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Wir leben in einer Zeit nie da gewesener Herausforderungen. Zum ersten Mal seit Beginn der Zivilisation ist sogar das Überleben der Menschen auf dem Planeten Erde gefährdet. Der sich beschleunigende Klimawandel macht das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels mit jedem Tag unwahrscheinlicher. Kipp-Punkte des Klimawandels werden von der Wissenschaft warnend beschrieben und trotzdem überschritten. Doch auch bei Artenschwund, weltweitem Wassermangel, Gesundheitsgefahren durch die Lebensmittelindustrie oder womöglich noch schlimmere Pandemien gilt: Die Fakten liegen längst auf dem Tisch. Warum schafft es die Politik nicht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Handeln umzusetzen? Die Politik muss aufnahmefähiger für die Forschung sein, ja Schritt mit ihr halten – sonst werden wir, wie Karl Lauterbach zeigt, die Kontrolle über unsere Zukunft verlieren und scheitern. Kaum jemand könnte besser darlegen als Karl Lauterbach, Politiker und Wissenschaftler zugleich, warum eine Revolution des Zusammenspiels von Politik und Wissenschaft nötig ist; von welch unterschiedlichen Denk- und Herangehensweisen diese beiden Systeme bestimmt werden; und ob eine Verzahnung überhaupt möglich ist. – Ein hochdringlicher Weckruf und ein starkes Plädoyer für eine Politik, die sich der Realität stellt.
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Seitenzahl: 320
Veröffentlichungsjahr: 2022
Karl Lauterbach
Was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält
Wir leben in einer Zeit nie da gewesener Herausforderungen. Zum ersten Mal seit Beginn der Zivilisation ist sogar das Überleben der Menschen auf dem Planeten Erde gefährdet. Der sich beschleunigende Klimawandel macht das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels mit jedem Tag unwahrscheinlicher. Kipppunkte des Klimawandels werden von der Wissenschaft warnend beschrieben und trotzdem überschritten. Doch auch bei Artenschwund, weltweitem Wassermangel oder der Gefahr noch schlimmerer Pandemien gilt: Die Fakten liegen längst auf dem Tisch. Warum schafft es die Politik nicht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse rechtzeitig in Handeln umzusetzen?
Die Politik muss aufnahmefähiger für die Forschung sein, ja Schritt mit ihr halten – sonst werden wir, wie Karl Lauterbach zeigt, die Kontrolle über unsere Zukunft verlieren und scheitern. Kaum jemand könnte besser darlegen als Karl Lauterbach, Politiker und Wissenschaftler zugleich, warum eine Revolution des Zusammenspiels von Politik und Wissenschaft nötig ist; von welch unterschiedlichen Denk- und Herangehensweisen diese beiden Systeme bestimmt werden; und ob eine Verzahnung überhaupt möglich ist. Ein hochdringlicher Weckruf und ein starkes Plädoyer für eine Politik, die sich der Realität stellt.
Prof. Dr. med. Karl Lauterbach, geboren 1963, zählt zu den profiliertesten deutschen Politikern. Er ist Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität Köln, seit 2008 zudem Professor an der Harvard School of Public Health. Der Experte für Gesundheits- und Sozialpolitik wurde 2005 Mitglied des Bundestages, bis 2019 war er stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter der Bestseller «Der Zweiklassenstaat». Seit Dezember 2021 ist Karl Lauterbach Bundesminister für Gesundheit.
Lothar Frenz, geboren 1964, ist Biologe, Journalist und Buchautor. «Lonesome George oder Das Verschwinden der Arten» (2012) wurde von der Deutschen Umweltstiftung als «Umweltbuch des Jahres» ausgezeichnet; zuletzt erschien «Wer wird überleben? Die Zukunft von Natur und Mensch», das 2021 für den NDR Sachbuchpreis nominiert war.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Karl Lauterbach
ISBN 978-3-644-01092-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Luzie und ...
Einleitung Das Jahrzehnt der Entscheidung
1. Kapitel Eine schwierige Beziehung – Wissenschaft und Politik
Die Ereignisse überschlagen sich
Zwei Beispiele dafür, was wir tun könnten und nicht tun
Offene Wissenschaftsfeindlichkeit
Raus aus dem Labor, rein in die Politik
Ein unwägbares Abenteuer
Mein Weg ins Parlament
Wie Forschung in politische Entscheidungen einfließt und warum das zu wenig geschieht
Politik braucht Wissenschaft, und Wissenschaft braucht Politik
Das Problem ist: Was ist überhaupt ein Problem?
Ein gelungenes Exempel: das Ozonloch
2. Kapitel Vom Urknall bis zum Treibhauseffekt – eine kurze Geschichte des Klimas
Wie Physik, Chemie und Biologie in die Welt kamen
Weshalb das Leben den Treibhauseffekt braucht
Biologische Energierevolutionen
Wie unsere fossilen Brennstoffe entstanden
Das Ende der Dinosaurier und seine Folgen
Vom Baum auf zwei Beine
Unsere beste Zeit: das Holozän
Ein Klima, wie für den Menschen gemacht
3. Kapitel Wenn die Dominosteine fallen – unsere Zukunft auf der Erde
Ein Blick zurück: Was fünf Grad mehr bedeuten
Am Abgrund: Kipppunkte
Klima-Domino
Noch mehr Kippelemente
Warum verstehen wir nicht?
Die Klimakrise ist längst bei uns angekommen
Die Flutkatastrophe: unser Fukushima-Moment?
CO2-Budgets und die deutsche Politik
Optimismus gegen Pessimismus
Ein paar Lösungen und ihre Folgen
4. Kapitel So einfach könnte Klimaschutz sein – unsere Ernährung
Was wir essen, ruiniert das Klima
Ein Leben ohne Fleisch ist gesünder
Umwelt-Mikado mit Grillwürstchen
Die Fleischlobby
5. Kapitel Eine unterschätzte Gefahr – der Wassermangel
Der Kampf ums Wasser hat begonnen
Raubbau am Grundwasser
Und jetzt noch die Klimakatastrophe obendrauf
Kriege der Zukunft
Was tun gegen den Wassermangel?
Die Flucht vor der Dürre
Südeuropa brennt
6. Kapitel Und das war erst der Anfang – kommende Pandemien
Die Generalprobe: Pandemieübung mit Modi-SARS
Der Ernstfall: Corona
Wie wir neue Virusmutanten heranzüchten
Pandemien und Klimawandel
Was haben wir gelernt?
