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Dr. Leon Windscheid

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Beschreibung

WER MENSCH SEIN WILL, MUSS FÜHLEN. Der Psychologe Leon Windscheid begibt sich auf eine bewegende Reise durch unser Innenleben. Gefühle bestimmen unser Leben, und doch wissen wir wenig über sie. Windscheid geht den Fragen nach, ob Angst auch eine gute Seite hat, ob es die ewige Liebe gibt, und wofür wir eigentlich Langeweile brauchen? Er zeigt, was gerade so starke Emotionen wie Trauer und Wut besonders wertvoll macht und wie sie uns als Menschen helfen. Am Ende gewinnen wir ein neues Verständnis von uns selbst und verstehen, wieso Fühlen unsere größte Stärke sein kann. Windscheid verbindet überraschende wissenschaftliche Erkenntnisse mit Einsichten aus Tausenden Jahren Menschheitsgeschichte. Mit vielen Denkanstößen weist er neue Wege zu mehr Gelassenheit. «Dr. Leon Windscheid ist Fachmann für Gefühle. Ob Langeweile oder Leidenschaft – Windscheid erforscht sie alle.» WDR «Wer das Buch liest, wird davon profitieren. Windscheid leistet einen wichtigen Beitrag zum Streit über den Begriff der Angst.» Prof. Dr. Jerome Kagan, Harvard University

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Dr. Leon Windscheid

Besser fühlen

Eine Reise zur Gelassenheit

Über dieses Buch

Hat Angst auch eine gute Seite? Gibt es die ewige Liebe? Und warum brauchen wir Langeweile? Gefühle bestimmen unser Leben, und doch wissen wir wenig über sie. Der Psychologe Leon Windscheid begibt sich auf eine bewegende Reise durch unser Innenleben. Er zeigt, was gerade so starke Emotionen wie Trauer und Wut besonders wertvoll macht und wie sie uns als Menschen helfen. Am Ende gewinnen wir ein neues Verständnis von uns selbst und verstehen, wieso Fühlen unsere größte Stärke sein kann.

Windscheid verbindet überraschende wissenschaftliche Erkenntnisse mit Einsichten aus Tausenden Jahren Menschheitsgeschichte. Mit vielen Denkanstößen weist er neue Wege zu mehr Gelassenheit.

 

«Dr. Leon Windscheid ist Fachmann für Gefühle. Ob Langeweile oder Leidenschaft – Windscheid erforscht sie alle.»

WDR

 

«Wer das Buch liest, wird davon profitieren. Windscheid leistet einen wichtigen Beitrag zum Streit über den Begriff der Angst.»

Prof. Dr. Jerome Kagan, Harvard University

Vita

Dr. Leon Windscheid, geboren 1988 in Bergisch Gladbach, forschte gemeinsam mit Wissenschaftlern aus der ganzen Welt. Seine Studien erschienen in international angesehenen Fachzeitschriften, sein erstes Buch «Das Geheimnis der Psyche» war ein Spiegel-Bestseller. Windscheid ist regelmäßiger Gast in Talkshows, belegt mit seinen Podcasts Spitzenplätze in den Charts und spricht auf TEDx-Konferenzen. Seine Artikel erschienen u.a. bei Spiegel Online, im Manager Magazin und Neon. Nach Stationen in Frankreich, Spanien und der Türkei lebt der Autor in Münster und Berlin.

Inhaltsübersicht

Die Karte zur Reise · Warum wir fühlenDas Baby und das Monster · Über die guten Seiten der AngstDie Rückkehr der Schmetterlinge · Verliebt sein bis zum letzten TagEine kurze lange Weile · Wie wir die rasende Zeit bremsenDie vielen Töne des Rots · Wohin mit unserer Wut?Gelbe Suppe fürs Gehirn · Zurück zu einem gesunden HungerDie zwei Seiten des Tsewa · Antrieb aus SelbstmitgefühlEin Korsett, das nicht passt · Die vielen Wege unserer TrauerDer gerissene Faden · Vom neuen Glanz der alten Tugend der GeduldPassioniert ausgebrannt · Über unsere gefährliche Suche nach LeidenschaftAlles gut auf Sprosse acht · Zufriedenheit statt Jagd nach dem GlückWer Mensch sein will, muss fühlen · Zum Ende einer Reise ohne EndeDankNachsatz

Die Karte zur ReiseWarum wir fühlen

Um nun auch klug zu handeln,

dazu ist der bloße Verstand nicht ausreichend.

Fjodor Dostojewski

Erst an der zweiten Ampel merkte ich, dass ich weinte. Ich war auf dem Rückweg vom Aufnahmestudio, stand mit meinem Roller an einer Kreuzung in Friedrichshain, und völlig unerwartet liefen mir die Tränen. Je eine Stunde lang hatte ich an diesem Vormittag zwei Menschen für meinen Podcast interviewt. Beide wurden in ihrer Kindheit Opfer schwerer Gewalt. Ihre Schilderungen waren erschütternd und die seelischen Narben tief. Als Psychologe erwarte ich von mir, in solchen Situationen gefasst zu bleiben. Ein Gefühlsausbruch wäre unprofessionell, und so hielt ich meinem geschulten Anspruch entsprechend das Gespräch und vor allem mich selbst unter Kontrolle. Ich hörte Schockierendes, führte aber ruhig und mit klaren Fragen durch das Interview.

Ich weine so gut wie nie. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Doch als ich an dieser Kreuzung hielt, konnte ich nicht anders. Ich war tief betroffen, erschüttert, traurig, und es brach aus mir heraus. Im ersten Moment war ich völlig überrascht davon, hatte ich doch offenbar nicht wahrgenommen, was diese Gespräche in mir auslösten. Als ich direkt danach losfuhr, saß ich in Gedanken schon im nächsten Termin, die Interviews waren als getane Arbeit abgehakt. Erst als die rote Ampel mich ausbremste, holten mich meine Gefühle ein.

