Berufsethos im Krankenhaus - Christiane Stüber - E-Book

Berufsethos im Krankenhaus E-Book

Christiane Stüber

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Beschreibung

Betriebswirtschaftliche Kalküle bestimmen zunehmend den Arbeitsalltag von Ärztinnen, Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern in deutschen Krankenhäusern. Die Vorgaben resultieren dabei wesentlich aus politisch festgesetzten Sparzwängen und dem Bemühen, das Überleben der jeweiligen Häuser unter Wettbewerbsdruck sicherzustellen. Inwieweit gerät diese Ökonomisierung mit dem traditionell am Patientenwohl ausgerichteten Ethos des medizinischen und pflegerischen Personals in Konflikt? Wie wirkt sich ein solcher Konflikt auf das Vertrauen der Patienten in die Angehörigen von Pflege und Ärzteschaft aus? Und schließlich: Kann das medizinische Personal seinem Berufsethos noch folgen, wenn das System ihm abverlangt, eigene Belastungsgrenzen zu überschreiten – beispielsweise durch die Einführung von 24-Stunden-Schichten? Christiane Stüber zeigt, wie kommerzielle Erwägungen, Anreizsysteme und Kontrollen im Krankenhaus die Orientierung des medizinischen Personals an berufsethischen Normen systematisch unter Druck setzen. Führt dieser Druck dazu, dass es Pflegekräften und Ärzten in der Praxis de facto nicht mehr zumutbar ist, ihrem Berufsethos zu folgen, verliert das Vertrauen der Patienten in das medizinische und pflegerische Personal seine Grundlage. Das geschieht insbesondere dann, wenn Krankenhäuser weiterhin damit werben, dass bei ihnen das Wohl der Patienten an erster Stelle stehe. Das Buch richtet sich an alle, die im und für den Krankenhausbereich tätig sind, aber auch an (potentielle) Patienten, die sich mit der Situation des Medizinpersonals auseinandersetzen wollen.

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Seitenzahl: 496

Veröffentlichungsjahr: 2014

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen
Vorwort
I. Einleitung
1. Was ist ein Berufsethos?
2. Grundlegende Inhalte berufsethischer Normen
3. Berufsethos und Vertrauen
4. Ethoswandel durch Ökonomisierung
5. Der Homo honestus und der Begriff der "Selbstsorge"
6. Individuelle und kollektive Verantwortung
7. Der Homo honestus im Krankenhaus
8. Anliegen dieser Arbeit
II. Kurze Betrachtung der Berufsentwicklung von Pflege und Ärzteschaft
1. Die Entwicklung der Ärzteschaft zum Einheitsstand
1.1 Die Schutzfunktion des Hippokratischen Eides
1.2 Was bedeutet Professionalisierung?
1.3 Situation und Ausbildung der deutschen Ärzte im 18. und 19. Jahrhundert
1.4 Staat und Ärzteschaft
1.5 Einheitsstand, Markterweiterung und ein geändertes Arztbild
1.6 Zwischen staatlicher Bindung und Gewerbe
1.7 Die Betonung der Besonderheit der ärztlichen Tätigkeit
2. Die Entwicklung der Krankenpflege zu einem eigenständigen Beruf
2.1 Pflege im frühen Christentum und im Mittelalter
2.2 Der wachsende Bedarf nach Ausbildung in der Krankenpflege
2.3 Die Selbstorganisation der Schwesternschaft beginnt
2.4 Die zwiespältige Rolle des Berufsethos in der Pflege
3. Fazit
III. Zur Entwicklung der aktuellen Rahmenbedingungen im Krankenhaus
1. Grundlegende Strukturen im Krankenhaus
1.1 Einteilung von Krankenhäusern
1.2 Staatliche Krankenhausplanung und duale Finanzierung
1.3 Die Aufbauorganisation im Krankenhaus
1.4 Reformen zur Kostendämpfung im Krankenhaus
2. Kostenbegrenzung und Qualitätssicherung im Krankenhaus
2.1 Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung
2.2 Medizinischer Behandlungsstandard vs. Wirtschaftlichkeitsgebot
3. Die Vergütung mit G-DRG
3.1 Fallgruppenzuordnung
3.2 Preisbildung bei DRG
3.3 Anpassungen des DRG-Systems
3.4 Das Krankenhausbudget unter DRG-Bedingungen
3.5 Welche Anreize setzt das DRG-System?
3.5.1 Risikoselektion und Spezialisierung
3.5.2 Auswirkungen der DRG auf die Pflege
3.5.3 Auswirkungen der DRG auf die ärztliche Tätigkeit
3.5.4 Irritation der beruflichen Identität und Veränderung der Handlungslogik
3.5.5 Kurzes Fazit
4. Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement im Krankenhaus
4.1 Gesetzliche Grundlagen des QM im Krankenhaus
4.1.1 Externe stationäre Qualitätssicherung und Benchmarking
4.1.2 Einrichtungsinternes QM
4.1.3 Prinzipien des QM
4.1.4 QM-Initiativen im Krankenhaus
4.2 Problematische Auswirkungen des QM in der Praxis
4.2.1 Prozessoptimierung und Standardisierung
4.2.2 Was wird im QM gemessen?
4.2.3 Regulierung, finanzielle Anreize und professionelle Autonomie
4.3 QM als Gegengewicht zur Logik des DRG-Systems?
IV. Vertrauen
1. Russell Hardin: Vertrauen als rationale Erwartung?
1.1 Encapsulated Interest
1.1.1 Die wiederholte einseitige Vertrauensbeziehung
1.1.2 Gegenseitiges Vertrauen und Vertrauen in dichten Beziehungen
1.1.3 Wie einschlägig ist Hardins Theorie?
1.2 Vertrauenswürdigkeit und Vertrauensvergabe bei Hardin
1.2.1 Interesse an nützlicher Kooperation begründet vertrauenswürdiges Verhalten
1.2.2 Epistemische Grundlagen der Vertrauensvergabe
1.2.3 Was zählt als Evidenz?
1.3 Vertrauen und Kontrolle
1.4 Kritische Gesichtspunkte
2. Bernd Lahno: Vertrauen als emotionale Haltung?
2.1 Vertrauen und die Rolle von Risiko und Information
2.2 Lahnos Kritik an der spieltheoretischen Lösung von Vertrauensproblemen
2.3 Emotion vs. Kognition?
2.4 Verbundenheit als Vertrauensgrundlage
2.4.1 Wohlwollen und fortgesetzte Kooperation
2.4.2 Institutionelles Vertrauen
2.5 Institutionelles Vertrauen oder personales Vertrauen?
3. Fazit
V. Der Homo honestus
1. Normgebundenes Handeln im Rahmen des ökonomischen Modells
1.1 Typen des rationalen Handelns nach Baurmann
1.2 Der Homo sapiens
1.3 Die Normbindung des Homo sapiens
1.4 Thomas Hobbes: Warum Vertragsbrüche irrational sind
1.5 Was unterscheidet den dispositionellen von einem situativen Nutzenmaximierer?
1.6 Die Beeinflussbarkeit der "Normbindung" des Homo sapiens
1.7 Fazit
2. Der Homo honestus
2.1 In foro interno – in foro externo
2.2 Legitime Selbstsorge und Grenzen der Belastbarkeit
2.3 Die (Un)Zumutbarkeit normkonformen Handelns
2.4 Kosten-Nutzen-Analyse vs. Zumutbarkeitsabwägung
2.5 Verantwortung trotz Pflichtbegrenzung?
2.6 Publizität
2.7 Vom kritischen Subjekt zum öffentlichen Diskurs
2.8 Mehr als individuelle Verantwortung: Normgerechtes Handeln zumutbar machen
3. Fazit
VI. Der Homo honestus im Krankenhaus
1. Die Professionelle Organisation als Normative Organisation
1.1 Organisationstypologie nach Etzioni
1.2 Das Bedürfnis nach Legitimität
1.3 Compliance und Organisationsziele
1.4 Die Professionelle Organisation
1.4.1 Kontrolle in Professionellen Organisationen
1.4.2 "Masking" und "Displacement" von Organisationszielen
1.4.3 Charisma und Zielorientierung in Professionellen Organisationen
1.5 Exkurs: Von der Krankenhausverwaltung zum Krankenhausmanagement
1.5.1 QM als Türöffner für das Management
1.6 Der anständige Mitarbeiter in der Organisation
1.7 Weiterführende Gesichtspunkte
2. Zwischen Patientenwohl und Organisationswohl
2.1 Change-Management und der Umgang mit Widerständen
2.2 Vertrauenssicherung als Managementaufgabe
2.2.1 Vertrauen als Wettbewerbsvorteil
2.2.2 Das Management der sozialen Verantwortung
2.2.3 Der Mitarbeiter als "kritisch-loyaler" Stakeholder
2.3 Fazit
Schlusswort
Anhang
Literatur

Abkürzungen

AQUAInstitut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen

ArbZGArbeitszeitgesetz

AR-DRGAustralian Refined Diagnosis Related Groups

BQSBundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung

CMCase-Mix

CMICase-Mix-Index

CSRCorporate Social Responsibility

CTComputer Tomographie

DRGDiagnosis Related Groups

EGMREuropäischer Gerichtshof für Menschenrechte

FPÄndGFallpauschalenänderungsgesetz

FPGFallpauschalengesetz

G-BAGemeinsamer Bundesausschuss

G-DRGGerman Diagnosis Related Groups

GGGrundgesetz

GKVGesetzliche Krankenversicherung

GKV-FinGGKV-Finanzierungsgesetz

GKV-GMGGKV-Modernisierungsgesetz

GKVRefGGKV-Gesundheitsreformgesetz

GKV-VStGGKV-Versorgungsstrukturgesetz

GKV-WSGGKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes

GSGGesundheitsstrukturgesetz

ICNInternational Council of Nurses

InEKInstitut für das Entgeltsystem im Gesundheitswesen

IQWiGInstitut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

ITSIntensivstation

KHGKrankenhausfinanzierungsgesetz

KHRGKrankenhausfinanzierungsreformgesetz

LBFWLandesbasisfallwert

MRTMagnetresonanztomographie

MVZMedizinisches Versorgungszentrum

NCNumerus Clausus

NUBNeue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden

PPRPflege-Personalregelung

QMQualitätsmanagement

SGBVSozialgesetzbuchV

StabGGesetz zur Stabilisierung der Krankenhausausgaben

TQMTotal Quality Management

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im November 2012 mit dem Titel"Berufsethos im Krankenhaus"an der Fakultät für Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Es handelt sich um eine Arbeit zur Angewandten Ethik im Bereich des Gesundheitswesens. Im Praxiskapitel werden die gesundheitspolitischen Entwicklungen in Deutschland bis Ende 2011 berücksichtigt.

