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Marion Hartmann, seit dreizehn Jahren Grundschullehrerin in Berlin, plaudert aus dem Nähkästchen und erzählt mal humorvoll, mal abgekämpft und entnervt aus ihrem Schulalltag. Sie beschreibt liebevoll Charaktere, gemischt mit einer Prise Eigenhumor. "Lehrkraft voraus!" ist eine Art Tagebuch, Ähnlichkeiten mit realen Personen sind gewollt und mögen der Autorin verziehen werden. Im Schulalltag menschelt es sehr und gleichzeitig macht es den Beruf liebenswert und wertvoll, wahlweise erträglich. Nach einigen ernsthaften Erkrankungen entscheidet sie schweren Herzens, sich aus der Vollzeitarbeit in der Schule zu verabschieden, noch einige Stunden mit Kindern zu arbeiten und ihre Erfahrungen in der Fortbildung weiterzugeben.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Nach drei veröffentlichten Büchern, die Gesundheitsthemen behandeln, schreibt Marion Hartmann über das Leben, über Beobachtungen, die sie im Alltag macht und plaudert als Grundschullehrerin aus dem Nähkästchen, liebevoll und mit einer Prise Eigenhumor. Sie beschreibt Begebenheiten, Schüler- und Lehrer/-innentypen und, wie Schule funktioniert, auch unter widrigsten Umständen.
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1966 in Paderborn geboren, wuchs sie auf dem Land auf. Nach dem Abitur studierte sie ihrer kreativen Neigung entsprechend Design und arbeitete danach als Innenarchitektin, Farbgestalterin und Spielplatzplanerin. Seit 2010 ist sie als Grundschullehrerin in Berlin tätig. Ihre ersten beiden Bücher „Hüft-OP... Sepsis... Koma: Zurück ins Leben nach dem Krankenhauskeim“ und das Kinderbuch „Was ist eigentlich Krebs?“ sind 2019 erschienen, das Buch „Tumor Talk“ folgte 2020. „Line und die Staubmäuse“, ein Kinderbilderbuch, folgte 2023, „Was ist ein Virus?“ 2024.
Marion Hartmann
Lehrkraft voraus!
© 2024 Marion Hartmann
Text, Coverdesign, Satz, Layout: Marion Hartmann
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
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ISBN 978-3-384-31652-3 (Softcover)
ISBN 978-3-384-31653-0 (Hardcover)
ISBN 978-3-384-31654-7 (E-Book)
ISBN 978-3-384-31655-4 (Großdruck)
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Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Die Corona kommt mir nicht ins Haus
Schule in Zeiten von Corona
Vertretungsstunden
Schülerinnen und Schüler
Der/die Grundschullehrer/-in an sich
Eltern
Unterricht und andere Kleinigkeiten
Leistungsbewertung
Fortbildung und Gremien
Die Senatsbildungsverwaltung
Innere und äußere Zustände einer Lehrerin
Rückblick und Nachdenkliches
Innere und äußere Zustände - Anekdoten
Alltägliches
Mutter Kurage
Kur in Ückeritz 2021
OP und Kur in Berlin
Reisen
Rundreise mit dem Bus
Nur Fliegen ist schöner
Falls Sie die erste Seite gelesen haben, steht dort, dass ich endlich, nach drei Büchern über ein anderes Thema schreibe, als über Krankheiten. Jetzt fange ich ausgerechnet mit Corona an! Aber diese blöde Corona beschäftigt uns schon seit März 2020. Hat denn irgendjemand geahnt, dass die Prophezeiung des damaligen Gesundheitsministers ernst zu nehmen war? Im März 2020 bekamen wir vom Senat, welcher sozusagen mein Chef ist, die Ansage, dass die allgemeinbildenden Schulen vorläufig drei Wochen vor den Osterferien geschlossen würden und, so dachten alle in der Schule Tätigen, dass sie nach den Ferien wieder geöffnet würden. Wir druckten gefühlt tonnenweise Arbeitsmaterialien und Wochenpläne aus und gaben sie den Kindern mit nach Hause, damit sie dort das sogenannte SaLzH praktizieren. Für die nicht Wissenden unter Ihnen: SaLzH bedeutet Schulisch angeleitetes Lernen zu Hause. Wir wurden völlig unvorbereitet in die Lernplattform der Universitäten mit aufgenommen und fanden uns in schlecht funktionierenden Videokonferenzen mit einzelnen, IT-technisch gut aufgestellten Kindern mit ihren Eltern wieder. Dazu wurde von der Bildungsverwaltung gefordert, dass wir mit allen Kindern mindestens zweimal pro Woche im direkten Austausch stehen sollten, was bedeutete, mit ihnen zu telefonieren. Bei vierundzwanzig bis achtundzwanzig Kindern pro Klasse im Schnitt blieb wenig Zeit, Unterrichtsinhalte zu besprechen oder zu transportieren. Was meine Gesundheit anging, stand ich, nicht allein, völlig im Dunkeln. Deshalb behielt ich meine Kurse sowohl privat als auch in der Volkshochschule, Feldenkrais und Pilates, bei.
Entschuldigung, ich kann mich einfach nicht entspannen, wenn die Mitübenden ständig von ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen live, vor allem zeitnah, berichten, damit wir es alle teilen können. Sehr schön! Liebe Leserinnen und Leser, sie kennen das bestimmt: frau/man liegt in einem dieser Entspannungskurse, Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Feldenkrais und viele mehr, und bemüht sich redlich, zu sich zu finden, auf sich selbst zu hören, in sich hinein zu fühlen. Ich für meinen Teil habe es dafür gern ruhig, aber da schnarcht schon die oder der Erste tiefenentspannt vor sich hin. In der Wohnung über unserem Übungsraum rumpelt jemand, läuft laut hin und her, aus einer Nachbarwohnung dringen Bohrgeräusche an mein Ohr. In dieses gefühlte Durcheinander berichten beschriebene Teilnehmende live und ungefragt davon, dass sie etwas in ihrer Lendenwirbelsäule spüren. Fein! Wir freuen uns alle gemeinsam. Aber vielleicht wollen wir es nicht alle hören? Die Kursleiter/-innen beim Feldenkrais machen verbale Angebote, um die Wahrnehmung der Teilnehmenden zu wecken. Das geschieht oft in Form von rhetorischen Fragen, rhetorisch, weil frau/man sie still für sich beantworten kann und die herausgefundenen Erfahrungen nicht allen mitteilen muss. Bisweilen sind die Anleitenden schon froh, wenn sich bei manchen Teilnehmenden überhaupt irgendetwas regt, und wenn es der Mund ist. Entschuldigung an alle Gesundheitsbewussten, die diese Zeilen lesen.
