Berlin Rosalie - Frank Ewald - E-Book

Berlin Rosalie E-Book

Frank Ewald

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Beschreibung

„Das Rosalie“, ein Edelbordell in Berlin Kreuzberg und Bühne des lustvollen Versteckspiels zwischen Frau und Mann. Christin, Julia und Olga sind unverkäuflich, aber für Geld zu haben. Doch die Flut der Sexualität ist tief, ihre Bändigung scheint nicht möglich. Sie sind umgeben von Voyeuren, die sich maskieren mit den Tugenden einer bürgerlichen Sittlichkeit, und alles tun, um das zu zerstören, wonach sie sich selber sehnen: Lust. Aber die Frauen wehren sich, schließen sich zusammen. Eine Geschichte über die verlogene Moral in unserer Gesellschaft und über den Wert von Freundschaft und Solidarität. Basierend auf wahren Begebenheiten. - Frank Ewald • 1963 in Greifswald geboren, • kam 1982 nach Berlin, studierte an der Humboldt Universität • und lebt heute in Prenzlauer Berg. Bücher: • 2000 „Spreu und Weizen“ – Erzählung einer Jugend in der DDR • 2006 „Monopoly in Prenzlauer Berg“ – Ein Häuserkampf der anderen Art • 2018 „Volkes“ – Roman von der Suche, den eigenen Weg zu finden • 2021 „Berlin Rosalie“ – Vom Untergang eines Edelbordells in Kreuzberg.

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Frank Ewald

• 1963 in Greifswald geboren,

• kam 1982 nach Berlin, studierte an der Humboldt Universität

• und lebt heute in Prenzlauer Berg.

Bücher:

• 2000 „Spreu und Weizen“ – Erzählung einer Jugend in der DDR

• 2006 „Monopoly in Prenzlauer Berg“ – Ein Häuserkampf der anderen Art

• 2018 „Volkes“ – Roman von der Suche, den eigenen Weg zu finden

• 2021 „Berlin Rosalie“ – Vom Untergang eines Edelbordells in Kreuzberg

Frank Ewald

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2021

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Lektorat:

Dr. Gregor Ohlerich (Lektor)

Dr. Frank Krüger (Rechtsanwalt)

Coverfoto © Stefan Weis [Adobe Stock]

Autorenfoto: Mirko Nagel

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

U-Bahnhof Alexanderplatz, früh am Morgen. Christin haderte. Sie musste nach Hause in den Prenzlauer Berg zurück, denn sie hatte Julia versprochen, pünktlich zu sein. Aber da war dieser Mann hinter ihr. Die ganze Zeit schon. Und Einbildung war es nicht. Sie hatte extra eine Bahn gewechselt, doch der Typ war immer noch da.

Nun war sie spät dran. Sie musste sich entscheiden. Jetzt! Die Masse hatte bereits die Richtung geändert. Sie quoll nicht mehr aus der Bahn heraus, sie quoll schon wieder hinein. Der Mann wurde näher in Christins Richtung geschoben, sie hatte ihn fest im Seitenblick. Sie hatte Angst. Diese Unruhe in ihr, dieses Weglaufen wollen.

Dann startete sie mitten in das Gedränge hinein. Widerstände rissen ihr die Schultern zurück. Ihre Füße wurden getreten. Kein Nachgeben von keiner Seite, nur Gemecker und raues Benehmen. Scheiß Berliner!

Ein Summen und ein rotes Leuchten und die Türhälften knallten gelb ineinander. Christin eilte die Treppen hinunter, laufen ging nicht, alles viel zu voll. Nur auf das Gemecker war Verlass. Von überall her. Zeit zum Umsehen blieb ihr nicht. Sie spürte, dass sie noch immer zu langsam war, sie fühlte sich verfolgt, ohne den Mann zu erkennen. Die Gänge schienen ihr endlos lang zu sein, begrenzt mit Wänden aus hellgrünen Fliesen. Das Neonlicht brummte kalt von den Decken. Aber Christin kam jetzt schneller voran. Unauffällig äugte sie in alle Richtungen, doch ringsum nur Menschengewimmel. Das Labyrinth aus Gängen wollte kein Ende nehmen. Rolltreppen rauf, Rolltreppen runter. Dann endlich!

S-Bahnhof Alexanderplatz. Menschenmassen auf dem Bahnsteig. Die Anonymität, soweit das Auge reichte. Christin sah sich um, aber den Typen konnte sie nicht sehen. Sie atmete tief durch. Erleichterung. Ein kühler Schauer über dem Rücken, als würde das Schwitzen von ihr gehen. Alle um sie herum starten auf die Handys – wie hypnotisiert.

Dunkel konnte sie sich an den Mann erinnern. Es war ein paar Monate her, zum Jahreswechsel vielleicht. Oder ein, zwei Wochen vorher, Weihnachten 2013. Sie hatte diesen Mann abgelehnt. Zum ersten Mal eine Ablehnung und sie war erstaunt gewesen, wie empfindlich die Chefin darauf reagiert hatte. Von wegen Herauspicken der Rosinen und so. Aber dieser Bärtige mit dunklem Haar hatte sie so brutal aus seinen schwarzen Augen angeschaut, da hatte sie nicht anders gekonnt. Da war nur Verachtung in seinem Blick gewesen, kein Respekt gegenüber Frauen. Das Mindeste also, was Christin erwartete.

Dann hatte er totales Theater gemacht. Es war Christin gewesen, die er gewollt hatte, keine andere. Er war schon dabei gewesen, die Stühle in der Lounge umzuschmeißen, bis er letztlich von der Chefin und den Hausdamen rausgeschmissen worden war.

Eine S-Bahn fuhr ein. Die Masse begann wieder zu drängeln. Christin aber glaubte sich jetzt sicher. Sie nahm die Rolltreppe zur U-Bahn zurück und blickte über eine schier endlose Menge von Menschenköpfen hinweg.

