Bevor die Stimmen wiederkommen -  - E-Book

Bevor die Stimmen wiederkommen E-Book

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Beschreibung

Ist man Psychosen ausgeliefert oder gibt es Möglichkeiten der Vorsorge? Anke Gartelmann und Andreas Knuf haben Psychoseerfahrene, professionell Tätige, Selbsthilfegruppen und Vertrauenspersonen eingeladen, aus verschiedenen Perspektiven über ihre Erfahrungen zu berichten. Das eigene Potenzial und die Einflussmöglichkeiten zu entdecken ist wie eine Schatzsuche. Welche Schätze sich heben lassen, entdeckt man erst nach und nach. Die Beschäftigung mit Selbsthilfe und Vorsorge heilt keine Psychosen, aber man lernt, besser mit ihnen und möglichst lange ohne sie zu leben. Wie, zeigt dieses praxisnahe, positive Buch. »Ein vorbildlicher Ratgeber für Betroffene und Angehörige!« Aus »Gehirn und Geist« Vorsorgen statt ausgeliefert sein »Und immer wieder stellt sich für mich die Frage, was denn (m)eine Psychose ist, woher sie kommt und wie ich ihr entgegentreten kann. Kann ich ihr Auftreten steuern, oder bin ich ihr hoffnungslos ausgeliefert?« Kristina Zimmermann

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Andreas Knuf und Anke Gartelmann (Hg.)

Bevor die Stimmen wiederkommen

Vorsorge und Selbsthilfe bei psychotischen Krisen

BALANCE ratgeber

Andreas Knuf und Anke Gartelmann (Hg.):

Bevor die Stimmen wiederkommen.

Vorsorge und Selbsthilfe bei psychotischen Krisen.

10. Auflage 2020

ISBN-Print: 978-3-86739-210-5

ISBN-PDF: 978-3-86739-215-0

ISBN-EPub: 978-3-86739-216-7

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bei Medikamenten, die in diesem Buch ohne besondere Kennzeichnung aufgeführt sind, kann es sich um gesetzlich geschützte Warenzeichen handeln, die nicht ohne Weiteres benutzt werden dürfen.

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2014, 2020

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des

Verlags vervielfältigt oder verbreitet werden.

Originalausgabe: Psychiatrie-Verlag, Bonn 1997

Lektorat: Uwe Britten, textprojekte, Eisenach

Umschlagkonzeption: GRAFIKSCHMITZ, Köln, unter Verwendung eines Fotos von panthermedia.net; claudia gabriela tapuleasa

Typografiekonzept: Iga Bielejec, Nierstein

Satz: BALANCE buch + medien verlag, Köln

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Und es geht doch – Einleitung

Teil I: Wahnsinnige Berichte – Persönliche Erfahrungen

Wahnsinnige Berichte

Die höhere Macht kennenlernen

Kristina Zimmermann

Von der Anziehung der Psychose und der Angst vor der Zwangsbehandlung

Heidrun G.

Von der Heilung einer angeblich unheilbaren Depression

Pirmin von Reichenstein

Ich liebe meine Eltern, aber ich brauche meine Freunde

Eva von Sinnen

Rechtzeitig vorsorgen und mit Begrenzungen leben lernen

Wolfgang Voelzke

Ich muss sehr früh merken, dass ich psychotisch werde – sonst werde ich es, ohne es zu merken

Regina Bellion

Teil II: Vorsorgen Die eigenen Vorsorgemöglichkeiten kennenlernen

Einführung: Die eigenen Vorsorgemöglichkeiten kennenlernen

Was kann ich tun, damit ich mich wohlfühle?

Mit Belastungen angemessen umgehen

Krisen rechtzeitig erkennen

Absprachen für die Krisenzeit

Über den Wahn-Sinn sprechen

Die Zeit danach

Teil III: Selbsthilfe und Vorsorge Vorschläge, Erfahrungen, Hintergründe

Das persönliche Krisenkonzept

Brigitte Weiß

Juristische Vorsorge

Rolf Marschner

Selbst-Checken: Geht es wieder rund?

AG »Selbst-CheckerInnen«

Stimmrecht der Seele? Hilfreicher Umgang mit dem Stimmenhören

Thomas Bock

Psychosebegleitung und ihre Schwierigkeiten

Ulrich Seibert

Ein-Blick in eine Selbsthilfegruppe

Dieter Broll

Drei Säulen der Selbsthilfe

Dorothea Buck

Erfahrungen nutzen – Genesungswege gehen Schlussbemerkung

Anhang

Vorsorgebogen

Begleitung der Vorsorgearbeit

Literatur

Internet

Materialien

Autorinnen und Autoren

Downloadmaterial

Vorsorgebogen

Begleitung der Vorsorgearbeit

Krisenpass

Muster einer Vollmacht

Muster einer Betreuungsverfügung

Die Materialen finden sich auf: www.balance-verlag.de/product/bevor-die-stimmen-wiederkommen

Und es geht doch – Einleitung

Fast eine Million Menschen in Deutschland wissen, was es heißt, Stimmen zu hören, die andere Menschen nicht wahrnehmen, sich in eine eigene Wahnwelt einzuspinnen, himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt zu sein. Sie sind »psychoseerfahren« und haben bereits einmal oder mehrmals psychotische Krankheitsphasen erlebt. Menschen, die so eine Krise schon einmal hinter sich gebracht haben, möchten sie nie wieder durchleben. Sie sind bereit, einiges zu tun, damit die Stimmen nicht wiederkommen.

