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Mit Briefen und Fotos ihres Großvaters im Gepäck begibt sich die Erzählerin auf eine Reise in die Vergangenheit: Dr. Alfred Woldt, Sohn eines kaiserlichen Bahnbeamten aus Pommern, muss gleich nach der Abgabe seiner Doktorarbeit an die Front.Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches zieht es ihn nach Berlin, wo er der Liebe seines Lebens begegnet. Doch schon bald legt sich ein brauner Schatten über die ersehnte Freiheit...
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Marion Hartmann
Bernsteinliebe
Zwischen preußischem Gehorsam und Lebenslust
Biografischer Roman
Literki Verlag
Für meinen Oheim
Prolog
Maikäfer, flieg!
Ich riech schon wieder Krieg.
Ich sitze grad im Pommerland.
Pommerland war abgebrannt.
Maikäfer, flieg!
Maikäfer, flieg!
Sie glauben noch an Sieg.
Kaum ist es wieder aufgebaut,
Krakelen Nazis wieder laut.
Maikäfer, flieg!
Taube, hab acht!
Ein Feind wird ausgedacht.
Dann schürt man Hass und schimpft auf ihn.
So wird der Mord dann legitim.
Taube, hab acht!
Sei nicht naiv!
In Polen läuft was schief.
In Deutschland tobt die AfD.
Warum tut mir mein Herz so weh?
Friedenszeit, ade?
Im Zug
Das Rollen der Räder unter mir, das etwas ungleichmäßige Ruckeln des Waggons auf den Gleisen hat etwas Beruhigendes und gleichzeitig etwas Aufwühlendes für mich. Noch immer fällt mir Zugfahren schwer, Jahre nachdem ein Zug mein Leben von Grund auf verändert hat. Ich schaue aus dem Fenster und sehe die Häuser der sich ins Umland fressenden wachsenden Stadt an mir vorüberziehen, Berlin von hinten. Oft ehrlicher als von vorn betrachtet. Die Wohnblocks weichen kleineren Häusern, Gärten, Lauben, bis das freie Feld beginnt. Endlich unterwegs. Allein mit mir und meinem Vorhaben. Ich hole das alte Fotoalbum aus meinem Rucksack und den Ordner mit Opas Briefen. Schon als Kind haben sie mich fasziniert, genauso wie die Geschichten meiner Mutter über diese Briefe, die sie sorgsam in einer Schachtel aufbewahrte, obwohl sie sie nicht lesen konnte, denn die zarte Sütterlin Handschrift ihres Vaters hatte sie nie gelernt.
Keine Ahnung, wie und wann ich diese Schrift gelernt habe, wohl in der ersten Schulzeit, als unsere Großmutter uns Kinder versorgte, wenn unsere Mutter auf der Arbeit war. Jedenfalls meine ich, ich konnte sie schon immer lesen. Also habe ich als Geburtstagsgeschenk für meine Mutter all diese Briefe mit Schreibmaschine abgetippt und bin dabei innerlich mit meinem Großvater immer wieder diese Strecke gefahren: Berlin-Rügenwalde und zurück, denn hier, auf dieser Linie und in Rügenwalde, wo er seine Eltern besuchte, hat er sie geschrieben.
Neun lange Jahre waren meine Großeltern verlobt und durften nicht heiraten, weil seine Mutter ihren Segen dazu nicht geben wollte. Ehrfürchtig bestaunte ich so oft den rotgoldenen Verlobungsring mit den drei Smaragden und den kleinen Brillanten an der Hand meiner Großmutter, dieses wunderschöne Zeichen einer unerschütterlichen Liebe. Liebevoll berühre ich die Steine des Ringes jetzt an meiner eigenen Hand, die seit dem Tod meiner Mutter plötzlich aussieht wie die ihre. Meine Töchter haben es mit Erstaunen kurz nach ihrem Tod bemerkt: „Mama, deine Hände sehen ja plötzlich aus wie Omas!“ Vielleicht liegt es an ihren Ringen, die ich seither getragen habe und von denen nun einer nach dem anderen an meine Töchter geht. Eigentlich wollte ich sie ihnen jeweils zur Hochzeit oder zur Geburt des ersten Kindes geben, aber die Dinge kommen ja oft anders, als wir sie planen. So haben sie die beiden Großen zum Abschluss ihres Studiums bekommen, die Jüngste wird vielleicht im nächsten Jahr diesen alten Verlobungsring ihrer Urgroßmutter erhalten.