Das konnte alles nicht sein! Wie hatte er sie finden können? Sie fühlte sich beobachtet. Das Zwei-Welten-Leben sollte ihr doch Sicherheit geben. Davon war sie fest überzeugt. Einen Mann zwischen den Welten konnte, nein, durfte es nicht geben. Vielleicht wusste er sogar, dass sie wieder zurück zur U-Bahn musste?

Als die Rolltreppe fast unten war, stand er genau dort und wartete auf sie. Reflexartig wollte sie die Rolltreppe rückwärts wieder hinaufgehen, aber das ging nicht. Wie eine Wand, die dort war. Eine Wand aus Menschen. Sie musterte die Rolltreppe der Gegenrichtung. Doch die war zu weit weg. Ein Hinüberkrabbeln undenkbar.

Christin zitterte am ganzen Körper. Wenn er sie anfasste, würde sie aus vollem Halse schreien, da war sie sich sicher.

Plötzlich, in allerletzter Sekunde, bevor sie mit den anderen Menschen wieder auf gleicher Höhe war, entdeckte sie eine Streife aus zwei Polizisten. Ziemlich nahe sogar, gar nicht weit von der Treppe entfernt.

Schon schnappte der Mann zu und bekam sie am Oberarm zu greifen. Zum Glück nur den Mantel. Schreien konnte sie nicht, obwohl er ihr die halbe Schulter freigerissen hatte. Erste Leute drehten sich um. Sein Griff ließ kurz los und Christin flüchtete den zwei Polizisten entgegen. Sie rückte sich den Mantel zurecht, versuchte, ruhiger zu werden, aber sie war schon da und die Polizisten lächelten sie freundlich an. Christin stand vor ihnen und überlegte. Was sollte sie sagen? Ihnen von den zwei Welten erzählen? Nein! Sie fragte höflich nach dem Weg.

Dann ging sie weiter, ganz gelassen in Richtung U-Bahn. Den Mann war sie los. Das wusste sie und setzte sich in die nächste Bahn Richtung Prenzlauer Berg.

Die U-Bahn fuhr an und der Verfolger war schnell vergessen, denn Christin musste ständig an den feinen Herrn denken, den sie oft am frühen Morgen sah, wenn sie auf dem Weg nach Hause war und er zum Park hinüberging. Die Straßen waren dann mit Leere gefüllt und außer den beiden weit und breit kein Mensch in Sicht. Es war etwas an ihm, das sie mochte, auch wenn sie ihn nicht kannte und er schon deutlich älter war. Doch sie wünschte sich so sehr einen Freund, eben nicht nur einen Mann, sondern einen richtigen Freund, hier, im großen, anonymen Berlin, das sie zwar mit Freiheit beschenkte, um sich dafür aber teuer mit Einsamkeit bezahlen zu lassen. Da war auch der Wunsch nach Schutz. Die Stadt war ein hartes Pflaster, auf dem sich das bunte Leben tummelte, sich aber in jeder dunklen Ecke die Gewalt zu verstecken suchte. Und vielleicht war da auch der Wunsch nach einem Vater, einem guten Vater, einen, wie ihn sich Christin vorstellte.

All das wollte sie in dem älteren Herrn sehen. Was sich gut anfühlte, auch wenn es nur ein Wunsch, eine Vorstellung war.

Natürlich war Christin von Anfang an klar gewesen, dass sie dafür etwas tun musste, sollte ihr Wunsch in Erfüllung gehen. Und das tat sie. Immer wieder kehrte sie an den Ort zurück, wo alles begonnen hatte, immer wieder nahm sie sich vor, den feinen Herrn anzusprechen. Denn es war gleich an ihrem ersten Tag in Berlin gewesen, als sie ihm begegnet war. Sie war durch diesen Park gelaufen, der gestrotzt hatte mit seiner Pracht, und der grüner nicht hätte sein können. Mal von roten, dann von grauen Wegen durchzogen. Alles noch ganz neu, die Bäume erst im Wachsen.

Die ganze Nacht hatte Christin damals im Zug gesessen. Der Zug in die Freiheit. Befreit aus diesem Kaff, das einst ihre Heimat war. Eingegrenzt und ohne Leben. Tag ein, Tag aus. Die Mutter spießig das Tagwerk verrichtend, dem Vater devot zu Füßen liegend, der aber nie zu Hause war. Stets war er unterwegs, ganz ein Mann von Welt. Schlimmer noch, die Leute munkelten, er hätte in jedem Hafen eine andere. Nur die Mutter hörte weg, igelte sich ein, flüchtete sich über Stunden an das Klavier.

Das ärgerte Christin, ja, es machte sie wütend. Ihre Mutter war eine sehr schöne Frau. Einen solchen Mann hatte sie nicht verdient, soviel stand fest. Noch mehr ärgerte sie, dass ihre Mutter sich nicht gegen den Vater wehrte. Sie sich alles gefallen ließ. Warum nur?

Vielleicht, weil die Mutter nicht erkannte, dass alles nur ein Schauspiel war? Ja, mit Sicherheit, der Vater war gar kein Vater, er war Schauspieler. Nichts, das echt war, das er ernst meinte. Sie fühlte sich nicht wie eine Tochter. Sie war ein schönes Ding, dass er vorzeigen konnte. Und auch die Mutter war ein schönes Ding. Er nutzte sie beide, um in ihrem Licht erstrahlen zu können. Denn eigentlich ging es immer nur um den Vater, der keinen so sehr liebte wie sich selbst, und von allen anderen erwartete, dass sie ihn auch lieben sollten.

Christins Vater war ein schlanker, großgewachsener Mann, der immer die besten Kleider trug und schon deshalb im Dorf auffiel. Denn darum drehte sich alles, um Aufmerksamkeit. Was nicht wirklich schwer war in einem Ort mit kaum einhundert Häusern, mitten in den Feldern der brandenburgischen Mark gelegen.

Obwohl sie auch etwas Schönes hatte, diese Abgeschiedenheit, diese Ruhe, das Warten auf den Hahnenschrei am Morgen, ganz ohne Hektik. Diese endlos scheinende Natur mit ihren abendlichen Nebelschleiern über Wiesen und Bächen.

