chaos der neu gegründeten Weimarer Republik. Heute sind nur noch wenige Akten über den Fall Friedrich Schumann erhalten. Viele Informationen und aufschlussreiche Details finden sich jedoch in zeitgenössischen Presseberichten vom Mordprozess und in den Erinnerungen seines Strafverteidigers Erich Frey.

Nachdem er das erste Mal getötet hat, muss Schumann für ein halbes Jahr in eine Erziehungsanstalt, danach beginnt er eine Schlosserlehre. Gut eineinhalb Jahre, nachdem er seine Cousine erschossen hat, tötet er erneut mit einer Waffe, und wieder ist das Opfer weiblich: Auf der Spandauer Allee erschießt Schumann 1911 eine Frau. In einer erst viele Jahre später angefertigten Strafakte steht dazu, dass der damals Achtzehnjährige wegen »fahrlässiger Tötung« zu neun Monaten Haft verurteilt wird. Fahrlässige Tötung, für einen tödlichen Schuss auf offener Straße? Angeblich hatte Schumann die Waffe gerade erst gekauft und mit ihr gespielt, als sich plötzlich ein Schuss löste und die Frau tödlich traf. Das Gericht folgt dieser Darstellung. Mit nur neun Monaten Haft kann Schumann seinen Kopf erneut aus der Schlinge ziehen. Und, ebenso verwunderlich: Er darf die Tatwaffe behalten. Mit der Parabellumpistole wird er von nun an fast alle künftigen Taten begehen.

Die Staatsanwaltschaft scheint damals nicht gründlich ermittelt zu haben, denn später stellt sich heraus, dass die getötete Frau eine größere Geldsumme bei sich hatte. Bei der Leiche kann das Geld allerdings nicht mehr gefunden werden. Ein klassischer Raubmord also? Und eine viel zu geringe Strafe, ein Fehlurteil der Justiz?

Im Dezember 1912 wird Schumann aus dem Gefängnis in Tegel entlassen, so belegen es die Akten im Einwohnermeldeamt. Er ist nun 19 Jahre alt und hat bereits zwei Frauen getötet. Es ist unklar, ob er in der Zeit nach seiner Haftentlassung weitere Morde begeht. Die kommenden beiden Jahre bleiben zumindest ohne Eintrag.

1914 beginnt der Krieg, und Schumann verübt in dieser ­aufgewühlten Zeit offenbar einen Einbruch. Dabei wird er von einem Fuhrmann entdeckt. Wilhelm Moritz beobachtet das Verbrechen nicht nur, sondern schreckt Schumann bei seinem Vorhaben auf und verfolgt ihn anschließend. Der hat seine Waffe dabei – die Parabellum – und schießt auf den mutigen Fuhrmann. Moritz hat Glück und überlebt den Tötungsversuch, doch Schumann kann unerkannt entkommen. Erst Jahre später wird er die Tat gestehen.

Im Mai 1916 wird Schumann zum Kriegsdienst eingezogen. Er ist zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt, verheiratet mit einem »blonden Mädchen« und arbeitet in der Reichsbahn-Ausbesserungswerkstatt in Wusterhausen. Als Zeugen vor Gericht geladen, beschreiben ihn Arbeitskollegen später als sehr fleißigen Kollegen, der aber immer »still für sich« geblieben sei. Doch sie schildern auch »Absonderlichkeiten«, die ihnen aufgefallen sind: Leicht erregbar sei Schumann gewesen, der beim geringsten Anlass puterrot werden konnte und »ein ganz starres Auge zeigte«. Einen »störrischen Charakter« habe er wohl und gerne in Räuber- und Mörderromanen geschmökert.

Als Soldat wird Schumann zuerst mit einem Karabiner ausgerüstet, später schießt er mit einem Maschinengewehr. Bis zum Kriegsende darf er für Kaiser und Reich töten und wird für seine Leistungen mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Doch was seine Kameraden nicht ahnen: Auch fernab der Front, auf Heimaturlaub, tötet Schumann weiter. Ab dem Jahr seiner Einberufung begeht der Soldat in Berlin schwerste Verbrechen.

Nachgewiesen werden ihm bis August 1919 sieben Morde, 15 Mordversuche, fünf Brandstiftungen, elf Vergewaltigungen, drei Raubüberfälle und neun einfache und schwere Diebstähle. Alle Verbrechen geschehen rund um den Falkenhagener See und den Falkenhagener Forst. Schumann ist dabei immer bewaffnet und trägt »Feldgrau«, die Farbe seiner Uniform, berichten Überlebende und Zeugen später. Zum Falkenhagener Forst hat Schumann offensichtlich eine besondere Beziehung. Er betrachtet ihn als »sein Revier«. Sechs der sieben Mordopfer hat er hier getötet.

Im Sommer 1918 will er eine Frau in einer am See gelegenen Wohnlaube vergewaltigen, doch ihr Mann, ein Lehrer namens Paul, überrascht den Täter und verfolgt ihn. Schumann kann entkommen und sinnt auf Rache. Nachts schleicht er sich zur Laube zurück, verbarrikadiert die Tür von außen und legt Feuer an das hölzerne Bauwerk. Der Lehrer, seine Frau und die Tochter werden durch die knisternden Flammen wach und versuchen zu fliehen. Doch die verrammelte Tür lässt sich nicht öffnen. Als der Vater die Fensterläden aufstoßen will, erschießt ihn Schumann. Inständig flehen nun Mutter und Tochter, sie nicht zu töten. Beiden gelingt es tatsächlich, die Laube zu verlassen und das Feuer von außen zu löschen. Drinnen liegt ihr toter Ehemann und Vater.

Zeichnung von Friedrich Schumann, dem »ersten Massenmörder der Weimarer Republik«© Zeichnung Friedrich Schumann, aus: Otto Busdorf, Wilddieberei und Förstermorde, Band I – III, 1928

Im gleichen Zeitraum versucht Schumann, seine Schwester Frieda zu töten. Die Mutter der beiden ist kurz zuvor gestorben, und Schumann soll die 350 Mark, die unter dem Kopfkissen der Toten lagen, entwendet haben. Als Frieda daraufhin ihre Sachen packt und ausziehen will, versucht er, sie mit »Kohlengas« zu vergiften. Er legt reichlich Briketts in den Küchenofen, zündet sie an und verschließt die Lüftungsklappe, sodass der Rauch ins Zimmer zieht. Offenbar wird Schumanns Schwester rechtzeitig wach und kann für den Abzug des giftigen Luftgemischs sorgen. Vor Gericht sagt Frieda später aus, dass sie sich mit dem Angeklagten »nie recht habe vertragen können«. Nach ihrer Überzeugung ist ihr Bruder »erblich belastet durch den Vater«. Schon als Junge habe er versucht, zusammen mit anderen eine Scheune anzuzünden.