Ein älterer Mann mit Hund auf dem Gehweg ist so abgelenkt von einer Baustelle, dass er mir näher als 1,5 m Sicherheitsabstand rückt. Diese kleine Begebenheit löste in der anfänglichen Corona-Zeit Panik bei mir aus. Es wusste niemand, wie ihm beziehungsweise ihr geschah. Es gab selbstgenähte und gebastelte Masken, den Maskenskandal, bei dem einhunderttausend georderte FFP2-Masken aus dem Ausland abgezogen wurden, Bauanleitungen im Internet, wie man aus schnöden Kaffeefiltern eine Maske herstellt, und so weiter. Mittlerweile bin ich entspannter, wenn mir draußen an der frischen Luft Menschen näher als die bekannten 1,5 Meter kommen.
Ich fahre das letzte Stückchen mit dem Fahrrad entgegen der Fahrtrichtung vorsichtig auf dem Gehsteig, der schon „überfüllt“ wirkt, nach Hause. Ein Ehepaar steht in der Mitte des Gehsteigs, dahinter eine Familie mit Kinderwagen und im Hauseingang steht eine Frau. Sie spricht mich an, warum ich auch noch auf dem Gehweg fahre und nicht auf der Straße, man könne kaum den Sicherheitsabstand einhalten. Ich brumme vor mich hin, steige ab und schiebe mein Fahrrad, um keine Diskussion zu entfachen. Aber ein bisschen verrückt wäre die Frau schon, stellte der junge Vater mit Kinderwagen fest, als wir außer Hörweite waren.
Heute habe ich einen Koller! Ständig zuhören, wie alle genervt voneinander sind. Sich aus dem Weg gehen ist oft meine Devise. Toll! Ich gehe mir schon mein ganzes Leben gefühlt erfolgreich aus dem Weg, ist als Single kein Problem. Ich erreiche nicht mal die Obergrenze des Kontaktverbots. Wer lebt mit mir in meinem Haushalt, den ich nicht zum Picknick mitnehmen darf? Mein Teddybär? Haha! Das ist unfair, aber ich mag gerade ins Universum reinjammern! Ich bin traurig. Es ist trübe und nieselt, passt zu meiner Stimmung! Aber Gedanken helfen mir, je verrückter desto besser. Morgen gehe ich Klopapier einkaufen! Die Vorstellung zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht und schon wird es draußen ein bisschen heller. Der Nieselregen hilft auch den Pflanzen in meinem Schrebergarten.
Es besteht das Vorurteil, dass Männer in Naturwissenschaften und Mathematik besser ausgebildet sind als Frauen. Da wundert es mich schon, dass es ihnen scheinbar nicht gelingt, den Sicherheitsabstand von 1,5 Metern abschätzen und erfolgreich einhalten zu können. Egal wo, ob es auf dem Gehweg, auf dem Fahrradweg oder im Geschäft beim Einkaufen ist, sie bemerken es meistens nicht, wenn sie mir zu nahekommen.
Ich sitze bei meinem Hausarzt im Wartezimmer. Es gibt Patient/-innen, die sich normal kleiden. Sie tragen eine Hose, ein Oberteil, eine Jacke und Schuhe, ich gehe nicht weiter ins Detail. Es gibt andere Patient/-innen, die eher legere Jogginghosen, Turnschuhe oder ähnliches tragen, am helllichten Tag, gerne in hellgrau, leicht schmuddelig. Diese sehen nicht so aus, als ob sie direkt nach Verlassen der Arztpraxis den Berlin-Marathon laufen würden. Diese zweite Gruppe bevölkerte heute Morgen das Wartezimmer meines Hausarztes. Zu meinem Glück kam eine ältere Dame nach dem ersten Muster gekleidet aus dem Behandlungsraum und ein älterer Herr neu dazu, der sich mir gegenübersetzte und freundlich durch die Maske grüßte. Ich erwiderte seinen Guten-Morgen-Gruß. Vom Jogginghosen bekleideten Teil der Wartenden war nichts zu hören, pardon, nichts anderes zu erwarten. Darüber hinaus gibt es die Patient/-innenwartegruppe, die von ihrer Bekleidung her unauffällig, eher gut angezogen, aber gerne in Begleitung kommt. Wenn jemand bewegungseingeschränkt ist, eventuell im Rollstuhl sitzt und eine Begleitperson braucht, ist das für mich in Zeiten von Corona überhaupt kein Thema. Aber wie soll denn bitte schön der kleine Luftreiniger im Wartezimmer der Hausarztpraxis noch den Atem der Angehörigen mit ausfiltern? Denn die atmen die Praxisräume überflüssigerweise auch aktiv voll. Muss das denn sein? Vielleicht kann der ganze Clan mit anrücken und im Wartezimmer ein wenig Picknick machen, wie ich es vor Jahren in einem Krankenzimmer erlebt habe. Da lag meine Mutter frisch operiert in einem Zweibettzimmer und zu ihrer Bettnachbarin kam mittags die gesamte Familie mit ungefähr zehn Personen und sie brachten sechs Tüten mit Döner mit ins Zimmer, unglaublich!