Im Sommer kam der Duft hinzu. Es roch nach frisch geschnittenem Gras, nach gedroschenem Stroh. Das versetzte die Leute in Feierlaune. Jeder brüstete sich damit, ein Dorffest machen zu können. Die Feuerwehr, der Schützenverein, die Landwirte, die Obstbauern.

Damit kam die Zeit des Vaters. War er als Vertreter das ganze Jahr kaum da, aber die Dorffeste verpasste er nie. Und natürlich hatte er seine Tochter an der Seite. Straßen gab es ja nicht viele, eigentlich nur eine einzige. Und auch die bloß aus holprigen Pflastersteinen gebaut.

Christin lief bei ihrem Vater eingehakt, der stolzierte kerzengerade die Straße entlang. Zu beiden Seiten lehnten die Alten aus den geöffneten Fenstern ihrer einstöckigen Ziegelhäuschen. Die Arme auf Kissen gebettet, oft mit Kätzchen oder Hündchen in den Händen haltend. Der Vater nahm seinen Hut ab und nickte beständig. Die Jungen – einige allein, andere mit Frau – kamen aus den Eingängen und schlossen sich den zweien an.

An der Kirche vorbei über den Dorfplatz mit der Eiche ging es auf die Festwiese. Die Feuerwehrkapelle stampfte Marschmusik von der Tribüne. Weiße Zeltbahnen überspannten unzählige Bankreihen mit Tischen davor. Das Sonnenlicht abgeschirmt, aber doch warm. Etwas Feuchte in der Luft und ein leicht chemischer Geruch. Von überall her das Scheppern aneinanderschlagender Biergläser, übertönt von einem Gewirr aus Stimmen und Wellen von Gelächter.

Der Vater war in seinem Element. Er wusste gar nicht, wen er zuerst begrüßen sollte. Und immer wieder Christin, vorgestellt wie ein Ausstellungsstück, einem Püppchen gleich, mit langen, blonden Haaren, großen, blauen Augen und einer Traumfigur dazu. Ja, der Vater platzte fast vor Stolz.

So saßen die beiden vor zwei Gläsern Bier. Der Vater erzählte tolle Geschichten aus der fernen Welt und die Leute am Tisch hörten ihm zu.

„Was meinst du, Ortsvorsteher, ist sie nicht eine Schönheit, meine Große hier?“

Der Ortsvorsteher mit Doppelkinn und dickem Bauch griente, auf dass seine Zähne blitzten.

„Oh ja, das ist sie. Und was für eine.“

„Sag’ ich doch. Bald schon ist sie bereit für die Welt. Und ich habe Großes mit ihr vor, ganz Großes.“

„Ach, Papa, bleib auf dem Teppich, bitte!“

Christin nahm einen Schluck Bier.

„Wieso denn? Du willst doch nicht allen Ernstes Friseuse werden?“ Um sie herum lachten alle.

„Du bist meine Tochter. Und meine Tochter schneidet nicht anderen Leuten die Haare. Das ist Weiberkram, aber du bist eine Dame. Nein, meine Liebe, auf die Bühne musst du, zum Theater, zum Film oder auf den Laufsteg. Da gehörst du hin.“

Der Vater streichelte Christin in einer Art, die mehr als nur väterlich war. Sie wurde verlegen und griff zum Bier.

„Mensch, Papa, ich habe unser Dorf doch noch nie verlassen! Hier gibt’s keine Bühnen.“

Alle lachten sie wieder.

„Na ja, mit dem Schulbus in die Kreisstadt fährst du schon, oder?“

Alle lachten sie noch lauter. Der Ortsvorsteher schlug sich auf seine fetten Oberschenkel. Er hatte Lachtränen in den Augen.

„Ich sage dir doch, mein Kind. Ich hol’ dich hier raus. Du kannst deinem alten Herrn schon vertrauen. Glaub mir!“

Die Kellnerin unterbrach, brachte neue Gläser.

„Und der nächste Tanz mit deiner Tochter gehört mir“, rief der Ortsvorsteher dem Vater entgegen.

Christin rollte mit den Augen.

„Welcher Tanz? Es ist gar keine Musik da. Zu diesem Geschepper kann doch kein Mensch tanzen.“

Schon wieder machte ein Gelächter die Runde.

„Ganz schön wild, deine Kleine, das mag ich.“

Der Ortsvorsteher grinste ihr siegessicher entgegen, er hatte einen lüsternen Blick.

Nein, getanzt hatte Christin nicht. Es war ihr nicht danach zumute. Umschlungen war sie aber trotzdem. Der Vater taumelte den Rückweg entlang und sie mühte sich, ihn aufrecht zu halten.

Den ganzen Abend über hatten sie Christin angehimmelt und auf Händen getragen, die aus großen Worten bestanden. Nach jedem Bier waren es mehr geworden. Die Realität aber trug sie nun auf ihren Schultern. Es war immer das Gleiche, Fest für Fest, und der Vater liebte es.

Die Mutter schwieg dazu. Doch Christin wusste, wie sehr sie sich innerlich grämte. Gemeinsam schaffen sie den Alten ins Bett, was mühsam genug war. Mutter bat noch, etwas Klavier spielen zu dürfen, Christin nickte und schwieg dann auch. Sie kuschelte sich so in die Decke ein, dass ihr freier Blick auf einen Vorhang fiel. Sie hatte Bindfäden an die Rückseite einiger Klaviertasten gespannt, und immer, wenn die Mutter eine dieser Tasten drückte, öffnete sich der Vorhang ein Stück weit und gab für einen Moment die Sicht auf das wunderschöne Gesicht ihrer Mutter frei. Christin mochte das. Es war wie Wärme, Geborgenheit, und sie schlief darüber ein.