Ich möchte an dieser Stelle folgenden Personen herzlich für ihre Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Forschungsprojekts danken: Prof. Dr. Weyma Lübbe, Prof. Dr. Dr. Alexander Brink, PD Dr. Arne Manzeschke, Prof. Dr. Dr. Karl-H. Wehkamp, Prof. Dr. Thomas Kater, PD Dr. Friedrich Heubel, Prof. Dr. Harald Wagner, Prof. Dr. Ulf Liedke, Robert Klemm, Dr. Thomas Karlas, Dr. Michael Kunze, Dr. Anja Philipp, Andrea Klonschinski, Brigitte Hund, Bernd Knüfer SJ, Edward Drath sowie Inge und Hartwig Stüber.

Außerdem bin ich zahlreichen Krankenhausmitarbeitern zu Dank verpflichtet, die mir in den letzten Jahren Einblicke in den Arbeitsalltag deutscher Krankenhäuser gewährt haben. Weil ich diesen Menschen Anonymität zugesichert habe, verbietet sich eine namentliche Erwähnung. Das mir von ihnen entgegengebrachte Vertrauen hat mich aber in den letzten Jahren stärker als alles andere dazu motiviert, das vorliegende Buch tatsächlich zu schreiben.

Lichtenberg, im Juli 2013

I. Einleitung

In dieser Arbeit steht das Berufsethos des medizinischen Personals in deutschen Krankenhäusern im Mittelpunkt. Es wird untersucht, wie sich das in den letzten Jahren fortschreitende Eindringen betriebswirtschaftlicher Kalküle in die Krankenhäuser auf den Arbeitsalltag berufsethisch motivierter Krankenschwestern, Pfleger, Ärztinnen und Ärzte ausgewirkt hat. Betriebswirtschaftliche Vorgaben resultieren dabei wesentlich aus dem Bemühen, das Überleben der jeweiligen Häuser unter Wettbewerbsbedingungen sicherzustellen. Insbesondere soll herausgearbeitet werden, inwieweit diese"Ökonomisierung"mit dem traditionellen Berufsethos des medizinischen und pflegerischen Personals im Krankenhaus in Konflikt gerät, und wie ein etwaiger Konflikt normativ zu bewerten ist.

1.Was ist ein Berufsethos?

Unter einem Berufsethos verstehen wir bestimmte Vorstellungen einer guten Berufspraxis, die von den Berufsangehörigen geteilt werden. Diese Vorstellungen und die damit verbundenen Wertungen prägen das Selbstverständnis der Berufsangehörigen als Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe. Sie geben dem Handeln in der Berufspraxis einen Sinn, motivieren und legitimieren es sowohl vor den Handelnden selbst als auch vor anderen.[1]

Ein Berufsethos geht mit der Bindung an bestimmte Normen einher, die das Verhalten der Berufsangehörigen entsprechend den Vorstellungen einer guten Berufspraxis steuern. Wir betrachten diese Normen in dem Sinne als moralische Normen als sie angeben, was in einer bestimmten Gesellschaft und in einem bestimmten Bereich, in dem das Aufkommen moralischer Konflikte absehbar ist, als"richtig"oder"falsch"gilt. Der einzelne Berufsangehörige muss aber keine eigenständige moralische Beurteilung berufsethischer Normen vorgenommen haben, um diesen Normen als verbindlich folgen zu können.

Berufsethische Normen werden zum Teil explizit ausformuliert. Sie werden in Ethikkodizes für die Pflege und die Ärzteschaft wie dem ICN-Ethikkodex für Pflegende, der Rahmen-Berufsordnung für professionell Pflegende des Deutschen Pflegerates, der Musterberufsordnung für Ärztinnen und Ärzte oder der Charta zur ärztlichen Berufsethik festgeschrieben. Allerdings gewährleistet die Lektüre solcher Normenkodizes noch kein umfassendes Verständnis dessen, was das Berufsethos von Ärzteschaft und Pflege beinhaltet. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Zum einen findet sich nicht alles, was das pflegerische und ärztliche Berufsethos ausmacht, in derartigen Berufsordnungen und Ethikkodizes wieder. Das Berufsethos dieser Berufe beinhaltet auch Vorstellungen guter Arbeit, die historisch gewachsen sind, die nicht ausformuliert werden, aber dennoch identitätsstiftend bleiben. Dazu gehört z. B. die Verpflichtung auf eine auf bestimmte Art und Weise zu leistende Fürsorge für den Patienten (engl."Care") in der Pflege. Deshalb werden wir uns im Anschluss an dieses Einleitungskapitel zunächst der geschichtlichen Entwicklung von Ärzteschaft und Pflege zuwenden, um auch dieser Dimension zumindest in Ansätzen gerecht werden zu können.

Des Weiteren gibt es ausformulierte Leitsätze, die das Selbstverständnis der Berufsangehörigen in der Praxis kaum zu prägen scheinen. Schaut man sich beispielsweise die hohe Rate von Präsentismus (Arbeitnehmer gehen krank zur Arbeit)[2]in den Pflegeberufen an, wird deutlich, wie wenig etwa folgende Forderung aus dem ICN-Ethikkodex in der Berufspraxis umgesetzt wird. Im entsprechenden Kodex heißt es unter Punkt 2:

"Die Pflegende achtet auf ihre Gesundheit, um ihre Fähigkeit zur Berufsausübung zu erhalten und nicht zu beeinträchtigen."[3]

Darüber hinaus sind die in den vorhandenen Ethikkodizes von Pflege und Ärzteschaft festgehaltenen Normen häufig so formuliert, dass sie zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Rahmenbedingungen auch verschieden gedeutet werden können. Dann und wann wird das"zeitgemäße"Verständnis einer Norm durch eine konkretisierende Bemerkung genauer festgeschrieben. Eine Anpassung dessen, was es für die Ärzte und Ärztinnen in Deutschland heißen soll in ihren Entscheidungen unabhängig zu bleiben, d. h. in ihrer Entscheidungsfindung nicht von Dritten beeinflusst zu werden, wird beispielsweise in der 2011 novellierten Musterberufsordnung vorgenommen. Darin wird als Ausnahme konkretisiert, dass eine Beeinflussung durch Dritte dann nicht berufswidrig ist,"wenn sie einer wirtschaftlichen Behandlungs- oder Verordnungsweise auf sozialrechtlicher Grundlage dient und dem Arzt die Möglichkeit erhalten bleibt, aus medizinischen Gründen eine andere als die mit finanziellen Anreizen verbundene Entscheidung zu treffen."[4]

Trotz der Möglichkeit einzelne Normen zu konkretisieren, bleibt in der Regel ein gewisser Auslegungsspielraum für berufsethische Normen bestehen, innerhalb dessen neue Deutungen Platz gewinnen können, ohne dass dadurch (zunächst) der Wortlaut der entsprechenden Norm eine Veränderung erfahren müsste.

2.Grundlegende Inhalte berufsethischer Normen

Bei den Ärzten, wie bei anderen freien Berufen auch, ist das Berufsethos der Berufsangehörigen auf das Wohl der Leistungsempfänger ausgerichtet, in diesem Falle auf das Wohl der Patienten. Insbesondere die finanziellen Interessen des Leistungserbringers, aber auch die Interessen Dritter haben hinter diesem Wohl im Konfliktfall zurückzustehen. Diese Zurückstellung der Interessen der Leistungserbringer hinter das Patientenwohl ist für den Inhalt berufsethischer Normen maßgeblich. In der ärztlichen Berufsordnung werden die Ärztinnen und Ärzte demgemäß darauf verpflichtet, dem Patienten zu nützen, Schaden zu vermeiden, die Patienten aufzuklären, ihre Selbstbestimmung grundsätzlich zu respektieren und Verschwiegenheit zu wahren.[5]Die Verpflichtung auf das Wohl des individuellen Patienten findet sich ebenso im Berufsethos der Pflege. In der Präambel der Rahmen-Berufsordnung für professionell Pflegende heißt es beispielsweise:

"Pflege heißt, den Menschen in seiner aktuellen Situation und Befindlichkeit wahrnehmen, vorhandene Ressourcen fördern und unterstützen, die Familie und dassoziale, kulturelle und traditionelle Umfeld des Menschen berücksichtigen und in die Pflege einbeziehen sowie gegebenenfalls den Menschen auf seinem Weg zum Tod begleiten."[6]

Außerdem werden Schweigepflicht, Auskunftspflicht und Beratungspflicht ausdrücklich für die Angehörigen der Pflegeberufe festgeschrieben.[7]Den Patienten in seiner aktuellen Situation wahrzunehmen, bedeutet ihn in seiner Verletzlichkeit wahrzunehmen. Diese Verletzlichkeit resultiert zum einen aus dem Kranksein des Patienten selbst, zum anderen aber auch daraus, dass es notwendig werden kann, den Kranken aus seinem gewohnten Umfeld herauszunehmen und in einem Krankenhaus zu behandeln, wo er fremden Menschen Einblicke und sogar Eingriffe in seinen Intimbereich erlauben muss. Diese Umstände machen es dem Ethos der Pflege gemäß notwendig, sich dem Patienten zuzuwenden, auf seine Bedürfnisse zu achten, ihm zuzusprechen und seine vorhandenen Ressourcen soweit zu fördern, dass er trotz der bestehenden Einschränkungen eine gewisse Kontrolle über sich und seine Situation behält.[8]Diese Art der Pflege geht über ein Versorgen des Patienten hinaus und wird als"Fürsorge"bezeichnet. Im Laufe der Geschichte hat sich das Fürsorgegebot in der Pflege insofern gewandelt, als dass heute der Förderung der Selbstständigkeit des Patienten eine große Bedeutung zukommen und Pflege, wo möglich, stärker unterstützend als zuvorkommend wirken soll.[9]