In der klassischen Psychiatrie sind sie dabei ausschließlich auf Hilfe von außen angewiesen: Sie können zum Beispiel Medikamente nehmen oder sich in die Obhut eines Psychotherapeuten begeben. Diese Möglichkeiten sind notwendig und hilfreich für viele. Vergessen wird jedoch allzu oft, dass auch die Betroffenen selbst vielfältigen Einfluss auf das Zustandekommen, den Verlauf und die Folgen weiterer psychotischer Krisen nehmen und viel für ihre eigene Genesung tun können.

Mit diesen individuellen Vorsorge- und Selbsthilfemöglichkeiten psychoseerfahrener Menschen beschäftigt sich dieses Buch. Damit wenden wir uns in erster Linie an Betroffene, die nicht länger nur hilflos und passiv hoffen möchten, dass keine weiteren Krisen kommen, die es satt haben, nur Pillen zu schlucken, und die schon immer das Gefühl hatten, dass nicht nur sie selbst es sind, die die Krisen durchleiden, sondern dass folglich auch sie es sein müssen, die diesen etwas entgegensetzen.

Wir haben in diesem Buch Erfahrungen von Menschen zusammengetragen, die in verschiedensten Formen von Psychosen »betroffen« sind. Mitgewirkt haben Psychoseerfahrene, professionell Tätige, Selbsthilfegruppen und einige Vertrauenspersonen. Aus verschiedenen Perspektiven betrachten sie die Themen der Vorsorge und Selbsthilfe. Professionell Tätige haben ihr theoretisches Wissen und ihre Kenntnisse aus der Arbeit mit psychoseerfahrenen Menschen eingebracht, Betroffene ihre ganz persönlichen Erfahrungen, ihre individuellen Vorsorgeaktivitäten und ihre Selbsthilfebemühungen in Gruppen. Herausgekommen ist eine Vielzahl von Anregungen und Erfahrungen aller Beteiligten, die für Professionelle, Betroffene und Angehörige gleichermaßen hilfreich sind.

Die verschiedenen Psychosen haben mehr Gemeinsames als Trennendes, deshalb wenden wir uns generell an Menschen mit psychotischen Krisen, seien diese nun schizophren, schizoaffektiv, depressiv, manisch oder manisch-depressiv. Allen Betroffenen ist gemeinsam, dass sie aus eigenen Stücken nur schwer aus ihren Krisen herausfinden, weshalb gerade für sie jegliche Form von Krisenvorbeugung wichtig ist. Psychosen verlaufen in der Regel phasenhaft und zumeist folgen auf die kurzen psychotischen Zeiten längere krisenfreie Lebensabschnitte. Der Vorsorgeansatz macht sich diesen Umstand zunutze: Bevor die Stimmen wiederkommen, kann man einer Selbsthilfegruppe beitreten, mit der Klinik eine Vereinbarung für den nächsten Aufenthalt treffen, Belastungen reduzieren, Psychosebegleiter suchen, sensibler für Krisenzeichen werden usw.

Wir standen vor allem zu Beginn unserer Arbeit mit psychoseerfahrenen Menschen immer wieder erschrocken vor der hilflos machenden Eigendynamik psychotischer Krisen. Klein, ja fast winzig wirken die persönlichen Einflussmöglichkeiten zunächst, wenn etwa jemand wie aus heiterem Himmel in eine tiefe Depression gerät. Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass Betroffene mit zunehmender Beschäftigung mit diesem Thema mehr und mehr Einflussmöglichkeiten überhaupt erst wahrnehmen. Erst langsam wird ihnen klar, wie man sich durch eigenes Verhalten in Psychosenähe bringt, aber auch durch eigene Anstrengungen Krisen schon mehrmals erfolgreich umschifft hat. Das schafft Selbstbewusstsein und fördert einen gleichberechtigteren Umgang zwischen Betroffenen und professionell Tätigen. Psychoseerfahrene sind nicht mehr einseitig auf Hilfe von außen angewiesen, sondern werden zu aktiven Mitgestaltern und Verhandlungspartnern.

Die Psychiatrie hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr gewandelt. Mehr und mehr werden Betroffene zu gleichberechtigten Verhandlungspartnern und wird ihr subjektives Erleben gewürdigt. Immer häufiger haben sie die Möglichkeit der Selbstbestimmung, statt dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Betroffene Menschen haben sich in einer sehr aktiven Selbsthilfebewegung zusammengeschlossen, ermutigen sich gegenseitig und verändern die Psychiatrie. All diese Entwicklungen werden heute unter dem Schlagwort »Empowerment« zusammengefasst. Seit Kurzem rückt nun zunehmend auch die Möglichkeit der Genesung von schweren psychischen Erkrankungen ins Blickfeld von Fachleuten, Betroffenen und Angehörigen. Heute wissen wir: Die allermeisten Menschen mit einer psychotischen Erkrankung genesen. Sie können ein zufriedenes und hoffnungsvolles Leben führen, oftmals klingen die Symptome sogar ganz ab.