Nach der Morgentoilette, Frühstück, und fünfzig Minuten Training mit Textideen für ein neues Lied für den Chor steht heute ein Arzttermin an. Wenigstens ist es trocken und es wird hell. Ich schaffe es bestimmt, das Formular „Hamburger Modell" für meinen Wiedereinstieg ins Berufsleben in der Krankenkassen-App hochzuladen. Ich scanne es als PDF, kann es aber, wie es oft ist, nicht speichern, beziehungsweise bin ich technisch gerade zu blöd, es wiederzufinden. Ich öffne die Krankenkassen-App, schreibe den Mail-Text, drücke auf Anhang hinzufügen, bis hierhin ist die Welt noch in Ordnung. Ich bekomme die Wahl zwischen „Fotografieren“ oder „Dokument hochladen“ angeboten. Das Dokument finde ich nicht, und ich würde mich schon als technikaffin bezeichnen, wähle folgerichtig das Fotografieren. Der Hintergrund ist zu dunkel, es ist zu klein, bitte nicht wackeln, was denn noch? Ich laufe, inzwischen genervt, mit dem Formular ins Arbeitszimmer und versuche es erneut. Aber hier stürzt mein Handy einfach ab. Die Zeit wird knapp und ich werde hektisch. Daran sehe ich, dass ich nicht ganz so belastbar bin, wie vor der OP. Ich packe alles ein, fluche und radele zum Hautarzt. Es ist kein Fahrradstellplatz zum Anschließen mehr frei. Ich drehe drei Runden auf dem Gehsteig, kann mich nicht entscheiden, grummele in mich hinein, schließe das Fahrrad am Mülleimerpfahl an und gehe zum Ärztehaus. Ein Mann kommt gerade heraus, Maske unterm Kinn, habe ich nicht anders erwartet. Weiter geht es auf der Suche nach dem Aufzug. Ich finde ihn, eine junge Frau ist schneller und drückt den richtigen Knopf. Zu zweit, zwar mit Maske, in dem ein Quadratmeter großen Aufzug fühlt sich in Corona-Zeiten nicht gut an. Aber ich hatte auch kein Verlangen, bis in die fünfte Etage hochzulaufen oder auf den zurückkehrenden Aufzug zu warten. Oben angekommen checkte ich ein und sollte im Wartebereich Platz nehmen. Ich lief dorthin, grüßte, aber die drei Patienten brummten, wenn überhaupt, Unverständliches in ihre FFP2-Maske. Ich bin es leid. Wir sind alle hinter den Masken zu Neurotikern geworden. Eine ältere Dame kam dazu. Am Anmeldetresen hatte sie gefragt, ob die Praxis umgezogen sei. Die Sprechstundenhilfe entgegnete, sie sei seit vier Jahren hier Patientin und die Praxis sei seitdem immer an diesem Standort gewesen. Vielleicht war sie verwirrt. Sie räusperte sich dauerhaft, statt einen Schluck zu trinken. Ein Mann, der nach ihr kam, atmete im Asthma-Modus. Ich bin hier doch beim Hautarzt und nicht beim Lungenspezialisten oder HNO-Facharzt, oder? Endlich kam ich an die Reihe. Der Hautarzt sah sich die Stelle auf meinem Rücken an, wegen der ich hier in der Praxis war. Es sei ein angeschwollener Pickel, es gäbe keinen Handlungsbedarf, er sei völlig ungefährlich. Mein Hausarzt hätte ihn nicht ausdrücken, sondern einfach in Ruhe lassen sollen. Wieder eine Bestätigung für den Spruch „Schuster bleib bei deinen Leisten“. Mein Hausarzt ist Sportmediziner und für alle anderen Fachrichtungen habe ich meine Spezialist/-innen. Ich war schnell wieder draußen, machte einen Termin für die regulär anstehende Untersuchung im laufenden Jahr und verließ die Praxis. Am Aufzug angekommen, ging die Tür auf und ein offensichtlich betrunkener junger Mann ohne Maske torkelte mir lallend entgegen. Ich drehte mich weg. Er schwankte in den Flur und ich verschwand schnurstracks im Aufzug, betend, dass der Betrunkene später herunterfuhr, was er zu meinem Glück tat. Endlich vor der Haustür angekommen, zog ich mir die Maske ab und schnappte nach Luft. Der junge Mann kam aus dem Ärztehaus gewankt und stolperte um mich herum. Ich wich aus. Was für ein Tag, ein ganz normaler Corona-Alltag!
Ruhig bleiben. Ich sitze wieder im Wartezimmer bei irgendeinem Arzt in dieser Stadt. Der Wartebereich ist zusammen mit der Anmeldung offen und modern gestaltet, so dass die Wartenden alles vom Empfangstresen mitbekommen, von wegen Datenschutz und Co. Eine Dame beschreibt gerade ihre Allergien, die ein Antibiotikum namens Ciprofloxacin bei ihr auslöst. Ich habe den Namen des Wirkstoffs schon gehört, wahrscheinlich habe ich ihn während einer Behandlung selbst eingenommen und schalte aus seelenschutztechnischen Gründen einfach auf Durchzug. Ich will schließlich nicht wissen, ob die Patientin Durchfall, Erbrechen, Pickel, schlechte Laune oder sonst was davon bekommen hat.
Am Aufzug nach oben warteten drei Patienten. Als die Fahrstuhltür aufging, betraten sie die Kabine, eine ältere Dame hatte zügig die vierte und fünfte Etage gedrückt und ehe ich reagieren konnte, schnellte die Fahrstuhltür zu. Ich hatte sogar geistesgegenwärtig meine Hand dazwischen gehalten, aber das gibt hoffentlich nur einen Bluterguss. Ein rothaariger Mann schniefte von innen und könnte die Tür nicht aufhalten, mir war es egal. Der Fahrstuhl kam wieder herunter. Oben angekommen, traf ich den Mann im Wartebereich wieder und er sprach mich gleich an, er hätte alles versucht, aber die Kabinentür sei zugefallen. Ich versicherte ihm, dass es nett gewesen sei und nicht so schlimm für mich, auf den zurückkehrenden Aufzug zu warten. Ich hörte von der Dame und ihren Nebenwirkungen. Der rothaarige Patient sprach mich aufgeregt an, ob ich das gehört hätte, er würde das Mittel kennen und er wollte gerade loslegen, mir seine Nebenwirkungen zu beschreiben. Dabei schnupfte er in sein voll gerotztes Papiertaschentuch und rutschte nervös, ADS-verdächtig, auf seinem Stuhl herum. Ich würgte ihn direkt ab, nahezu schroff, ich wollte das jetzt nicht hören, es täte mir leid. So saß er neben mir und schmollte. Dazwischen war er schniefend zum Empfangstresen gelaufen, um wenigstens den Sprechstundenhilfen zu sagen, wie schrecklich das Medikament sei. Das interessierte mich die Wurst und das durfte es auch! Überhaupt, hier sitzen lauter erwachsene Patient/-innen, kramen in ihren Taschen herum und schniefen vor sich hin. Ich möchte nicht wissen, welche Bakterien hier unterwegs sind und womit ich mich anstecken kann und Sie, liebe Leserinnen und Leser, wollen es bestimmt auch nicht wissen. Da freue ich mich auf zu Hause und auf meine 234 Bakterienfreund/-innen auf meiner Haut.