Des Weiteren regeln berufsethische Normen die kollegialen Beziehungen innerhalb eines Berufsstandes und ggf. zwischen den Angehörigen verschiedener Berufsstände. In unserem Kontext sind das z. B. die Kooperationsverhältnisse innerhalb der Ärzteschaft und innerhalb der Pflege, aber auch die Zusammenarbeit zwischen beiden Berufsgruppen. Darüber hinaus bestimmen berufsethische Normen das Verhältnis zwischen den Berufsangehörigen und der Gesellschaft, welche die Berufsstände mit einer spezifischen Aufgabe betraut hat. Für das medizinische Personal im Krankenhaus besteht diese Aufgabe in einer angemessenen, dem Erkenntnisstand der Pflegewissenschaft und der Medizin entsprechenden Versorgung der Bevölkerung. Sowohl für die Ärzte und Ärztinnen als auch für die Angehörigen der Pflegeberufe wird zudem das Prinzip der"sozialen Gerechtigkeit"formuliert. Das bedeutet, dass die Patienten unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Religion oder Kultur behandelt werden sollen (Diskriminierungsverbot). In der Charta zur ärztlichen Berufsethik heißt es dementsprechend:

"Die Ärzteschaft ist dazu aufgerufen, Gerechtigkeit im Gesundheitswesen zu fördern. Dies schließt die faire Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel ein. Ärzte sollen sich aktiv daran beteiligen, Diskriminierungen im Gesundheitswesen auszumerzen. Dies bezieht sich auf die ethnische Herkunft, das Geschlecht, den Sozialstatus, die Religion oder auf jede andere gesellschaftliche Kategorie."[10]

Zu einer gerechten Mittelverteilung gehört nach dieser Charta aber auch die Verpflichtung, die vorhandenen Ressourcen"kosteneffektiv"einzusetzen. Dementsprechend heißt es:

"Bei der Berücksichtigung der Bedürfnisse individueller Patienten müssen Ärzte eine Gesundheitsversorgung anbieten, die auf einem klugen und effektiven Einsatz der begrenzten Mittel beruht. Sie müssen mit anderen Ärzten, Krankenhäusern und Versicherungen zusammenarbeiten, um Leitlinien für eine kosteneffektive Versorgung zu entwickeln. […]"[11]

Eine unter berufsethischen Gesichtspunkten"gute"Leistungserbringung verlangt somit auch einen kosteneffektiven Ressourceneinsatz und beinhaltet in diesem Sinne das Gebot"wirtschaftlich"zu arbeiten. Was genau es heißt, Ressourcen"kosteneffektiv"bzw."wirtschaftlich"einzusetzen, ist allerdings auch in Anbetracht einiger neuer Formulierungen im Sozialgesetzbuch V mittlerweile strittig geworden. Darauf werden wir im zweiten Kapitel dieser Arbeit zurückkommen.

Schließlich findet sich zumindest im ICN-Ethikkodex für Pflegende unter der Überschrift"Pflegende und Berufsausübung"eine bereits erwähnte Formulierung, die für das Verhältnis der Berufsangehörigen zu sich selbst Folgendes fordert:

"Die Pflegende achtet auf ihre Gesundheit, um ihre Fähigkeit zur Berufsausübung zu erhalten und nicht zu beeinträchtigen."[12]

Auf diese Norm werden wir im Laufe dieser Arbeit zurückkommen. Sie ist Bestandteil dessen, was wir später unter dem Begriff der"Selbstsorge"genau erfassen wollen.

3.Berufsethos und Vertrauen

Das Berufsethos von Ärzten und Ärztinnen, Krankenschwestern und Krankenpflegern wird in dieser Arbeit als eine Grundlage für das Vertrauen betrachtet, das Patienten und die Gesellschaft begründet in die Angehörigen dieser Berufsgruppen haben können. Vertrauen ist aus zwei Gründen Voraussetzung einer guten medizinischen Versorgung: Zumeinen ist eine wirkungsvolle Leistungserbringung davon abhängig, dass sich der Patient auf den Mediziner einlässt. Dieses"Sich-Einlassen"ist die Bedingung dafür, dass der Patient persönliche Informationen an den Mediziner weitergibt, diesem einen Einblick in seine Intimsphäre gewährt, um Diagnose und Behandlung überhaupt zu ermöglichen, und dafür, dass der Patient die Anweisungen desmedizinischen Personals befolgt.[13]Zum anderen können medizinische Leistungen von medizinischen Laien nur unzureichend kontrolliert werden. Selbst bei rechtlichen Prüfungen medizinischer Leistungen bezieht man sich auf den"medizinischen Standard". Deshalb ist es wichtig, auf eine gewisse Integrität der Berufsangehörigen vertrauen zu können, die es glaubhaft macht, dass diese ihr Fachwissen tatsächlich zum Wohle ihrer Patienten einsetzen werden.

Inwiefern das Berufsethos von Ärzten und Krankenpflegern das Vertrauen der Patienten in die im Krankenhaus tätigen Angehörigen dieser Berufe begründet, wollen wir durch eine Diskussion der begrifflichen Grundlagen dieses Themas untersuchen. In Kapitel IV dieser Arbeitwerden wir uns deshalb mit zwei Vertrauenstheorien auseinandersetzen. Wir beginnen mit der spieltheoretischen Rekonstruktion des Vertrauensbegriffs durch Russell Hardin. Hardin definiert Vertrauen als eine rationale Erwartung, die sich bei einem Vertrauensgeber dann einstellt, wenn er"begründet"davon ausgehen kann, dass ein Vertrauensträger an einer fortgesetzten nutzenbringenden Kooperation mit ihm interessiert ist und sich deshalb"vertrauenswürdig"erweisen wird. Ein Vertrauensträger erweist sich in diesem Ansatz"vertrauenswürdig", wenn ihm"vertrauenswürdiges"Verhalten derart nützt, dass es ihm zusätzliche Kooperationsvorteile verschaffen wird. Hardins Theorie ziehen wir als eine Kontrastfolie heran, von der wir später unsere eigene Vertrauenskonzeption absetzen wollen.Wir gehen auch darauf ein, weil im Krankenhausbereich die Tendenz besteht, eine"gute"Leistungserbringung der Mitarbeiter und eine gute Qualität der medizinischen Versorgung zunehmend über äußere Anreize und Vorgaben sicherstellen zu wollen (siehe dazu Kapitel III). In einer solchen Umgebung liegt es nahe, auch die"Vertrauenswürdigkeit"der Mitarbeiter als das Ergebnis der bestehenden Steuerungs- und Kontrollmechanismen aufzufassen. Zudem erlaubt es uns die Beschäftigung mit Hardins Ansatz darauf einzugehen, inwiefern die Bevorzugung der ökonomischen Rationalität in Theorie und Praxis einschränkt, was es für Menschen heißen kann vernünftig, d. h. begründet, zu entscheiden und zu handeln.Mithilfe eines Ansatzes von Bernd Lahno werden wir anschließend zeigen, warum Hardins spieltheoretische Lösung von"Vertrauensproblemen"zu kurz greift und wie man darüber hinausgehen muss, um zu einer angemessenen Vertrauenskonzeption zu gelangen. Insbesondere Lahnos Konzeption des"institutionellen Vertrauens"wird es uns erlauben, die Verpflichtung der Berufsangehörigen auf berufsethische Normen als einen wichtigen Faktor zu benennen, der die Ausbildung und Aufrechterhaltung von Vertrauen zwischen Patienten und medizinischem Personal im Krankenhaus unterstützt.

4.Ethoswandel durch Ökonomisierung

Betrachten wir das Berufsethos des medizinischen Personals im Krankenhaus wesentlich in Hinblick auf seine Vertrauen begründende Funktion, müssen wir ein Merkmal dieses Ethos im Auge behalten: Obschon das Berufsethos in Abhängigkeit von der Kernaufgabe des Personals, in unserem Fall der guten Versorgung kranker Menschen, eine gewisse Stabilität aufweist, ist es veränderlich. Veränderungen können aus dem Wandel der medizinischen Praxis und ihrer Rahmenbedingungen und aus den sich wandelnden Erwartungen der Patienten, der Gesellschaft und der Berufsangehörigen selbst an eine gute Versorgung im Krankenhaus resultieren.[14]Ein Wandel kann mehr oder weniger offen erfolgen. Die Anpassung der berufsethischen Orientierungen von Krankenpflegern und Ärzten an wirtschaftliche Erfordernisse wird in den bestehenden Ethikkodizes an einigen Stellen explizit gemacht, wenn etwa, wie schon zitiert, gefordert wird, dass sich Ärzte um den"klugen und effizienten Einsatz der begrenzten Mittel"bemühen müssen, und dass sie mit"anderen Ärzten, Krankenhäusernund Versicherungen zusammenarbeiten[müssen], um Leitlinien für eine kosteneffektive Versorgung zu entwickeln".[15]Dieses Mandat der"kosteneffektiven"Versorgung und der sparsamen Leistungserbringung wird zum Bestandteil einer guten Leistungserbringung erklärt und durch die schriftliche Festsetzung offen kommuniziert. Die Vertrauen begründende Funktion des derartig spezifizierten Ethos wird dadurch nicht gefährdet.

Im Gegensatz dazu wird ein über das Mandat der Sparsamkeit hinausgehender Wandel berufsethischer Orientierungen durch die zunehmende Handlungsrelevanz betriebswirtschaftlicher Faktoren im Krankenhaus bis hin zur Akzeptanz von Behandlungsentscheidungen, die nicht primär zum Wohl des einzelnen Patienten, sondern aus gewinnorientierten Erwägungen zum Wohle der Organisation heraus getroffen werden, bislang von den meisten Berufsangehörigen nur unter vorgehaltener Hand zugestanden. Oftmals gibt es allein anekdotische Hinweise, die auf einen derartigen graduellen"Ethoswandel"bzw. auf einen"Ethosabbau"hindeuten, nicht selten mit Verweis darauf, dass derartige Entwicklungen in anderen Häusern und in anderen Abteilungen stattfinden, nicht aber im eignen Umfeld. Ein solcher"Ethoswandel"wird dann nicht offen kommuniziert. Eine solche Situation ist für die Vertrauensgrundlage Berufsethos problematisch.