Aber auch mit bestehenden Symptomen können sich Betroffene mit ihrer Erkrankung »versöhnen«, weil sie nicht mehr gegen sie kämpfen müssen, sich nicht mehr für ihre Erkrankung schämen und ihre Symptome so weit kontrollieren, dass sie die Psychose im Griff haben – und nicht umgekehrt.

Leserinnen und Leser dieses Buches begeben sich auf eine Entdeckungsreise – welche Schätze sich heben lassen, zeigt sich erst unterwegs! Wir haben zahlreiche Schatzsucher auf ihrem Weg begleitet und häufig erleben dürfen, dass sie größere Entdeckungen machten, als wir alle anfangs für möglich gehalten hatten. Die Beschäftigung mit Selbsthilfe und Vorsorge heilt keine Psychosen, man kann aber lernen, besser mit ihnen und möglichst lange ohne sie zu leben. Krisen sind weiterhin nicht ausgeschlossen, wenn sie aber kommen, dann möglicherweise schwächer oder mit weniger negativen Folgen.

Die klassische Psychiatrie kennt – etwas plakativ formuliert – nur einen einzigen Weg der Vorsorge: Pillen. Wir stehen ihnen äußerst zwiespältig gegenüber, was auch bedeutet, dass wir sie in vielen Fällen für unverzichtbar halten. Wer sich mit Vorsorge beschäftigt, der wird aber schnell an den Punkt kommen, an dem es nicht mehr um die Frage »Medikamente ja oder nein?« geht. Vielmehr tauchen ganz andere Fragen auf: Zu welchen Zeiten, in welcher Dosis, für welche Dauer, mit welchem Grad an Mitbestimmung betrachte ich welche Medikamente als kleineres Übel? Und auch: Wann halte ich das Risiko einer neuerlichen Krise für so gering, dass ich nach langer Abwägung zu dem Entschluss komme, momentan auf Medikamente verzichten zu können?

Dies Buch ist in drei Hauptteile gegliedert.

Im ersten Teil berichten Betroffene von ihren Psychoseerfahrungen und ihren persönlichen Wegen zu Vorsorge und Selbsthilfe. Von der Ohnmacht und Angst gegenüber der Psychose handeln die Texte, aber auch von deren Anziehung und Faszination, vom erfolgreichen Bemühen, die Krankheit hinter sich zu lassen oder Krisen ohne Klinik zu durchleben.

Der zweite Teil bietet eine strukturierte Hilfe, um den eigenen Selbsthilfemöglichkeiten auf die Spur zu kommen. Wir geben Anregungen für die persönliche Vorsorge. Hier wird nicht nur über Selbsthilfe gesprochen, sondern zahlreiche Fragen und Anregungen bieten eine Begleitung beim Bemühen, rechtzeitig vorzusorgen und sich vor weiteren Krisen zu schützen. Die Fragen sind in einem Vorsorgebogen zusammengefasst und können gleich im Buch bearbeitet und ausgefüllt werden.

In einem dritten Teil haben wir Erfahrungen, Vorschläge und Hintergründe zum Thema gesammelt. Betroffene geben konkrete Anregungen für andere Betroffene. Psychiatrieerfahrene veröffentlichen die bisher umfangreichste Liste mit Frühwarnzeichen. Und eine Vertrauensperson berichtet von ihren Erfahrungen als Psychosebegleiterin.

Bei der Arbeit an diesem Buch haben uns einige Vorsätze begleitet, deren Umsetzung uns hoffentlich gelungen ist: Praxisnah soll das Buch sein. Wir wollen Vorschläge und Anregungen bieten, mit denen Betroffene, Professionelle und Angehörige etwas anfangen können. Positiv soll es sein. Wir wollen Alternativen aufzeigen, anstatt über das, was ist, zu schimpfen. Und lebendig soll es sein, so spannend und vielgestaltig, wie es nur die Erfahrungen des Lebens sein können.

Dieses Buch wurde nur durch die Mithilfe und Zusammenarbeit vieler Menschen möglich. Bedanken möchten wir uns vor allem bei allen Betroffenen, die in unseren Gruppen, in Psychoseseminaren und in vielen persönlichen Gesprächen offen über ihre Erfahrungen berichtet haben und uns daran teilhaben ließen. Ohne sie hätten wir so manches Mal den falschen Ton angeschlagen und wieder Grenzen aufgebaut zwischen Betroffenen und professionell Tätigen. Danke sagen wir den Koautoren und -autorinnen. Durch ihre spannenden Texte erst wurde dieses Buch zu einem farbigen Ganzen.

Anke Gartelmann und Andreas Knuf

Teil 1: Wahnsinnige Berichte – Persönliche Erfahrungen

Sonne!

geh nicht am Schatten vorbei,

als wenn es nicht Deiner wär.