Nein, ich habe absichtlich keinen schnelleren Zug gewählt, ich will mir Zeit für diese Reise nehmen. Nie wurde Opa müde, seine Mitreisenden zu beschreiben, sich Geschichten über sie auszudenken, die er seinem geliebten „Dickerchen“ schrieb. So betrachte ich heute die junge Frau, die mir gegenübersitzt und vergleiche sie mit der jungen Dame, die vor fast hundert Jahren meinem Großvater gegenübersaß. Selten genug, dass ein so junges Mädchen überhaupt allein reiste. Ich überlege, wie sie wohl reagieren würde, wenn ich sie anspräche, wie das früher im Zug üblich war. Vermutlich gar nicht, denn sie hat Stöpsel im Ohr und ist mit ihrem Smartphone beschäftigt, die Jeans haben gezielt geformte Löcher an den Oberschenkeln, durch die die braune Haut blitzt. Sie bewegt die vollen Lippen lautlos. Vielleicht singt sie innerlich beim Song aus dem Handy mit? Oder sie telefoniert mit ihrem Freund, der schon seit einem halben Jahr in Neuseeland mehr „travelled“ als „worked“? Ihre schwarzen krausen Locken sind zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengebunden, an den Ohrläppchen baumeln große goldfarbene Creolen. Der Zug verlangsamt seine Fahrt, sie steht auf, schnappt ihren Rucksack und springt auf den Bahnsteig, wo sie eine andere junge Frau umarmt, die sie wohl erwartet hat. Sie küssen sich innig. Arm in Arm gehen beide zum Ausgang. Der Zug rollt wieder an.
Die alte Zeit
Am Bahnsteig herrscht helle Aufregung. Er ist abgesperrt, Soldaten stehen Spalier. Ihre Helme blitzen in der Sonne. Nie zuvor hat es so etwas in Rügenwalde gegeben. Ein roter Teppich liegt auf dem Bahnsteig. Alfred Woldt ist sehr aufgeregt, als er seinen Zug langsamer werden lässt. Ihm obliegt die schwierige und ehrenhafte Aufgabe, den Zug genau dort zum Stehen zu bringen, wo seine Majestät, der Kaiser Wilhelm I., seinen Fuß auf diesen roten Teppich setzen wird. Undenkbar, dass er auch nur einen Schritt auf dem nackten Boden gehen sollte! Er hält. Die Türen des kaiserlichen Abteils öffnen sich exakt am Beginn des roten Teppichs. Der kaiserliche Bahnbeamte wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Seine Majestät schreitet mit seinem Gefolge langsam zum Ausgang, wo die Kutsche auf ihn wartet, die ihn nach Rügenwaldermünde ins Kurhaus Friedrichsbad bringen wird, wo er seinen Sommerurlaub verbringen möchte. Vom Ausgang her ertönen die Willkommensrufe des Volkes auf der Straße. Als der Trubel vorüber ist, klettert Alfred aus der Lok, nimmt seine Tasche und verlässt über den Nebenausgang den Bahnhof. Hier steht mit glänzenden Augen sein Sohn, ein Fähnchen in der Hand, mit hochroten Backen. An diesem Tag beschließt der Kleine, wie sein Vater Lokführer zu werden. Vielleicht darf er dann auch einmal den Kaiser fahren. Die Mutter hält ihn bei der Hand. Mit gemessenem Schritt im Bewusstsein seiner besonderen Bedeutung an diesem Tag nähert sich Alfred seiner Familie und begrüßt die Gattin mit einem freundlichen Kopfnicken, danach seinen Sohn. „Wir sind sehr stolz auf dich, Alfred“, sagt die Mutter mit einem leichten Lächeln, bei dem sich nur ein Mundwinkel hebt. Alfred Junior kann sich nicht mehr bremsen und will den Vater mit Fragen nach dem Kaiser bestürmen, aber die Mutter ruft ihn streng zur Ordnung. Der Vater müsse sich jetzt ausruhen nach diesem aufregenden Tag.