7. Kapitel Ende des Routinebetriebs – die Zukunft und ihre Zumutungen
Warum es auf Deutschland ankommt
Lernen von China?
Mehr Wissenschaft wagen
Worauf wir hoffen können
Anhang
Zum Weiterlesen
Für Luzie und Rosa-Lena
Schon lange wissen wir, was wir tun müssten, um unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten: Die Wissenschaft hat die Fakten längst auf den Tisch gelegt. Dennoch handeln wir nicht ansatzweise konsequent genug – trotz besseren Wissens. Der von uns Menschen gemachte, sich beschleunigende Klimawandel ist das mit großem Abstand drängendste, aber nicht das einzige unserer globalen Probleme. Denn da sind auch noch die Biodiversitätskrise samt künftigen Pandemien, weltweite Wasserknappheit samt drohenden Kriegen und folgenden Migrantenströmen. Der Klimawandel hat mittlerweile eine solche Dimension erreicht, dass man von einer Klimakatastrophe sprechen muss. Die Klimakatastrophe und die übrigen Krisen hängen alle miteinander zusammen. Verschärft werden sie noch durch populistische Strömungen, die in unserer zunehmend von sozialen Medien beeinflussten Informationsgesellschaft um sich greifen und sowohl unsere Demokratie gefährden als auch die Bewältigung der globalen Probleme infrage stellen. Warum schafft es die Politik nicht, in Deutschland wie anderswo, die wissenschaftlichen Erkenntnisse rechtzeitig in Handeln umzusetzen?
Auch wenn mich viele wieder eine Kassandra nennen mögen, muss ich dieses Buch doch mit einer ehrlichen und schmerzlichen Einschätzung beginnen: Ich bin mehr als skeptisch, ob wir die anstehenden Herausforderungen überhaupt noch in der uns zur Verfügung stehenden Zeit bewältigen können. In den letzten Jahren habe ich mich intensiv auch mit den Ursachen des Klimawandels und mit den Möglichkeiten seiner Bewältigung beschäftigt. Ich gehe davon aus, dass die Ursachen ausreichend verstanden sind und dass wir bereits über die Technologie verfügen, die notwendig ist, um den Klimawandel noch rechtzeitig zu stoppen. Ohne dramatischen Wohlstandsverlust könnten auch Industrieländer wie Deutschland auf der Grundlage erneuerbarer Energien eine nachhaltige Zukunft erreichen. Ob dies gelingt, ist keine technische, sondern eine politische Frage, vor der alle Länder dieser Welt stehen. Vergegenwärtigt man sich die Diskrepanz zwischen dem Wissen und den technischen Möglichkeiten auf der einen Seite und den Treibhausgasemissionen und ihrer Entwicklung auf der anderen Seite, kann man nicht anders als pessimistisch in die Zukunft blicken.
Doch auch wenn es mehr als fraglich ist, ob es uns gelingen wird, für eine lebenswerte Zukunft auf unserem Planeten zu sorgen, kann und darf niemand vor dieser extrem schwierigen Lage die Augen verschließen. Ich bin selbst in die Wissenschaft und später in die Politik gegangen, um die Welt etwas besser zu machen, zunächst konkret unser Gesundheitssystem. So etwas mag aus dem Munde eines Politikers heute kitschig klingen. Aber so war es. Im Vergleich mit den Herausforderungen für unser Gesundheitssystem haben wir es jetzt allerdings mit einer ganz anderen Größenordnung von Problemen zu tun. Selbst die Coronakrise, mit deren Auswirkungen ich seit Februar 2020 befasst bin, verblasst dagegen. Die Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie, unter denen wir alle so gelitten haben, waren geringfügig und zeitlich sehr begrenzt im Gegensatz zu dem, was wir in der Klimakrise erwarten müssen. Der jetzt vor uns liegende Klimawandel – oder wie gesagt besser: die Klimakatastrophe – wird sogar noch viele solcher Pandemien mit sich bringen.
Auf eine technische Lösung, die mit der Entwicklung und Produktion von Impfstoffen vergleichbar wäre, können wir hier nicht hoffen. Sicher wird Technologie bei der Bewältigung der Klimakatastrophe eine Rolle spielen. Aber die benötigten Technologien sind zugleich einfacher und komplizierter. Sie sind einfacher, weil etwa die Entwicklung von Photovoltaik- oder Windkraftanlagen keine abgehobene Raketenwissenschaft ist, gerade im Vergleich zu vielen Herausforderungen in der Medizin. Sie sind aber gleichzeitig sehr viel komplizierter, weil wir unendlich viele dieser Anlagen in vielfältige, noch aufzubauende Stromnetze samt Batteriespeichern integrieren müssen, um funktionierende Systeme für den riesigen Bedarf an erneuerbarer Energie zu schaffen.
Immer wieder wird in der Politik so getan, als ob die für die Energiewende notwendige Technologie erst noch erfunden werden müsste. In der Regel ist das nichts als ein Argument für das Nichtstun. Wir warten auf den Moment, in dem technische Neuerungen uns viele der harten und kostspieligen Entscheidungen erleichtern. In Fachkreisen dagegen weiß jeder, dass die Technologie längst da ist. Zumindest die Technologie, mit der wir die Energiewende schon jetzt bewältigen können. Diverse wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass in Deutschland so viel Energie erzeugt werden könnte, dass sich das Land damit autark versorgt und auch die industrielle Produktion erhalten bleibt. Im Wesentlichen könnte auf der Grundlage von Sonnen- und Windenergie der komplette Bedarf für Transport, Wärme, Industrie und Landwirtschaft gedeckt werden. Die dafür notwendigen Flächen stehen zur Verfügung. Eine ausreichend erforschte Speichertechnologie kann aufgebaut werden. Das Argument der Dunkelflaute, das auf Versorgungsschwankungen bei Sonnen- und Windenergie abzielt, kann durch die Planung und den Bau europaweiter Netze für Wasserstoff und Strom sowie von Gasspeichern zur Aufbewahrung von grünem Wasserstoff entkräftet werden.