Warum fühlt der Mensch? Diese Frage wirkt vielleicht merkwürdig, scheint es uns doch völlig selbstverständlich, dass wir fühlen. Als Babys strahlen wir vor Freude, wenn man uns anlächelt, als Kinder fühlen wir pochende Aufregung vor dem ersten Referat an der Tafel und als Jugendliche taumeln wir in einem Auf und Ab zwischen leidvollem Liebeskummer, unter Beweis gestelltem Mut und der verwirrten Suche nach einem Ich-Gefühl. Mit dem Erwachsenwerden erwacht nicht selten ein gewisser Ehrgeiz. Dann empfinden wir Scham, wenn wir den Erwartungen von oder an uns nicht gerecht werden, sind gestresst durch den Druck, in Beruf, Beziehung und als Eltern glänzen zu wollen. Aber wir fühlen uns auch zutiefst gerührt von dem kleinen Gesichtchen, das uns aus dem Kinderwagen anstrahlt, sind ergriffen von der Geborgenheit nach vertrauensvollem Sex oder stolz, wenn die Chefin uns für ein Projekt lobt. Egal wie alt wir sind, wo auf dieser Erde wir leben oder welchem Beruf wir nachgehen, wir alle fühlen, und der Grund dafür ist simpel: Gefühle sind ein evolutionärer Vorteil.

Seit 300000 Jahren gibt es unsere Art, die wir mit der für uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens, der weise Mensch, nennen. Was zum Ausdruck bringen soll, dass es die Intelligenz ist, die uns von unseren ersten Vorfahren und allen anderen Tieren unterscheidet. In der Tat, Neandertaler haben das Rad nicht erfunden, Delfine können weder lesen noch schreiben und Krähen konstruieren keine Hängebrücken. Doch ist es tatsächlich die Intelligenz, die uns ausmacht?

Als der Großmeister Garri Kasparow 1996 zum ersten Mal von Deep Blue, einem Computer, im Schach geschlagen wurde, war das eine Weltsensation. Heute wäre es umgekehrt. Ein weiser Mensch, der einen Computer schachmatt setzt? Unvorstellbar. Und längst besiegen uns Rechenmaschinen nicht mehr nur im Spiel. Anfang 2020 präsentierte Google eine künstliche Intelligenz, die selbst erfahrenen Radiologinnen und Radiologen in der Diagnose von Brustkrebs überlegen ist.[1] Milliardenschwere Finanzströme werden in Sekundenbruchteilen von Algorithmen um den Globus verschoben. Und die Autos, hinter deren Steuern wir einst so stolz saßen, können Bordcomputer heute sicherer lenken als wir. Es ist nicht mehr das rationale Denken, unser höherer IQ, die uns einzigartig machen, denn hier haben wir uns mit unseren Technologien selbst überholt.

Was uns wirklich auszeichnet, ist unsere Fähigkeit zu fühlen. Mag sein, dass Google treffsichere Diagnosen errechnet. Der Tag jedoch, an dem eine Maschine bei der Verkündung von Brustkrebs echtes Mitgefühl empfindet, ist selbst in den kühnsten Phantasien unvorstellbar weit entfernt. Wir haben unseren Autos beigebracht zu «denken», um autonom zu fahren. Im Fühlen ist ein Tesla jedoch nicht den kleinsten Schritt weiter als ein Ochsenwagen der Jungsteinzeit.

Der Mensch ist in der Lage, die Welt um sich herum zu verstehen, mit anderen in komplexen Gesellschaften zusammenzuleben und sich selbst zurechtzufinden, weil ihm eine riesige Vielfalt an Gefühlen zur Verfügung steht. Das Geständnis «Ich bin fremdgegangen», eine Achterbahnfahrt, eine TV-Serie, ein neuer Haarschnitt, ein neues Tablet oder eine vor Fett triefende Pizza, all das löst Gefühle in uns aus. Wir fühlen, um zu verstehen, was wir erleben. Selbst Zahlen begreifen wir emotional. Wie viel ist 28 plus 8? Das wissen Mensch und Computer. Doch was bedeutet 36? Fühlen wir uns mit 36 Jahren jung oder alt? Sind wir zu geizig, um uns einen Rotwein für 36 Euro zu kaufen? Ist eine gute halbe Stunde Wartezeit auf dem Bahnhof kurz oder lang?

Über unsere Gefühle gelingt uns die Transformation der Welt um uns herum. Erst durch sie können wir das, was uns umgibt, ins Innere unserer Köpfe holen. Zuneigung, Vertrauen, Scham, Ekel, Hoffnung, Melancholie, Schüchternheit, Eifersucht, Langmut oder Empathie, nicht jedes Gefühl spüren wir gerne und doch erfüllen alle einen Zweck. Gefühle warnen und motivieren uns, sind das soziale Schmiermittel unserer Gesellschaften, lenken unsere Aufmerksamkeit und bestimmen unser Verhalten. Sie verankern Erlebtes in unserem Gedächtnis, sind die Basis für Beziehungen, Humor und Kreativität und damit die Voraussetzung für unser Miteinander. Wie Straßenschilder helfen Gefühle, uns im Leben zurechtzufinden. Als mir nach den Interviews die Tränen kamen, war das wie ein Stoppschild. Meine Gefühle zeigten mir, dass ich zu schnell über das Gehörte hinweggegangen war, in meinem Kopf lief noch die Verarbeitung. «Ihr Intellekt mag verwirrt sein, aber Ihre Emotionen lügen Sie niemals an», schrieb der amerikanische Filmkritiker Roger Ebert. Gefühle sind immer echt, und das macht sie so wichtig. Was wir fühlen, ist unsere Realität.

Noch versuchen wir mit den smarten Maschinen mitzuhalten. Doch schon jetzt müssen wir dafür immer schneller laufen, immer höhere Erwartungen erfüllen und immer besser funktionieren. Rational, geradeaus, fehlerfrei! Diesem Anspruch steht das Fühlen nur im Weg. «Er hat seine Gefühle nicht im Griff» oder «Sie wurde so emotional» kritisiert unsere Leistungsgesellschaft, die Härte statt Emotion erwartet. In der Euphorie um die Stärken von künstlicher Intelligenz, Big Data, Robotics und selbstfahrenden Autos übersehen wir, was für Homo sapiens wirklich zählt: die Menschlichkeit. Und die gibt es nicht ohne das Fühlen.