Dann ein Knall wie vom zerplatzten Luftballon. Der Vater musste arbeiten, raus in die weite Welt. Christin ließ er zurück, abgestellt wie ein Spielzeug, das nicht mehr gefragt war. Er stand in der Tür, einen Koffer in den Händen. Sie blickte ihn mit großen Augen an und wartete, aber es passierte nichts. Der Vater verstand nicht, was sie von ihm wollte. Ihr war, als hätte es die Stunden der letzten Nächte nie gegeben, keines seiner Worte war wahr gewesen: Die Welt da draußen wäre noch zu groß für Christin. Niemand wolle sie dort haben. Vielleicht beim nächsten Mal, dass er sie mitnehmen werde.

Und so ging der Vorhang weiter auf und zu, gab für einen Augenblick lang das wunderschöne Gesicht ihrer Mutter frei. War diese Welt auch winzig, es war immerhin eine Welt. Eine kleine. Christins Welt.

Wieder stieg die Wärme in ihr auf. Die Lider wurden schwerer. Es war schön in Mutters Heim, und doch war Christin unendlich traurig, denn sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie fühlte sich zerrissen, wie ein Puzzle in zu viele Teile zerlegt.

Was war real? Wer war ihr Vater wirklich?

Die Antwort war der Vater ihr schuldig geblieben. Doch Christin hätte es gerne gewusst, sie hatte Orientierung gesucht, um zu wissen, wo sie langgehen musste. Und sie hatte nichts weiter gehabt, als diesen Blick des Vaters, den sie zu verstehen suchte.

Und eben diesen Blick hatte auch der feine Herr im Park. Das konnte nur ein gutes Omen sein.

Christin glaubte an so etwas, also an Omen und Vorhersehung. Deshalb meinte sie, sich mit dem Herrn anfreunden zu können. Wenn er wie ein Vater wäre, würde sie bei ihm vielleicht die Antworten finden, die sie suchte. Und ein väterlicher Freund in der fremden Stadt schien ihr ein sicherer Hafen zu sein, wie Klaviermusik vor dem Einschlafen, die sie sanft und friedlich werden ließ. Nein, abwegig fand sie das nicht. Warum auch? Schließlich hatten sich die Männer in ihrem Kaff nach ihr umgedreht, ihrer Schönheit wegen. Christin war fest davon überzeugt, dass alle Dinge wahr werden konnten, wenn man sie sich nur fest genug wünschte.

Diese Wünsche hatten etwas Beruhigendes. Es lag so viel Hoffnung darin. Alles war möglich, wenn nicht heute, dann in der Zukunft. Ganz sicher.

Sie wollte nichts, das endete, das ein Ziel hatte. Nur auf dem Weg dorthin lag die Herrlichkeit in all ihrer bunten Vielfalt. Aber es lag auch Ängstlichkeit darin. Erfüllte sich ein Wunsch nicht, stand am Ende die schnöde Gewissheit und alle Hoffnung war begraben. Ein Widerspruch, der sie bis an den Rand der Raserei brachte.

Das kannte Christin schon, seit sie ein Kind war. Immer wieder hatte sie damals vom Kurfürstendamm geträumt, auch wenn ihr dieser nur aus dem Fernsehen bekannt gewesen war. Seine Lautstärke, das Getümmel, die schier endlosen Ströme aus roten und weißen Lichtern, wenn sich der Tag neigte. Die Masse von Menschen auf den breiten Gehsteigen. Das Leuchten der Schaufenster an den Seiten, darin der pure, glitzernde Luxus. Ja, das war sie, die große Welt. Allein schon, wenn dieser Gedanke durch ihren Kopf ging, spürte sie es: das Leben.

Nein, auf den Kurfürstendamm zog es sie heute nicht mehr. Sie lief lieber nach ihrer Arbeit im Rosalie durch halb Kreuzberg, immer am Halleschen Ufer entlang, bis sie den Park am Gleisdreieck erreichte. Das hatte etwas von Beständigkeit, zu der sie sich zwingen musste, weil sie die hasste, weil Beständigkeit sich anfühlte wie ein Gaul im Kreis an der Leine. Immer dasselbe um sie herum. Das war ihr unerträglich. Ob sie den feinen Herrn nun begegnete oder nicht, aber die Mühe, also der Weg dorthin, gab ihr die Möglichkeit, das Leben zu spüren, die Weite, die Veränderung in sich aufzunehmen.

Und Mühen scheute Christin keine. Dafür sorgte schon ihre Erinnerung, besonders nachts, wenn sie nicht schlafen konnte. Dann quälten sie sie ihre Alpträume.

Da waren die Lachtränen des dicken Ortsvorstehers. Dieses Beben ungezügelter Lust. Sie spürte noch immer die zittrigen Finger auf ihren Schenkeln, sah sein Gesicht, seinen gierigen Blick. Der Vater wusste genau, was unter dem Tisch passierte. Aber es war, als blicke er durch sie hindurch. Sie wollte fortlaufen, traute sich aber nicht, schaute ihren Vater bittend an. Die Griffe des Ortsvorstehers wurden unbeherrscht. Christin kniff mit ihren Nägeln in seine wurstigen Finger, aber das störte ihn nicht. Seine Macht war unbezwingbar. Gegen den Ortsvorsteher hatte sie keine Chance. Und Christin wusste das.

Immer an dieser Stelle schreckte sie aus dem Schlaf empor. Sie hatte das fette Doppelkinn vor Augen. An den Mundwinkeln sammelte sich der Sabber. So war es gewesen, als das Mauerwerk ihr kalt in den Rücken drückte, weil er ihr aufgelauert und an die Wand gedrängt hatte, als Christin auf dem Weg zurück von der Toilette gewesen war. Um sie herum nur Dunkelheit, und das Festzelt weit entfernt. Kräftig war er, der Herr Ortsvorsteher. Hemmungslos in seiner Grobheit. Bartstoppel kratzten ihr den Hals. Die feuchte Wärme seiner Lippen fühlte sich kühl an auf der Haut. „Was soll das, Christin?“, zischte er.

Eine Hand direkt in den Ausschnitt gleitend betatschte er ihr die Brust.

„Tu nicht so scheinheilig! Du brauchst das doch auch. Und wie du es brauchst. Es steht dir direkt in den Augen geschrieben, meine Kleine.“

„Lassen Sie das – bitte – bitte!“

Christin krümmte sich zusammen. Der Ortsvorsteher hatte Schwierigkeiten, ihren Bewegungen zu folgen.