Die entscheidende Frage ist also nicht, ob die Technologie da ist oder nicht. Sie ist da, und sie wird eingesetzt werden. Am Ende werden Elektroautos und zum kleineren Teil auch wasserstoffbetriebene Fahrzeuge alle Verbrennungsmotoren ersetzen. Alle Kohlekraftwerke werden geschlossen sein. Niemand wird mehr mit Gas oder mit Öl heizen. Die fossile Wirtschaft wird komplett sterben. Entscheidend ist, wann die bereits vorhandene Technologie eingesetzt wird. Noch rechtzeitig oder zu spät? Wenn sie zu spät eingesetzt wird, kann sie den Dominoeffekt der Kipppunkte, von dem später noch ausführlicher die Rede sein wird, nicht mehr aufhalten. Im Übereinkommen von Paris haben die Staaten 2015 beschlossen, den weltweiten Temperaturanstieg, wenn irgend möglich, auf 1,5 Grad zu begrenzen – gerechnet vom Beginn der Industrialisierung um 1850 bis zum Jahr 2100. Selbst wenn das 1,5-Grad-Ziel erreicht würde, was ich für unmöglich halte, bliebe eine Restwahrscheinlichkeit von deutlich mehr als 10 Prozent, dass wichtige Kipppunkte überschritten werden. Wenn das 1,75-Grad-Ziel erreicht würde, aus meiner Sicht leider ebenfalls unrealistisch, läge dieses Risiko vermutlich schon bei fast 30 Prozent. Niemand würde sein Eigenheim so sehr heizen, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent in dreißig Jahren abbrennen würde. Genau das tun wir derzeit aber mit dem Eigenheim Erde.
Es mag zunächst einmal überraschend klingen, dass ich als Politiker das 1,5-Grad-Ziel für nicht mehr erreichbar halte. Bis zum Jahr 2030 müssten die CO2-Emissionen im Vergleich zu 2010 um 45 Prozent reduziert werden.[1] Ich habe zwanzig Jahre in den USA gelebt, war in vielen Ländern als Berater oder Wissenschaftler unterwegs – und mir fehlt die Phantasie, wie die politischen Mehrheiten für die entsprechenden Maßnahmen organisiert werden sollen. Von Fachkreisen abgesehen, bin ich bei diesen Reisen kaum auf Politiker gestoßen, die sich stärker für das Thema Klimawandel interessiert hätten. Und nicht zuletzt entspricht meine Einschätzung der Zunahme an Treibhausgasen in den letzten zehn Jahren und dem zu langsamen Rückbau der fossilen Energieträger weltweit. Ich hoffe, dass ich mit dieser Bewertung falschliege. Selbst wenn es unmöglich scheint, sollten wir alles dafür tun, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen oder zumindest in die Nähe zu gelangen. Wenn wir es tatsächlich nicht erreichen sollten, kommt es auf jedes Zehntelgrad an. Keine noch so pessimistische Einschätzung darf als Begründung dafür durchgehen, alle Bemühungen aufzugeben. Wir haben keine andere Chance, als die Erderwärmung auf einem so niedrigen Niveau wie irgend möglich zu stoppen.
Gibt es andere Lösungen technischer Natur, mit denen wir den Umbau unserer Industrie und Energiegewinnung schneller erreichen könnten? Wäre die Kernenergie in Form von Thoriumreaktoren vielleicht eine Hilfe? Kann die Kernfusion durch Magnetfeldbeschleunigung oder Laserbeschuss den Prozess der Energiegewinnung der Sonne für uns nutzbar machen? Was ist mit dem Pflanzen von Bäumen? Ist es möglich, das CO2 direkt aus der Luft zu holen, um die Erderwärmung rückgängig zu machen? Lässt sich die Erde durch das Ausbringen von Schwefel oder anderen Molekülen in der Atmosphäre abkühlen? Wäre es machbar, die Meeresoberfläche so zu verändern, dass mehr Sonnenstrahlen reflektiert werden und möglicherweise CO2 gebunden wird? Ließe sich das CO2 durch große Algenanlagen in der Wüste binden? Oder durch Kalkgesteine, die auf unsere Wiesen und Äcker verbracht werden? Kann zur Energiegewinnung im großen Stil Biomasse aufgebaut und verbrannt werden, während das dabei abgeschiedene CO2 dann tief in der Erde gelagert würde, wo es sich mit dem umliegenden Gestein verbindet?
Die Antwort auf all diese Fragen lautet nein. Keine dieser Technologien ist ausgereift genug, um auch nur ansatzweise in den kommenden und entscheidenden Jahrzehnten einen Unterschied machen zu können. Andere Lösungen als Solarkraft und Windkraft stehen uns in großem Umfang schlicht nicht zur Verfügung. Weder wird die Kernfusion eine Rolle spielen, noch werden neue kleine Atomkraftwerke auch nur in die Nähe einer bezahlbaren und sicheren Energieproduktion kommen. Gezeitenanlagen im Meer werden ebenso wenig einen nennenswerten Beitrag leisten können. Energiewende bedeutet also: schnellstmöglicher Ausbau von Windkraftanlagen an Land und im Meer und maximaler Ausbau von Solarkraftanlagen. Auf eine andere Technik können wir nicht warten.
Anzunehmen, das Problem lasse sich durch das Pflanzen von Bäumen lösen, wie unlängst eine falsch interpretierte Studie aus der Schweiz nahegelegt hat,[2] ist eine Illusion. Natürlich müssen Bäume angepflanzt werden, insbesondere dort, wo bereits großflächig Baumbestand zerstört wurde, aber das wird uns genauso wenig wie die Kernfusion oder Thoriumreaktoren der Klimaneutralität näherbringen. Bei jeder dieser Lösungen und Mittel sind Grenzen und Nebenwirkungen zu beachten. Beim Pflanzen von Bäumen stößt man etwa rasch an die Grenzen der Ackerfläche, die wir zur Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung in den nächsten zwanzig Jahren dringend benötigen. Wenn auf der Nordhalbkugel Bäume Ackerland und freie Flächen ersetzen, nimmt der Albedoeffekt ab, das heißt, es werden weniger Sonnenstrahlen von der Erdoberfläche reflektiert. Die Wärmewirkung der Sonne nimmt damit zu.