Emotionen sind ständige Begleiter, selbst im Traum sind sie an unserer Seite. Sie zu verneinen ist so sinnlos wie vor dem eigenen Schatten davonzulaufen. Und trotzdem versuchen Menschen sie mit aller Kraft zu unterdrücken, zu verdrängen oder sich mit Shopping, Essen, Selbstdarstellung oder Arbeit von ihnen abzulenken. Das macht krank.

Wir verfluchen unsere Aufregung, kurz bevor wir einen Vortrag halten sollen, können nicht schlafen, weil in unserem Kopf ein Chaos aus Stress und Anspannung die Gedanken kreisen lässt, und kommen kaum zur Ruhe, aus Angst, etwas zu verpassen. Wir grübeln darüber, ob wir stark genug lieben, und verurteilen uns, wenn wir uns schlecht fühlen, obwohl es uns den Umständen nach doch eigentlich gut gehen sollte. Das muss nicht sein!

Wir können lernen, die eigenen Gefühle zu verstehen. Es gibt Wege, gelassener mit ihnen umzugehen. Und wenn es uns gelingt, unsere Emotionen so anzunehmen, wie sie sind, statt sie zu unterdrücken oder zu beurteilen, werden ungeahnte Kräfte frei. Schlussendlich sind wir dann in der Lage, unsere Gefühle zu einer großen Stärke zu machen. Wir werden besser fühlen.

Unsere Gefühle sind so alt wie die Menschheit selbst, und trotzdem wissen wir noch sehr wenig über sie. Doch zum Glück beginnt sich das gerade zu ändern.

Das Buch, das Sie in der Hand halten, leitet Sie wie eine Karte durch zehn ganz unterschiedliche Gefühlslandschaften. Diese Karte ist das Ergebnis meiner Erfahrung als Psychologe: Was sind menschliche Gefühle im Kern? Was bewirken sie in uns? Und wie können wir sie für uns nutzen? Die Antworten auf diese Fragen werden Sie verblüffen, faszinieren – und verändern. Von Singapur über Bogotá und Toronto, Los Angeles und New York bis nach Wageningen, Bochum, Jerusalem und Teheran – auf der ganzen Welt wird erforscht, was wir fühlen und warum. Für dieses Buch habe ich die neusten Hirnscan-Experimente, Ergebnisse von verblüffenden Versuchen und die Einsichten der führenden Forschenden unserer Zeit aus all diesen Orten und noch vielen weiteren zusammengetragen.

«Wovor hast du Angst?» Als ich zum ersten Mal innehielt, um mit dem Harvard-Professor Jerome Kagan darüber nachzudenken, habe ich so viel über mich selbst gelernt, wie in kaum einem anderen Moment. «Können wir in Beziehungen ewig verliebt bleiben?» Die Anthropologin Helen Fisher hat mir mit ihrer Forschung zur Liebe in über 160 Kulturen eine ganz neue Sicht auf diese Frage eröffnet. «Warum sind wir so viel härter zu uns selbst als zu anderen?» Ohne die Hilfe von Mark Leary, Professor für Psychologie und Neurowissenschaften, hätte ich nicht verstanden, wie einfach es sein kann, sich selbst als Freund zu begegnen. All diese Menschen haben mir eine Rotweinreduktion ihres Lebenswerks serviert, damit ich sie mit anderen teile. Sie haben mich an ihrer Weisheit und Erfahrung teilhaben lassen und mir Kniffe und Methoden gezeigt, die nur wenig von uns verlangen und dabei viel verändern können.

 

Jedes Kapitel ist die Spitze eines Eisbergs, der sich unter der Wasseroberfläche aus Dutzenden Untersuchungen, wissenschaftlichen Gesprächen und den wichtigsten Fachbüchern zusammensetzt. Gleichzeitig fließt in dieses Buch auch meine ganz eigene Sicht ein. Wenn ich über unser schwieriges Verhältnis zu Tod und Trauer schreibe oder von der Gefahr, durch toxische Leidenschaft für den Beruf auszubrennen, wird es persönlich.

Schnell werden Sie erkennen, dass ich eine sehr umfassende Vorstellung des Begriffs «Fühlen» zugrunde lege, die sowohl Emotionen als auch das körperliche Empfinden und die Wahrnehmungsweisen unseres Zusammenlebens umfasst. Das erlaubt es uns, auch in exotischere Gegenden unserer Gefühlswelten vorzudringen. Warum vergeht die Zeit immer schneller, je älter wir werden? Wodurch lässt sich Wut in Energie umwandeln? Wann fühlen wir das indische Obhimaan und wieso würde etwas mehr buddhistisches Tsewa unserer Psyche guttun? Gerade in anderen Kulturen bin ich auf Gefühle gestoßen, für die uns mitunter Wörter fehlen und deren Wert wir leicht übersehen.

Die Reise entlang dieser Karte führt uns aber nicht nur um die Welt, sondern auch zurück in die Vergangenheit. Was raten Eltern ihren Kindern, wenn diese sich verlaufen haben? «Gehe dahin zurück, wo du hergekommen bist.» Viele Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lassen sich leichter meistern, sobald wir erkennen, wo der Mensch herkommt. Es ist faszinierend zu verstehen, wie die Gefühle in früheren Zeiten beschrieben wurden und zu sehen, dass die Philosophen der Antike wie der Stoiker Seneca oder der persische Denker Duni schon vor Jahrhunderten Einsichten der modernen Wissenschaft vorhersahen und in einfachen Worten ausdrückten. In unserer Gier nach dem immer Neuen verkennen wir den Wert des Bewährten. Dabei hilft ein Blick zurück oft mehr als der nach vorne. Was wir aus vergangenen Zeiten für unsere Zukunft lernen können, ist mindestens so hilfreich, wie die Einsichten aus Harvard oder dem Silicon Valley.