Es gibt verschiedene neue Formen von Long COVID-Erkrankungen. Da wäre zum Beispiel die Bestelleritis. In ihrer akuten Ausprägung macht sie sich sogar symptomatisch im Straßenverkehr bemerkbar. Das spüren vor allem wir sowieso schon geplagten Fahrradfahrer/-innen. Wenn ich die kurze, eineinhalb Kilometer lange Strecke zur Schule fahre, stehen mindestens fünf Paketdienste mitten auf dem Fahrradweg oder parken in zweiter Reihe. Ich weiß, wir Fahrradfahrer/-innen sind nicht gerade beliebt bei anderen Verkehrsteilnehmenden. Aber nicht alle sind so schlimm, wie sie in den Medien dargestellt werden. Während der Lockdown-Phase war es die Möglichkeit schlechthin, die Wirtschaft am Laufen zu halten, indem wir Waren online bestellten, da die Geschäfte geschlossen hatten. Aber die Berichte vom Leerstand in den Innenstädten sind einfach grausam anzuschauen und ich wünsche mir, dass die Menschen wieder real einkaufen gehen, um die beliebten Ladenzeilen und Geschäfte zu erhalten. Ein kleiner Nebeneffekt wäre, dass nicht mehr so viele Paketdienste so schlecht parken müssten. Eine zweite Long COVID-Erkrankung ist das Im-Weg-Rum-Stehen. Ich bin überzeugt, dass diese Krankheit schon vor Corona die Arztpraxen gefüllt hat. Es ist überall und andauernd zu beobachten, dass Erwachsene so wie ihre Kinder einfach ungebremst stehen bleiben, mitten auf dem Gehweg, mitten im Eingang, Durchgang, manchmal sogar direkt hinter einer Rolltreppe, so dass die Nachfolgenden einfach auflaufen. Da bekommt der Begriff Menschenauflauf endlich eine sinnvolle Bedeutung. Ich hasse es, wenn ich einen Gehweg entlang gehe, und jemand vor mir abrupt stehen bleibt. Oft passiert es, weil diejenigen unbedingt eine alberne Text- oder Sprachnachricht auf ihrem Handy lesen müssen, statt sich auf den Verkehr oder ihren Weg zu konzentrieren. Erwachsene, die ihre Kinder morgens in die Schule bringen, bleiben mitten im Hoftor stehen, sie parken einfach in der Feuerwehreinfahrt, um ihr Kind aussteigen zu lassen. Wenn ich sie darauf aufmerksam mache, muss ich mich oft beschimpfen lassen oder ich bekomme eine unbekümmerte Entschuldigung zu hören, wie „Ich bin gleich wieder weg.“ An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Menschen entschuldigen, die wirklich Long COVID diagnostiziert bekommen haben.
Bis an die Zähne bewaffnet, jegliches Vermummungsverbot missachtend, betrete ich als Fahrradfahrerin den kleinen Supermarkt meiner Wahl. Der einzige Unterschied zum Banküberfall ist, dass ich keine Waffe trage, jedenfalls nicht, dass ich wüsste, und die Angestellten rufen nicht die Polizei, um mich verhaften zu lassen. FFP2 Maske auf, den Fahrradhelm auf dem Kopf, die Spanngurte baumeln um meinen Kopf herum, da ich sie lösen musste, um die Maskenaufhängung über meine Ohren zu streifen. Im Laden nehme ich den Fahrradhelm ab, finde zügig alles auf meinem Einkaufszettel, sogar den lange gesuchten Gelierzucker zwei zu eins für meine Himbeermarmelade.
Heute in demselben Supermarkt waren zwei richtige Kodderschnauzen, miesepetrige Meckerfressen, entschuldigen Sie meine Wortwahl! Eine Frau, untersetzt, etwa Mitte fünfzig, und ein Mann, etwa siebzig, sportlich, haben sich langsam verbal aufgespult. Zu Tätlichkeiten ist es glücklicherweise nicht gekommen. Sie, laut: „Sie sind wohl einer der rüstigen Rentner, man sieht es Ihnen nicht an. Sie haben Zeit, viel Zeit, nicht wahr?“ Die Ironie in ihrer Stimme ließ sich selbst von unsensiblen Zuhörenden nicht überhören. Er: „Ja, ich bin Rentner.“ Sie: „Und sie haben keine Zeit?“ Er: „Ich kaufe hier ein. Und Sie können Ihren Rucksack nicht absetzen und aus dem Weg gehen?“ Sie: „Und sie können nicht freundlich fragen, ob sie hier vorbeidürfen? Einfach mal sprechen und nicht vorbeiquetschen.“ Er: „Sie müssen sich wohl jetzt aufregen, oder was?“ Was für eine Unzufriedenheit wohl den Beiden innewohnt, dass sie sich, wildfremd, in einem Supermarkt beim Einkaufen streiten müssen, dass alle anderen Käufer/-innen es zwangsläufig ob der Lautstärke mitanhören müssen.
Eine Frau, groß, ihre langen Haare zu einem sehr lockeren Dutt hochgebunden, steht mit fünf Einkaufsbeuteln telefonierend an der Kasse im Supermarkt. Sie trägt nach dem Bezahlen Beutel für Beutel mit Smartphone am Ohr aus dem Laden, und stellt schließlich fest, dass sie etwas vergessen hat. Sie blockiert eine von zwei Kassenanlagen, telefoniert weiter in das enge Geschäft hinein und trägt einzeln ihre fünf Beutel wieder zurück an die Kasse, um erneut die Kasse zu blockieren, bitte, holt mich hier raus!