Viele der genannten Lösungsvorschläge werden überschätzt oder sind spekulativ. Andere wiederum werden unterschätzt. Das beste Beispiel für Letzteres ist meiner Ansicht nach die Nutzung von Holz zum Bauen. Die dafür eingesetzten Bäume entziehen der Atmosphäre CO2. Das Holz ersetzt Beton und Zement, deren Herstellung extrem viel CO2 verursacht. Mit Holz zu bauen, ist wohl, neben veganer Ernährung, einer der am meisten unterschätzten CO2-Retter.
Wir müssen unsere komplette Energieversorgung umbauen. Es liegt ein sehr langer, schwerer und kostspieliger Weg vor uns – ohne Abkürzungen. Aus meinen Erfahrungen in den beiden Bereichen Politik und Wissenschaft heraus habe ich dieses Buch geschrieben, um einen kleinen Beitrag zur Bewältigung dieser einmaligen Herausforderung zu leisten. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Einzige, was uns noch hilft, die konsequente und schnellstmögliche Umstellung unserer gesamten Produktionsweise und unseres Konsums ist. Um diese zu erreichen, müssen wir zu hundert Prozent das vorhandene wissenschaftliche Wissen umsetzen.
Wir haben noch eine letzte Chance, wenn wir die Grundlagen der Zukunft unserer Kinder nicht nachhaltig zerstören wollen: Sie liegt im nächsten Jahrzehnt. Die Technologie, die wir nutzen können, um die Klima-Kipppunkte zu vermeiden, kann nur dann einen wesentlichen Beitrag leisten, wenn die Voraussetzungen für ihre flächendeckende Nutzung in den nächsten zehn Jahren geschaffen werden. Und die Klimasituation ist längst mehr als kritisch. Während ich diese Zeilen schreibe, warnt der Weltklimarat (IPCC) vor den unumkehrbaren Folgen einer Erderwärmung von über 1,5 Grad.[3] Aber schon jetzt liegen die durchschnittlichen Temperaturen auf der Erde um 1,1 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau – und «jeder Bruchteil eines Grades Erwärmung» zähle, so die Experten des Weltklimarats.
Im Sommer 2021 hieß es in einem Bericht des IPCC, die 1,5-Grad-Grenze werde wohl schon im Jahr 2030 erreicht – also zehn Jahre früher, als noch 2018 vorhergesagt wurde.[4] Die Nachricht wurde in den Medien breit geteilt, in der Öffentlichkeit aber fand sie kaum nachhaltige Resonanz. Bei 1,5 Grad sollte die Erwärmung unbedingt stoppen, denn nur so kann zumindest mit einem Minimum an Sicherheit verhindert werden, dass das gesamte Erdklima in eine Heißzeit gleitet, wie es sie seit vielen Jahrmillionen auf unserem Planeten nicht mehr gegeben hat. Bei mehreren Grad über der heutigen Temperatur wäre die Erde für uns Menschen mit unserer Zivilisation nahezu unbewohnbar. Ich will nur ein Beispiel für die dramatischen Konsequenzen nennen, die bei vier bis fünf Grad mehr zu erwarten wären: Weil es der Mensch bei einer Außentemperatur von mehr als fünfunddreißig Grad und einer hohen Luftfeuchtigkeit (die zu Kerntemperaturen im menschlichen Körper von etwa achtunddreißig Grad führt) langfristig nicht aushält, würden zahlreichen Studien zufolge zwei bis drei Milliarden Menschen ihre angestammten, nicht länger bewohnbaren Regionen verlassen. Es ist unklar, wohin diese Menschen ziehen könnten und ob es möglich wäre, sie ausreichend zu ernähren. Denn ein solcher Klimawandel würde mit einem dramatischen Verlust von Ackerland und der Zerstörung von Ernten durch lange Dürreperioden einhergehen. Ich werde später auf weitere Aspekte zurückkommen.
In den nächsten zehn Jahren wird es so hohe Temperaturen natürlich noch nicht geben. Wie heiß es aber 2100 und danach auf unserer Erde werden wird, das entscheidet sich durchaus im nächsten Jahrzehnt. Denn wenn die globale Erwärmung voranschreitet, stehen mehrere wesentliche «Säulen» des Weltklimasystems auf der Kippe, wie unter anderem eine aktuelle Analyse des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) zeigt.[5] Solche Kipppunkte bezeichnen jene Schwellen, an denen ein System seine gewohnte Funktionsweise drastisch verändert oder einstellt, sodass es kein Zurück mehr gibt. Ein Beispiel aus dem Alltag macht die dramatischen Folgen des Kippens deutlich: Schieben Sie eine Kaffeetasse auf dem Tisch immer weiter zur Kante hin, geht das lange gut. Bis die Tasse irgendwann am Tischrand einen Punkt erreicht, an dem sie aus der zuvor stabilen Lage herauskippt, auf den Boden fällt und zerschellt. Übertragen auf das Klimasystem der Erde bedeutet das: Lange Zeit bemerken wir die Zunahme der Konzentration von Treibhausgasen wie Kohlendioxid (CO2) kaum. Bis ein kleiner weiterer Schritt – wie bei der Kaffeetasse an der Tischkante – dazu führt, dass eine abrupte Veränderung stattfindet, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Der deutsche Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber vom PIK hat das Prinzip der Kipppunkte schon um die Jahrtausendwende in die Diskussion gebracht und sich damit unendlich verdient gemacht. Im globalen Klimasystem setzen solche unumkehrbaren Veränderungen an anderen Stellen Rückkopplungen in Gang, was weltweite Dominoeffekte auslöst. Die Auswirkungen solcher übertretenen Kipppunkte greifen ineinander, und das führt zu Kaskaden, die sich gegenseitig verstärken. Der Klimawandel beschleunigt sich dann selbst, ohne dass wir zusätzliches Treibhausgas emittieren müssten. Die folgende unkontrollierte Erderwärmung wäre über viele Jahrhunderte nicht reversibel.
Schon jetzt – das beschreibt die aktuelle Risikoanalyse des PIK – nähern sich das zunehmend schneller schmelzende Grönlandeis und der Westantarktische Eisschild ihren Kipppunkten. Deren Überschreitung kann möglicher Ausgangspunkt von Kippkaskaden sein, die die Meeresströmungen im Atlantik (die sogenannte atlantische thermohaline Zirkulation) beeinträchtigen und sich dann auch auf das Regenwaldsystem Amazoniens auswirken. Ob wir diese Kipppunkte überschreiten, entscheidet sich in den nächsten zehn Jahren.[6] Wir haben also deutlich weniger Zeit, als meist angenommen wird, um unseren Ausstoß an Treibhausgasen zu verringern. Wenn wir diese Kipppunkte erreichen, droht das gesamte weltweite Klimasystem zu kippen.