Menschen leben und fühlen ganz unterschiedlich. Und trotzdem gibt es Muster, die uns verbinden und die es zu kennen lohnt. Ein gelassener Umgang mit unseren und den Gefühlen anderer sowie die Fähigkeit, uns selbst besser zu verstehen und ein zufriedenes Leben zu führen, das sind die Wünsche, die ich Ihnen mitgeben möchte. Keine bescheidenen Wünsche, aber auch kein Grund, sich Druck zu machen: Gehen Sie die Lektüre ruhig an. Impulse, die in Ihnen etwas auszulösen vermögen, werden von alleine in Ihrem Kopf hängenbleiben und dort eine Wirkung entfalten. Alles andere dürfen Sie getrost vorbeiziehen lassen.

 

Gute Reise!

Das Baby und das MonsterÜber die guten Seiten der Angst

Wovor ich mich am meisten fürchte,

ist die Furcht.

Michel de Montaigne[1]

In der Wissenschaft liegen die großen Momente manchmal im ganz Kleinen. Für den berühmten Harvard-Professor Jerome Kagan begann damals alles mit Baby 19. Es ist 1989 und der Forscher hat Mütter mit ihren vier Monate alten Kindern zu einem Versuch in sein Labor eingeladen.[2] Einzeln werden die Babys, ohne Blickkontakt zur Mutter, in einen videoüberwachten Raum gebracht. Plötzlich knackt es merkwürdig aus einem Lautsprecher und eine Stimme ertönt, die fragt: «Hallo, Baby, wie geht es dir heute?» Dann wird ein Mobile vor den Augen des Kindes aufgehängt, und als wäre das alles nicht schon verwirrend genug, betritt auch noch ein Versuchsassistent den Raum und tröpfelt dem Säugling ein wenig Zitronensaft auf die Zungenspitze. Als der Versuch abgeschlossen ist, zieht sich Professor Kagan mit den Videoaufnahmen zurück. Die ersten 18 Bänder zeigen ähnliche Bilder: brabbelnde Babys, die interessiert beobachten, was um sie herum geschieht. Doch als Kagan das 19. Band einschiebt, erscheint auf dem Bildschirm ein Kind, das sich ganz anders verhält.

Baby 19 ist ein Mädchen, das verzweifelt schreit und aufgeregt mit Armen und Beinchen zappelt. Warum reagiert dieses Kind so vollkommen anders als die anderen? Schließlich wurden Baby 19 genau die gleichen Reize präsentiert. Die Stimme, das Mobile, der Zitronensaft, all das weckte in den anderen Kindern Neugier. Baby 19 hingegen erlebte die blanke Angst. Fasziniert machen sich der Professor und sein Team an die Auswertung der weiteren Aufnahmen. Dabei entdecken sie ein besonderes Muster menschlicher Angst.

Wir alle kennen Angst. Dieses machtvolle und unangenehme Gefühl, das von uns Besitz ergreift, unser Herz rasen lässt, unseren Magen verkrampft und unsere Pupillen weitet. Manchmal jedoch schleicht sich die Angst auch unauffälliger in unser Leben. Dann wabern Sorgen im Hinterkopf, wir sind gestresst oder schlafen schlecht, sind permanent angespannt. Wenn wir Angst erleben, werden wir nervös und unruhig, und oft spüren wir das Gefühl überall – vom Kopf bis zu den Zehen, mal mehr, mal weniger stark. Es gibt unzählige Auslöser von Angst. Mal sind es Alltagssituationen, wenn wir im Keller vor einer Spinne erschrecken, ein schwieriges Gespräch mit unserer Chefin oder eine Prüfung bevorsteht. Oft sind es aber auch weltpolitische Geschehnisse: Platz eins der Ängste der Deutschen belegte 2020 die Politik des damals amtierenden US-Präsidenten. Gefolgt von steigenden Lebenshaltungskosten, der EU-Schuldenkrise, einer schlechteren Wirtschaftslage und Naturkatastrophen sowie Wetterextremen.[3]

Angst hat also viele Gesichter und nicht alle erkennen wir sofort, denn oft denken wir gar nicht bewusst über sie nach. So gibt es Menschen, die überzeugt sind, lange keine Angst mehr gespürt zu haben, andere, die glauben, dass nur die Schwachen von ihr heimgesucht werden. Doch dahinter verbirgt sich ein Trugschluss. Oft versteckt sich die Angst hinter anderen Emotionen, wie etwa Wut oder Hass.

Angst gehört zu unserem menschlichen Dasein, wir alle erleben dieses Gefühl in unterschiedlichen Ausprägungen immer wieder. Doch trotz ihrer Allgegenwart hat die Angst einen schlechten Ruf. Das liegt sicher auch daran, dass 284 Millionen Menschen auf diesem Planeten angstkrank sind.[4] Bei ihnen ist das Gefühl der Angst entgleist und zu einem krankhaften Zustand geworden. Dazu zählen Panikattacken, die aus dem Nichts mit großer Wucht zuschlagen, soziale oder spezifische Phobien wie Angst vor öffentlichen Plätzen, vor Höhe, Spinnen oder der Aufmerksamkeit anderer Menschen. Besonders verbreitet ist die sogenannte generalisierte Angststörung, bei der Menschen sich in andauernden Sorgenketten verlieren und es kaum noch schaffen, ihren Alltag zu bestreiten. Etwa jeder dritte Mensch muss im Leben damit rechnen, irgendwann von einer Angststörung heimgesucht zu werden.[5] Tritt dieser Fall ein, kommt es oft zu falschen Behandlungen, da nur den damit verbundenen Symptomen wie Schlafprobleme oder Rückenschmerzen nachgegangen, die Angststörung aber übersehen wird. Die Warnsignale des Körpers werden dann abgeschaltet und die Störung kann sich weiter festsetzen. Bleiben sie unbehandelt, verlaufen gerade Angststörungen oft chronisch.

Statt die Angst zum Feind zu erklären, wäre uns meist schon damit geholfen, sich dem Gefühl offen zu nähern und zu versuchen, es zu verstehen. Was ist Angst wirklich? Wie entsteht sie? Und was will sie uns sagen? Wir glauben die Angst zu kennen und können diese Fragen doch nicht beantworten.