Zwei Männer kaufen im Supermarkt ein, der ältere der Beiden steht vor mir an der Kasse, der jüngere hinter mir. Dem hinter mir fällt der Sicherheitsabstand eher schwer, er hat wohl in der Schule bei dem Thema Längen nicht aufgepasst. Der ältere Mann vor mir hat zwei Pakete Küchentücher mit Abstand zueinander auf das Band gelegt. Er kennt scheinbar den Sicherheitsabstand, aber der gilt bekanntermaßen nicht für Küchentücher. Der Kassierer merkt es natürlich und mahnt den Kunden: „Ein Paket ist in Ordnung, aber mehr nicht.“ Er tippt dabei auf das zweite Paket Küchenrollen. Der ältere Mann kommentiert es mit: „Na, die passen hier ja auf.“ Als ich an der Reihe bin, packe ich meine eingelesenen Waren ein, zahle, bedanke mich und wünsche dem Kassierer, dass er gesund bleibt. Draußen angekommen schließe ich mein Fahrrad auf und bemerke den Mann, der nach mir dran war, der gerade rauskommt. Ich kann mich eines Schmunzelns nicht erwehren. Er hat doch tatsächlich in einem anderen Geschäft schon ein Paket Küchenrollen gekauft und hier im Supermarkt ein zweites. Wie raffiniert kann man denn sein?
Die Automatiktür des Drogeriemarktes meiner Wahl geht auf. Ich trete ein, nehme mir intuitiv einen Korb. In Corona Zeiten wurde man darum gebeten, einen Korb oder Einkaufswagen zu nehmen, da man so einen Überblick hatte, wie viele Kund/-innen im Laden waren. Ein Mann betritt vor mir das Geschäft, ohne Maske. Ich halte Abstand. Eine Verkäuferin „Junger Mann, würden Sie bitte die Maske aufsetzen?“ Er grummelt in sich hinein und setzt die Maske umständlich widerwillig auf. Ich bleibe kurz bei den Angeboten im Eingangsbereich stehen. „Junger Mann, nehmen Sie bitte einen Korb.“ Der junge Mann, von der Verkäuferin an der Kasse ertappt, greift sich einen Einkaufskorb. Wie kann man nach einem Jahr Corona nichts mitbekommen haben? Ist dieses Phänomen vielleicht geschlechtsspezifisch? Ich hatte kaum zu Ende gedacht, da ertönte erneut die Stimme der Kassiererin: „Junger Mann, nehmen Sie sich bitte einen Einkaufswagen.“ Ich gehe zwei Schritte bis zum Regal mit den Gesundheitsprodukten, wie Magnesium, Kalzium, Nahrungsergänzungsmitteln. Ich erreiche das Regal kaum, da ertönt wieder die noch freundliche Stimme der Kassiererin: „Junger Mann, nehmen Sie bitte einen Korb?“ Ich meine zu hören, dass die Kassiererin ihre Stimme am Ende des Satzes hebt, den Herren der Schöpfung keine Anweisung gibt, vermutlich, um sie nicht zu verschrecken. Ich lege zügig meine Waren in den Korb, gehe zur Kasse, packe ein, zahle und sage zur Kassiererin: „Ist halt nicht so einfach, aber bleiben Sie so gelassen und freundlich und einen schönen Tag.“ Sie entgegnet: „Nach einem Jahr müsste man es eigentlich kapiert haben. Ich kann mir hier den Mund fusselig reden.“ Ich wünsche ihr erneut einen schönen Tag und, dass sie sich nicht ärgern lassen soll und verlasse die Filiale, um draußen erstmal tief Luft zu holen.
Es ist doch nicht zu fassen! Ich gebe mir die allergrößte Mühe, mein Vorurteil, dass Männer sich speziell verhalten, nicht zu nähren. Aber heute hat es mir mal wieder die Sprache verschlagen! Ich radele an diesem milden Wintertag Anfang Februar 2021 von zu Hause aus los. Ich biege links ab und muss abrupt bremsen, weil ein schwarzer Pickup aus dem absoluten Halteverbot ausschert und mich scheinbar übersehen hat. Das kann passieren. Ich zeige ihm mit einer Geste, dass er doch weiterfahren soll und meckere dabei leise vor mich hin, frau soll nicht immer den Ärger in sich hineinfressen. Da kurbelt der Fahrer des Pickups doch tatsächlich die Scheibe herunter und meckert mich an: „Ich kann die Radfahrer einfach nicht verstehen. Da nehme ich schon Rücksicht und Sie meckern trotzdem.“ Ich fahre vorbei und verstehe es nicht. Gefühlt habe ich sogar ein schlechtes Gewissen. Erst einige Meter weiter spule ich mich auf und mir fällt alles Mögliche ein, was ich dem Fahrer hätte berechtigt entgegnen können. „Wenn Ihr Verhalten rücksichtsvoll war, möchte ich nicht erleben, wie es ist, wenn Sie keine Rücksicht nehmen.“ Natürlich kochten in mir ganze Vorwurfstiraden hoch, dass er nämlich, wie so viele, einfach im absoluten Halteverbot parkt. Dass er einfach ausschert, mich übersieht und mich obendrein, statt sich zu entschuldigen, anmeckert, obwohl ich ihm den Vortritt lasse. Von links kam schon ein anderer PKW heran, der sich womöglich an mir vorbeigequetscht hätte, weshalb ich den Fahrer durchlassen wollte. Wie, liebe Leserinnen und Leser, soll ich denn mein Vorurteil gegenüber Männern abbauen, wenn sie mir selbst Anlass geben, es zu pflegen? Da haben Sie auch keine Antwort, war ja auch als rhetorische Frage gemeint.
Ich kann es nicht mehr sehen, hören, haben! Nur Neurosen um mich herum. Ein vorbildlicher Sch…tag heute! Ich stehe auf und es ist wieder grau in grau. Ich war nie wetterfühlig, aber heute garantiert. Die linke Hüfte tut seit Pilates am Montag weh. Wenn mich jemand, wie meine Kollegin neulich, fragt, ob ich Schmerzen habe, stutze ich kurz, könnte weit ausholen, aber ich sage einfach: „Es ist besser als vorher, vor der Hüft-OP.“, denn ich hasse das Gejammer von Krankheiten und das ausführliche Erzählen von Krankheitsgeschichten. Heute bin ich es ausnahmsweise leid! Es ist natürlich Corona! Alte Scheiße! Nichts geht, alles steht! Das weiß man/frau doch, dass Widderfrauen Stillstand so gar nicht ausstehen können, geht gar nicht. Genau! Nichts geht! Wie soll Widderfrau das denn bitteschön aushalten? Die beiden Kinderbücher, die ich genüsslich während der Reha ab Mitte Dezember überarbeitet habe, stecken fest. Ständig wurden Uploads geblockt, letztlich, weil die Druckerei, auf die ich ein Jahr gewartet habe, jetzt doch abgesprungen ist und sie damit kein Querformat herstellen können. Okay, wieder warten, eine meiner allerleichtesten Übungen. Ich rege mich einfach nicht auf, sehr einfach für mich.