Sinn!

geh nicht am Wahnsinn vorbei,

als wenn es nicht Deiner wär.

Erst wenn die Flamme

der hellen

und der dunklen Sonne

gemeinsam erglühn,

berührt der Himmel die Erde.

Manuel Pan

Wahnsinnige Berichte

Jede Krise verläuft individuell, keine gleicht der anderen. Genauso verschieden sind die Wege, die Betroffene einschlagen, um weitere Krisen zu vermeiden. Sie haben sich selbst auf die Suche nach ihren Handlungsmöglichkeiten gemacht, haben sich beobachtet, haben ausprobiert und schließlich ihre eigenen Versuche unternommen, um der drohenden Hilflosigkeit entgegenzuwirken und der Krankheit in ihrem Leben weniger Macht zu geben.

Im Folgenden berichten sechs »wahnsinnige« Menschen von ihren Erfahrungen mit Psychosen, mit Selbsthilfe und mit der Vorsorge. Einige Bemühungen können zur Nachahmung empfohlen werden, andere sind so einmalig, dass sie nur für die jeweilige Person ihre Bedeutung und Richtigkeit haben. Allen aber ist gemeinsam, dass sie zum Nachdenken anregen über individuelle Vorsorge, Selbsthilfe und Gesundungswege.

Die entscheidende Frage »Will ich auf meine Krisen verzichten?« steht am Anfang jeder Beschäftigung mit der Vorsorgeidee. Selten werden psychotische Krisen einseitig nur negativ oder nur positiv erlebt. Vielmehr kennen die meisten Betroffenen grausame wie auch anziehende Seiten ihrer Psychosen. Sie sind meistens eine schwere Last, aber manchmal, zumeist für kurze Zeit, auch eine Lust. Ob und wie persönliche Vorsorge möglich ist, steht im Mittelpunkt aller Texte. Dabei wird das Ausmaß eigener Einflussmöglichkeiten sehr unterschiedlich erlebt. Einzelne fühlen sich ihrer Psychose gegenüber ausgeliefert und ohnmächtig oder bleiben in einer Dauerkrise gefangen. Andere finden ganz langsam ihren Weg oder sind von der Psychose so weit genesen, dass sie in ihrem Leben keine große Rolle mehr spielt.

Viele konkrete Fragen beschäftigen Psychoseerfahrene, Angehörige und Professionelle gleichermaßen: Wie groß ist der persönliche Einfluss auf weitere Krisen? Wie lässt sich eine Psychose rechtzeitig erkennen? Kann man sie aktiv herbeiführen? Lassen sich die Ursachen einer Psychose vermeiden? Wie ist Gesundung ohne Klinik, ohne Medikamente möglich?

Hier berichten Menschen, die es wissen müssen, von individuellen Lebenswegen, Leidenswegen und Lösungswegen.

Die höhere Macht kennenlernen

Kristina Zimmermann

Als man mich bat, über meine psychotischen Erlebnisse zu berichten, fiel mir in der Nacht danach ein Bilderzyklus der Jungfrau Maria vor der Geburt, Jungfrau Maria während der Geburt und Jungfrau Maria nach der Geburt ein, der sich als Deckengemälde in der großen Aula in dem humanistischen Gymnasium befindet, das ich neun Jahre besucht habe. Dabei zog ich einige Parallelen: Wie bei einer schwangeren Frau reift die Psychose in meinem Kopf oder meiner Seele heran, unter Wehklagen und seelischen Schmerzen kommt sie als Kopfgeburt auf die Welt und als Neugeborenes muss dann ich wieder von vorne anfangen. Und immer wieder stellt sich auch für mich die Frage, was denn (m)eine Psychose ist, woher sie kommt und wie ich ihr entgegentreten kann. Kann ich ihr Auftreten steuern oder bin ich ihr hoffnungslos ausgeliefert?

Bis jetzt habe ich mich bei jedem Anfall, der sich bei mir im Stimmenhören äußert, eher als Opfer einer höheren Macht erlebt. Schlagartig gibt es in meinem Gehirn einen Kurzschluss, und der alltägliche Bezug zur Realität weicht einem tranceähnlichen Zustand, einer anderen Bewusstseinsebene, in der meine gesamten Wunschvorstellungen meines Lebens so stark präsent werden, dass sie mich entrücken und ich mich wie »Alice in Wonderland« fühle.

Ich habe inzwischen einen Großteil der typischen Symptome einer Schizophrenie durchlebt: Paranoia, Selbstmordgedanken, akustische Halluzinationen, Liebeswahn, Depressionen, Ich-Störungen usw. Vielleicht ist oft Verdrängung der Auslöser für meine Krisen. Jedenfalls fällt es mir schwer, meine ursprünglichsten Wünsche und Bedürfnisse auszuleben.

In jeder akuten Phase tritt vor allem ein Gefühl so stark in den Vordergrund, dass es schier unerträglich wird: eine tief greifende Sehnsucht, die mich körperlich und geistig gefangen hält. Sehnsucht nach einem für mich maßgeschneiderten Leben, nach einem seelenverwandten Menschen, nach einer gesunden Umgebung.