Das Wort Angst kommt vom althochdeutschen «angust», dessen sprachliche Wurzeln in Enge, Bedrängnis und Zusammenschnüren liegen. Das beschreibt ziemlich gut, was wir spüren. In unserem Hirn wirken dazu verschiedene Bereiche zusammen, wobei die Amygdala eine besondere Rolle spielt. Dieser mandelgroße Kern ist Teil des limbischen Systems und parallel sowohl im linken wie im rechten Schläfenlappen enthalten. Zerstört man diese Region im Hirn von Affen, zeigen die Tiere danach kaum noch eine Reaktion auf normalerweise angstauslösende Reize.[6] Ohne Amygdala bleibt ein Affe entspannt, selbst wenn eine giftige Schlange in seinen Käfig gesetzt wird.

Die Amygdala bewertet externe Informationen und wirkt vor allem als emotionaler Verstärker. Diese Alarmanlage des Hirns, die uns gleich mit Baby 19 wieder begegnen wird, reagiert also auf äußere Reize. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass bestimmte Reize besonders leicht Angst in uns auslösen. So offenbarte eine Studie 2017, dass bereits sechs Monate alte Kleinkinder beim Anblick von Spinnen oder Schlangen gestresst reagieren.[7] Eine evolutionsbiologisch betrachtet sehr sinnvolle Reaktion, da giftige Tiere eine große Gefahr für unsere Vorfahren darstellten. Und noch heute stecken solche Ängste in uns, obwohl es zumindest in unseren Breiten schon lange kaum noch giftige Tiere gibt und Babys keine Angst vor Schlangen haben müssten.

Auch unsere Erfahrungen, unsere Kultur und die Erziehung beeinflussen, wovor wir uns fürchten. Das heißt, Angst kann erlernt werden! So können zunächst neutral oder sogar positiv eingestufte Reize nach einem extrem negativen Erlebnis Angst auslösen. Wer beim Zahnarzt eine besonders unangenehme Behandlung ertragen musste, wird vor einer erneuten Untersuchung ängstlich sein. Und wer in einem Kriegsgebiet aufwächst, ordnet einen plötzlichen Knall anders ein als jemand, der in friedlichen Verhältnissen lebt. Je nach persönlicher Lebensgeschichte können ganz unterschiedliche Reize Angst verursachen. Damit wird klar, wie individuell dieses Gefühl ist.

Springt die Alarmanlage durch einen Reiz an, setzt sie innerhalb von Millisekunden einen mächtigen Prozess in Gang, der uns auf drei Ebenen ergreift. Erstens reagiert unser Körper. Der Blutdruck steigt, wir atmen flach und schnell, und die Verdauung wird gebremst, denn alle Energie soll dem Überleben zur Verfügung stehen. Die Muskeln spannen an, manchmal so sehr, dass wir vor Furcht am ganzen Körper zittern und die Angst uns, je nach Typ, ins leichenblasse oder knallrote Gesicht geschrieben steht. Zweitens setzt die Angst uns gedankliche Scheuklappen auf. Unsere Aufmerksamkeit wird auf die Bedrohung gebündelt, alles andere ausgeblendet. Und drittens bestimmt sie unser Verhalten. Irgendwo muss die aufgebrachte Energie hin, dabei gibt unsere Angst die Marschrichtung vor. Wir reagieren mit Kampf oder Flucht – Fight or Flight, das heißt, durch Angriff oder Rückzug in die Selbstverteidigung. Doch es gibt noch eine dritte Option, die oft übersehen wird, das Einfrieren, das sogenannte Freeze. Eine Art Schockstarre. Wir sind gelähmt vor Angst, im Extremfall bis zur Ohnmacht. Wie ein in die Enge getriebenes Kaninchen, das sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als sich tot zu stellen, können auch wir Menschen vor Angst erstarren. Aus Sicht der Evolution keine schlechte Strategie, da viele Raubtiere vor allem auf Bewegung reagieren.

Angst ist ein uralter Mechanismus, der uns beschützen will. Das wird klar, wenn wir eine Zeitreise in die afrikanische Steppe vor sagen wir drei Millionen Jahren unternehmen. Stellen wir uns vor, wie wir uns einen Weg durch die Gräser bahnen und es plötzlich neben uns im Gebüsch raschelt. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder unser Hirn schlägt Alarm, weil es den Reiz des Raschelns als gefährlich einstuft, oder die Alarmanlage bleibt ruhig und wir ebenfalls. Ist die Ursache des Raschelns eine harmlose Windbö, wäre eine Fluchtreaktion aus Angst reine Energieverschwendung. Das hätte kostbare Energie verbraucht. Umgekehrt hätte die sorglose Annahme, dass nur eine Bö das Geräusch verursacht hat, während das Raubtier schon die Zähne fletscht, das sichere Ende bedeutet. Ohne Angst wären unsere Vorfahren schlicht gefressen worden, noch bevor sie ihre Gene hätten weitergeben können. Wir wären ausgestorben.

Die Angst wurde von der Natur also tief in den Genen von Homo sapiens verwurzelt. Deswegen gilt in unseren Hirnen noch immer: Lieber hundertmal mit dem Schlimmsten rechnen, als einmal unvorbereitet auf eine Gefahr treffen. Die Psychologie nennt das den Negativitätsfehler.[8] Was uns die Evolution als Lebensversicherung schenkte, wird in einer Welt ohne gefährliche Tiere, die uns aus Büschen anspringen, zum Problem. Denn unser Hirn interpretiert im Zweifelsfall «schief» zugunsten der Angst, und das oft, ohne sich an Fakten zu halten. So haben wir Angst im Flugzeug, vor einer zu haltenden Rede oder am Geländer einer Dachterrasse, aber nicht, wenn wir eine Straße überqueren. Unser Hirn interessiert es nicht, dass die Wahrscheinlichkeit, überfahren zu werden, viel größer ist, als in einem Airbus abzustürzen, auf einer Bühne vor Aufregung den Herztod zu erleiden oder von einem Hochhaus zu fallen.