„Stell dich nicht so an, du Biest!“, wurde er laut.

Ungeduld ließ ihn wütend werden. Mit der einen Hand schnappte er sie bei den Armen und riss ihr diese über den Kopf. Das tat weh und Christin jammerte. Die Haut ihrer Handrücken schabte am Mauerwerk entlang. Sie stand nun kerzengerade, hechelte mehr, als dass sie atmen konnte. Sie spürte seine andere Hand unter dem Kleid, die rieb wie wild an ihrem Höschen. Dazu das Lecken seiner Zunge in ihrem Gesicht. Angewidert drehte sie ihren Kopf zur Seite. Es roch nach Zement. Der Putz rieselte ihr ins Haar.

„Na, geht doch, mein Schatz. Ganz ruhig!“, schnaufte der Ortsvorsteher ihr ins Ohr.

Für einen Moment dann wirklich Ruhe. Der Ortsvorsteher beruhigte sich. Sein Atem ging langsamer, war nicht mehr so getrieben, als hätte ein Läufer sein Ziel erreicht. Dazu das Rufen eines Käuzchens in der Ferne. Seine Hand hielt an, aber sie zitterte, nein, sie glich eher einem Wackeln, das in ihr Höschen drang. Mit einem Finger bohrte er immer tiefer in sie hinein. Es brannte. Christin liefen Tränen aus den Augen, und doch stand sie still, wie angewachsen, und er drückte mit seiner ganzen Masse gegen ihren Körper, die jede Bewegung unmöglich, weil schmerzhaft machte. Erst jetzt schien er sich sicher zu fühlen und schob ihr das Höschen runter in den Schritt. Dann ging es schnell. Er wurde noch zittriger, hektischer, knöpfte mit der freien Hand seine Jeans auf, schnappte nach seinem Ding, drückte es auf ihre Oberschenkel.

Und wieder zuckte sie im Halbschlaf. Um sie herum die Tiefe der Nacht und ein schneller Atem, der ihr eigener war. Ein Traum, ja, aber da war dieses Gelächter. Nur, dass es diesmal die Rettung war. Stimmen von Leuten. Sie eilten von der Toilette kommend dem Festzelt entgegen. Sofort ließ er sie los. Kein Gewicht mehr, keine Pranken umklammerten ihre Handgelenke. Der Ortsvorsteher bekam seine Hose gar nicht schnell genug zu und verschwand. Christin aber stand still und atmete schwer. Kälte um sie herum. Angst hatte sie keine. Selbst die Triebhaftigkeit der Manneslust hatte sie nicht geschreckt, wusste sie doch längst, dass die Männer darin nur schwer zu bremsen waren. Nein, das alles war nicht der Schrecken gewesen. Der war aus der Machtlosigkeit entstanden, dem Ortsvorsteher ausgeliefert zu sein. Und eben nicht nur körperlich. Er hatte sie wie ein Tier gequält und sie hatte es über sich ergehen lassen müssen. Hatte nichts dagegen tun können. Einfach nur, weil sie eine Frau war. Ein Objekt der Begierde, ein Püppchen, mit dem jeder Mann spielen konnte, wenn er denn wollte.

Und da war sie plötzlich wieder, diese Raserei. Christin kochte vor Wut! Sie dachte an ihren Vater, schüttelte sich den Putz aus dem Haar und ging zum Festzelt zurück. Noch immer der Ruf des Käuzchens in der Ferne.

Der Vater saß am Tisch und grinste vor sich hin. Ein Bierglas in den Händen haltend, bis zur Besinnungslosigkeit berauscht. Christin nahm seine Hand und streichelte sie. Der Vater verstand nichts.

Er blickte weiterhin durch sie hindurch, ohne sie zu erkennen. Und doch hatte er ihr leid getan. Er war ihr Vater.

U-Bahnhof Senefelderplatz. Christin schleppte sich aus der Bahn. Ihre Glieder waren steif und müde. Schnellen Schrittes eilte sie dem Kollwitzplatz entgegen. Die Idee schien ihr perfekt: Auf einer Parkbank zu sitzen, mitten auf dem Platz. Eine bessere Übersicht konnte es nicht geben. Niemand, der sich dort zu verstecken vermochte. Gewiss, die Polizeistreife hatte den Kerl bestimmt vertrieben, dennoch wollte sie ganz sicher sein, dass sie nicht mehr verfolgt wurde.

Sie betrachtete die Häuserfassaden in der Ferne. Es waren wunderschöne Häuser, selbst wenn Christin und ihre Freundin nur im Hinterhaus wohnten, staunten sie immer wieder. Mächtiges Mauerwerk, alt, aber stark und solide. Und angenehm kühl natürlich, wenn es Sommer war. Dazu die viele Zierde. Sie verstand nicht, wieviel Zeit sich die Menschen früher genommen hatten, um ihre Häuser schön zu bauen. Selbst im Hinterhaus fehlte der Stuck nicht. Auch die Ausstattung der Zimmer war toll, der Fußboden auf Hochglanz lackierte Dielen.

Eine Mutti mit Kinderwagen eilte vorbei und riss Christin aus ihren Gedanken. Es war kalt. Sie schlug ihren Mantelkragen hoch und ging weiter.

Endlich zu Hause. Verfolgt hatte sie der Typ nicht mehr. Christin blickte durch das Küchenfenster in den Hof hinein, Bienen umschwirrten die Blumenkübel am Müllhäuschen, Spatzen stritten sich unter lautem Gepiepe um ein Stückchen Brot. Es war ein herrlicher Morgen im Mai. Doch waren die Jahreszeiten vom Hof aus nur schwer schätzbar, als wäre er eine von der Natur abgeriegelte Welt. Gestern hatten sie im Radio gesagt, es gäbe immer weniger Vögel und Bienen, aber ausgerechnet im Moloch Berlin seien davon noch reichlich da.