Alfred Junior hatte es Jahre später tatsächlich ebenfalls zum kaiserlichen Bahnbeamten gebracht. Aber nachdem Friedrich, der Sohn von Wilhelm I., in Rügenwaldermünde beinahe in der Ostsee ertrunken wäre, kam der Kaiser nicht mehr dorthin. Dennoch liebte Alfred seinen Beruf und erzählte immer wieder gern von den kaiserlichen Besuchen. Inzwischen war er selbst verheiratet, Vater von zwei Kindern. Die Tochter war schon groß, fast eine junge Dame. Sein Sohn, der neue Alfred Junior, hatte ihn zum Senior gemacht und würde bald die Lateinschule besuchen. Früher wohnte die Familie noch in der Stadt, in der Langen Straße, gleich neben Fleischer Müller, der diese leckere Teewurst machte, in der kleinen niedrigen Wohnung, in der er selbst aufgewachsen war. Aber nach Alfreds Beförderung konnten sie sich ein Haus leisten, mit zwei Stockwerken, separaten Kinderzimmern, einer Mädchenkammer und einem Salon mit einem Klavier darin. Es war von einem großen Garten umgeben, in dem alte Obstbäume Schatten spendeten. Die Beete waren von kleinen Hecken umgeben. Zwischen ihnen konnte man spazieren gehen wie in einem Park. Der einzige Nachteil bestand darin, dass dieses Haus einige Kilometer von der Stadt entfernt lag, so dass der Vater zum Bahnhof und die Kinder in die Schule laufen mussten.
Es ist Abend. Der Tisch ist bereits gedeckt, das Mädchen hat das Tafelsilber poliert, die kristallenen Gläser glänzen. Die Familie setzt sich zu Tisch. Das Mädchen trägt die Suppe herein, die Mutter füllt Vaters Teller zuerst. Während des Essens herrscht meist Schweigen, nur gelegentlich tauschen Mutter und Vater einige Sätze aus. Nach dem Essen begibt sich der Vater mit seiner Pfeife ins Herrenzimmer ans Rauchtischchen. Jetzt darf Alfred Junior erzählen und Fragen stellen, sogar auf Vaters Knien sitzen, was die Mutter mit leichter Missbilligung kommentiert: „Bist du dafür nicht langsam etwas zu groß, Alfred? Im Sommer kommst du auf die Lateinschule!“ Erika setzt sich ans Klavier und spielt leise Salonmusik. „Erika hat wirklich Fortschritte gemacht im letzten Jahr“, meint die Mutter und stellt ihre Mokkatasse ab. Sie wendet sich an ihre Tochter: „Zeig doch deinem Vater die neue Stickerei, die du gestern fertig gestellt hast, Kind!“ Als Erika das Zimmer verlässt, beugt sie sich zu ihrem Mann: „Alfred, wir sollten sie in diesem Herbst mit auf den Beamtenball nehmen, es wird Zeit, dass sie die jungen Männer der Gesellschaft kennenlernt. Immerhin ist sie schon sechzehn. Sie soll schließlich keine alte Jungfer werden.“ – „Meinst du nicht, wir sollten damit noch ein Jahr warten? Sie ist doch noch ein Kind“, erwidert der Vater. Aber die Mutter schüttelt nur stumm den Kopf. Alfred Junior rutscht von den Knien seines Vaters und huscht die Treppe hinauf ins Zimmer seiner Schwester: „Mutter will dich verheiraten!“, verkündet er der Schwester, die einen hochroten Kopf bekommt. „Ich will aber nicht! Ich will auch studieren, wie du! Ich will Malerin werden. Wir haben im Lyzeum die Bilder von Caspar David Friedrich gesehen, kennst du die? Er ist hier ganz in der Nähe geboren, in Greifswald, wo du vielleicht später studieren wirst. Ich liebe seine Bilder! Schau mal, Alfred, ich zeige dir jetzt ein Geheimnis...“ Und sie holt unter ihrem Bett eine Leinwand hervor, auf der sie eine Kopie des berühmten Bildes ihres Idols von den Rügener Kreidefelsen angefertigt hat. Alfred reißt die Augen auf. „Das ist ja toll, Erika, wie herrlich du malen kannst! Zeig doch Papa lieber das Bild, nicht die olle Spitzendecke mit den langweiligen Stickereien! Dann lässt er dich bestimmt Malerin werden!“ Traurig schüttelt Erika den Kopf. „Das würde Mama nie erlauben, Alfred...“ Seufzend ergreift sie die Spitzendecke und geht wieder hinunter.