Im Großen wird es noch absurder. Die vielleicht fatalste Angstfehlinterpretation unseres Hirns ist Terror. Aus Furcht vor Terror nehmen es liberale Gesellschaft vermehrt in Kauf, ihre Freiheit durch Misstrauen, Überwachsungskameras und datenhungrige Geheimdienste zu ersetzen. Fakt ist, es sterben Menschen durch Terror, im Jahr 2016 waren es weltweit 34871,[9] die meisten davon in Krisengebieten. Im selben Jahr, auch das ist Fakt, starben 17,9 Millionen an kardiovaskulären Krankheiten.[10] Eine der Hauptursachen dafür sieht die Weltgesundheitsorganisation im Übergewicht durch zu viel fett- und zuckerhaltige Nahrung. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass McDonald’s in der westlichen Welt um ein Vielfaches bedrohlicher für uns ist als der Islamische Staat. Das kann man uns regelmäßig als Statistik in den Abendnachrichten präsentieren, aber Zahlen sind der Angst egal. Unser Hirn interpretiert Terrorismus als sehr beängstigend, während es sich völlig selbstverständlich von TV-Werbung für Big Macs und Nutella berieseln lässt. Ganz unabhängig vom realen Ausmaß einer Gefahr gilt, dass uns drei Dinge Angst machen: das Unbekannte, das Unkontrollierbare und das Außergewöhnliche. Auf Terror trifft das alles zu. Auf einen Big Mac nicht.

Verblüffend ist auch, wie schnell sich manche unserer Ängste anpassen. Ein Virus, das wir nicht kennen, dessen Kontrolle außerhalb unserer Macht liegt und das so außergewöhnlich ist, dass es Tag und Nacht die Schlagzeilen bestimmt, ruft große Angst hervor. Zunächst sind wir bereit, alles zu tun, was uns vor diesem Virus schützt. Doch mit der Zeit flacht die Angst ab, weil wir uns an die Situation gewöhnen. Kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie belegten Umfragen in Deutschland, den USA und Großbritannien, dass rund zwei Drittel der Bevölkerung große Angst vor dem Virus haben.[11] Obwohl die Gefahr nicht überwunden war und die Lage weltweit eher schlimmer wurde als besser, sanken die Werte in den folgenden Wochen deutlich.

Die echten Gefahren unserer Zeit, wie die Klimakatastrophe, multiresistente Keime, Fast Food, verschmutzte Ozeane oder die exponentielle Ausbreitung von Viren, sind für unser Hirn kaum zu begreifen. Das alles ist viel abstrakter als eine Raubkatze im Gebüsch. Und selbst wenn uns solche großen Gefahren Angst machen, können wir uns als Einzelperson kaum durch Kampf, Flucht oder Einfrieren davon befreien. Das uralte Angstmuster schießt hier ins Leere.

Auch bei einigen unserer ganz persönlichen Ängste stehen wir vor demselben Problem. So fürchten wir uns einerseits bei dem Gedanken an eine enge Bindung und haben gleichzeitig Angst, verlassen zu werden oder einsam zu enden. Wie soll man davor fliehen? Gegen wen kämpfen? Und was würde eine Schockstarre bringen? Wir wollen nichts verpassen und geben dieser Angst sogar einen Namen – FOMO (the fear of missing out) –, obwohl wir uns in Wirklichkeit davor fürchten, mit uns allein sein zu müssen. Da wir uns schämen, wenn wir im Vergleich mit anderen weniger arbeiten, halten wir uns ständig auf Trab und fahren nie ganz runter. So rennen und rennen wir im Hamsterrad, weil es von innen wie eine Karriereleiter aussieht, auf der wir unbedingt weiter nach oben wollen, aus Furcht davor, den Ansprüchen, die wir oder andere an uns stellen, nicht zu genügen. Schaffen wir dann den nächsten Karriereschritt, erdrückt uns die Vorstellung, nicht gut genug zu sein und irgendwann des Hochstapelns überführt zu werden. Es ist ein Hin und Her zwischen der Angst, nicht zu genügen, und der Angst zu versagen. Und wie viele von uns leben hinter einer Maske, weil sie fürchten, nicht so gemocht zu werden, wie sie wirklich sind? Nach außen zeigen wir uns stark und selbstsicher, aus Furcht davor, dass andere erkennen könnten, wie viel Angst uns wirklich umtreibt.

Auf den ersten Blick ist Angst in unserer heutigen Welt eine destruktive Kraft, die viel Leid verursacht. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Noch immer verbirgt sich in dieser Angst ein großer Wert. Sie kann hilfreich sein, wenn wir verstanden haben, was die Natur uns mitgegeben hat und wie gut wir lernen können, damit umzugehen. Worauf es dabei ankommt, lässt sich entlang der weiteren Geschichte von Baby 19 erzählen.

Professor Kagan und sein Team führten den oben beschriebenen Versuch mit Hunderten weiteren Säuglingen durch und stellten bei der Auswertung fest, dass sich rund 20 Prozent der Kinder wie Baby 19 verhalten.[12] Kagan nennt sie «High Reactives», die hochreaktiven Typen. 40 Prozent der Kinder verhalten sich genau umgekehrt. Sie reagieren kaum auf die Stimme aus dem Lautsprecher oder die anderen Reize und gelten entsprechend als «Low Reactives». Die übrigen Babys lassen sich keiner der beiden Gruppen eindeutig zuordnen. Kagans Entdeckung schlug hohe Wellen, denn seit Jahrzehnten tobte in der Welt der Wissenschaft ein erbitterter Streit um die Frage, ob wir Menschen als weißes Blatt zur Welt kommen und durch unser Umfeld beschrieben werden oder mit bestimmten Mustern in uns geboren werden.

Kagan konnte zeigen, dass sich Kinder bereits im Alter von vier Monaten grundlegend in ihrer Angstreaktion unterscheiden. In diesem kurzen Leben kann das Umfeld noch keine allzu große Rolle gespielt haben. Damit hatte Kagan das Temperament der Angst entdeckt – die angeborene Tendenz, sich von Unbekanntem stark abschrecken zu lassen.[13] Es ist diese Entdeckung, die ihn zu einem der bedeutendsten Psychologen des 20. Jahrhunderts machte. Entsprechend begeistert bin ich, als der Professor mit den leicht abstehenden Ohren, der zerfurchten Stirn und den hellwachen braunen Augen positiv auf meine Anfrage zu einem Gespräch reagiert. Ich möchte wissen, wie es mit Baby 19 und den anderen Säuglingen weiterging.