Christin schüttelte den Kopf und lächelte. Sie war müde. Die Welt war schon ein bisschen verdreht – verrückt. Sie betrachtete ihr Spiegelbild in der Scheibe. Feines, blondes Haar fiel ihr bis über die Schultern, ihre Augen strahlten blau und der Mund leuchtete rot. Ja, sie achtete auf ihren Körper. Das war doch nicht verkehrt, oder? Die Männer ließen sich von Schönheit verführen. Das war eine Tatsache! Die Männer machten alles für Sex, kostete es, was es wolle. Was also sollte verkehrt daran sein, das für sich zu nutzen?

Sie wandte sich vom Küchenfenster ab und ging hinüber in den Flur. Durch den Türspalt sah sie Julia auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen. Sie sah so friedlich aus, jetzt, wo sie schlief. Dabei hatte es heute Nacht einen heftigen Streit zwischen den beiden gegeben. Wieder einmal.

Es mochte sein, dass Julia es ernst meinte mit der Natürlichkeit. Aber dass sie sie deshalb als aufgedonnert bezeichnet hatte, war nichts weiter als Neid gewesen. Denn die Männer mochten das so. Wieder eine Tatsache! Und zwar eine, an die Christin sich halten musste, jawohl, musste, wenn sie im Geschäft bestehen wollte. Schließlich ging es hier um Geld, um die blanke Existenz. Keine Frage, Julia war in Ordnung, aber das allein reichte für das Geschäft nicht aus. Unterm Strich zählte nur, wie viel Geld am nächsten Morgen auf dem Küchentisch zusammenkam und ob es reichte, um Miete und Lebenshaltungskosten zu bezahlen. Was nutzte da die Natürlichkeit, wenn die Männer lieber aufgestyltes Frischfleisch in den Händen halten wollten, das in allen Formen stimmte? Aber für die richtigen Formen tat Julia rein gar nichts. Bloß keine Bewegung zu viel. Schlimmer noch, sie machte eh nur das, was sie wollte. Wohingegen Christin alles gab, sich im Fitnessstudio quälte. Und, ja, auch die Früchte dafür erntete. Julia hatte doch nicht allen Ernstes erwartet, dass Christin mit ihr teilen und freiwillig auf Männer verzichten würde. Nein, so naiv konnte kein Mensch sein! Sie verdiente mehr als Julia. Richtig! Aber mit Christin gingen auch mehr Männer aufs Zimmer. Das hatte nichts mit Natürlichkeit zu tun, sondern mit Schönheit. Und geteilt wurde die Miete für die gemeinsame Wohnung, sonst nichts. Wer mehr Geld hatte, konnte sich bessere Klamotten leisten, sich besser zurecht machen, um mehr Männer abzukriegen. Ein einfacher Kreislauf mit einfachen Regeln.

Schließlich war es doch Julia gewesen, die unbedingt eine Wohnung im trendigen Prenzlauer Berg haben wollte. Aber zwanzig Euro netto-kalt pro Quadratmeter für eine Hinterhauswohnung; siebzig Quadratmeter, parterre gelegen, mit Blick in den Hof, bedeuteten eine Menge von Christins monatlichen Einnahmen, sodass es ihr nur logisch schien, sich die Wohnung mit Julia zu teilen.

Dennoch! So hatte sie sich das nicht gedacht. Julia lag schlafend in süßen Träumen und sie musste bis zum Morgengrauen arbeiten, weil sie sich vor Kunden nicht retten konnte. Überhaupt, was hatte Julia geschwärmt: Der Prenzlauer Berg sollte die Szene sein. Aber das war er nicht. Sie fühlte sich wie in einem Spielzeugland. Alles erschien ihr geleckt und unecht. Die Szene in die Kulturbrauerei und auf den Pfefferberg verbannt, dazwischen gähnende Langeweile der gutbürgerlichen Art. Und das alles ganz leise, jedes Kinderlachen war schon zu viel. Das einzig Echte blieben die Preise, ausgeufert wie der ganze Stadtbezirk, zu Tode gentrifiziert.

Christin schob die Tür auf und schimpfte.

„Julia! Komm endlich aus den Federn! Einkaufen warst du wieder nicht, der Kühlschrank ist gähnend leer. Und wie schlampig es hier aussieht, verdammt noch mal!“

„Na super, meckerst du wieder? Der Tag fängt ja toll an.“

Gerade hatte Julia noch vom Zirkus geträumt. Das tat sie oft. Es war eine schöne Zeit gewesen, damals. Sie hatte auf dem Gelände einen eigenen Stand gehabt und Mandeln gebraten. Das Geschäft war gut am Laufen gewesen, auch wenn die Arbeit hart und das Geld wenig war. Der wahre Lohn war die Freiheit gewesen. Sie hatte selber bestimmen gekonnt.

„Ich meckere nicht, ich stelle fest.“

„Nee, nee, du meckerst gar nicht. Wie komm’ ich bloß darauf? Jeden Tag muss ich mir deine scheiß Leier von Eltern und Provinz anhören, den Mief einer Familie, und du glaubst, dass ich nicht häuslich wäre. Es geht immer nur um dich und dein blödes Kaff. Ich kann diese Kacke nicht mehr hören. Hat’s dich schon mal interessiert, woher ich komme? Nee, noch nie! Ich wäre froh gewesen, hätte ich ein Elternhaus gehabt, so wie du, egal wo, selbst wenn es in der tiefsten Pampa gelegen hätte.“

Julia griff nach dem Tabak auf dem Tisch und begann, sich eine Zigarette zu drehen.

„Und rauchst du bitte nicht in der Wohnung! Der Gestank ist ja nicht zum Aushalten.“

Julia zündete sich die Zigarette an und stieß Christin den Qualm entgegen.

Dann Stille und Schweigen. Beide schienen zu müde für weitere Attacken zu sein.