Tatsächlich ist es schwierig einen"Ethoswandel"einwandfrei festzustellen. Diese Schwierigkeit liegt zum Teil darin begründet, dass das Berufsethos ein komplexes Gebilde ist. Es besteht aus einer Vielzahl expliziter und impliziter Normen, die sich im Falle eines Wandels nicht alle, und schon gar nicht gleichmäßig, verändern können. Da die Anpassungsfähigkeit außerdem zum Wesen eines Berufsethos gehört, ist es schwer zu sagen, ab wann ein altes Ethos durch ein neues ersetzt wurde. Trotzdem lassen sich Tendenzen in der Entwicklung der berufsethischen Orientierungen der Berufsangehörigen erfassen, die Hinweise auf einen sich vollziehenden Wandel geben und Haltepunkte markieren, an denen eine Reflexion über die Entwicklung berufsethischer Normen und ihrer Bedeutung angestoßen werden kann und nach unserem Dafürhalten auch angestoßen werden sollte. In Kapitel V werden wir darüber hinaus versuchen in Anlehnung an dasdurch Immanuel Kant formulierte Prinzip der Publizität ein Kriterium für die Beurteilung der Legitimität eines wahrgenommenen Ethoswandels zu entwickeln.

5.Der Homo honestus und der Begriff der"Selbstsorge"

Die Verpflichtung des medizinischen Personals im Krankenhaus auf berufsethische Normen kann den Aufbau und den Erhalt von Vertrauensbeziehungen nur dann stützen, wenn die Befolgung dieser Normen von den Mitarbeitern auch wirklich erwartet werden kann. Nur wenn Bedingungen bestehen, unter denen eine Normbefolgung den Mitarbeitern tatsächlich"zumutbar"ist und sie nicht davon abhält ihre eigenen billigenswerten Interessen wahrzunehmen, ist es sowohl kognitiv als auch normativ zu erwarten, dass die Mitarbeiter den entsprechenden Normen langfristig folgen werden. Um diesen Punkt klarer zu machen, wollen wir in Kapitel V den Typus des"anständigen Mitarbeiters"entwickeln, der zur Bindung an berufsethische Normen fähig ist, in der Befolgung dieser Normen aber nachlassen darf, wenn das seine eigenen billigenswerten Interessen erheblich gefährdet.

Unsere Position entwickeln wir, indem wir sie von einem Ansatz Michael Baurmanns abgrenzen, den wir im ersten Teil von Kapitel V vorstellen. Nach Baurmann erhält sich eine"Disposition zur Normbefolgung"solange, wie sie dem Normbefolger einen zusätzlichen Vorteil verschafft. Sie wird durch ihre Nützlichkeit für den Normbefolger begründet. Der von Baurmann entwickelte"dispositionelle Nutzenmaximierer"soll sich durch seine Orientierung am eigenen Vorteil einerseits von einem kategorischen Pflichterfüller unterscheiden. Andererseits grenzt Baurmann ihn aufgrund seiner Fähigkeit zur"Normbindung"vom klassischen Homo oeconomicus ab. Wir werden zeigen, warum es Baurmann nicht gelingt, mit seinem dispositionellen Nutzenmaximierer eine abgrenzbare Position zwischen einem Homo oeconomicus und einem kategorischen Pflichterfüller zu formulieren. Sein Versuch scheitert daran, dass sich ein dispositioneller Nutzenmaximierer nicht glaubhaft an Normen binden kann. Sobald ihm die entsprechende Normbefolgung nicht mehr in dem Sinne nützt, dasssie ihm"per saldo"größere Vorteile verschafft als er ohne sie verwirklichen könnte, hat er keinen Grund mehr seine Normbindung aufrecht zu erhalten. Sie löst sich nach einer gewissen Verzögerung auf. Für einen dispositionellen Nutzenmaximierer gibt es kein von Nützlichkeitserwägungen unabhängiges"richtig"oder"falsch", das ihn von dieser Auflösung abhalten könnte. Das zwingt ihn dazu, in die Position des klassischen Homo oeconomicus zurückzufallen, wenn seine"Normbindung"ihm über kurz oder lang nicht mehr nützt.

Wie Baurmann suchen auch wir nach einer mittleren Position zwischen einem rigorosen Normbefolger und einem klassischen Nutzenmaximierer. Uns geht es dabei darum, die legitimen Anforderungen an solche Berufsangehörige zu bestimmen, die ihr Berufsethos als richtig und verbindlich begreifen, den entsprechenden Normen aber aufgrund einer steigenden Belastung im Arbeitsalltag nicht mehr gerecht werden können, wenn sie nicht selbst daran Schaden nehmen wollen. Wir wollen zeigen, dass es unter bestimmten Umständen auch für einen"anständigen"Mitarbeiter gerechtfertigt ist, in der Befolgung berufsethischer Normen nachzulassen. Dabei handelt es sich nicht nur um Umstände, die einem Mitarbeiter eine Normbefolgung unmöglich machen. Unter solchen Umständen wäre eine Aussetzung der Normbefolgung auch für einen rigorosen Pflichterfüller moralisch unproblematisch. Auf der anderen Seite ist eine Aussetzung der Normbefolgung aber im Gegensatz zu dem, was Baurmann vorschlägt, nicht schon dann legitim, wenn dem Mitarbeiter die fragliche Normbefolgung über kurz oder lang keinen zusätzlichen Vorteil mehr verschafft. Die Aussetzung einer Normbefolgung ist vielmehr dann gerechtfertigt, wenn Bedingungen bestehen, unter denen eine fortgesetzte Normbefolgung den"Normbefolger"von der Wahrnehmung seiner eigenen billigenswerten Interessen abhalten und ihm in diesem Sinne schaden würde.

Um diesen Sachverhalt klarer zu machen, widmen wir uns im zweiten Teil von Kapitel V dem Konzept der"Selbstsorge"und grenzen es von einer egoistischen Orientierung am eigenen Vorteil im Sinne einer ökonomischen Rationalität ab. Als Ergebnis dieser Abgrenzung werden wir unseren eigenen Handlungstypus vorstellen: den Homo honestus. Er wird uns gestatten, die Lage des"anständigen"Mitarbeiters im Krankenhaus zu erfassen und zu zeigen, wann diesem die Befolgung berufsethischer Normen in der Praxis nicht mehr zumutbar ist, inwiefern er sich aber dennoch dafür einsetzen muss seine Arbeit"gut"machen zu können und an welcher Stelle die Verantwortung für eine gute Leistungserbringung an andere Verantwortungsebenen übergeht.

6.Individuelle und kollektive Verantwortung

Die Einsicht, dass die Sorge um sich selbst legitim und von einer einseitigen Orientierung am eigenen Vorteil verschieden ist, kann für berufsethisch motivierte Berufsangehörige eine Entlastung bedeuten. Tatsächlich zeigen viele Interviews mit dem medizinischen Personal im Krankenhaus einen Konflikt auf: Mitarbeiter wollen dem traditionellen Bild der guten Schwester und des guten Arztes entsprechen und sich bestmöglich am Wohle des Patienten orientieren. Sie merken aber, wie sie sich in diesem Bemühen aufreiben.[16]Oft erscheinen dann nur zwei Alternativen:"Dienst nach Vorschrift"oder der Ausstieg aus dem Beruf. Erkennen die Mitarbeiter aber an, dass die Sorge um das eigene Wohl nicht nur legitim, sondern auch eine Voraussetzung dafür ist, ihre Arbeit langfristig gut zu machen, können sie auch sich und anderen gegenüber eher eingestehen und begründen, dass ihnen die Umsetzung mancher berufsethischer Anforderungen unter den bestehenden Bedingungen nicht zumutbar ist. An diesem Punkt kann die Reflexion darüber einsetzen, was es unter den gegebenen Umständen überhaupt heißen kann, seine Arbeit gut zu machen, und welche Bedingungen einem guten Arbeiten entgegenstehen. Während wir zeigen werden, dass es im Verantwortungsbereich des Mitarbeiters liegt, für ebensolche Bedingungen aufmerksam zu sein und die zuständigen Stellen darauf aufmerksam zu machen, istes eine kollektive Aufgabe zu überlegen, welche medizinische Versorgung die Gesellschaft will und welche Veränderungen notwendig sind, um ggf. mehr Raum für die Umsetzung berufsethischer Normen zu schaffen. Es ist aber auch möglich, dass das Erstarken betriebswirtschaftlicher Kalküle als notwendig akzeptiert und daraus resultierende Änderungen des traditionellen Ethos von der Gesellschaft und dem medizinischen Personal als unvermeidlich angenommen werden – ggf. unter einer Umformung des Verständnisses davon, was eine gute Krankenversorgung im Krankenhaus bedeuten soll. Erweisen sich die Änderungen berufsethischer Normen als gut begründbar und allgemein zustimmungsfähig, kann das geänderte Ethos weiterhin als Grundlage von Vertrauensbeziehungen dienen. Ein Beharren auf der Existenz eines traditionellen Ethos, dessen Umsetzung den Berufsangehörigen jedoch nicht zumutbar ist und sich deshalb in der Praxis auch nur solange halten kann, bis sich der letzte rigorose Pflichterfüller daran aufgerieben hat, gefährdet hingegen nicht nur die psychische und physische Gesundheit der"anständigen"Mitarbeiter, sondern auch das Vertrauen der Menschen in die Krankenhausversorgung.

7.Der Homo honestus im Krankenhaus

Im letzten Kapitel dieser Arbeit beschäftigen wir uns mit der Organisationstypologie von Amitai Etzioni. Dabei gehen wir auf Etzionis Kategorisierung"professioneller Organisationen", wie z. B. dem Krankenhaus, als"normativer Organisationen"ein. Im Kontrast dazu wenden wir uns der aktuellen Managementliteratur für den Krankenhausbereich zu. Darin tritt das Krankenhaus zwar als normative Organisation in Erscheinung, insofern nämlich als die berufsethische Orientierung der Mitarbeiter am Wohl des Patienten weiterhin vorausgesetzt wird. Das Krankenhaus wird aber zunehmend als ein Unternehmen verstanden, dem es darum gehen muss im Wettbewerb zu bestehen. Der damit verbundene Druck wird an das Personal weitergegeben. Wir werden Beispiele dafür anführen, wie in der Managementliteratur mit dem Konflikt zwischen dem"Wohl des Hauses"und dem"Wohl des Patienten"umgegangen wird. Ferner wollen wir untersuchen, inwieweit die von uns aufgestellte Figur des anständigen, berufsethischgebundenen Mitarbeiters als Homo honestus, der sich dauerhaft an berufsethische Normen binden kann, sich aber auch um sein eigenes Wohl sorgt, mit den in dieser Literatur propagierten Managementkonzepten kompatibel ist. Wir werden zeigen, dass die Grundlage für das Vertrauen der Patienten in das medizinische Personal und in die Krankenhausversorgung gefährdet wird, wenn der berufsethisch motivierte Mitarbeiter allein auf werbewirksamen Webseiten angepriesen, nicht aber als solcher gefördert wird. Das Vertrauen in das medizinische Personal und in die Krankenhausversorgung wird hingegen gestärkt, wenn das Berufsethos der Mitarbeiter von der Organisationsleitung ggf. auch in seiner Widerständigkeit gegen bestimmte Veränderungen als schützenswerte Ressource anerkannt und dementsprechend gestützt wird.