In jeder akuten Phase fühle ich mich von einem übermenschlichen Signalsystem gesteuert: Die Natur spricht zu mir im Säuseln des Windes, im Zwitschern der Vögel, im Klang der Kirchenglocken. Ich bin dann so angespannt, dass ich meine, Menschen durch Wände hindurch zu spüren und ihre Gedanken lesen zu können.

Da ich glaube, dass meine Krankheit durch ein Versagen des Reizfiltersystems ausgelöst wird, mein Gehirn also nicht mehr unterscheiden kann, welche äußeren Reize von Bedeutung sind und welche nicht, suche ich eher hier nach Abhilfe. Ich entziehe mich den übermäßigen Reizen. Oft gelingt mir dies durch sofortiges Hinlegen in einem geschlossenen Raum recht gut, wobei sich das Nervenkostüm innerhalb der nächsten halben Stunde weitgehend erholt hat. Außerdem vertraue ich sehr auf die Wirkung der neuroleptischen Psychopharmaka, die ich anfangs strikt abgelehnt habe. Derzeit nehme ich 400 mg Leponex täglich und vertrage diese Medikation relativ gut. Auch Entspannung in jeder Form, wie ein heißes Bad, Sauna, autogenes Training u. a., ist sehr wertvoll.

Trotz alledem bin ich überzeugt, dass die Eigendynamik der Psychose so stark ist, dass man sie zwar früh erkennen und sofort gegensteuern kann, aber das Ausbrechen der Psychose entzieht sich unserer Macht. Das zwingt mich dazu, mich stets genau zu beobachten, in mich hineinzuhorchen, alles genau zu registrieren. Dies nimmt mir viel von meiner spontanen Lebenslust, schränkt meine Handlungen ein. Ein psychotisch werdender Mensch muss sich immer zweimal fragen: Will ich das wirklich oder hat sich mein Unterbewusstsein wieder einmal verselbstständigt?

Mein letzter von bisher vier Klinikaufenthalten dauerte fünf Monate. Dank meiner Freiberuflichkeit als Übersetzerin bin ich keinem Chef oder Vorgesetzten Rechenschaft über meine Vergangenheit schuldig, jedoch muss ich meine Kundschaft wieder neu gewinnen. Wie mir mal jemand sagte, nimmt die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung an einer Psychose ab dem vierzigsten Lebensjahr deutlich ab. So habe ich also noch zehn Jahre – wie oft werde ich mich davor wohl noch in stationäre Behandlung begeben müssen?

Immer wieder stelle ich mir die Frage, ob ich mich nach dem psychotischen Zustand sehne, die akuten Phasen also herbeiwünsche. Manchmal denke ich, dass mir die durchschnittliche Realität nicht genügt und ich mich deswegen in eine Traumwelt zurückziehe. Ich will alles leben, erleben, überleben. Ich kämpfe mit mir selbst, ringe aber auch um den Anspruch auf Wahrheit und Legitimität meiner Wirklichkeit. Die Psychose ist also nicht ausschließlich negativ.

In meiner Traumwelt kommt immer ein Idol vor – es ist der Abenteurer und Bergsteiger Reinhold Messner. Ich trage in meinem Inneren eine Stimme mit mir, die mir Anweisungen gibt und mich steuert. Es ist seine Stimme. Mein größter Wunsch war und ist es, ihm die Hand zu schütteln und ihm von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Ich projiziere meine Sehnsüchte auf diesen unerreichbaren Mann. Er selbst sagte mir mal in einem Telefonat, dass meine Gefühle eine Art »Fernverehrung« seien. Warum schweife ich immer in die Ferne? Warum flüchte ich aus meiner Realität?

Fragen über Fragen, Hypothesen über Hypothesen. Mein Leben ist wie ein großes Fragezeichen und ich bin auf der Suche nach dem Ausrufezeichen und dem Punkt.

Wenn die Stimmen wiederkommen, habe ich stets das Gefühl von »Déjâ-vu-Erlebnissen« und dass ich mich meiner Geburt nähere und nicht dem Tod. Mir ist es, als müsste ich durch einen Tunnel, dessen Ausgang ich schon kenne.

Bei all meinen verworrenen Vorstellungen in der Psychose hilft mir immer, dass ich zunehmend mehr von dem dahinterliegenden System verstehe, Gründe und Funktionen erkenne. Dadurch lerne ich, besser durch die drei Stadien vor, während und nach der Psychose zu gelangen. In der Psychose drückt sich eine Art höhere Macht aus, die ich zwar nicht beherrschen, aber doch immerhin zu durchschauen lernen kann.

Meine Diagnose lautet »paranoide Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis« – so griechisch, wie es klingt, so muss ich doch damit leben.

Von der Anziehung der Psychose und der Angst vor der Zwangsbehandlung

Heidrun G.