Für mich machen diese Kipppunkte bei der Betrachtung der Lage einen Riesenunterschied, ja den entscheidenden Unterschied: Ob ich auf eine Senke zusteuere, die ich nur zu durchqueren brauche, um danach wieder das Tal hochzufahren, oder auf einen Abgrund, den ich unweigerlich hinunterstürze, das ist etwas grundsätzlich anderes. Die Kipppunkte stellen eine existenzielle Bedrohung für unser aller Leben dar – vor allem für das der kommenden Generationen. Ohne Kipppunkte hätten wir es mit linear oder allenfalls exponentiell verlaufenden Bedrohungen zu tun. Mit Kipppunkten können wir plötzlich die Kontrolle über die weitere Entwicklung verlieren.
Letzten Endes sind sie der Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe. Inspiriert durch meine vierzehnjährige Tochter, mit der ich im Rahmen ihrer Schulstreiks für Fridays for Future die Kipppunkte analysiert habe, kam mir ein Gedanke: Wie absurd ist es eigentlich, dass wir über das Ende ihrer Zukunft spekulieren, während draußen vor der Wohnung die SUVs einparken, als ob nichts wäre? Die Welt unseres Alltags ist wie eine Parallelwelt zu derjenigen, die von der Klimaforschung beschrieben wird. Das verstehen Kinder und Jugendliche offenbar besser als wir Erwachsene.
Nicht alle Wissenschaftler sind zuversichtlich, dass wir das Überschreiten der Kipppunkte vermeiden können. Welches Risiko wollen wir uns aber leisten? Der Harvard-Ökonom Martin Weitzman etwa hat immer wieder darauf hingewiesen, dass auch Ereignisse und Vorgänge, die sehr unwahrscheinlich sind, zum Verlust von allem führen können – zu einer Katastrophe also.[7] Aus meiner Sicht wäre er der würdigste Kandidat für den Nobelpreis in den Wirtschaftswissenschaften gewesen, den er nie bekommen hat. Weitzman hat Jahrzehnte seines Lebens dem Versuch gewidmet, die bevorstehende Katastrophe abzuwenden. Er hat zu Kipppunkten geforscht, bevor dieser Begriff von Hans Joachim Schellnhuber geprägt wurde. Er gehört zu den Erfindern des internationalen Zertifikatehandels, beginnend mit dem Kyoto-Protokoll. Traurig, aber vielsagend ist, dass er im Alter von siebenundsiebzig Jahren sein Leben beendet haben soll, weil er immer mutloser geworden sei und glaubte, keinen Beitrag mehr zur Bewältigung der Klimakatastrophe leisten zu können. Viele erfahrene und hochqualifizierte Klimaforscherinnen und Klimaforscher klangen in den letzten Jahren immer pessimistischer oder gar verzweifelt. Dies gilt auch für Schellnhuber selbst, der es wie folgt auf den Punkt gebracht hat: «Ich sage Ihnen, dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt.»[8] Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie er verzweifeln nicht daran, dass es keine Technologie zur Rettung der Erde gäbe. Sie verzweifeln, weil die Politik die vorhandene Technologie nicht schnell genug einsetzt.
Gerade die Bedeutung von nichtlinearen und unplanbaren Prozessen und die damit einhergehenden Gefahren für unsere Kinder haben mich schon vor Jahren dazu gebracht, mich stärker mit dem Thema zu beschäftigen. Letztlich habe ich deswegen 2019 zusammen mit der SPD-Umweltpolitikerin Nina Scheer versucht, Vorsitzender der SPD zu werden. Ich wollte die Partei stärker klimapolitisch ausrichten.
Schon seit zwanzig Jahren, seit Beginn des Jahrtausends also, warnen Wissenschaftler wie Schellnhuber mit dem Hinweis auf Kipppunkte vor jenen kommenden Entwicklungen, die unser Überleben als Zivilisation gefährden. Und trotzdem machen wir weiter wie bisher. Dabei hat Schellnhuber neben vielen anderen Politikern auch persönlich Angela Merkel beraten, sie regelmäßig über den aktuellen Wissensstand, die Bedrohungslage und die Dringlichkeit informiert. Als Naturwissenschaftlerin kennt und versteht Merkel natürlich die Theorie der Kipppunkte, und ihr ist klar, was diese für uns alle bedeuten. Dennoch integrierte sie als Bundeskanzlerin diese Erkenntnis nur sehr eingeschränkt in ihr politisches Handeln. Die Bilanz der letzten sechzehn Jahre ist – zumindest gemessen an der Aufgabe, die noch vor uns liegt – leider mager. Sieht man von den CO2-Reduzierungen im Zuge der Wiedervereinigung ab, ist die Umweltbilanz Deutschlands nicht besser als die der Vereinigten Staaten. Deutschland ist leider schon lange kein Vorreiter im Klimaschutz mehr. Die skandinavischen Länder etwa haben diesbezüglich weitaus mehr vorzuweisen: Beispiele sind die Elektromobilität in Norwegen oder der Einsatz von Wärmepumpen in den Heizungen Schwedens, die Fahrradstadt Kopenhagen oder das dortige Müllverbrennungswerk, das zugleich Strom erzeugt.
Natürlich waren auch wir Sozialdemokraten an vielen Entscheidungen beteiligt. In diesem Buch soll Parteipolitik aber keinerlei Rolle spielen. Gegenseitige Schuldzuweisungen bringen uns sowieso nicht weiter. Und auch Merkel soll hier nicht die Schuld zugeschoben werden. Wie ich sie kenne und einschätze, hat sie getan, was sie konnte. Aber selbst eine Bundeskanzlerin wie Naturwissenschaftlerin Angela Merkel war nicht in der Lage, das Wissen um die Kipppunkte zur Leitlinie ihrer Entscheidungen zu machen. Im politischen Alltag war für sie wohl einfach nicht mehr drin: erst der Finanzcrash, dann die Eurokrise, gefolgt von der Flüchtlingskrise, dann kam Corona – dazu immer wieder Auseinandersetzungen, in der eigenen Partei, in der Fraktion, und die nicht zu unterschätzenden ständigen Wahlkämpfe auf Landesebene. Schließlich hartnäckiger Lobbyismus auf allen politischen Ebenen durch die äußerst gut aufgestellte und finanzstarke Industrie der fossilen Brennstoffe.