8.Anliegen dieser Arbeit

Wie eine gute medizinische Versorgung letztlich aussehen soll und welche Erwartungen an das Berufsethos des medizinischen Personals dementsprechend vernünftig sind, muss unter Einbeziehung der Stimmen des medizinischen Personals und der Patientenschaft in einem öffentlichen Diskurs unter Berücksichtigung der bestehenden Werte der Gesellschaft und der zur Verfügung stehenden Ressourcen erörtert werden. In einer solchen Debatte sollte nicht nur diskutiert werden, wie viel Ethos wir uns heute noch leisten wollen, sondern auch, was ggf. verloren ginge, wenn die Arbeit des medizinischen Personals im Krankenhaus immer weniger durch die Orientierung an berufsethischen Normen und immer mehr über kommerzielle Erwägungen, Anreizsysteme und Kontrollen gesteuert wird. In der vorliegenden Arbeit versuchen wir die Entwicklungen im Krankenhaussektor, die das Berufsethos des medizinischen Personals betreffen, in angemessenen Kategorien zu beschreiben und dadurch transparenter zu machen. Damit wollen wir einen Input für den eingeforderten öffentlichen Diskurs geben. Dieser Absicht entsprechend richtet sich dieses Buch nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum, sondern auch an diejenigen, die im und für den Krankenhausbereich tätig sind: an das Pflegepersonal, die Ärzte, an Krankenhausmanager und Politiker.

II.Kurze Betrachtung der Berufsentwicklung von Pflege und Ärzteschaft

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Berufsethos bedeutet in dieser Arbeit eine Auseinandersetzung mit dem Berufsethos von Ärztinnen, Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern in einem speziellen institutionellen Gefüge: dem Krankenhaus. Um klarer zu machen, mit welchen Phänomenen wir es hier zu tun haben, empfiehlt sich auch ein Blick in die Geschichte dieser medizinischen Berufe. Dabei sollen ausgewählte Aspekte der Herausbildung des Arztberufs und der Krankenpflege betrachtet werden, einschließlich der berufsethischen Normen, auf die sich diese Berufsgruppen verpflichten. Es soll in Grundzügen gezeigt werden, wie sich das Selbst- und Fremdbild von Ärzteschaft und Pflege mit sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen geformt hat. Dabei werden die Professionalisierungsbestrebungen beider Berufsgruppen, ihre Ausbildungswege, Organisation und ggf. die Wandlungen ihres Umgangs mit den Patienten thematisiert. Im Nachzeichnen der entsprechenden Entwicklungslinien werden auch Bezüge auf die Entstehungsbedingungen des modernen Krankenhauses hergestellt.

1.Die Entwicklung der Ärzteschaft zum Einheitsstand

1.1Die Schutzfunktion des Hippokratischen Eides

Wir beginnen unseren Ausflug in die Historie mit der wohl berühmtesten Verlautbarung des ärztlichen Berufsethos: dem Hippokratischen Eid. Die hippokratischen Ärzte im 5. Jahrhundert v. Chr. grenzten sich mit ihrer Orientierung an der Lehre der vier Körpersäfte (Blut, gelbe Galle, Schleim und schwarze Galle) erstmals in der griechischen Heilkunst von traditionellen und religiösen Heilern ab. Sie waren Wanderärzte, die für ihre Dienste entlohnt wurden und sich allenfalls für eine gewisse Zeit an einem Ort niederließen. Sie durchliefen keine formalisierte Ausbildung. Stattdessen erfolgte die Ausbildung der Novizen individuell: in der Zusammenarbeit zwischen einem Schüler und seinem Lehrer. Um der starken Konkurrenz anderer Heiler entgegenzuwirken, legte sich die Ärzteschaft freiwillig auf bestimmte fachliche und ethische Verhaltensregeln fest. Das war nötig, um sich eine Vertrauensgrundlage für die Anwerbung und Aufrechterhaltung eines Kundenstammes zu schaffen. Aus dieser Perspektive lässt sich auch der Hippokratische Eid verstehen: Er ist eine identitätsstiftende, reputationsbildende und gleichzeitig von anderen Tätigkeitsbereichen abgrenzende Explikation dessen, was einen guten Arzt vor anderen (insbesondere vor anderen Heilern) auszeichnet. Obschon weder der Autor noch die Entstehungszeit des Eides eindeutig bestimmt werden können, hat er sich auf das Selbstverständnis aller Heilberufe bis heute ausgewirkt.[17]In diesem Eid wird die Exklusivität der ärztlichen Tätigkeit betont: Die Ausbildung in einem engen Lehrer-Schüler Verhältnis wird geregelt, es wird auf die notwendige Redlichkeit des Arztes sowohl bei der Behandlung seiner Patienten als auch in seinem Privatleben verwiesen und darauf, dass er keine mit der Heilkunst unvereinbaren oder niederen, d. h. chirurgischen Maßnahmen, durchführen darf. Der Eid verpflichtet den Arzt darauf, zum Wohl des Patienten zu wirken und Schaden zu vermeiden (primum non nocere). Wer den Eid leistete, legte sich also auf bestimmte Standards in der medizinischen Versorgung fest und definierte sich als Angehöriger eines ehrenhaften und vertrauenswürdigen Standes. Die im Hippokratischen Eid ausgewiesene Verpflichtung des Arztes auf das Wohl des Patienten, das Gebot der Schadensvermeidung, die Schweigepflicht und das Verbot, die Situation des Kranken auszunutzen, werden bis heute von der Ärzteschaft und anderen Heilberufen als verbindlich betrachtet. Das Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes von 1948, formuliert unter dem Eindruck des Nürnberger Ärzteprozesses (1946/47), enthält diese berufsethischen Normen in der Tradition des Hippokratischen Eides.[18]

1.2Was bedeutet Professionalisierung?

In der griechischen Antike hatte die Festlegung der Ärzte auf bestimmte fachliche und ethische Standards durch den Eid des Hippokrates eine doppelte Funktion inne: Sie schützte zum einen die Patienten, bewahrte aber durch die Schaffung einer geschlossenen"Ärztegilde"auch die Ärzte vor Konkurrenz und sicherte ihnen eine gewisse Unabhängigkeit zu. Hierin lässt sich in Grundzügen schon die Formierung eines eigenständigen Berufsstandes erkennen.[19]

Wir wollen uns nun mit dem Begriff derProfessionalisierungbeschäftigen, der sich, allgemein verstanden, auf die Verberuflichung bestimmter Tätigkeiten in einer Gesellschaft bezieht. In diesem sehr allgemeinen Sinne könnten wir sogar bei den hippokratischen Ärzten der griechischen Antike schon von einem Professionalisierungsprozess sprechen. In einem engeren Sinne geht es bei der Professionalisierung aber um eine wesentlich später einsetzende spezifische Entwicklung solcher Berufsgruppen, die man im englischen Sprachraum als"Professions"bezeichnet. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich das, was wir im Deutschen unter dem Titel"freier Beruf","Expertenberuf"oder"akademischer Beruf"fassen.

In der Professionstheorie waren im 20. Jahrhundert Autoren wie W. J. Goode, die eine funktionalistische Betrachtung derProfessionsvornahmen, sehr einflussreich.[20]Grundlage von Goodes Theorie ist die Annahme, dass durch das komplexe Fachwissen der Berufsangehörigen eine Kontrolle der von ihnen erbrachten Leistungen durch die Leistungsempfänger – die Klienten, Mandanten oder Patienten – wesentlich schwieriger ist als in anderen Berufen. Gerade bei diesen Leistungen besteht aber ein starkes Interesse der Gesellschaft daran, die Leistungskompetenz der Leistungserbringer zu kontrollieren, weil die erbrachten Güter von zentraler Wichtigkeit für die Gesellschaft und ihre Mitglieder sind.[21]Die Lösung dieses Problems liegt nach derartigen Ansätzen darin, dass die Gesellschaft den Berufsangehörigen unter bestimmten Bedingungen zugesteht, sich selbst zu kontrollieren. Dietrich Rüschemeyer beschreibt das funktionalistische Modell folgendermaßen:

"Individuell und kollektiv durch ihre Verbände sichern sie [die Berufsangehörigen, c.s.] den Klienten und der Gesellschaft Fachkompetenz und Integrität zu und verweisen auf Ausbildung und sorgfältige Auswahl ihrer Mitglieder, auf formelle und informelle Beziehungen zwischen Kollegen und Berufskodizes und Ehrengerichte als Garanten der Selbstkontrolle. Im Gegenzug erwarten und erhalten sie das Vertrauen von Klienten und Gesellschaft, relative Freiheit von sozialer Kontrolle durch Laien, Schutz gegen unqualifizierten Wettbewerb und – last but not least – hohes Einkommen und ein entsprechendes gesellschaftliches Ansehen."[22]

Eliot Freidson setzt einen anderen wichtigen Akzent in der Professionstheorie, wenn er betont, dass zu denProfessionsin erster Liniediejenigen Berufe gehören, die sich Autonomie vor den Anordnungen anderer und ein Monopol auf bestimmte Dienstleistungen sichern können. Ihm zufolge verdankt sich die Autonomie der Professionen vorwiegend der Protektion der herrschenden Elite bzw. des Staates und weniger einem gesicherten Fachwissen der Professionsangehörigen oder einem speziellen Ethos.[23]Diese Aspekte müssen allerdings nicht als Alternative gesehen werden, auch wenn sie zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlich starker Bedeutung für die Professionalisierungsprozesse verschiedener Berufsgruppen gewesen sein mögen. Die Betonung von Fachkompetenz und Integrität und das Bemühen um eine gesicherte Stellung auf dem Markt der zu erbringenden Leistungen können durchaus zusammengedacht und gerade in derEntwicklung der Ärzteschaft zu einer einheitlichen Profession auch nachvollzogen werden.