Auf der altehrwürdigen Lateinschule in Rügenwalde, die erstmals 1330 urkundlich erwähnt wird, machte Alfred Junior seine Matura. Als bester Schüler seines Jahrgangs wollte er unbedingt auf die Universität. Zähneknirschend gab die Mutter nach, die sich eine Offizierskarriere für ihren Sohn erträumt hatte. Aber dann musste er wenigstens Lehrer werden, Beamter wie sein Vater, nicht irgendeine brotlose Kunst studieren! Diese Flausen hatte sie ihrer Tochter gründlich ausgetrieben. Malerin! Heiraten sollte sie und eine ehrbare Ehefrau werden, Kinder erziehen, wie sie selbst es getan hatte. Leider fand sich trotz vieler Verehrer kein adäquater Kandidat, der sich mehr als ein paar Mal mit ihr zum Spaziergang treffen wollte. Warum nur? Sie war doch nicht hässlich, wohl erzogen und stammte aus einer angesehenen Beamtenfamilie!
Was die Mutter nicht wusste, war, dass Erika unter dem Siegel der Verschwiegenheit allen potentiellen Bewerbern erzählt hatte, dass sie keine Kinder bekommen könne, weil sie ein schlimmes Erbleiden habe. Sie werde mit großer Wahrscheinlichkeit in wenigen Jahren dick und hässlich sein, mit verformten Gelenken und kaum mehr bewegungsfähig. So sei es ihrer früh verstorbenen Großmutter ergangen, und sie habe leider vieles von ihr geerbt. Auf diese Weise hatte sie sich zwar kein Studium an der Universität erzwingen können, aber zumindest ihre Freiheit und Unabhängigkeit im ohnehin engen Rahmen der Familie erhalten können. Sie hatte Zeit zum Malen und Klavierspielen, zum Dichten und Lesen. Alfred Junior aber verließ nun Rügenwalde, um in Greifswald zu studieren. Die Trennung fiel den Geschwistern nicht leicht, waren sie doch oft eine verschworene Gemeinschaft gewesen und hatten sich ihre Geheimnisse anvertraut, die nicht für die Ohren der Alten bestimmt waren. Aber er kam an den Wochenenden ja öfters heim, das machte den Abschied leichter.
An der Universität eröffnete sich ihm eine ganz neue, grenzenlose Welt: Die Welt des Geistes, der Philosophie, der Naturwissenschaften. Wie ein Schwamm sog er alles in sich auf, besuchte neben seinen Pflichtveranstaltungen in der Altphilologie und Germanistik auch viele fachfremde Vorlesungen in Mathematik und Musikwissenschaften, Kompositionslehre, Astronomie. Sogar eine Sternwarte gab es an der Universität.
Nach dem ersten Semester rief ihn sein Lateinprofessor zu sich. Er werde jetzt in den wohlverdienten Ruhestand gehen und habe selbst keine Kinder. In ihm sehe er einen sehr begabten jungen Lateiner. Daher wolle er ihm ein wertvolles Buch vermachen, die Tragödien des Seneca, in Schweinsleder gebunden in der Variorum-Ausgabe von 1621. Bei ihm wisse er es in guten Händen. Er wünsche ihm von Herzen, dass es ihm ein treuer Begleiter sein werde. Alfred war tief beeindruckt und hielt das Buch bis zu seinem Tod in Ehren.
Sein Lieblingsprofessor, der Philosoph Lotze, förderte den jungen Woldt nach Kräften. Hatte er doch einen klaren Verstand und ein gutes Herz, eine durchaus unterstützenswerte Kombination, fand der alte Professor. Als glühender Anhänger Kants versuchte er in seinen Studenten die Kritikfähigkeit zu fördern, damit sie lernten, die eigene Urteilskraft dem preußischen Obrigkeitsdenken entgegen zu setzen. Doch um den kategorischen Imperativ wirklich zu verstehen und umzusetzen, bedurfte es eines fühlenden Herzens – und das war bei den ihm anvertrauten jungen Herren oft in viele, manchmal nahezu undurchdringliche Hüllen gewickelt.