Ich bin jetzt 31 Jahre alt. Vor sechs Jahren hatte ich meine erste von bisher vier Psychosen. Sie trat ein, nachdem ich meine Doktorarbeit abbrechen musste. Mein Professor hatte mich zum Aufhören gedrängt. Damit wurde ich nicht fertig. Ich hatte eigentlich recht positive Gefühle für den Professor und konnte wohl deshalb seinen Mangel an Unterstützung umso weniger ertragen. Ich kam in einen Zwiespalt zwischen meinen positiven Gefühlen für ihn und seinem realen Verhalten. In meiner Psychose habe ich meine Illusion und meinen Wunsch nach Unterstützung aufrechterhalten und geglaubt, mich mit ihm über Gedankenübertragung weiterhin verständigen zu können. In meiner Vorstellung hat er mich auch weiter unterstützt.

Ich bin damals viel allein im Schwarzwald spazieren gegangen und konnte dabei meinen Gedanken richtig nachhängen. Ich habe in der Zeit auch viel gemalt. In den Bildern hat sich die innere Spannung ausgedrückt. Häufig habe ich Spiralen gemalt. Sie sind heute für mich ein Symbol für die »Gedankenketten«, die ich in der Psychose erlebe und die sich in meinem Kopf zu drehen scheinen.

Die Psychose habe ich als recht positiv erlebt. Ich habe mich aufgefangen gefühlt und hatte den Eindruck, dass für mich gesorgt wird und mir nichts Schlimmes passieren kann. Ich fühlte mich unsterblich und glaubte, dass meine verstorbenen Großeltern wieder am Leben wären. Ich habe auch nie erlebt, dass ich durch meine Psychosen in Gefahr geraten oder mir etwas zustoßen könnte. Umso unverständlicher war für mich, dass ich bei meiner dritten Psychose wegen Eigen- und Fremdgefährdung gerichtlich untergebracht wurde. Ich bin heute noch der Meinung, dass zu keinem Zeitpunkt Eigen- oder Fremdgefährdung bestanden hat.

Einmal war ich in der Mensa und habe plötzlich nichts mehr gehört – keine Geräusche, keine Gespräche, nichts. Ich glaubte, in der Hölle zu sein. Ich habe mich daraufhin draußen auf eine Bank gesetzt. Nach einer Weile kam jemand vorbei, der mit mir geredet hat und mit mir gegangen ist. Er muss sehr viel Geduld aufgebracht haben. Solche positiven Erlebnisse im Kontakt zu Menschen hatte ich in den Psychosen häufiger, und ich habe den Eindruck, dass ich in der Psychose weniger gehemmt und schüchtern bin. Dann habe ich meist den Eindruck, dass es ganz wichtig ist, bestimmte Dinge zu tun, die mir eingegeben werden, und dass etwas Schreckliches passiert, wenn ich das Falsche tue.

Beispielsweise meinte ich in meiner ersten Psychose, dass eine Katze in dem Haus, in dem ich wohnte, sterben müsse, weil ich mich einen Moment lang falsch verhalten habe, und dass die Botschaft an die Welt, die ich zu verbreiten hätte, sei, dass wir uns mehr um die Tiere kümmern müssten. Eine Botschaft, die ja, so würde ich nach der Psychose immer noch sagen, durchaus ihre Berechtigung hat. Ich hatte also immer wieder Angst, das Falsche zu tun und nicht rechtzeitig herauszufinden, was die »Stimmen« mir eingeben wollen. Wobei ich selbst es eigentlich nie als »Stimmen« bezeichnet habe, sondern immer als »Gedankenübertragung«, weil ich ja akustisch nichts hörte.

Ich habe mich geführt gefühlt, und das war eigentlich angenehm, weil es dem Tun mehr Sinn gab als im Alltag. Überhaupt schien alles mehr Sinn zu haben. Abgesehen von dieser Angst, das Falsche zu tun, habe ich meine Psychosen nie angstbesetzt erlebt. Ich würde im Gegenteil sagen, dass ich in den Psychosen mehr Mut hatte.

Nach der ersten Psychose hat mich ein Psychiater gefragt, was ich nun von meinem Erleben in der Psychose hielte. Ich habe ihm geantwortet, ich fände es lustig. Aber das konnte er überhaupt nicht verstehen. Psychiater scheinen so was immer als »mangelnde Krankheitseinsicht« zu werten. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass Psychiater sehr erstaunt sind, wenn ich ihnen erzähle, dass ich meine Psychosen positiv erlebe.

Am liebsten würde ich, wenn ich wieder in eine Krise kommen sollte, diese ausleben und keine oder nur wenige Medikamente nehmen. Ich bin der Überzeugung, dass die Krise bei mir auch ohne Medikamente wieder vorbeigehen würde. Wenn ich in der Klinik zwangsmedikamentiert werde, habe ich den Eindruck, dass mir etwas weggenommen wird.

Das Unangenehme an der Psychose ist der Zustand nach der positiven Symptomatik. Ich bin dann sehr müde und die Konzentration ist schlecht. Das liegt sicher auch an den Medikamenten, aber wohl nur zum Teil. Diese negative Phase danach dauert bei mir Monate. Wenn dieser negative Zustand nicht wäre und die Psychose nicht mit Medikamenten bekämpft würde, deren Nebenwirkungen ich erleiden muss, wäre ich eigentlich einer weiteren Psychose gegenüber gar nicht so abgeneigt.