1.3Situation und Ausbildung der deutschen Ärzte im 18. und 19. Jahrhundert

Im Folgenden wird die Genese einer berufsethischen Orientierung der Ärzteschaft in Abgrenzung zum Selbstverständnis als Gewerbetreibende auf der einen und als Staatsdiener auf der anderen Seite herausgearbeitet. Insbesondere nehmen wir dabei die Professionalisierungsbestrebungen der deutschen Ärzteschaft im 18. und 19. Jahrhundert bis hin zur Verkammerung in den Blick.

Auch wenn wir hier einen enormen Zeitsprung machen – von den hippokratischen Ärzten der Antike zu den universitär gebildeten deutschen Ärzten des 19. und 20. Jahrhunderts –, sind die Probleme der Berufsangehörigen im Grunde gar nicht so verschieden. Tatsächlich werden wir später auch bei der Beschreibung dieser Epoche auf antikes Gedankengut zurückkommen. So hatte sich aus dem starken Anwachsen der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert im Vergleich zur Gesamtbevölkerung und der großen Konkurrenz für die akademisch gebildeten Ärzte durch Wundärzte und Laienheiler ein starker Wettbewerbsdruck auf dem eng begrenzten Markt für medizinische Leistungen ergeben. Der Verweis auf eine universitäre Ausbildung allein genügte nicht, um die Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, obschon die Zugehörigkeit zum Gelehrtenstand mit einem gewissen Sozialprestige einherging. Die gesellschaftlichen Bedingungen dieser Epoche werden wir im Folgenden hauptsächlich anhand der Erläuterungen von Claudia Huerkamp über die Entwicklung der Ärzteschaft in Preußen aufzeigen.[24]

Vor dem Einsetzen der Industrialisierung war die Ärzteschaft stark segmentiert. Auf der einen Seite standen die gelehrten Ärzte, die ein Studium an einer Universität absolviert hatten. Auf der anderen Seitefand sich eine bunte Mischung von Heilern: die Wundärzte, die Bader, Barbiere und Hebammen, die alle bestenfalls eine handwerkliche Ausbildung vorzuweisen hatten. Die akademisch ausgebildeten Ärzte konnten sich bis zur Mitte des 19. Jahrhundert keiner größeren praktischen Heilkompetenz rühmen als andere Heiler. Den meisten Krankheiten standen sowohl die einen als auch die anderen hilflos gegenüber.[25]In dieser Hinsicht gab es damals für die Bevölkerung also keinen Grund einen akademisch gebildeten Arzt einem anderen Heiler vorzuziehen. Hinzu kam, dass die Konsultation eines gelehrten Arztes für die meisten Menschen dieser Epoche ein utopisches Unterfangen bedeutet hätte: Einmal, weil diese Ärzte ein höheres Honorar verlangten als die Laienheiler, zum anderen, weil sie sich zumeist im städtischen Raum ansiedelten und so für die Landbevölkerung, die den"Gelehrten"zu misstrauen pflegte, schwer zu erreichen waren.[26]Die Hauptklientel der gelehrten Ärzte bestand in der begüterten aber kleinen gesellschaftlichen Oberschicht der Städte. Auch bei diesen Patienten fand sich allerdings nicht viel mehr Vertrauen in die ärztliche Kompetenz als es bei der Landbevölkerung der Fall war. Der Arzt musste oftmals fürchten durch einen anderen ersetzt zu werden, sobald seinem Dienstherrn die angewendeten Heilmethoden nicht zusagten. So kam es vor, dass sich mehrere Ärzte und manchmal auch andere Heiler am Bett des Kranken darüber stritten, worin nun die beste Therapie für den Patienten bestehen sollte.[27]Der Reputation ärztlicher Heilkunst war diese Praxis nicht eben förderlich. Die Entscheidungsfreiheit eines Arztes war unter derartigen Bedingungen beschränkt. Er war wirtschaftlich davon abhängig die Gunst seiner"Herrschaft"zu erhalten, auch wenn das in therapeutischer Hinsicht erhebliche Zugeständnisse an seinen Patienten bedeuten mochte, denn schon der Verlust einer einzigen Hausarztposition hätte für den Arzt aufgrund des üblicherweise kleinen Kundenstammes eine erhebliche finanzielle Einbuße bedeutet.[28]

Im Gegensatz zu den akademischen Ärzten, deren Prestige sich wesentlich aus ihrer Zugehörigkeit zum Gelehrtenstand und aus einer Lebensweise ergab, die sich in vielerlei Hinsicht an den Gepflogenheiten der gesellschaftlichen Oberschichten orientierte[29], rekrutierten sich die Wundärzte im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts eher aus der bäuerlichen und handwerklichen Bevölkerung.[30]Sie wurden in Preußen in verschieden ausgebildete und geprüfte Wundärzte unterteilt. Die Stadtwundärzte waren in der Regel höher qualifiziert als die Landwundärzte. Als Wundarzt konnte man in Preußen arbeiten, wenn man an der akademischen Chirurgenschule, dem"Collegium medico-chirurgicum", eine sowohl theoretisch, als auch praktisch ausgerichtete Ausbildung zum Chirurgen durchlaufen hatte. Man konnte aber auch Autodidakt sein und sich durch jahrelange Übung eine besondere Geschicklichkeit in bestimmten Operationen erworben haben. Diese Wundärzte, zu denen vor allem die Starstecher, die Bruch- und Steinschneider zählten, übten ihre Tätigkeit zumeist im Umherziehen aus. Oft erhielten sie auch ohne das Ablegen einer Prüfung, die für eine Approbation notwendig gewesen wäre, eigene behördliche Konzessionen.[31]

Ein Schritt zur Anhebung der Qualifikation der Ärzteschaft wurde mit der preußischen Prüfungsordnung von 1825 getan.[32]Auf Grundlage dieser Prüfungsordnung wurden die Prüfungen standardisiert und verstärkt praktisch relevantes Fachwissen abgefragt. Die Festsetzung dieser verschärften Anforderungen diente auch der Abgrenzung der Ärzte gegen die Laienheiler. Die Wundärzte wurden in dieser Zeit in zwei Klassen eingeteilt: Während die Wundärzte erster Klasse eine halbakademische Ausbildung durchliefen und in Chirurgie und innerer Medizin unterrichtet wurden, war den Wundärzten zweiter Klasse die Rolle von Hilfsärzten zugedacht, die vorzugsweise für die akademisch gebildeten Ärzte oder für die Wundärzte erster Klasse tätig werden sollten. Hinter dieser Einteilung stand das Bestreben des Staates auch der Landbevölkerung eine bessere medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Auch die Bürger in entlegenen Gebieten sollten zu einem"rationalen"und Aberglauben freien Gesundheitsverhalten erzogen werden.[33]Da sich die akademischen Ärzte aber vorwiegend im städtischen Bereich ansiedelten, hoffte man mit der Einführung der gut ausgebildeten Wundärzte erster Klasse die Versorgung auf dem Lande zu verbessern. Man nahm an, dass sich diese eher in stadtfernen Gebieten niederlassen würden als die Ärzte, die ein Studium an einer Universität absolviert hatten.[34]

1.4Staat und Ärzteschaft

Am soeben geschilderten Beispiel zeigt sich die wachsende Tendenz des preußischen Staates sich für gesundheitspolitische Fragen einzusetzen und sein Hinwirken auf eine verstärkte Kontrolle und Reglementierung der Ärzteschaft. Das erklärt sich historisch daraus, dass mit dem aufgeklärten Absolutismus im preußischen Staat das Interesse an einer möglichst zahlreichen und gesunden Bevölkerung erwachte, nicht zuletzt aus der Überlegung heraus, dass in einer solchen Bürgerschaft wichtige Produktionsreserven für die Wirtschaft liegen könnten. Gesundheit entwickelte sich seit dem 18. Jahrhundert zum Gegenstand staatlicher Intervention. Damals kommt es auch zur Einführung des Begriffs der"Medizinischen Polizei". In der Enzyklopädie von Johann Georg Krünitz findet man folgende Definition:

"Medicinal-Polizey, medicinische Polizey oder öffentliche Gesundheitspflege , ist diejenige Ordnung und Einrichtung, durch welche die Gesundheit aller in einem Staate beysammen lebenden Menschen, und zum Theil auch der Hausthiere, nach diätetischen und medicinischen Grundsätzen unter obrigkeitlicher Aufsicht gesichert, erhalten, und, wenn sie gelitten hat, die Wiederherstellung derselben gefördert wird."[35]

Zudem war der Staat zunehmend darauf bedacht seine Zentralgewalt mit gut ausgebildeten Staatsdienern zu stärken. Zu solchen Staatsdienern wurden schließlich auch die staatlich approbierten und kontrollierten Ärzte. Dank des staatlichen Interesses an einem guten Gesundheitszustand seiner Bürger und an einer funktionierenden medizinischen Infrastruktur kam den Ärzten in dieser Periode eine zuvor nicht gekannte Bedeutung im Staat zu. Sie konnten als Medizinalbeamte die öffentliche Diskussion über die staatliche Gesundheitspolitik im eigenen Sinne beeinflussen und so ihre Rolle als"Experten"stärken.