Dass die Umsetzung so wichtiger Erkenntnisse nicht möglich ist, darin liegt meiner Einschätzung nach ein zentrales Versagen unseres politischen Systems. Wir müssen uns fragen: Welche Beharrungskräfte gibt es, wenn selbst jemand, der es besser weiß, so an der Wirklichkeit vorbeiarbeitet? Dabei geht es meines Erachtens nicht um die Frage, welche Rolle der Markt spielen soll oder ob es Probleme mit unserer Demokratie gibt. Aus meiner Sicht besteht das Versagen unseres Systems darin, nicht gewährleisten zu können, dass unbedingt zu berücksichtigende wissenschaftliche Erkenntnisse ausreichend in unser politisches Handeln integriert werden.
In vielen anderen Bereichen kann man sich eine große Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlich Gesicherten und dem gesetzlich Umgesetzten leisten. So könnte man zum Beispiel auf Grundlage ideologischer Überlegungen auf die Idee kommen, die Steuern zu senken, um damit insgesamt ein höheres Steueraufkommen zu erreichen, obwohl wissenschaftliche Studien in der Regel zeigen, dass zum Schluss weniger Geld in der Kasse und nur die Steuersenkung – gewissermaßen als Selbstzweck – übrig bleiben wird. Oft ist es so, dass jene, die eine Steuersenkung fordern, sogar wissen, dass am Ende das Gesamtsteueraufkommen nicht höher sein wird. Ein solcher Fehler macht die Gesellschaft etwas ungerechter, auch das ist kein Kavaliersdelikt. Aber er zerstört die Gesellschaft nicht. Es gehört zum Wesen der Demokratie, dass Gesetze mehr oder eben weniger Gerechtigkeit bringen können. Demokratie ist kein Prozess, mit dem Glück oder Gerechtigkeit maximiert werden müssen. Auch muss in der Demokratie nicht in jedem Bereich das Beschlossene wissenschaftlich begründet werden. Wenn demokratisch beschlossen wird, bestimmte wissenschaftliche Aspekte nicht zu berücksichtigen, dann ist das nicht ein Mangel an Demokratie, sondern ein Ausdruck von Demokratie.
Im Fall der Klimakatastrophe aber können wir uns eine derart große Diskrepanz zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen und unserem politischen Handeln nicht länger leisten. Der Systemfehler liegt genau an dieser Stelle. Wir müssen den Transmissionsriemen zwischen Wissenschaft und Politik wesentlich enger spannen. Ein so lockerer Umgang mit Wissenschaft und Vernunft, wie er in anderen Bereichen des demokratischen Prozesses akzeptiert werden muss, könnte uns im Fall des Klimawandels in die Katastrophe führen.
Kann es sein, dass wir uns hier der Realität verweigern? Ja, das tun wir. Meinem Eindruck nach steckt dahinter zumindest zum Teil noch etwas anderes: Die Dringlichkeit der Klimakrise ist bei sehr vielen Politikern noch nicht ausreichend angekommen. Wie gesagt, keine Parteipolitik. Aber ich glaube, die meisten Leserinnen und Leser wissen, welche Politiker und insbesondere welche Parteien hier gemeint sind. Eine Partei begrüßte in ihrem Wahlprogramm den Klimawandel sogar: In Warmzeiten seien Zivilisationen stets aufgeblüht. Eine andere Partei wollte das 1,5-Grad-Ziel mehr oder weniger komplett über den CO2-Preis erreichen. Dabei gibt es zahlreiche Studien, die zeigen, dass die CO2-Preise dafür so hoch sein müssten, dass große Teile der Bevölkerung sie niemals bezahlen könnten. Auch hier ging die Programmatik weitestgehend am Sachstand der Wissenschaft vorbei. Ich könnte zahlreiche weitere Beispiele nennen. Viele in der Politik haben sich noch nie wirklich mit den Kipppunkten beschäftigt. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, werden im politischen Raum dramatisch unterschätzt. Noch im Mai 2021 hat Wolfgang Schäuble betont, dass der menschengemachte Klimawandel durchaus aufzuhalten sei: «Wir haben doch größere Probleme auch schon bewältigt.»[9] Für die meisten Politiker ist die Klimakrise ein ernsthaftes politisches Problem, aber eben eines unter vielen. Sie erkennen nicht das völlig Neuartige darin. Geradezu entwaffnend waren in dieser Hinsicht die Wahlprogramme der Parteien für die Bundestagswahl. Auswertungen von Volker Quaschning, Ingenieur und Professor für Regenerative Energiesysteme an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, oder des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben klar ergeben, dass keines der Programme dazu geeignet war, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Und in der Politik wird selten mehr erreicht als gefordert.
Welche Strategien zur Bewältigung des Klimawandels vorgeschlagen werden, hängt natürlich eng mit der Einschätzung der Lage zusammen. Es gibt jene, die ich die «Grundoptimistischen» nenne. Sie glauben an die Lösbarkeit der Probleme durch die liberale Demokratie mithilfe der Marktmechanismen und stetiger Reformen, zum Teil auch mit Regulierungen an der einen oder anderen Stelle. Der kanadische Historiker, Schriftsteller und Politiker Michael Ignatieff führt am Beispiel des Klimawandels das entsprechende Vorgehen aus:[10] erst Straßennutzungsgebühren einführen, dann CO2 bepreisen, danach erneuerbare Energie subventionieren; sobald die regenerativen Energieträger wettbewerbsfähig geworden sind, den Zuschuss zurückziehen; irgendwann Kohle und Gas aus dem Verkehr nehmen – und so weiter. Die Botschaft der Grundoptimisten ist: Das Problem ist erkannt, wir sind schon auf dem richtigen Weg zur Lösung. An die nötigen Veränderungen werden wir uns alle nach und nach gewöhnen – wie an so vieles zuvor. Eine Variante dieses grundoptimistischen Ansatzes ist das Vertrauen auf neue Technologien, die in der Zukunft die Bewältigung der Klimakrise sehr stark vereinfachen könnten. Oft ist dann von Wasserstoff die Rede. Ein bloßes Schlagwort, weil dabei ein wesentliches Problem außer Acht gelassen wird: Die erneuerbaren Energien, die zur Herstellung von grünem Wasserstoff benötigt werden, stehen zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht zur Verfügung, und selbst ihr Aufbau verläuft sehr viel langsamer, als es notwendig wäre, um auch nur im Ansatz das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen.