Nach meinen Psychosen habe ich meistens die Medikamente abgesetzt. Zurzeit aber nehme ich noch Medikamente, weil ich nach der Psychose immer so ausgepowert bin, dass ich Monate brauche, bis ich mich wieder erholt habe, und das nicht schon wieder erleben möchte. Meine letzte Psychose ist jetzt etwas über ein Jahr her. Was mich zusätzlich davon abhält, die Medikamente abzusetzen, ist die Angst vor den Zwangsmaßnahmen in der Klinik im akuten Schub. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, die Medikamente mein ganzes Leben lang zu nehmen.

Der Aufenthalt in der Psychiatrie war für mich eine traumatische Erfahrung, gerade wegen der Zwangsmedikation und des Gefühls, völlig ausgeliefert zu sein, sodass sie mit mir machen konnten, was sie wollten, und es kein Entkommen aus der geschlossenen Station gab. Das einzig Schöne an der Psychiatrie war die Beschäftigungstherapie, in der ich endlich mal die Zeit und das Material zum Malen, Basteln und Kreativsein hatte. Das hat mir Spaß gemacht.

Vor meiner letzten Psychose hatte ich gehofft, die positiven Gefühle und Gedanken erzeugen zu können, ohne wirklich psychotisch zu werden, mich sozusagen am Rande einer Psychose bewegen zu können. Als ich merkte, dass ich wieder in die Psychose geriet, habe ich zunächst nicht versucht, sie zu vermeiden. Ich hatte jedoch gehofft und geglaubt, die Psychose so weit steuern zu können, dass ich nur »ein bisschen« psychotisch würde. So wollte ich das euphorische Gefühl in der Psychose erhalten, ohne jedoch so weit reinzurutschen, dass ich nicht mehr ansprechbar war und wieder in der Psychiatrie landen würde. Es ist mir jedoch nicht gelungen, so weit Kontrolle auszuüben.

Ich glaube, dass meine Psychosen bei immer geringer werdenden Anlässen wiederkehren, weil es eine Art erlernte Reaktion ist. Eine Fluchtreaktion von mir, die einsetzt, wenn eine Situation naht, mit der ich nicht fertig werde. Vor allem treten die Psychosen bei mir dann auf, wenn ich mich von Leuten, die ich sehr mag, im Stich gelassen, alleingelassen, fallen gelassen fühle. In der Psychose flüchte ich dann in eine andere Welt, in der alles möglich ist und ich auch durch den Kontakt mittels Gedankenübertragung nicht allein bin. Der Aufenthalt in der Klinik verstärkt eher noch die Flucht, weil man aus allem rausgerissen wird, nichts mehr selbst erledigen kann.

Meine Einstellung gegenüber einer erneuten Psychose ist zwiespältig. Wenn ich mir vorstelle, dass mein ganzes Leben so weitergeht wie im letzten Jahr, dann hätte ich fast gerne wieder eine Psychose, weil ich dann rausgerissen bin aus dem Alltagstrott und wieder etwas Interessantes erlebe. Es ist immer noch eine Verlockung da und die Hoffnung, die Psychose steuern zu können – etwa durch Nichteinnahme der Medikamente einen Teil des Psychoseerlebens wieder zu bekommen, aber dann gerade so viel Medikamente zu nehmen, dass ich nicht in die Klinik muss. Das wäre ein Spiel mit dem Feuer und das Risiko übt einen gewissen Reiz auf mich aus, wie auch die Möglichkeit, dass die Psychose wieder auftritt, einen gewissen Reiz hat. Wenn es mir gut ginge und ich zufrieden mit meinem Leben wäre, dann bräuchte ich keine weiteren Krisen mehr.

Auch wenn ich Psychosen positiv erlebe, beschäftige ich mich trotzdem mit Vorsorge, denn ich möchte mehr Einfluss und Kontrolle haben – zum Beispiel darauf, was mit mir passiert, wenn ich eine Psychose habe, in welche Klinik ich komme oder wo ich die Psychose erleben kann, ohne ins Krankenhaus zu kommen. Die Frühwarnzeichen finde ich auf alle Fälle wichtig, weil ich lernen möchte, den Zeitpunkt zu finden, an dem ich die Psychose selbst unter Kontrolle halten kann, sodass ich nicht zwangsweise so viele Medikamente bekomme, dass alle psychotischen Gedanken unterdrückt werden.

Von der Heilung einer angeblich unheilbaren Depression

Pirmin von Reichenstein

Über dreißig Jahre lang war ich seelisch krank und wurde von Psychiatern medikamentös behandelt. Schließlich waren alle Beteiligten mit ihrem Latein am Ende bezüglich meiner »endogenen Depression«. So blieb mir nichts anderes übrig, als gesund zu werden.