Die Verbindung der Ärzte mit der Politik führte so auf der einen Seite zu einer größeren Abhängigkeit der Ärzte vom Staat, sie förderte auf der anderen Seite aber auch die Durchsetzung berufsständischer Interessen.[36]So gelang es den Ärzten etwa in verschiedenen deutschen Staaten ab dem 18. Jahrhundert der Forderung Nachdruck zu verleihen, dass die institutionelle Krankenversorgung durch die Schaffung von Krankenhäusern verbessert werden müsste. Die Forderung korrespondierte zwar nicht mit einer real vorhandenen Nachfrage nach einer solchen Versorgung in der Bevölkerung. Umso mehr entsprach sie aber dem Bedarf der Ärzte nach verbesserten Möglichkeiten zur klinischen Ausbildung und Forschung, die an den Universitäten lange Zeit nur unzureichend gegeben waren. Durch das systematische Ansammeln von Erfahrungen in der Therapie von Kranken im Krankenhaus wollte man die Kluft zwischen Theorie und klinischer Praxis schließen. Das war entscheidend, um der noch jungen naturwissenschaftlich geprägte Medizin Anerkennung zu verschaffen und den Anspruch der Ärzteschaft auf eine größere professionelle Autonomie gegenüber der Öffentlichkeit vertreten zu können.[37]

1.5Einheitsstand, Markterweiterung und ein geändertes Arztbild

Auch nach 1825 wuchs die Ärzteschaft in den preußischen Städten weitaus stärker an als die übrige Bevölkerung. Der Typus des gelehrten Arztes, der vorwiegend theoretisch gebildet ist, wandelt sich. Er wird durch den theoretisch und praktisch ausgebildeten und promovierten Medikochirurgen ersetzt. Die Erwartung, dass sich die Wundärzte erster Klasse auf dem Land niederlassen würden, erfüllte sich nicht. Somit blieben für die Versorgung der Landbevölkerung vorwiegend die Wundärzte zweiter Klasse zuständig. Die geplante Verbesserung der Versorgungssituation wurde nicht erreicht.[38]

In den Städten verschärfte sich indes der Wettbewerb unter den Ärzten. Auch die erschwerte Approbationsprüfung konnte dieser Entwicklung keinen Einhalt gebieten.[39]Der Konkurrenzkampf ließ die Forderung der akademischen Ärzteschaft nach der Abschaffung der"niederen"Ärztekategorien immer lauter werden.[40]Man setzte innerhalb der sich zunehmend berufspolitisch engagierenden Ärzteverbände auf die eigene Expertise, die eigene Professionalität ─ und verband diese Eigenschaften mit einem Monopolanspruch auf dem Markt der medizinischen Versorgung.[41]

In der Medizinalreformbewegung der 1840-er Jahre tauchte die Forderung nach der Schaffung eines einheitlichen Ärztestandes immer häufiger auf. Bis zum Revolutionsjahr 1848 wurde ihr in einer Flut von Publikationen Nachdruck verliehen. In Denkschriften und Vereinsresolutionen setzen sich die Ärzte mit der medizinischen Ausbildung, der Stellung des Arztes im Staat und mit der bestmöglichen Organisation des Gesundheitswesens auseinander.[42]Man wollte eine grundlegende Reform durchsetzen. Unter anderem sollten Ärztevertreter in Medizinalangelegenheiten ein größeres Mitspracherecht erhalten; Standesvertretungen mit eigener Disziplinargewalt wurdenangestrebt. Wenn auch viele der gestellten Forderungen unerfüllt blieben, so gab der preußische Staat doch in der Frage der unterschiedlichen Ärztekategorien nach: Die Wundärzteausbildung wurde eingestellt. Am 8. Oktober 1852 wurde der Einheitsstand der Ärzteschaft gesetzlich verankert. Die Ärzte, die von diesem Zeitpunkt an zugelassen wurden, praktizierten unter dem Titel"Praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer".[43]Die Wundärzte zweiter Klasse wurden durch den Beruf des Heildieners ersetzt, der in seiner Tätigkeit den Weisungen eines Arztes folgen sollte.

Mit der Vereinheitlichung der Ärzteschaft in Preußen und in anderen deutschen Staaten wurde eine wichtige Etappe der Professionalisierung abgeschlossen. An eine Selbstverwaltung der Ärzteschaft war allerdings noch nicht zu denken. Die Ärzte wurden weiterhin stark von staatlicher Seite kontrolliert und blieben von der Gunst ihrer zahlungskräftigen Klientel abhängig.[44]Von einer erstarkenden Autonomie der Ärzteschaft kann bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts daher nur in Ansätzen die Rede sein.

Grundlegende Veränderungen ergaben sich erst durch die Erweiterung des medizinischen Marktes, die auf verschiedene gesellschaftliche und politische Einflüsse zurückzuführen war. Die traditionellen Strukturen der medizinischen Versorgung auf dem Land wurden durch die fortschreitende Urbanisierung aufgebrochen. Einem immer größeren Anteil der Bevölkerung war es möglich einen Arzt zu erreichen. Zudem erweiterten staatliche Maßnahmen wie die Einführung der Pockenschutzimpfung, der Aufbau einer armenärztlichen Versorgung in den Städten und die Einführung schulärztlicher Untersuchungen den Kompetenzbereich der Ärzte. Dadurch kamen erstmalig Bürger der weniger betuchten Gesellschaftsschichten in den Genuss einer ärztlichen Behandlung.[45]Ein Meilenstein für die Ausweitung des Marktes für medizinische Leistungen war die Einführung des Krankenversicherungsgesetzes unter Bismarck im Jahre 1883. Laut Huerkamp ergab sich aus der veränderten sozialen Zusammensetzung der Klientel der Ärzte, die aus der Einführung dieses Gesetzes folgte, auch eine tatsächliche Änderung des Arzt-Patienten-Verhältnisses: Anstelle eines Abhängigkeitsverhältnisses, in dem der Arzt dem Dienstherren Patient untertänig ist, musste sich der Patient – so er denn zu einer der neuen Patientenschichten gehörte – nun in der Regel den Anordnungen des Arztes fügen. Damit wurde die Position des Arztes gegenüber der Position des Patienten gestärkt.[46]Die Umkehr im Arzt-Patienten-Verhältnis wurde dadurch begünstigt, dass sich die Medizin immer mehr zu einer experimentell fundierten Naturwissenschaft entwickelte. Dazu kam die schon erwähnte verstärkte Orientierung des Studiums an den Erfordernissen der Praxis. Gerade die Fähigkeit der Ärzte Krankheiten zutreffend zu diagnostizieren verbesserte sich und begründete so die fachliche Überlegenheit der Akademiker gegenüber anderen Heilern. Außerdem trug die zunehmende Spezialisierung in Wissenschaft und Praxis dazu bei, dass sich der Expertenstatus der Ärzte in der Bevölkerung festigte. So bildete sich etwa die Augenheilkunde als eigener Fachbereich heraus. Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die spezialisierte Behandlung von Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten durch. Zudem gab es bald Frauenärzte für die Behandlung von Krankheiten der weiblichen Geschlechtsorgane und Kinderärzte, die sich auf die Behandlung typischer Kinderkrankheiten spezialisierten.[47]

1.6Zwischen staatlicher Bindung und Gewerbe

Der Kampf um mehr Autonomie gegenüber dem Staat dauerte indes noch lange an, auch deswegen, weil er durch eine starke Ambivalenz innerhalb der Ärzteschaft geprägt war. Einerseits strebte man den Abbau von staatlicher Kontrolle und die Befreiung von hoheitlichen Bindungen an, andererseits wollte man sich aber des staatlichen Schutzes gegen etwaige Konkurrenten versichert wissen.[48]

Ein Grund für die Ablehnung ihrer beamtenähnlichen Stellung bestand für die Ärzte im 19. Jahrhundert darin, dass den Pflichten, die der Staat ihnen auferlegte, keine beamtenüblichen Privilegien korrespondierten. In disziplinarischen Fragen unterstanden sie direkt dem Staat und wie die Staatsbeamten mussten sie ihre politische Integrität nachweisen, bevor sie approbiert werden konnten. Außerdem konnte ihnen die Approbation durch den Staat wieder entzogen werden, wenn Zweifel an ihrer"Berufstüchtigkeit"und"Zuverlässigkeit"aufkamen.[49]Zu den Pflichten der Ärzte gehörte u. a. das Abfassen von Sanitätsberichten, v. a. aber auch die Auflage jeden Hilfsbedürftigen zu behandeln – und zwar ohne Berücksichtigung seiner Zahlungsfähigkeit (Kurierzwang). Für diese und andere Pflichten, die den Ärzten vom Staat auferlegt wurden, erhielten sie keine beamtentypische Entschädigung: Sie hatten keine gesicherte Stellung mit steigenden Gehaltsaussichten und Pensionsansprüchen wie die Staatsbeamten vorzuweisen, und auf dem Markt mussten sie sich im Konkurrenzkampf wie die Gewerbetreibenden behaupten.[50]

1869 wurde die Tätigkeit preußischer Ärzte auf Initiative der Berliner Medizinischen Gesellschaft (BMG)[51]vom Reichstag des NorddeutschenBundes zum Gewerbe erklärt, das jeder ausüben konnte. Nur der Titel"Arzt"blieb weiterhin geschützt, d. h. nicht approbierte Personen durften diese Bezeichnung nicht tragen. Mit der Neufassung der Gewerbeordnung entfielen der Diensteid und diejenigen Bestimmungen, die es den Medizinalbehörden bisher erlaubt hatten, Ärzten ihre Approbation zu entziehen. Der Kurierzwang wurde abgeschafft. Das Kurpfuschereiverbot, das im Strafgesetzbuch bis dahin festgesetzt war, wurde aufgehoben.[52]Der Status als Gewerbetreibende wurde allerdings schon in den 70-er Jahren von der preußischen Ärzteschaft kritisiert. So wurde etwa bezweifelt, dass die Aufhebung des Kurierzwangs tatsächlich nur durch die Aufgabe des ärztlichen Kurierprivilegs hatte ermöglicht werden können.[53]Bereits in den 40-er Jahren hatte es in den Ärztevereinen ohnehin zwei Strömungen gegeben: Die einen befürworteten im Geiste des Liberalismus eine zunehmende Loslösung von der staatlichen Inpflichtnahme. Die anderen votierten für eine verstärkte staatliche Einbindung der ärztlichen Tätigkeit. Die Gegner der rechtlichen Gleichstellung der Ärzte mit den Gewerbetreibenden von 1869 wiesen im Nachhinein v. a. auf den dadurch verursachten Zuwachs der Kurpfuscherei und einen Abfall im sozialen Ansehen der Ärzte hin. Ab 1878 forderten viele Ärzte deshalb eine Herausnahme der Ärzte aus der Gewerbeordnung und die rechtliche Fixierung ihrer besonderen Stellung in einer Ärzteordnung.[54]Entsprechend ihrer Forderungen sollte insbesondere das Recht zur Ausübung der Heilkunde wieder generell an den Nachweis einer Approbation gebunden und die Ausübung der Laienmedizin bestraft werden. Der ursprüngliche Wunsch nach einer völligen Emanzipation von jeder staatlichen Abhängigkeit nahm eine andere Form an: Zwar wollte man sich weiterhin vor staatlicher Bevormundung schützen, gleichzeitig aber unter staatlicher Protektion als selbstorganisierter Berufsstand agieren.