«Wir haben alle Kinder bis zum Alter von 18 Jahren immer wieder aufgesucht», berichtet mir der 91-Jährige. Früh zeichnete sich dabei ein Muster ab.[14] Schon im Alter von vier Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein High Reactive im Verhalten gehemmt und eher vorsichtig ist, viermal höher als bei den Low Reactives. Bis zum achten Lebensjahr hat fast die Hälfte aller Hochreaktiven Angstsymptome, wie Schüchternheit in der Schule oder Furcht vor Dunkelheit, entwickelt. Bei den Low Reactives betrifft dies nur 15 Prozent. Auch erweist sich das mit vier Monaten ermittelte Temperament als sehr beständig: Im Alter von elf Jahren haben nur fünf Prozent der Kinder die Seiten gewechselt.

Doch nicht nur das Verhalten unterscheidet die beiden Gruppen. Als die ehemaligen Babys 2007 volljährig werden, untersucht der Harvard-Psychiater Carl Schwartz 76 von ihnen im Hirnscanner. «Baby 19» ist auch dabei.[15] Sofort fällt ihre Amygdala auf, die im Vergleich zu einem durchschnittlichen Low Reactive bei der jungen Frau besonders aktiv ist. Das bestätigte, was Schwartz bereits einige Jahre zuvor in einer ganz ähnlichen Studie zeigen konnte: Hochreaktive Kinder haben als Erwachsene eine Amygdala, die wie ein sehr sensibler Feuermelder schon beim kleinsten Funken den Angstalarm schlägt.[16]

Selbst der Aufbau des Hirns weist Unterschiede auf. Der linke orbitofrontale Kortex, eine Region, die dabei hilft, unangenehme Gefühle zurück in ruhiges Fahrwasser zu lenken, ist bei den Hochreaktiven dünner.[17] Hier fehlen wirksame Verbindungen. Auch berichten die erwachsenen Hochreaktiven auffällig oft von Anspannung, Sorgen und kritischen Gedanken. Jetzt wird die Tragweite von Kagans Untersuchung klar. Am Verhalten eines vier Monate alten Babys kann man mit verblüffend hoher Präzision vorhersagen, ob dieser Mensch am Tag der Volljährigkeit eher ängstlich sein wird.

Angst gilt heute vielfach als eine negative Kraft, die es zu überwinden gilt. Kinder werden zur breiten Brust und zu Selbstbewusstsein ermuntert. Mutig möchten wir sein! Angst ist Schwäche und stört damit in einer Gesellschaft, die Leistung und Erfolge erwartet. Das unangenehme Gefühl passt nicht ins Konzept von Menschen, die nach dem Glück streben, um ein erfülltes Leben zu führen. Wir wollen uns gut und nicht schlecht fühlen. Damit das klappt, müssten wir alles daransetzen, unsere Ängste zu überwinden. «Bekämpfe und besiege deine Angst» raten Selbsthilfebücher, Life-Coaches und Internetblogs. Den Angstfreien, so die Verheißung, winkt ein besseres Leben. Kagan ist sicher: Wenn Eltern die Wahl hätten, würden kaum noch hochreaktive Kinder geboren, weil Angst als etwas Schlechtes wahrgenommen wird.

Doch wer so denkt, übersieht ihre guten Seiten. Menschen mit ausgeprägtem Angsttemperament seien vorsichtiger, wodurch sie seltener mit dem Gesetz in Konflikt kämen, erzählt mir der Professor. Außerdem führen sie sicherer mit dem Auto und nähmen weniger Drogen. Wir leben in einer hochtechnisierten Welt. Zur Lösung komplexer Probleme bedarf es eher Umsicht und Bedacht als selbstbewussten Vorpreschens. Eine Gesellschaft braucht immer beides. Ohne hochreaktive Köpfe im Ground Control hätte Neil Armstrong niemals einen Fuß auf den Mond setzen können. Da ist Kagan überzeugt.

Obwohl Angst eine Emotion ist, die sich schlecht anfühlt, ist sie nichts Schlechtes. Wir werden auf dieser Reise immer wieder erkennen, dass die Natur uns nicht mit unangenehmen Gefühlen ausgestattet hat, um uns Steine in den Weg zu legen, sondern um uns zu helfen. Auch wenn man schon bei der Geburt wissen könnte, ob man ein hochreaktives Kind im Arm hält oder nicht, wäre das gar nicht so entscheidend. Was Angst mit uns macht, hängt vor allem davon ab, wie wir mit ihr umgehen.

«Als Baby 19 in die Schule kam, änderte sich ihr Verhalten», erzählt mir Kagan. Mit sieben begann das Mädchen langsam, aber sicher ihre Schüchternheit abzulegen. «Wenn du sie mit 17 Jahren zum Mittagessen eingeladen hättest, hättest du niemals gedacht, dass sie ein High Reactive ist», erinnert er sich. «Und jetzt rate, was ihr erster Job war», fragt mich der Professor und genießt sichtlich die Spannung. «Zuerst machte sie einen Abschluss in Harvard, dann ging sie an die Wall Street. Einer der forderndsten Arbeitsplätze, den man sich vorstellen kann.»

Kagans Lebenswerk besteht also aus zwei Entdeckungen: 1989 konnte er zeigen, dass wir Menschen von Geburt an zu unterschiedlich viel Angst neigen. Damit scheinen unsere Wege vorgezeichnet. Viele Jahre später fand er jedoch heraus, dass selbst sehr ängstliche Menschen wie Baby 19 lernen können, mit ihren Ängsten konstruktiv umzugehen. Wie funktioniert das? Wo beginnt der gesunde Umgang mit unserer Angst?