„Ich bin in Berlin, in Neukölln geboren“, begann Julia leise. „Wusstest du das eigentlich? Nein, wusstest du natürlich nicht. Aber ist auch egal, selbst als echte Berlinerin hat es die Sache kein bisschen besser gemacht. Du hast doch keine Ahnung, Christin, gar keine!“ Julia legte die Arme um die Knie. „Ich weiß ja nicht mal, wer mein Vater ist. Rein biologisch muss ich einen haben, aber das ist schon alles, was ich über ihn weiß.“

Christin versank in einem der Sessel, schloss die Augen und stöhnte.

„Ist ja gut, entschuldige. Aber diese ständige Müdigkeit bringt mich noch mal um. Du kennst doch die Chefin. Ich muss solange bleiben, wie die Kunden es wollen. Da kennt sie keine Gnade. Und es ist auch mein Ehrgeiz, weißt du, ich will ja die Kunden, ich will ihr Geld. Nur stresst es eben. Viel mehr, als ich vertragen kann.“

Julia rauchte in kräftigen Zügen.

„Tja, das ist nicht mein Problem. Nicht, dass ich neidisch bin, aber toll fühlt es sich nicht an, wenn die Männer auf dich fliegen und ich sitze da, weil mich keiner haben will.“

Christin öffnete ein Auge und sah Julia an.

„Ja nun, ganz so ist doch auch nicht, oder? Dafür hast du früher Schluss und kannst schön ausschlafen. Und weißt du noch was, Julia, du könntest mehr aus dir machen. Versuch’ es doch mal! Das ganze Bad steht voller Schminkzeug. Die Männer werden’s dir danken. Vom Geld will ich gar nicht erst reden.“

Sie schloss wieder die Augen. Julia rauchte.

„Und deine Mutter?“, fragte Christin nach einer Weile.

„Ach, mit der habe ich auch kein Glück gehabt. Dunkel kann ich mich an sie erinnern, aber vielleicht auch nicht, nicht wirklich. Vielleicht wünsche ich es mir nur, mich erinnern zu können, weil man meine Mutter in eine Nervenheilanstalt gebracht hat, als ich noch ganz klein war. In dieser Anstalt ist sie dann gestorben.

Also bin ich bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine Omi ist gut zu mir gewesen, die Einzige, die je gut zu mir war, solange ich klein war.

Mein Opa jedoch war merkwürdig. Immer roch er nach Schnaps und hat mich so komisch angeguckt. Als ich einmal allein mit ihm war, hat er mir das Kleidchen ausgezogen und mich überall angefasst. Ich habe noch nicht verstanden, was das sollte, und habe der Omi davon erzählt. Danach hat sie darauf aufgepasst, dass ich mich von ihm fernhielt, zumindest, wenn sie nicht dabei war. Das ist mir auch nicht schwergefallen, da er sowieso nie zu Hause war, immer geschäftlich unterwegs. Omi hatte vorausgesagt, dass diese Geschäfte ihn noch mal ins Gefängnis bringen würden, ohne dass ich je erfuhr, was das für Geschäfte waren. Aber genauso ist es gekommen. Er landete eines Tages im Gefängnis und ist da gestorben.“

„Echt jetzt? Das hast du wirklich noch nie erzählt. Du erzählst überhaupt wenig von früher“, rief Christin überrascht.

„Warum auch. Ich war von klein an auf mich gestellt, da gibt’s nichts zu erzählen. Es mag schon sein, dass ich deshalb zur Kratzbürste geworden bin, die sich von niemanden etwas sagen lässt. Und ich weiß, dass mein Eigensinn schon in der Schulzeit nicht gut angekommen ist. Später, in der Lehre zur Bäckerin, hat sich das dann noch verschlimmert. Ja, richtig gehört, ich bin Bäckerin. Da guckst du, was? Ich Unhäusliche backe zehn Mal besseren Kuchen als du.

Aber letztlich war mir das zu doof. Ich habe die Lehre abgebrochen und bin beim Zirkus gelandet. Ich liebte meinen Mandelstand, habe endlich alles so machen gekonnt, wie ich es wollte.“

Christin öffnete wieder ihre Augen und drehte sich Julia zu.

„Das kannst du immer noch“, begann sie, „das liegt ganz bei dir. Du musst die Männer nur richtig zu nehmen wissen, dann fressen sie die aus der Hand, glaub mir.“

Julia ging ins Bad unter die Dusche. Sie hatte Gewissensbisse, fühlte sich schuldig, sich übernommen zu haben. Ohne Christins Hilfe würde sie das alles nicht schaffen. Dabei war es doch Christin gewesen, die gesagt hatte, dass das Geldverdienen im Rosalie die einfachste Sache der Welt wäre. Aber für Julia war sie das nicht. Es war harte Arbeit im Schichtsystem, die ihr nur selten Spaß machte. Doch damit konnte sie bei Christin nicht landen. Die war aus anderem Holz gemacht. Sie empfand die Arbeit nicht als hart und Spaß machte sie ihr auch. Schließlich verkaufte sie nur ihren Körper, aber ihre Seele verkaufte Christin nie. Und sie fand Gefallen an diesem Rollenspiel. Es war wie Schauspielerei, wie im Film, und sie hatte die Hauptrolle, war der Star.

Julia beobachtete die Wassertropfen, die auf ihrer Haut herunterliefen. Nein, dick war sie nicht. Nicht einmal mollig. Nur war sie halt deutlich kleiner als Christin, hatte nicht die endlos langen Beine, war nicht so athletisch durchtrainiert. Und ja, sie mochte all die Schminke und das Glitzerzeug nicht leiden. Sie war eher eine unauffällige Brünette mit einem sehr schön gezeichneten Gesicht.

Die vielen Streitereien mit Christin machten ihr zu schaffen. Es fühlte sich wie Wettstreit an. Einen Wettstreit, den sie nicht wollte, der aber da war. Immer brachte sie weniger Geld nach Hause. Immer fühlte sie sich wie eine Verliererin. Das war unfair. Nicht jedes Mädchen konnte so schön wie Christin sein. Und von den Männern war das auch unfair. Immer wollten sie lieber Christin haben.

Julia hüllte sich in das Badehandtuch ein, als ein Lächeln über ihr Gesicht glitt. Es stimmte wirklich, das Bad wurde vom Schminkzeug regelrecht geflutet, egal, wohin der Blick auch fiel. Das hatte sie so noch nie bemerkt.