Die Durchsetzung der verschiedenen berufspolitischen Ziele der Ärzte verlangte nach einer einheitlichen berufsständischen Interessenvertretung. Nach dem Revolutionsjahr 1848 und einer vorübergehenden Stagnation im ärztlichen Vereinswesen[55]bemühte man sich in den 60-er Jahren vermehrt um eine solche einheitliche Organisation. Nach der Reichsgründung kam man diesem Ziel mit der Gründung des Ärztevereinsbundes auf dem ersten deutschen Ärztetag näher (1873). Zu den grundlegenden Anliegen der sich organisierenden Ärzteschaft gehörte es, den Staat davon zu überzeugen, dass die Selbstkontrolle der Ärzteschaft die staatliche Kontrolle überflüssig machen würde. Es sollten staatlich anerkannte Ärztekammern als Standesvertretungen eingerichtet werden. Das waren Körperschaften öffentlichen Rechts, deren Mitglieder aus der Ärzteschaft gewählt werden sollten. In Preußen dauerte es indes noch bis zu einer Verordnung im Jahr 1887 bis die Einrichtung von Ärztekammern stattfinden konnte. Ihre Aufgabe sollte

"[…] die Erörterung aller Fragen und Angelegenheiten [sein], welche den ärztlichen Beruf oder das Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege betreffen oder auf die Wahrnehmung und Vertretung der ärztlichen Standesinteressen gerichtet sind."[56]

Die Ausstattung der ärztlichen Standesvertretungen mit wirksamen Disziplinarrechten wurde innerhalb der Ärzteschaft zunächst kontrovers diskutiert. Dabei spielte insbesondere die Frage eine Rolle, in welchem Umfang das Verhalten eines Arztes Angelegenheit der Ehrengerichtsbarkeit[57]sein sollte, d. h. inwiefern etwa ärztliches Verhalten außerhalb des Berufs zur Debatte stehen sollte. Viele Ärzte befürchteten damals, dass durch die neue Disziplinargewalt ein zu großer Bereich des ärztlichen Lebens kontrolliert werden würde, z. B. politische oder religiöse Aktivitäten der einzelnen Ärzte. Einige Urteile des Ehrengerichtshofs, in dem der staatliche Einfluss größer war als in den Ehrengerichten, scheinen diese Befürchtungen auch nahe zu legen.[58]Insgesamt ist die Schaffung der Ehrengerichtsbarkeit aber ein weiterer Schritt im Professionalisierungsprozess der Ärzte dieser Epoche. Nicht mehr rein staatliche Behörden, sondern Instanzen, in denen die Ärzte selber verstärkt Einfluss nehmen konnten, wachten jetzt darüber, dass ihre Kollegen den beruflichen Ehrenkodex, insbesondere das Gebot der Kollegialität, einhielten. Dem Staat kam freilich weiterhin eine starke Kontrollfunktion über die ärztliche Tätigkeit zu. Die nahezu absolute Kontrolle, die er noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts innehatte, war aber gebrochen.[59]

1.7Die Betonung der Besonderheit der ärztlichen Tätigkeit

Um die Ablösung der Ärzteschaft vom Staat einerseits und die Abgrenzung von den Gewerbetreibenden andererseits zu rechtfertigen, nahmen die deutschen Ärzte im politischen Diskurs auf die Besonderheit ihrer Tätigkeit, einschließlich der dazu erforderlichen Standesmoral, Bezug. Nun hatte allerdings der Wettbewerbsdruck in der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert zu einem massiven Gewinnstreben der Berufsangehörigen und zu einem Mangel an kollegialer Rücksichtnahme geführt. Die Gewinnsucht der Ärzte wurde vielerorts angeprangert. Es musste also etwas geschehen, damit das Ansehen des ärztlichen Standes wieder gehoben werden konnte. Andernfalls war das Privileg der Selbstverwaltung weder vor dem Staat noch vor den Augen der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Dafür war es zum einen erforderlich, die schlechten materiellen Verhältnisse zu verbessern, die die gegenseitige Missgunst unter den Ärzten geschürt hatten. Zum anderen intensivierte sich die Reflexion darüber, was eine gute ärztliche Berufsausübung ausmacht und wie die Stellung der Ärzte in der Gesellschaft und zum Staat gestaltet sein sollte. Bei der Reflexion der Fundamente des Arztberufs stellte man – wie im 19. Jahrhundert nicht unüblich – rückschauende Betrachtungen an. Diese führten bis in die griechische und römische Antike zurück und sollten die höheren Zwecke und Pflichten, denen der ärztliche Stand in seiner Tätigkeit unterworfen war, historisch untermauern.[60]Wichtig wurde hier vor allem der antike Gedanke, dass die ärztliche Tätigkeit nicht in erster Linie aus einem Gewinninteresse folgen sollte, sondern wesentlich einem altruistischen Antrieb zu entspringen habe. Dabei berief man sich u. a. auf die antike Geringschätzung bezahlter Arbeit und auf die Hochschätzung unentgeltlicher und unabhängiger Arbeit. Man bezog sich in diesem Zusammenhang auch darauf, dass bestimmte ehrenhafte Leistungen, die"eines freien Mannes würdig"waren, in der Antike nichtentlohntwurden. Solche Leistungen wurden in Form einer Ehrengabe beglichen, dem so genannten Honorarium.[61]Des Weiteren bezog man sich in der Debatte des 19. Jahrhunderts auf den antiken Begriff der"artes liberales". Darunter fielen diejenigen Tätigkeiten, denen eine Wissenschaft zugrunde lag. Dazu ist anzumerken, dass die Kenntnis einer Wissenschaft von römischen Schriftgelehrten wie Seneca als die Voraussetzung des Tugenderwerbs begriffen wurde[62]und nicht als Voraussetzung eines späteren Broterwerbs. So scharf konnte man die"geistige"Tätigkeit des Arztes im 19. Jahrhundert freilich nicht von ihrem erwerbsmäßigen Charakter trennen. Man konnte sich aber auf berufsethische Normen einigen, nach denen sich der Arzt in der Patientenversorgung zuvörderst am Wohl des Patienten orientieren sollte, und wonach das nicht gänzlich zu verleugnende Gewinnstreben der Ärzte gegenüber ihren Kollegen durch die Verpflichtung auf Kollegialität in angemessenen Bahnen zu halten war.

2.Die Entwicklung der Krankenpflege zu einem eigenständigen Beruf

2.1Pflege im frühen Christentum und im Mittelalter

Die Pflege von Kranken wurde lange Zeit innerhalb der Familie geleistet. Meist waren es die Frauen, die diese Aufgabe im familiären Umfeld übernahmen. Dieser Aufgabenbereich der Frau wurde im frühen Christentum bestätigt. In der frühchristlichen Einrichtung der Diakonie leisteten insbesondere die Diakonissen die Pflege von Kranken und Hilfsbedürftigen in den Gemeinden. Diese Pflege wurde im Wesentlichen von allein stehenden Frauen übernommen, von Witwen und jungen Frauen, die (noch) keine eigenen Familien zu versorgen hatten. Nachdem den Christen durch das Toleranzedikt von Konstantin dem Großen im Jahre 313 Religionsfreiheit zugesichert worden war, wuchsen die Christengemeinden stark an. In ihnen wurden Hospitale eingerichtet, in denen Kranke, Schwache und Fremde aufgenommen und versorgt wurden. In diesen Einrichtungen arbeiteten Priester mit ärztlicher Funktion und ledige Pflegepersonen.[63]

Die christliche Heilkunde und Pflege setzte sich in der Klostermedizin des Mittelalters fort. Die entstehenden Ordensgemeinschaften widmeten sich mehr und mehr der Betreuung von Kranken. Die Behandlung im frühmittelalterlichen Hospital bestand hauptsächlich aus derAnwendung diätetischer Methoden. Ärztliche Eingriffe blieben beschränkt. Mit einem Krankenhaus im heutigen Sinne waren diese Hospitäler nicht zu vergleichen. Sie ähnelten eher"karitativen Sozialasylen"[64], in denen man sich um Hinfällige aller Art kümmerte.

In der Klostermedizin existierten Heilkunde und Krankenpflege weitgehend parallel.[65]Mit dem Edikt von Clermont von 1130 änderte sich dieser Zustand. Darin wurde bestimmt, dass sich die Mönche mehr auf ihre geistliche Bestimmung besinnen sollten. Deshalb wurde ihnen die medizinische Betätigung am Krankenbett untersagt. In der Folge wurde die Medizin aus den Klöstern ausgelagert und fand später ihren Platz an den Universitäten. Die Pflege verblieb, dem Ideal der christlichen Caritas entsprechend, in den Ordensgemeinschaften der klösterlichen Hospitäler. An dieser Stelle wird eine erste institutionelle Trennung zwischen Heilkunde und Pflege manifest.[66]

2.2Der wachsende Bedarf nach Ausbildung in der Krankenpflege

Auch in den folgenden Jahrhunderten spielte die Pflege in christlichen Ordensgemeinschaften eine wichtige Rolle. Das Ideal der barmherzigen Pflege der Kranken und Schwachen prägt daher das pflegerische Berufsethos stark und wirkt bis heute nach.

Im 16. Jahrhundert ergaben sich allerdings gerade in den Ländern, die sich zur Reformation bekannten, grundlegende Veränderungen in der Organisation der Krankenpflege. In den protestantischen Ländern wurde die Krankenpflege nicht mehr in den Klöstern geleistet. Anstelle dessen wurde in den öffentlichen Hospitälern ein neues System eingeführt: das Lohnwartesystem. Die angestellten Wärter und Wärterinnen stammten meist aus den unteren Bevölkerungsschichten. Sie wurden für ihren Krankendienst entlohnt, in der Regel mit Naturalien und Unterkunft.[67]Diesem Wartpersonal ging es weniger um die Ausführung der dienenden Nächstenliebe und die Erwartung eines daraus folgenden"Gotteslohns"