Alles fing mit meiner falschen Partnerwahl vor 37 Jahren an. In der Nacht meines Verlobungstages brachen meine Depressionen aus. Grauenhafte Träume wollten mir verdeutlichen, dass ich als unterordnungsbereiter Mann mit der Entscheidung für eine letztlich herrschsüchtige Frau in die Falle gegangen war, die ich mir unbewusst selbst gestellt hatte. Doch diese Einsicht brachte mir erst meine Selbstanalyse. Damals rieten mir in meinen lähmenden depressiven Zuständen vier hilfsbereite Theologieprofessoren zum Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus: »Es sind so gute Medikamente erfunden worden!« Damit begann 1959 die Chronifizierung meines Leidensweges.

Wie entlastend war es für den Studenten mit seiner Antriebs- und Gedankenarmut zu hören: »Sie können nichts dafür und nichts dagegen tun, dass Sie krank sind, sondern nur regelmäßig Ihre Medikamente einnehmen.« Oder: »Nicht umsonst hat Ihr Vater sich das Leben genommen, und einen psychisch kranken Bruder haben Sie auch. Das ist endogen – vererbt!« Später sagte man mir irreführend noch: »Psychische Krankheiten werden durch Stoffwechselstörungen im Gehirn verursacht.« Jeder Erfolg wurde dann als »manisch« abgestempelt. So kam es schon am Anfang zu der Diagnose: »manisch-depressives Irresein«. Über die Risiken der Medikation gab es kaum Aufklärung.

Nach meinem Theologiestudium begann eine fünfjährige Vikarszeit, in der ich zum pfarramtlichen Dienst ordiniert wurde. Oft war ich wegen meiner Depressionen nicht einsatzfähig. Als sich in unserer Ehe ein Kind ankündigte, gab ich auch die Doktorarbeit auf und wurde für 15 Jahre Hausmann. Von 1969 bis 1989 war ich einigermaßen »stabilisiert« durch Lithiumpräparate, die allerdings starke Kopf- und Rückenschmerzen mit sich brachten. Zu den Neuroleptika und Antidepressiva sowie den Schlaftabletten gesellten sich Schmerzmittel. Blasen- und Schilddrüsenbeschwerden machten weitere Medikamente erforderlich.

Meine beiden Psychoanalysen von 1964/65 und 1968/69 hatte ich während des Sommerurlaubs der Therapeuten mit Suizidversuchen beendet. Die Folgen meiner Vergiftungen waren grauenhaft. Ich ging jeweils durch wahre Höllen. Die fehlgeschlagenen Therapieversuche wurden wieder als Beweis für eine »endogene Erkrankung« betrachtet. Als ich 1990 zum dritten Mal die Vorkehrungen zum Suizid traf, stand plötzlich mein Bruder vor der Tür, der zehn Jahre älter ist und zehn Jahre vor mir den Ausstieg aus der Psychiatrie geschafft hat. Die letzte depressive Episode endete 1992. Seit Anfang 1993 bin ich gesund und glücklich wie nie zuvor.

Es war ein langer und äußerst beschwerlicher Weg. Ich erkannte nach und nach, dass ich nur als ganzer Mensch gesund werden konnte. Es dauerte lange, bis ich verstanden hatte, dass ich zur Erlangung eigener Gesundheit und eigenen Glücks alles einsetzen musste.

Am Anfang meines neuen Lebens stand die spirituelle Heilung. Ich fing in ganz neuer Weise an, mich auf Gottes Wort zu verlassen.

»Ich bin der Herr, dein Arzt.« Ein neues Bitten erwachte in mir: »Heile du mich, Herr, so werde ich heil! Hilf du mir, so ist mir geholfen!« Dieser geistliche Neubeginn tat sich mir 1986 auf in dem evangelischen Einkehrhaus Bergkirchen, wo ich den Weg der Meditation entdeckte. Dort geschah nach drei Jahren etwas sehr schwer Fassbares: Nach dem Nachtgebet überwältigte mich die Vorstellung von einem in der Dunkelheit goldleuchtenden Angesicht Christi. Eine noch nie erlebte Erregung ergriff mich mit einem unsagbaren Glücksgefühl und einer neuen Gewissheit, dass mein Heilungsweg begonnen hatte. Felsenfest war ich nun überzeugt: Jesus wird mich heilen.

Alsbald begann ich mit der Selbstanalyse im psychotherapeutischen Sinn. Immer klarer wurden mir meine depressiven Verhaltensweisen: Ein Erlebnis konnte noch so gut gewesen sein, wenn ich mich daran erinnerte und darüber nachdachte, kamen mir Einfälle, wie ich alles hätte besser machen können. So stellte sich die alles zersetzende Überzeugung ein, ich sei nun mal ein totaler Versager. Ich litt furchtbar unter dieser unheimlichen Macht. Ich erkannte sie als einen sozusagen selbst gestrickten Dämon und sah keine Möglichkeit, mich davon zu befreien. Doch bald darauf hatte ich bei einer katholischen Eucharistiefeier eine weitere Vision: Plötzlich stand dieser Dämon in bedrohlicher Gestalt vor mir. Aber ich hatte einen Dolch in der Hand und tötete ihn mit drei Stichen. Ich brachte ihn also sozusagen in mir selbst um! Mit dieser Heilungsvision war ich wie neugeboren.