Jetzt sind Schulferien. Das könnte mir egal sein, ist es aber nicht. Ich will wieder arbeiten, wie alle anderen. Ich habe Ferien mit schlechtem Gewissen, da ich mir einbilde, ich habe sie gar nicht verdient, mache ja nichts. Wie blöd, aber es ist so, ich bin so blöd! Wegfahren geht nicht wegen Corona, und jetzt hocke ich hier mit meinem schlechten Gewissen. Wenigstens will ich Tagesausflüge unternehmen, aber wann und mit wem? Muss ich wieder organisieren. So nehme ich mir wenigstens was Kreatives vor. Die Bücher weiter bearbeiten geht nicht. Den Kronleuchter habe ich mich getraut zu bauen, das Elektrokabel durchzuziehen. Jetzt kommen die Details. Ich habe mir Fassungen im Baumarkt gekauft, aber die passen nicht. Wenn frau nicht weiß, wie die Verkabelung gemacht werden muss, kann das Experimentieren mit Strom schief gehen. Also bin ich wieder hingelaufen zum Umtauschen der Fassungen. Einen Gutschein habe ich, zum Umtauschen ist aber nichts Gescheites dabei, super. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Leider laufen wieder einige Mitarbeiter im Baumarkt mit der Maske unter der Nase oder unterm Kinn herum. Sch…! Da könnt ihr sie gleich am Hintern tragen, ist doch wahr! Ich habe keine Lust auf Corona! Schlauerweise bin ich auf dem Rückweg in eine Haushaltswaren Heimwerkerbedarfskette in der Fußgängerzone gegangen und habe meine drei passenden Fassungen bekommen.
Warum fragt mich nicht jemand, ob ich Lust habe, mich zu treffen? Vorsicht, ich weiß, das ist Jammern auf hohem Niveau. Aber ich will eben auch ins Universum reinjammern. Darüber hinaus betreue ich eine Künstlerin mit ihrer Webseite. Das ist manchmal zäh, weil ich ihr kein sogenanntes Content Management System angeboten habe, da das ziemlich aufwendig gewesen wäre. So hängt sie von mir ab, dass ich Änderungen vornehme und die Webseite aktualisiere, was ich auch nicht will. Kleine Änderungen mache ich so, bleibe kreativ dabei, das tut mir gut. Nun sind es so viele Kleinigkeiten, die es zu ändern gilt, dass es zu viel für kostenlose Bearbeitung ist. Sie hat es gemerkt und mir geschrieben. Es ist gut, wenn sich eine Arbeitsbeziehung reguliert und frau ein Gespür für die Situation hat. Heute kommt einfach alles zusammen, aber morgen ist wieder ein neuer Tag mit neuen Chancen und alter Corona.
Irgendjemand hat im Fernsehen mitgeteilt, dass Corona beendet ist und ab Anfang Februar, heute ist der 27. Januar, die Masken fallen. Ein Ministerpräsident hatte die Corona-Pandemie schon letztes Jahr im Sommer für beendet erklärt. Es lebe der Föderalismus! Hiermit eröffne ich die Diskussion zum Thema „Föderalismus versus Zentralismus“. Spaß! Interessant wäre es, ob alle Ministerpräsident/-innen, die für ihre Bundesländer die Maskenpflicht abgeschafft haben, wissen, wann und in welchen Bundesländern sie die Maske noch tragen müssen.
Ich begebe mich gerade auf die Reise, eine Bahnfahrt von Berlin nach Wiesbaden. Dazu fahre ich mit der S-Bahn, in der überwiegend Männer ohne Maske um mich herumsitzen, zum Hauptbahnhof. Bei der Durchsage, dass Maskenpflicht besteht, in Englisch und Deutsch, setzt flächendeckende Schwerhörigkeit ein. Das einzig Gute im Moment ist, dass nicht mehr ganz so viel bis gar nicht diskutiert wird, wie und wo man/frau welche Maske und warum zu tragen hat. So trage ich sie einfach zu meinem eigenen Schutz in Innenräumen und bei größeren Menschenansammlungen. Dass die Politik an die Vernunft der Bevölkerung appelliert, ehrt sie sehr. Die Frage stellt sich mir, welche und wessen Vernunft sie da ansprechen? Mein Vater hat oft gesagt: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ So mache ich es einfach. Im ICE tragen fast alle eine FFP2-Maske. Schlussendlich muss hier niemand schwer körperlich arbeiten, sondern einfach auf seinem/ihrem Platz sitzen, bis er/sie am Zielort angekommen ist. Manch einer sitzt an einem Vierertisch, stellt demonstrativ eine Trinkflasche oder einen Kaffeebecher auf dem Tisch ab. Er lächelt süffisant, die Maske wegen des Alibis, trinken zu wollen, hängt unter seinem Kinn, und er legt Essbares daneben. Ich fühle mich provoziert, aber setze mich nicht an einen Tisch, schon gar nicht an diesen, auch, um solche Situationen zu vermeiden. Letztlich schützt mich die Maske, vor allem in der Schule, generell vor Infektionskrankheiten mehr oder weniger erfolgreich.
Nicht nur im alltäglichen Leben begegnet mir diese blöde Corona, nein, in der Schule kämpfen wir jeden Tag mit ihr. Ich komme in die Schule, schaue Wochenpläne nach. Als Risikopatientin mit Vorerkrankungen kann ich von zu Hause aus Unterricht vorbereiten und dieser wird von Kolleg/-innen gehalten. Wenn ich Arbeiten von Schüler/-innen nachsehen will, arbeite ich in der Schule in kleineren Teilungsräumen, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. Ein neuer Kollege arbeitet nach meiner Zuarbeit und ich musste leider feststellen, dass er in drei Stunden scheinbar nichts mit den Kindern gemacht hatte. Da war ich doch irritiert. Ich hatte ihm am Abend vorher eine Mail geschrieben und ihn eingewiesen, was zu tun sei. Heute nahm ich Schokolade mit zur „Versöhnung“. Er hatte sogar abends geantwortet. Der Hintergrund war, dass die Kinder ihre Arbeitspläne nicht von meiner Kollegin ausgehändigt bekommen hatten, worum ich sie gebeten hatte. So starteten sie erst mit zwei Tagen Verspätung. Dazu hatten sie drei Stunden hintereinander Mathematik, was von der Konzentration her nicht gut ist. Überflüssigerweise war auch noch das Smartboard in ihrem Klassenraum defekt, keine Kreidetafel vorhanden, sondern eine winzige Tafel, die mit Folienstiften zu beschreiben war. Ich entschuldigte mich bei ihm und erkannte, dass es wichtig ist, über Unstimmigkeiten zu sprechen und nicht, diese in sich hinein zu fressen.