Christin war inzwischen im Sessel eingeschlafen, ohne sich auszuziehen. Julia deckte sie zu und ging in die Küche. Oh ja, der Kühlschrank war gähnend leer. Kaffee und Müsli mussten reichen. Vor dem Küchenfenster stritten die Spatzen noch immer um ein Stückchen Brot. Die hatten wenigstens welches.

Im Tagtraum versunken dachte sie bei qualmender Zigarette an den Zirkus. Sicher, dort war die Arbeit noch härter gewesen als im Rosalie. Die ganze Romantik, diese gespielte Märchenwelt, alles war nur Show. Selbst wenn Julia das damals oft nicht hatte wahrhaben gewollt, weil sie ihren Job geliebt hatte. Aber die Arbeit der Zirkusleute war in Wahrheit eine brutale. Jeden Tag trainieren und nochmals trainieren. Am Abend dann der Auftritt. Die Tiere mussten rund um die Uhr versorgt werden. Einen Sonnabend oder Sonntag gab es da nicht. Dazu dann noch das viele Rumgereise, wenn der Zirkus auf Tournee war. Da hatte sich Julia so manches Mal heimatlos gefühlt. Ein Leben aus dem Koffer heraus, keine wirkliche Bleibe, mit einem Idealismus ohne Gleichen, sogar bis in den Tod hinein. Einem Dompteur hatten sie den Arm abnehmen müssen, weil er von einem Löwen gebissen worden war. Und dann war da noch die Heidi. Die schöne Heidi! Eine Meisterin am Trapez. Bei einer kleinen Routineübung ohne Sicherung war sie abgestürzt, das Aufschlagen im Sand der Manege fast lautlos. Schlimm hatte es nicht ausgesehen, nur ihr Kopf war so seltsam nach hinten verdreht. Sie hatte sich das Genick gebrochen.

Und doch gab es das Publikum. Die leuchtenden Kinderaugen, für die allein all die vielen Mühen wert waren. Die Freude der Eltern, ihren Kleinen etwas Großes zu bieten. Die feinen Herrschaften. Wohlhabende Herren mit feinen Damen an der Hand, die sich etwas Besonderes gönnen wollten. Julia hingegen hatte am Herd gestanden, um gebrannte Mandeln zu verkaufen, und sich dabei wie auf der falschen Seite gefühlt. Das alles war der Zirkus, das alles war die Show.

Selbst heute noch fühlte sie sich, als stünde sie auf der falschen Seite. Das Rosalie jedenfalls konnte ihr nicht helfen. Auch dort war alles nur Show, auch dort gab es die reichen Herren, aber Julia schaffte es wieder nicht, auf deren Seite zu sein, obwohl sie doch zusammen das Bett teilten. Dabei hatte sie sich das so sehr gewünscht. Stundenlang hatte sie damals dagestanden, zum Zirkuszelt hinübergeschaut und die gleichen Gedanken im Kopf gehabt: von einem Mann schick ausgeführt zu werden, stets genügend Geld zu haben, immer auszuschlafen. Doch diese Wünsche hatten sich nie erfüllt.

Plötzlich, eines schönen Tages hatte Christin vor ihr gestanden, um gebratene Mandeln zu kaufen. Viel los war an diesem Abend nicht, sodass die beiden ins Gespräch kamen. Julia hatte in einer Ecke ihres Mandelstandes etwas Schampus kühl gestellt, für besondere Gäste, die sich tatsächlich ab und an vom Zirkus begeistern ließen.

Christin war pausenlos am Erzählen, über das Zittern in ihren Beinen, so stark, bis die Füße wund und der Schmerz in den Knien und dem Rücken nicht mehr auszuhalten war. Was für eine Quälerei! Was für eine miese Bezahlung in diesem Haarstudio, weswegen sie extra nach Berlin gekommen war. Das Trinkgeld der Kunden immer weniger werdend.

Aber auch Julia hatte nur noch klagen gekonnt, weil Aufwand und Nutzen ihrer Arbeit völlig ungleich waren. Ach ja, und die Kerle könne man sowieso vergessen, auf die wäre eh kein Verlass. Besser, man würde sein eigenes Ding machen, waren sich die beiden schnell einig. Etwas später, als sie schon einen ziemlichen Schwips hatten, nahm Christin all ihren Mut zusammen und drückte ihr eine Zeitungsanzeige in die Hand.

„Weißt du, was das ist?“

„Rosalie“, las Julia das Großgedruckte laut vor.

„Ja, das Rosalie. Das ist ein feines Edelbordell in Kreuzberg!“

„Nee, nee, nee, du spinnst doch! Das ist nicht dein Ernst, oder?“

„Und wie es das ist! Ich habe keinen Bock mehr auf diese Quälerei. Das ist doch alles Scheiße. Du schuftest tagein, tagaus. Und für was? Für die paar Kröten? Machst du keinen Sex, Julia?“

Christin legte ihr Smartphone zur Seite, um Julia direkt in die Augen zu sehen.

„Klar mache ich Sex. Aber doch nicht so.“

„Was soll das heißen, nicht so? Mir ist das egal, ob so oder so. Sex mache ich sowieso. Und wenn ich dafür noch Geld kriege! Warum nicht? Wenn der eine oder andere Kerl dann auch noch okay ist, macht das Ganze sogar Spaß.“

Julia wurde unsicher und blickte verlegen auf ihr Sektglas.

„Und schön bin ich außerdem. Also, wo ist das Problem?“ setzte Christin nach.

Julia war hin- und hergerissen, es klang verlockend.

„Trotzdem, Christin, Sex gegen Geld. Wenn das einer mitkriegt. Die Freunde und so, weißt du?“

Christin drückte ihren Rücken gegen die Stuhllehne und atmete lang aus.

„Daran habe ich auch schon gedacht. Meine Alten würden einen Herzinfarkt kriegen, würden sie davon erfahren.“

Julia zündete sich eine Zigarette an.