Zwei grundsätzliche Erwägungen sprechen für mich gegen diese – manchmal nenne ich sie auch «zwangsoptimistische» – Haltung: Zum einen glaube ich, dass für diese Reformen im Schritt-für-Schritt-Tempo die Zeit bis zum Erreichen der Kipppunkte nicht mehr ausreicht. Der Markt kann und wird es in der Kürze der Zeit nicht richten. Die Voraussetzungen für einen solchen Markt müssen erst geschaffen werden. Ein Beispiel: Selbst wenn etwa elektrisch produzierte Fernwärme billiger werden würde als Gas, müsste ein Verbraucher trotzdem noch seine Heizung umbauen, was ihn sehr viel Geld kostet. Dass erneuerbare Energie insgesamt schon bald billiger werden wird, bedeutet noch nicht, dass auch ihre Nutzung für den Endverbraucher günstiger wird. Da muss also die Politik entsprechende Anreize schaffen, nur so bekommen wir eine Energiewende tatsächlich hin. Wie soll das schnell genug gelingen?
Das andere grundsätzliche Argument ist ein psychologisches. Wenn man so auftritt und verkündet, unsere Klimaprobleme seien lösbar, Schritt für Schritt und in therapeutisch verträglichen Reformdosen, dann hören viele darin: Wir können beruhigt sein, die Lösung ist greifbar – ohne wesentliche Veränderungen in der Art und Weise, wie wir leben. Das ist natürlich ein Irrtum. Vor allem aber fehlt damit der Druck zur Veränderung, und wir tun nicht mehr genug.
Am anderen Ende des Spektrums gibt es eine defätistische, aussichtslose Grundhaltung: Das Spiel ist aus, die Katastrophe lässt sich nicht mehr verhindern. Diesen Pessimismus in Reinkultur zelebriert für mich der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen.[11] Aus seiner Sicht ist schon alles zu spät, wir hätten die «Schwelle zur Katastrophe» bereits überschritten und den Zeitpunkt verpasst, die Erderwärmung auf zwei Grad zu beschränken; es mache keinen Unterschied, wie weit wir über die Schwelle hinausgehen, weil wir sie sowieso reißen werden. Diese Einstellung, der zufolge wir überhaupt keine Handlungsoptionen mehr haben, um die Klimakrise zu verhindern, führt erst recht dazu, dass sich Lethargie, Mut- und Hoffnungslosigkeit ausbreiten. Wenn uns die Dinge schon endgültig entglitten sind, hat sich politisches Handeln erledigt. Im Grunde finde ich das schon nicht mehr pessimistisch, sondern fatalistisch.
Ja, auch ich bin, wie schon erwähnt, pessimistisch. Aber mein Pessimismus steht woanders als der von Jonathan Franzen. Es ist ein skeptischer und, wie ich glaube, realistischer Pessimismus. Als Wissenschaftler kann ich einschätzen, was auf uns zukommt und wie unglaublich schwer es sein wird, die drohenden Kaskadenvorgänge noch aufzuhalten. Die eine Schwelle zur Katastrophe gibt es aber nicht. Als Politiker weiß ich, wie mühselig es ist, im politischen Alltagsgeschäft mit so grundlegenden Fragen durchzudringen und immer nur kleine Änderungen zu erreichen.
Viele Wissenschaftler, darunter führende Klimaforscherinnen und -forscher, teilen meine Haltung. Eine Entwicklung, die 2018 begann, gibt mir und ihnen aber ein wenig Hoffnung: Es ist ein weiterer Kipppunkt – einer der gesellschaftlichen Art. Denn ich glaube, auch hinter diese Entwicklung kommen wir nicht mehr zurück. Greta Thunberg, die mit ihrem Pappschild «Skolstrejk för klimatet» vor dem schwedischen Parlament demonstrierte, hat etwas Irreversibles in Gang gesetzt. Dank ihres unbedingten und unerbittlichen Auftretens ist aus ihrem «Schulstreik fürs Klima» die weltweite Fridays-for-Future-Bewegung geworden. Als Schellnhuber zu Beginn des Jahrtausends die Klima-Kipppunkte in die Diskussion brachte, dachten wir nur an den Eisbären auf der schmelzenden Scholle. Mittlerweile versengt sich nicht nur der Koala in Australien seinen Pelz, auch Sydney und San Francisco hatten schon Flammenmeere in apokalyptisches Orange getaucht, Thomas Gottschalks Villa in Malibu ist im Feuersturm abgebrannt, die Wälder der Mittelmeerküste loderten – und bei uns folgten nach Sommern voller Hitze und Dürre Sturzregen und verheerende Überschwemmungen, wie wir sie in dieser Form noch nicht kannten. Durch die Fridays-for-Future-Bewegung, mit der ich eng zusammenarbeite, wächst nun von der Straße her der Druck, das Klima-Übereinkommen von Paris doch noch einzuhalten.
Unterstützt wird meine aufkeimende Hoffnung, zumindest das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, durch die historische Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021, die 1,5-Grad-Grenze des Pariser Klima-Abkommens für verfassungsrechtlich bindend zu erklären.[12] Damit ist Klimaschutz ein Grundrecht geworden. Die Verfassungsrichter haben klargestellt: Unser Staat muss künftige Generationen vor dem Klimawandel schützen und darf Lasten nicht unnötig auf die Nachkommen abwälzen. Unsere Freiheit darf auch diejenigen nicht über Gebühr einschränken, die nach uns kommen. Das ist ein Urteil gegen jene kategorische Überhöhung des Freiheitsbegriffs, mit dem so gerne argumentiert wird. Denn diese überhöhte Idee von der Freiheit jedes Einzelnen muss in ihrer Konsequenz verstanden werden als die Freiheit, die Existenzgrundlage der nachkommenden Generationen ruinieren zu dürfen. Dabei ist es möglich, auf bestimmte Freiheiten zu verzichten, die sonst zulasten der Lebensbedingungen anderer gehen würden, und dennoch unsere Lebensqualität zu bewahren. Für mich ist das eine Frage der Gerechtigkeit – und eben auch der Generationengerechtigkeit. Als Folge dieses Urteils muss der Bundestag nun beschlossene Gesetze nachbessern. Vor allem wird es Konsequenzen über viele Jahre hinweg haben.