Als ich aus dem kleinen Raum herauskam, in dem ich während der Pandemiezeit allein arbeiten konnte, um die Pläne aus der nächsten Klasse zu holen, begegnete ich einer desorientiert wirkenden Kollegin, die mich ansprach, ob ich wüsste, ob es eine Info gäbe, wo und ob Fachkonferenzen stattfinden sollten. Ich entgegnete ihr kurz, dass eventuell im Teamzimmer am Infobrett Einladungen hingen. Da sah sie mich seltsam an. Als ich ihr sagte, weitere Informationen würden von allen Kolleg/-innen über E-Mails kommuniziert, da war es ganz um ihre Fassung geschehen, sie war leider hoffnungslos verloren. Sie ist eine Kollegin, die sich strikt weigert, mit dem PC zu arbeiten. Das ist schwierig, denn unser neuer Schulleiter setzt genau darauf.
Frechheit! Wir sind alle am Limit. Jede/jeder versucht, die eigene Haut zu retten, so auch ich. Der Senat wirft uns, das pädagogische Personal, gefühlt, Corona zum Fraß vor. Die Bildungssenatorin flötet fröhlich ins Mikrofon: „Wir sind gut vorbereitet.“ Fein! Aber wer ist „wir“? Das pädagogische Personal ist es jedenfalls nicht. Die Senatorin spricht davon, dass die Schülerinnen und Schüler problemlos mit Abstand in ihren Unterrichtsräumen sitzen können, die Fenster dabei sperrangelweit geöffnet. Sieht nett aus der Oberstufenkurs in der Fernsehdokumentation. Aber hat Frau Bildungssenatorin, deren Namen ich hier nicht nennen werde, jemals eine Grundschulklasse mit 26 bis 28 Kindern in einem viel zu kleinen Raum oder jemals eine Grundschule von innen gesehen? Ich fürchte, nein! Sonst würde sie vielleicht den Schulleiter/-innen eine gewisse Entscheidungsmöglichkeit einräumen. Eine Schülerin brachte heute ein Co2-Messgerät mit, was alle Schulen angeblich in ausreichendem Umfang in ihrer Ausstattung haben sollen, haha, sehr witzig! Zwei Tage später kommt die Ankündigung, dass unsere Schule insgesamt, bitte festhalten, vier Co2-Geräte für neunzehn Klassen bekommen soll. Das ist kein Witz! Wir sollen solange in jeder Klasse das Lüften üben, bis wir es können, und anschließend die Geräte nach Anordnung der dafür beauftragten Gerätewart/-in innerhalb der Schule weitergeben. Dazu gibt es auch wieder ein Schreiben von unserer heißgeliebten Bildungssenatorin. Manchmal muss ich mich kneifen, um zu realisieren, dass ich nicht träume, sondern dass das die Realität ist. Das wäre ein wunderbares Thema für die Kleinkunstbühnen, die leider ab Montag geschlossen werden.
Heute bin ich ganz Risikogruppe und versuche, mich zu schützen. In diesem Sinne bemühe ich mich, möglichst wenige Lerngruppenwechsel pro Tag zu haben. Die Konrektorin schlug mir vor, den Schulgarten zu gestalten. Ich antwortete ihr, es seien lediglich zwei Stunden pro Woche, in denen ich doppelt gesteckt bin und diesem Lerngruppenwechsel entgehen möchte, woraufhin sie allen Ernstes entgegnete, ich hätte deutlich mehr Zeit mit Vor- und Nachbereitungsfaktor zu arbeiten, als Unterricht beziehungsweise die Arbeit am Kind zählen. Abgesehen davon hätte ich mit der Organisation des Schulgartens einen ehrenamtlichen Job zusätzlich mit kaputter Hüfte als eine von zwei Schwerbehinderten, die es an unserer Schule überhaupt gibt, Hallo?! Heute kam die Anordnung vom Schulleiter, dass alle, Schüler/-innen und alles Personal, im Schulgebäude, in allen Räumen, Masken tragen sollen. Vielleicht wird es damit ab Morgen besser für mich.
Mein Chef der Senat ist schon ein lustiger Geselle, sozusagen für jeden Spaß zu haben. Komischerweise haben wir Lehrkräfte einen anderen Humor, was die derzeitige Situation nicht gerade leichter macht. Wir bekommen seit Beginn der Pandemie bisweilen wöchentlich neue Verschärfungen beziehungsweise Lockerungen, wie es gerade so von unserm Chef, dem Senat, beschlossen wird. Derzeit sind wir bei verschärften Lockerungen angekommen. Die Schüler/-innen sollen Masken im gesamten Schulgebäude, auch während des Unterrichts, tragen, das macht Sinn. Die Abstandsregeln, das hat der Senat mittlerweile erkannt, wurden kurzerhand aufgehoben, denn auch ohne mathematische Kenntnisse kann sich ein Mensch vorstellen, dass 26 Kinder plus eine Lehrkraft nicht mit eineinhalb Meter Abstand in einen Klassenraum passen würden. Es sollen bereits vor den Sommerferien alle Kinder einer Klasse wieder zusammen lernen dürfen. Aber kommen müssen sie nicht, denn die Präsenzpflicht ist aufgehoben. Zum anderen sollen wir Lehrkräfte die Wissenslücken der Schüler/-innen bitte schließen, aber auch mit den Kindern Ausflüge machen, damit sie als Gruppe wieder zusammenwachsen, nach den Ferien startklar sind und das gruppendynamische Gedöns nicht mehr nötig ist. Fein! Wir Lehrkräfte fragen uns manchmal, ob unser Chef, der Senat, seine Erlasse selbst vorab gegenliest und gegebenenfalls über den Sinn oder Unsinn nachdenkt, sind aber zu dem Schluss gekommen, dass der Senat scheinbar nicht weiter über die beschlossenen Maßnahmen nachdenkt.