Das Glück von Baby 19 war, dass es keine Helikoptereltern hatte, erinnert sich Kagan. Oft liegt der Überbehütung eine Angst der Eltern zugrunde und sie übertragen dieses Gefühl auf ihre Kinder. «Kletter nicht so hoch, du wirst fallen!» Wenn Helikoptereltern ihren Nachwuchs in Watte packen, ziehen sie ein Angstmonster heran, das es gar nicht geben müsste. Noch schlimmer sind Curling-Eltern. Der Begriff aus Dänemark beschreibt Väter und Mütter, die jedes nur denkbare Hindernis vor ihrem Kind aus dem Weg fegen wie beim Eisstockschießen.

Wer seinem Kind vermittelt, dass Angst etwas so Schreckliches ist, dass es alles zu vermeiden gilt, was sie auslösen könnte, beraubt es der Möglichkeit, einen gesunden Umgang mit Angst zu entwickeln. Das war bei Baby 19 anders. «Ihre Eltern haben sie ermutigt, ihre Ängste zu erobern», sagt Kagan. Darin liegt der Schlüssel, egal wie alt wir sind.

Das Erste, was Menschen mit einer Angststörung in der Therapie lernen, bringt uns alle weiter: Angst fühlt sich unangenehm an, darum fürchten wir sie. Es ist diese Angst vor der Angst, die es zu besiegen gilt. Angst ist niemals eine Krankheit. Erst ein falscher Umgang mit ihr erschafft das Problem. Dabei wird oft das Gewicht der eigenen Meinung in der Welt der Gefühle unterschätzt.

In einer 2012 veröffentlichten Studie der University of Wisconsin wurde an 29000 Menschen untersucht, wie viel Stress sie in ihrem Leben empfanden und ob sie fürchteten, Stress würde der Gesundheit schaden.[18] Wer angab, von viel Stress geplagt zu sein, hatte ein um 43 Prozent erhöhtes Risiko, frühzeitig zu sterben. Stress macht krank. Doch tatsächlich galt der Zusammenhang nur für jene, die dieser Überzeugung waren. Wer viel Stress erlebte und gleichzeitig keine Angst vor den vermeintlichen Folgen hatte, lebte im Schnitt so lange wie der stressfreie Rest. Daraus lässt sich für unseren Umgang mit der Angst ableiten, dass unsere Bewertung des Gefühls entscheidend ist. Wenn wir der Meinung sind, dass Angst uns schadet, dann tut sie das auch. Wenn nicht, kann sie uns sogar helfen.

Die meisten Menschen, die Angst in sich aufziehen spüren, etwa kurz vor einem wichtigen Vortrag oder einer Prüfung, versuchen sich zu beruhigen. Ihrer Meinung nach stört Angst in solchen Momenten. In einer Studie befragte Alison Brooks, Professorin an der Harvard Business School, 300 Menschen, welchen Rat sie jemandem geben würden, der kurz vor einer Herausforderung Angst bekommt.[19] 85 Prozent empfahlen, sich zu entspannen, zu relaxen: «Calm down!» In einer Welt, in der Angst als Monster gilt, will niemand mit dem Monster ans Rednerpult oder in ein Examen. Doch diese Meinung lässt sich ändern. Und das hat einen verblüffenden Effekt, wie Brooks in einer Reihe weiterer Versuche zeigen konnte.[20]

So mussten ihre Versuchspersonen etwa vor einer Gruppe das Lied «Don’t Stop Believin’» singen. Eine Situation, die bei vielen Beklemmungsgefühle auslösen würde. Bevor es ans Mikrophon ging, wurden die Versuchspersonen per Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt. Die einen sollten sich selbst sagen «Ich bin ängstlich», die anderen «Ich bin angeregt». Allein diese kleine unterschiedliche Etikettierung des aufkommenden Gefühls zeigte eine deutliche Wirkung. Die «Angeregten» sangen laut Computerauswertung deutlich besser als die «Ängstlichen». Das «On-and-on-and-on-and-on» ging ihnen lockerer über die Lippen. Die gleichen Befunde ergab auch ein Sprachtest. Wer gebeten wurde, sich selbst als «angeregt» wahrzunehmen, sprach überzeugender und souveräner als jemand, der sich eher «ängstlich» fühlte, wie eine Videoanalyse zeigte. Selbst in einem Mathetest fand Brooks ein ähnliches Muster. Entscheidend an diesen Versuchen war, dass die «Angeregten» von demselben Maß an Angst berichteten wie die «Ängstlichen». Auch der gemessene Herzschlag war gleich. In beiden Gruppen wurde also Angst empfunden, doch die «Angeregten» konnten das, was sie spürten, als einen Motivationsschub verstehen. «Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit», schrieb der Psychiater und KZ-Überlebende Viktor Frankl. Wenn ein Reiz die Angst in uns aufziehen lässt, haben wir Einfluss darauf, wie wir reagieren. Es hilft, sich der eigenen Gefühle bewusst zu sein und sie zu hinterfragen.

Wir vertrauen unseren Gefühlen, gerade weil wir sie fühlen. Doch nicht immer sind sie situationsgerecht, und ohne Korrektur reagieren wir oft unangemessen. Wenn wir Angst empfinden, dann glauben wir, in Gefahr zu sein. Doch sind wir das wirklich? Was passiert, wenn wir uns bei einem Vortrag verhaspeln? Oder wenn wir durch die Prüfung fallen? Beides wäre ärgerlich. Keine Frage. Doch rechtfertigt diese «Gefahr» keine Todesangst. Herzrasen oder Schweißausbrüche sind in solchen Situationen völlig überflüssig. Betrachten wir die Angst vor einer Prüfung als anregend und nicht als furchteinflößend, können wir daraus Kraft gewinnen. Zwar engt Angst uns ein, was sich unangenehm anfühlt, doch damit stellt sie uns auch scharf. Wie das Objektiv einer Kamera gibt sie uns einen Fokus. Ist die Angst zu groß, werden wir auf der Bühne keinen geraden Satz herausbringen, doch ganz ohne Lampenfieber wird es uns an Energie und Ehrgeiz fehlen. Dann geben wir nicht alles, weil uns die Kraft und der Antrieb dazu fehlen. Wenn wir verstehen, was Angst eigentlich mit uns machen will, nämlich Energie bereitstellen, um eine Herausforderung zu lösen, dann fällt es uns leichter, sie als positive Erregung zu begreifen und Kraft aus ihr zu schöpfen.