Unterm Strich spiegelt die derzeitige Situation aber unser bisheriges Nichtstun, hinter dem ich ein nahezu komplettes Versagen des Zusammenspiels von Wissenschaft und Politik sehe. Denn so ist die Lage: Vor allem wir Politiker haben bislang nicht ausreichend geliefert. Dass wir vor einem Jahrzehnt der Entscheidung stehen, ist eine Formulierung, die nicht von uns stammt. Es sind meist «externe Schocks», die uns die Richtung vorgeben: Waldbrände und Dürresommer, die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal, der Druck von der Straße durch Fridays for Future, der Zwang zum Handeln durch verbindliche Urteile, die von den Richtern in Karlsruhe auf Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstands gefällt wurden. Die Politik hinkt hinterher – der Wissenschaft und der Gesellschaft. Sie muss aber Tempomacher werden, wenn wir das Kippen, die Klimakatastrophe aufhalten wollen. Aus dem politischen Routineprozess unserer liberalen Demokratie kam bislang kaum etwas, das zu entscheidenden Handlungen beim Klimaschutz geführt hätte: Zum einen haben wir zu wenig ehrgeizige Ziele, zum anderen bleiben wir hinter diesen schon seit Jahrzehnten zu wenig ehrgeizigen Zielen auch noch weit zurück. Vermutlich werden unsere Klimaziele auch in den Jahren 2022 und 2023 nur schwer zu erreichen sein. Erneut könnten rechtliche Korrekturen folgen.
Auch wenn es in diesem Buch nicht um Parteipolitik gehen soll, wäre es unfair, nicht zu erwähnen, dass die neue Ampelkoalition weitaus ehrgeizigere Ziele in der Klimapolitik hat als jede Regierung in Deutschland zuvor. Es soll jetzt eine Transformation gelingen. Und sie muss auch gelingen. Als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, war noch nicht abzusehen, dass es diese Koalition geben würde. Ich kann nur hoffen, dass uns der Aufbruch gelingt. Wir brauchen ihn dringend. Die im Buch beschriebenen Probleme bleiben aber bestehen und müssen gelöst werden. Und selbst wenn Deutschland in den nächsten Jahren deutliche Fortschritte gelängen, stünden noch 99 Prozent der Weltbevölkerung vor den gleichen Aufgaben.
Den größten Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß hat mittlerweile China. Mit 28 Prozent des Ausstoßes verursacht das Land weit mehr CO2 als die EU und die USA zusammen. Und doch macht ausgerechnet das autoritäre China, das in der Vergangenheit ganz auf kohlebefeuertes schnelles Wachstum ausgerichtet war, uns jetzt möglicherweise vor, wie es auch gehen kann: Während der Generaldebatte zur UN-Vollversammlung im September 2020 verkündete Staatschef Xi Jinping der erstaunten Weltöffentlichkeit, dass sein Land vor 2030 umsteuern und bis 2060 Kohlenstoffneutralität erreichen werde. Hier setzt die Politik also klare Ziele – auf wissenschaftlicher Grundlage. Die kommunistische Staatspartei hat das einfach so entschieden, ohne Rücksprache mit der eigenen Bevölkerung, ohne Rücksprache mit der westlichen Welt. Interessanterweise haben die Chinesen vom Rest der Welt noch nicht einmal etwas im Gegenzug für diese wichtige Entscheidung gefordert. Anders als Deutschland ist China eine Gesellschaft im rasanten Aufbruch und Umbruch, die nicht nur wächst, sondern deren Wohlstand auch rasch zunimmt. Natürlich kann China für uns kein Vorbild sein. Wir leben in einer funktionierenden Demokratie und können und dürfen daher Einschränkungen der Freiheit wie in China nicht akzeptieren. Die Tatsache aber, dass die dortige Führung uns in dieser für uns alle existenziellen Frage genau das vormacht, was unserer liberalen Demokratie in vielen Fällen bislang nicht gelingt, lässt unsere Politik in keinem guten Licht erscheinen.
Der schnelle Zubau an erneuerbaren Energiequellen in China gibt zu denken. Mittlerweile wird dort die Energieeffizienz eines jeden Großbetriebs öffentlich gemacht. Vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis das umweltbewusste Sozialverhalten jedes Einzelnen öffentlich bewertet wird. Ein solches System will in Deutschland und Europa wirklich niemand haben. Um es klar zu sagen: In einem solchen Staat möchte ich nicht leben. Aber wir müssen anerkennen, dass der Umbau der Industrie und der Gesellschaft im Sinne einer erneuerbaren Kreislaufwirtschaft in China deutlich besser funktioniert als in Europa. China hat den wirtschaftlichen Routinebetrieb aufgegeben und sich für einen radikalen Umbau der gesamten Industrie entschieden. Aus diesem konsequenten und schnellen Umbau werden sich langfristig erhebliche Wettbewerbsvorteile ergeben. Auf längere Sicht ist international für fast alle Güter ein CO2-Preis zu erwarten, der umso höher ausfällt, je mehr CO2 bei ihrer Herstellung ausgestoßen wurde. China arbeitet konsequent daran, über diesen Mechanismus Preisvorteile auf dem Weltmarkt zu erreichen. In keinem anderen Land wird mit vergleichbarem Tempo Solarenergie und Windkraft ausgebaut. Noch immer entstehen neue Kohlekraftwerke, die jedoch zu einem nicht unerheblichen Teil solche ersetzen, die einen deutlich höheren CO2-Ausstoß hatten. Es wird intensiv daran gearbeitet, in Kohlekraftwerken CO2 abzuscheiden, um es unterirdisch zu lagern. In fast allen Großstädten werden Ladestationen für Elektroautos aufgebaut. Der komplette Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor ist geplant. Nirgendwo auf der Welt werden mehr neue Metrobahnen in Betrieb genommen als in China. Das wichtigste ökologische Problem, die Knappheit und die Qualität des Trinkwassers (China verfügt über fast 20 Prozent der Weltbevölkerung, aber nur einen deutlich geringeren Anteil des Trinkwassers), wird durch den Bau von Reinigungsanlagen angegangen.[13]