Es ist nicht zu fassen, es ist Tag eins des Schulisch angeleiteten Lernens zu Hause, kurz: SaLzH, Hauptsache das Kind hat einen Namen. Wir, das heißt wir Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler, sind bereit für den Digitalpakt! Von der Senatsbildungsverwaltung kann frau das nicht behaupten. Für sie kommt das Lernen zu Hause wie Weihnachten daher, nämlich völlig überraschend. Vorsichtshalber hat meine Kollegin, die Klassenlehrerin ist, zur Sicherheit die Unterrichtsorganisation parallel zum angeleiteten Lernen zu Hause auch analog vorbereitet. Die Eltern sind leider konfus, haben den ausführlichen Elternbrief, von der Kollegin liebevoll entworfen, per E-Mail verschickt und bei Bedarf ausgedruckt, gefühlt zu einem Viertel gelesen und fragen dementsprechend alle Informationen ab Zeile drei mündlich ab. Die Kollegin hat einen Termin draußen, außerhalb des Schulgebäudes, ausgemacht, da die Schule offiziell geschlossen ist. So stehen wir gemütlich im Schneeregen auf dem Gehweg vor der Schule und klären alles Nötige. Wir sind als Lehrer/-innen gerne Dienstleister/-innen und müssen den Eltern bei der Erziehung ein wenig helfen. Gerade durchgefroren zu Hause angekommen, die gefrustete Kollegin getröstet, die sich mit dem Elternbrief, den niemand richtig gelesen hatte, so viel Mühe gegeben hat, will ich mich in den Lernraum Berlin einloggen. Der Lernraum ist eine Lernplattform für Berlin, die alle Lehrer/-innen, Schüler/-innen, Universitäten, Fachhochschulen, kurz Bildung, Wissenschaft und Forschung, nutzen, um das Lernen zu Hause zu organisieren. Es dauert, bis sich die Login-Seite überhaupt öffnet. Das liegt bestimmt an meinem alten Laptop und an der schlechten Internetverbindung im Arbeitszimmer. Ich gebe aber frohgemut meine Zugangsdaten ein und drücke den Login-Button. Das tun in diesem Augenblick wahrscheinlich auch zehntausend andere Menschen in dieser Stadt, denn das System arbeitet. Wenn es arbeitet, passiert was und das ist ein gutes Zeichen. Nach längerer Wartezeit darf ich den Bezirk auswählen und hoffe weiterhin, dass es vorangeht. Pustekuchen! Es arbeitet zwar in meinem Laptop, aber es passiert nichts. Ich hole mir ein Heißgetränk aus der Küche und als ich ins Arbeitszimmer zurückkomme, steht im Browserfenster „Error type 528 (Ubuntu). Page not found.“ Kein Wunder, dass sie die Seite nicht finden, wenn sie in Afrika suchen. Ich gehe spontan in meiner Unwissenheit davon aus, dass Ubuntu in Afrika liegt, es klingt zumindest so. Es stellt sich aber heraus, dass es ein technischer Fachbegriff ist, macht nichts, schmunzeln erlaubt.
Wer, wen, wann, wie oft, wo und warum testen soll, weiß niemand, aber wir machen alle mit, danke Frau Bildungssenatorin! Ich hätte den Vorschlag gemacht, dass die Bildungssenatorin selbst einfach alle Grundschulkinder in Berlin morgens schnell testet und anschließend in ihr klimatisiertes Großraumbüro für eine Person mit Luftfilter fährt. Kein Problem, oder? Ein Wahnsinn! Donnerstags abends vor dem letzten Schultag vor den Osterferien kam die E-Mail mit der Information, dass alle Grundschulen Selbsttests für ihre Schüler/-innen bekommen und diese an alle Kinder ausgegeben werden sollen. Wann sie kommen sollten, wusste niemand. So gegen 11:00 Uhr kam endlich die Lieferung. Wir Kolleg/-innen sollten nun die Pakete auf die Kinder aufteilen. Wie, wusste niemand! Wir waren glücklicherweise zu zweit und in einer vierten Klasse. Ich möchte nicht wissen, wie das in den ersten Klassen ausgesehen hat. Diese zugeteilten Päckchen waren für fünf Wochen, jeweils zwei Tests pro Kind pro Woche, abgezählt. Nun hat sich während der Osterferien die Lehrergewerkschaft ins Zeug gelegt und für uns erwirkt, dass es eine Testpflicht für die Kinder gibt. Da waren die Eltern wieder verunsichert und die Bildungsverwaltung hat sich überlegt, dass die Kinder sich unter Aufsicht der Lehrer/-innen selbst in der Schule testen sollen, täglich, jeweils in der ersten Stunde. Super Idee! Heute haben zwei Kolleginnen im Lehrerzimmer einen solchen Selbsttest an sich ausprobiert, um zu sehen, wie einfach das geht. Mitnichten einfach! Die Verpackung mit dem Stäbchen bekommen die meisten Kinder schon nicht geöffnet. Darauffolgend müssen sie das Teströhrchen in eine Klammer stecken, damit es nicht umfällt und die Flüssigkeit ausläuft. Wie die Testflüssigkeit unfallfrei in die Röhrchen getröpfelt werden soll, bei Kindern, die teilweise motorisch völlig überfordert sind, schon, wenn sie eine Form ausschneiden sollen, das weiß die Senatsbildungsverwaltung offensichtlich selbst nicht. Wenn dann ein Kind positiv getestet ist, sollen wir sensibel reagieren und alle Gefühlslagen abfangen, damit keine Hysterie aufkommt. Mit dem „positiven“ Kind gehen wir fröhlich pfeifend in einen ausgewählten Raum in unserer Schule, das „Positiv-Lager“ sozusagen, verletzen schön unsere Aufsichtspflicht und der Rest der Klasse bricht alleingelassen in Panik aus. Das allein gelassene, positive Kind wartet im Corona-Lager brav auf seine Eltern. Im Klassenraum zurück ist die Hälfte der Klasse in Tränen aufgelöst, weil sie ihre Tests nicht hinbekommen haben oder das Ergebnis für sie nicht ablesbar ist oder die Flüssigkeit ausgelaufen ist, oder, oder, oder. Und das ist erst die erste Stunde.