Mit seinen Kommilitonen hatte Alfred deutlich weniger Kontakt als zu seinen Professoren. Zwar ging er manchmal abends mit in ein Gasthaus, wo die Studenten ein Bier tranken und sich unterhielten. Aber meist zog er sich frühzeitig zurück, denn der Lärm, das Gelächter und die mit fortschreitendem Abend immer derber werdenden Witze missfielen ihm. Seine Wirtin, eine Witwe, die auch bereitwillig für Alfred die Mahlzeiten zubereitete und sein Zimmer in Ordnung hielt, war sehr zufrieden mit seinem einwandfreien Lebenswandel. Hatte sie doch keinerlei Ärger mit Damenbesuchen oder einem betrunken lärmenden Untermieter.
Die Gebäude der altehrwürdigen Alma Mater waren erst vor wenigen Jahren durch neue, großzügige Backsteinbauten erweitert worden. Der Eingang zum Audimax mit seinem prächtigen rotgoldenen Treppenhaus wirkte wie eine Kathedrale. Wenn der junge Woldt in den Pausen auf dem Wall spazieren ging, konnte er seine Fakultät zu seinen Füßen sehen, und er fühlte, wie sich seine Brust weitete. Die Welt wartete auf ihn!
Für Kaiser und Vaterland
Frankreich 1917. Alfred blickt starr geradeaus. Den Blick nur nicht nach links wenden. Auch nicht nach rechts. Er feuert wie wild. Es gibt nichts mehr auf der Welt außer ihm und seinem Gewehr. Jetzt ist seine Munition verschossen. Er duckt sich, geht auf die Knie und kriecht auf allen Vieren über den leblosen Körper seines Kameraden. Sie hatten nebeneinander im Hörsaal gesessen und mit Begeisterung Lotzes Vorlesung über die Bedingungen zur freien Willensbildung gehört. Ferdinand äußerte jedoch Bedenken bezüglich der Gültigkeit einer freien Willensentscheidung beispielsweise im Kriegsfall. Da sei doch strikter Gehorsam gefragt. In dieser geistigen Haltung hatte er sich dann auch gleich nach Kriegsausbruch freiwillig zu den Waffen gemeldet, für seinen Kaiser und das Vaterland wollte er kämpfen und siegen oder den Heldentod sterben. Letzteres hatte er nun getan, direkt neben Alfred, nicht weiter von ihm entfernt als auf dem benachbarten Sitz im Hörsaal. Alfred wischt sich mit dem linken Handrücken über die Augen und kriecht weiter. Ein ohrenbetäubender Knall katapultiert ihn in eine tiefe, stille Dunkelheit.
„Docteur, il se réveille!“ Alfred hebt mühsam die Augenlider, will sehen, zu wem diese freundliche, helle Stimme gehört. Das Licht blendet ihn. Aber er kann eine junge Frau erkennen, die neben seinem Bett steht, ihn anlächelt aus warmen, braunen Augen, die genau den gleichen Farbton haben wie ihr Haar, das sie unter der Haube glatt nach hinten gekämmt und zu einem Knoten verschlungen hat. Er begreift, dass er in einem Lazarett liegt. Wie ist er hierhergekommen? Seine letzte Erinnerung besteht in dem Schaudern, als er über den Leichnam seines Kommilitonen klettern musste. Seine Arme sind verbunden, ein Bein ebenfalls. Vorsichtig bewegt er Finger und Zehen, alles funktioniert. Er will sich aufsetzen, ist aber zu schwach. Jede Bewegung schmerzt. Erschöpft schließt er die Augen und dämmert gleich wieder weg.
„Liebe Frau Mutter, lieber Herr Vater! Lange habt ihr nichts von mir gehört. Sicher macht ihr euch große Sorgen. Seid aber nun froh und stolz auf euren Sohn, denn man hat mir das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen und mich zum Leutnant befördert. Ich wurde verwundet und war der einzige Überlebende meiner Kompanie. Wenn es euch möglich ist, überbringt bitte Ferdinands Familie die folgende traurige Nachricht. Ferdinand starb neben mir im Schützengraben heldenhaft für unser Vaterland. Richtet bitte auch meiner Schwester Erika die allerherzlichsten Grüße von mir aus. Ich hoffe, sie bald wieder umarmen zu können. Seid auch ihr herzlich gegrüßt von eurem Sohn Alfred.“
Stellungskrieg. Warten in den Schützengräben, immer wieder warten. Schauspielertruppen zogen durchs Land, um die Soldaten bei Laune zu halten. Wie skurril das alles war, die lachenden Soldaten in Uniformen mit jungen „Feindinnen“ im Arm.